Kaltnacht - Gabriele Keiser - E-Book

Kaltnacht E-Book

Gabriele Keiser

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Kriminalhauptkommissarin Franca Mazzari ist dünnhäutiger geworden. Der rätselhafte Doppelmord an einem Ehepaar, das in seinem Haus getötet wurde, verfolgt sie bis in ihre Träume. Musste das Söhnchen der beiden, das verstört aufgefunden wurde, alles mit ansehen? Zwar hat der Täter zahllose Spuren hinterlassen, jedoch die eine, maßgebliche, scheint nicht dabei zu sein. Mit der Zeit verdichten sich die Hinweise, dass der Migrationshintergrund des getöteten Polizisten, ein Deutschtürke, etwas mit der Tat zu tun haben könnte. Oder ist der Täter gar in den eigenen Reihen zu finden? Ein Roman um starke Gefühle, Vertrauen und Verrat und die Sehnsucht nach etwas ganz Besonderem.

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Seitenzahl: 332

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Gabriele Keiser

Kaltnacht

Kriminalroman

Zum Buch

Mörderische Silvesternacht Die Welt draußen ist in Schnee gehüllt. Ewig könnte Yvonne Aslan das Fallen der Flocken beobachten und sich dabei vorstellen, wie alles Dunkle und Verletzende umhüllt wird, bis es weich und strahlend weiß ist und niemandem mehr weh tut. Doch am Neujahrsmorgen ist sie tot, auf bestialische Weise ermordet, ebenso wie ihr Mann, der deutschtürkische Polizist Cem Aslan. Ihr kleiner Sohn Erol ist verschwunden und wird fieberhaft von einem Mantrailer-Trupp gesucht. Der rätselhafte Doppelmord stellt die Koblenzer Polizei unter enormen Zugzwang und verfolgt die Kriminalkommissarin Franca Mazzari bis in ihre Träume. Was ist geschehen? Gibt es einen ausländerfeindlichen Hintergrund? Stammt der Täter gar aus den eigenen Reihen? Oder hat Cems älterer Bruder, der sich den türkischen Traditionen in großem Maße verpflichtet sieht, etwas damit zu tun? Auch in diesem Kriminalroman spinnt Gabriele Keiser ein dichtes Geflecht um starke Gefühle, Liebe und Tod.

Geboren wurde Gabriele Keiser 1953 in Kaiserslautern. Schon früh verspürte sie den Wunsch, das Leben in Geschichten zu bannen. Nach Lehr- und Wanderjahren im In- und Ausland lebt die studierte Literaturwissenschaftlerin heute als freie Schriftstellerin und Lektorin in Andernach am Rhein. Ihre Krimis um die sympathische Koblenzer Kriminalkommissarin Franca Mazzari sind eine gute Kombination aus Spannung und Wissensvermittlung – denn es geht immer um mehr als um die Frage nach dem Täter. Gabriele Keiser war etliche Jahre Vorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) in Rheinland-Pfalz. Sie ist Mitglied im »Syndikat«, der Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren. 2014 wurde sie mit dem Kulturförderpreis des Landkreises Mayen-Koblenz ausgezeichnet.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Goldschiefer (2015)

Vulkanpark (2013)

Engelskraut (2011)

Gartenschläfer (2008)

Apollofalter (2006)

Puppenjäger (2006, mit Wolfgang Polifka)

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Christoph Adel / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5502-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Zitat

In deiner Seele ruht ein Geheimnis,

wie eine Quelle, die deine Sehnsucht bewacht.

Karat

Magisches Licht

Prolog

»Es ist spät«, murmelt sie.

»Ist es nicht«, widerspricht er.

»Du weißt, dass ich Lügen hasse.« Ihre Stimme klingt träge.

»Wer lügt hier denn?« Er rückt näher zu ihr. »Ich weiß nur, dass es unglaublich aufregend ist, wenn du in meiner Nähe bist.«

Sie liegen dicht beieinander in einer Kuhle am Rand einer hügeligen Wiese, die Hände ineinander verschlungen. Es ist nichts zu hören als ihrer beider Atemzüge. Als sie die Augen öffnet, blendet sie ein Sonnenstrahl, der hinter einer Schäfchenwolke hervorblitzt. Der Wetterbericht hat ein Regendurchzugsgebiet angekündigt, davon ist jedoch nichts zu spüren. Wilder Klatschmohn lässt die Wiese vor ihnen rot erglühen. Ein faszinierendes Bild, das sie in ihrem Kopf gespeichert hat und das die vibrierende Stimmung wiedergibt, die sie in diesem Moment empfindet.

»Wie auf dem Gemälde von Monet«, sagt sie.

Als er nicht antwortet, fährt ihr durch den Kopf, dass er das Gemälde wahrscheinlich gar nicht kennt. Für Gekleckse interessiert er sich nicht, hat er ihr einmal unmissverständlich erklärt.

Was macht das schon, redet sie sich ein, dafür kennt er andere atemberaubende Dinge.

Sie richtet sich auf, rückt ein wenig ab von seinem erhitzten Körper, beugt sich zur Seite, und pflückt eine der Mohnblumenknospen, die noch geschlossen ist. Gedankenverloren streicht sie über die grünsilbrig behaarten Blätter, öffnet die Knospe und zieht behutsam die Außenblätter nach unten, bis kräftiges Rot erscheint. Die knittrigen Blütenblätter faltet sie vorsichtig auseinander.

»Schau mal.« Sie hält ihm die schlaffe Mohnblüte hin, die wie der Seidenrock eines Püppchens in ihrer Handfläche liegt. »So was haben wir als Kinder gemacht!«

Er hebt eine Augenbraue.

»Findest du nicht gut, oder?«

Er antwortet nicht. Damals hatte sie nicht über die Auswirkung dieser Spiele nachgedacht. Heute denkt sie, dass das nicht in Ordnung war, hatte sie doch die Blüten vorzeitig zerstört. Aber es war die reine kindliche Neugier, in das Wesen der Dinge eindringen und ihnen auf den Grund gehen zu wollen, das sie zu solchem Tun veranlasste.

Schnuppernd hebt sie die Nase. »Hier riecht’s wie früher bei meiner Oma auf dem Land.«

»Es ist deine Haut, die so gut riecht.« Er nimmt ihr die knittrige Blume aus der Hand, lässt sie neben sich in die Wiese fallen, wo sie im dichten Gras verschwindet. »Nach Sonne und Sommer und Lust. Ich könnte deinen Geruch stundenlang in mich hineinsaugen.« Seine Nase berührt ihr Gesicht. Geräuschvoll atmet er ein.

Sie lächelt und streicht mit beiden Händen über sein kurz geschorenes Haar. Spürt knochige Konturen unter dem Schädel. »Wenn ich nur wüsste, was da drunter vor sich geht«, flüstert sie.

»Du kannst doch ganz leicht erraten, was ich jetzt denke.« Seine Hand greift nach ihrer und führt sie in seinen Schritt. Sofort zieht sie ihre Hand zurück.

»Was ist?« In seinen Augen liegt ein merkwürdiger Ausdruck, halb lächelnd, halb lauernd.

»Man kann es auch übertreiben.«

»So was niemals.« Seine Finger tasten nach ihrem Busen, umspannen ihn.

»Bitte!« Sie zerrt an seiner Hand, die sich nur widerwillig von ihrem Körper löst. »Wir haben doch schon zwei Mal …«

»Na und? Ich hatte durchaus den Eindruck, dass dir das sehr gut gefallen hat.«

Sie lächelt etwas verlegen und sieht an ihm vorbei in den Himmel. Sie will keine Höchstleistungen vollbringen, sie will lieber reden. Sie dreht den Kopf zu ihm hin. »Erzähl mir von dir.«

»Was willst du denn wissen?«

»Alles. Wie deine Kindheit war. Wie du dir deine Zukunft vorstellst. Wie du deinen Kaffee trinkst.«

»Wie ich meinen Kaffee trinke – das interessiert dich?« Er lacht laut auf.

»Na ja, solche Dinge eben. Wir haben schließlich noch nie miteinander Kaffee getrunken.« Weil du immer nur Sex im Kopf hast!, denkt sie, sagt es aber nicht laut.

»Das ist also wichtig? Miteinander Kaffee trinken?« Er macht ein merkwürdiges Geräusch durch die Nase. Sie betrachtet sein Profil. Bis jetzt ist ihr noch nicht aufgefallen, dass seine Nase ein wenig gebogen ist, was seinem Gesicht etwas Vogelhaftes verleiht.

»Und wenn ich dir sage, dass ich überhaupt keinen Kaffee trinke?«

»Nicht?«, fragt sie erstaunt. »Ohne Kaffee könnte ich den Morgen nicht überstehen.« Sie verzieht die Mundwinkel. »Du trinkst also keinen Kaffee. Was gibt es noch von dir zu berichten?« Sie stützt sich auf ihren Arm, sieht ihn erwartungsvoll an. »Im Grunde genommen weiß ich fast gar nichts von dir.«

Er schweigt eine Weile. »Wenn du mir zuhören würdest, wüsstest du eine ganze Menge.«

»Ich hör dir zu!«

Sie betrachtet ihn eingehend. Sein Gesicht ist ebenmäßig, etwas kantig, trotz der leicht gebogenen Nase sehr attraktiv, er könnte mit einem Model mithalten, besonders, wenn er sich nicht jeden Tag rasiert und der Bartschatten ihm etwas Verwegenes verleiht. Manchmal hat er etwas sehr Rätselhaftes an sich, wie gerade eben. Wenn er solche Behauptungen in den Raum wirft, die sie nicht richtig einordnen kann. Dann wiederum kommt er ihr etwas melancholisch vor, als ob er um etwas unwiederbringlich Verlorenes trauern würde. Das hat sie von Anfang an gerührt und hat diese fast ein wenig beängstigende Anziehungskraft, die er auf sie ausübt, verstärkt.

Noch immer wundert sie sich darüber, wie schnell sie Vertrauen zu ihm gefasst hat. Und wie es ihr in seiner Gegenwart gelingt, ihr anderes Leben auszublenden. Sie denkt daran, dass sie drauf und dran gewesen war, alles hinter sich zu lassen und Hals über Kopf mit ihm einen Neuanfang zu wagen. Weil er in ihrem tiefsten Inneren etwas angestoßen hat, das sie so noch nie erlebte. Inzwischen hat dieses anfangs so sichere Gefühl Risse bekommen. Obwohl sie ihn noch immer atemberaubend findet. Sogar in ihre nächtlichen Träume hat er sich geschlichen. Auch der Sex mit ihm ist sagenhaft, jedoch der allererste Rausch ist vorüber und langsam, ganz langsam klopft die Vernunft wieder an.

Aber daran will sie jetzt nicht denken, sie will den Augenblick hier auf dieser Sommerwiese genießen, bevor sie wieder von der unerbittlichen Realität eingeholt wird.

Sie pflückt einen Grashalm und kitzelt ihn im Gesicht. Er verzieht den Mund, lächelt. Mustert sie durch schmale Schlitze.

»Was ist?«

»Deine rechte Brust ist ein kleines bisschen größer als die linke, wusstest du das?«

Sie schüttelt den Kopf. Lacht etwas verunsichert. »Nein, ist mir noch nie aufgefallen.«

»Siehst du? Ich schau dich eben ganz genau an.«

Er stützt sich auf seine Unterarme, hebt den Kopf ein wenig an, bis sein Gesicht dicht vor dem ihren ist.

Sie blickt auf ihre Armbanduhr und seufzt. »Ich denke, wir sollten jetzt wirklich gehen.«

»Erzähl mir mehr von deiner Kindheit«, bittet er sie.

Natürlich will er mich nur zurückhalten, denkt sie. Aber es ist so schön. Dieses Gefühl, ihm ganz nah zu sein. Sie spürt seinen Atem in ihrem Gesicht, seine Wärme. Sie schmiegt sich an ihn, während Bilder aus ihrem früheren Leben in ihrem Kopf vorbeiziehen.

»In den Ferien durfte ich immer zu Oma und Opa aufs Land«, beginnt sie mit verträumter Stimme. »Die hatten einen kleinen Bauernhof. Dort waren viele Tiere, Katzen, Kaninchen, zwei Schweine. Es gab Eier von frei laufenden Hühnern zum Frühstück und Milch von glücklichen Kühen. Im Garten wuchsen Himbeeren, Erdbeeren und Kirschen, solche Zwillingsfrüchte, weißt du, die haben wir uns über die Ohren gehängt. Und es gab eine kleine süße Apfelsorte, die ich nie wieder seitdem gegessen habe. Zuckerapfel wurde sie genannt.«

Die Welt um sie herum verschwimmt. Sie ist ins Anderswo ihrer ureigenen Vergangenheit eingetaucht, läuft durch das hohe Gras der Wiesen, in dem man sich gut verstecken kann, schmeckt die Süße der Früchte im Garten, sieht die hügelige Landschaft in der Westpfalz, das Dorf, mittendrin die Kirche mit dem hohen Turm, wohin die Großmutter jeden Sonntagmorgen zum Gottesdienst aufbricht, während Großvater zu Hause bleibt. Er hat aufgehört, an einen Gott zu glauben, der zwei Weltkriege und unendliches Leid über die Menschen zugelassen hat. Aber darüber hat Opa erst mit ihr gesprochen, als sie älter und verständiger war. Jetzt hört sie das Ticken der alten Standuhr im gemütlichen Wohnzimmer mit dem weinroten Plüschsofa und den Häkeldeckchen auf den Armlehnen. Darüber hängen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos von ernst blickenden Männern in Soldatenuniform und Hochzeitsfotos ihrer Urgroßeltern, die sie nicht mehr kennen gelernt hat.

Ihr Blick schweift weiter durch die Räume ihrer Vergangenheit. Deutlich sieht sie den Keller der Großmutter vor sich. Bleiche Birnenschnitze, die niemand mehr essen will, weil sie bereits braun an den Rändern sind, stehen in hohen Einmachgläsern in ausgedienten Küchenschränken. Aber Großmutter bringt es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Zu präsent ist noch die Hungerzeit. Daneben stehen wenige kleinere Gläser eingeweckter Heidelbeeren, die Zunge und Zähne blau färben und die Oma als etwas ganz Besonderes preist, weil Opa im Wald eine Stelle weiß, wo sie wachsen und wo sie beide regelmäßig im Sommer mit den Fahrrädern hinfahren, um die blauen Beeren zu sammeln.

»Klingt wie Schlaraffenland«, hört sie eine Stimme. Sie blinzelt und braucht einige Bruchteile von Sekunden, um zu wissen, wer da spricht.

»War es auch«, bestätigt sie. »Aber das Häuschen gibt es leider nicht mehr. Oma und Opa sind schon lange tot.«

»Es geht eben alles vorbei. Nichts bleibt wie es ist. Das ist der Lauf der Zeit.« Er zieht ihren Kopf zu sich hin, reibt seine Nase an ihrer. Es kitzelt.

»So küssen Eskimos.«

»Ach ja?«

Sein Mund berührt sacht ihre Lippen. Seine Zunge sucht ihre Zunge. Einen Moment lang gleitet sie zurück in ihren Tagtraum und glaubt, die Süße der Zuckeräpfel und Kirschen von damals zu schmecken.

»Erdbeermund«, murmelt er und saugt sich an ihr fest. Plötzlich gräbt er seine Zähne tief in ihre Unterlippe.

»Aua!« Erschrocken stößt sie ihn von sich weg. Leckt sich vorsichtig über die Lippen.

»Ach komm«, flüstert er an ihrem Ohr. »Ich weiß, dass du das magst.«

»Nicht, wenn du derart fest zubeißt.« Prüfend streicht sie mit der Fingerkuppe über die Unterlippe, meint, sie sei bereits ein wenig geschwollen. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Dass man ihr ansieht, wo sie herkommt.

Seine Hand liegt auf ihrer bloßen Schulter. Der Träger ihres Kleides ist hinuntergerutscht. Mit sanftem Druck streichelt er ihre gebräunte Haut. Vom Hals bis zum Brustansatz. Dann hievt er seinen Körper auf ihren. »Ich kann doch nichts dafür«, flüstert er. »Du machst mich völlig verrückt.«

Zwischen zwei Küssen sagt sie: »Ich muss jetzt wirklich nach Hause.«

»Ich weiß«, raunt er mit seinem Mund an ihrem Ohr.

Ihre Erregung steigt, sie spürt das Kribbeln unter der Haut, zwischen den Beinen. Und plötzlich ist sie wieder da, ihre unbändige Lust.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch kann. Einen Mann völlig verrückt machen«, keucht sie.

Er streift ihr Kleid hoch, darunter ist sie nackt. Er küsst sie am ganzen Körper auf ihre sonnenwarme Haut. Sanft nimmt er die Haut zwischen seine Lippen. Drückt ihren Körper an seinen. Bis sie bettelt: »Komm. Bitte komm in mich.«

Sie krallt sich in der Haut seines Rückens fest, hebt sich ihm entgegen und seufzt laut, als er in sie eindringt. Das dünne Kleid ist bis zum Hals hochgerutscht. Seine Hände umfassen fest ihre Handgelenke.

»Was ist für dich Glück?«, stößt sie atemlos hervor, dicht bei seinem Gesicht.

»Das«, stöhnt er, während er in sie dringt. »Und das. Und das.«Er drückt ihre Arme fest ins Gras. Sie schreit auf, während er röchelnd über ihr zusammenbricht und reglos auf ihr liegen bleibt.

Nach einer Weile sagt sie leise: »Langsam wirst du mir zu schwer.«

»Entschuldigung.« Er rollt von ihr herunter, bleibt eng an ihren Körper geschmiegt liegen. Ermattet. Heftig atmend.

Plötzlich nimmt sie oben am Rand der Wiese einen dunklen Schatten wahr. Kein Tier, da ist sie sich sicher. Ein Mann. Die Silhouette verschwindet hinter der Hügelkuppe. Erschrocken zieht sie ihr Kleid über ihren Schoß.

»Was ist?«

»Ich glaub, da war jemand. Vielleicht hat er uns beobachtet.«

»Du siehst Gespenster. Hierher verirrt sich niemand.«

»Außer uns, meinst du wohl.«

»Außer uns.«

»Aber wenn …«

»Selbst wenn uns jemand gesehen hat.« Er knabbert an ihrem Ohrläppchen. »Hier kennt uns doch keiner.«

»Und das Auto?« Sie schreit es fast.

»Was ist mit dem Auto?« Er tut unschuldig.

Sie schluckt. Er weiß genau, was sie meint. Die Sache mit dem Auto hat sie sehr erbost. Das kann ihm nicht verborgen geblieben sein.

»Mach dir mal darüber keine Sorgen.«

»Tu ich aber.«

Er hebt seinen Oberkörper hoch und dirigiert ihr Gesicht vor das seine. »Sieh mich an!«

Am Anfang dachte sie, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmt, so irritierend wirkten sie auf sie. Doch mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt und findet seine Augen nicht mehr ganz so ungewöhnlich. So wie einem das Vertraute mit der Zeit selbstverständlich erscheint. In seinen Pupillen erkennt sie sich selbst. Als ob ihr Gesicht wie eine winzige Miniatur darin eingebrannt sei. Für immer und ewig.

»Du hast mich vorhin gefragt, was Glück ist«, flüstert er. »Glück ist, wenn du bei mir bist. Ganz bei mir bist. Ich wünsch mir nichts mehr, als dass du bei mir bleibst.«

»Ach, das sagst du nur so.«

Er lächelt auf sie herab, geht auf ihren spielerischen Ton ein. »Gib zu, dass du das hören wolltest.«

»Ja!«, ruft sie aus. »Ja! Ja! Ja!« Und dann küsst sie ihn mit einer Leidenschaft, die sie selbst überrascht.

Die Zweifel sind wie weggewischt. Kein Gedanke mehr daran, dass die Zeit alles ändert. Kein Gedanke, dass alles vergeht. Auch dieser gestohlene Augenblick, den sie am liebsten festgehalten hätte.

1. Kapitel

Franca Mazzari schob den Einkaufswagen durch den Supermarkt und war ständig darauf bedacht, dass sie ihn niemandem über die Füße rollte oder in die Seite rammte. Mann, was für ein Betrieb! Jedes Mal, wenn ein Feiertag im Kalender erschien, meinte man, die Welt müsse sich für eine Hungersnot rüsten.

Gern hätte sie vermieden, mitten im Silvestergetümmel einzukaufen, doch bisher hatte sie noch keine Zeit gehabt, und so fand sie sich zusammen mit anderen Nachzüglern im Gedränge kurz vor Ladenschluss wieder.

In ihrem Wagen lagen neben einigen Lebensmitteln des täglichen Bedarfs für ihren Single-Haushalt ein Sack Kartoffeln, ein Ring Fleischwurst, Mayonnaise und zwei Gläser Party-Gürkchen. Diese Zutaten wollten noch schnell zu einem Kartoffelsalat verarbeitet werden, bevor es zur Silvesterparty ging. Karin von der Prävention hatte zu einem Silvesterabend unter Kolleginnen eingeladen, jede hatte sich bereit erklärt, etwas zum Büffet beizusteuern. Eine Übriggebliebenen-Party, wie Karin es nannte. »Wir Mädels müssen schließlich zusammenhalten!«

Die Mädels, das waren Frauen im fortgeschrittenen Alter ohne männlichen Anhang. Davon gab es etliche bei der Koblenzer Polizei, was vielleicht etwas mit dem Beruf zu tun hatte. Die vielen Überstunden. Die vielen Wochenenddienste. Welchem Mann gefällt sowas schon? Da sucht er sich eben eine pflegeleichtere und weniger anstrengende Neue.

David hatte offensichtlich so eine Frau in Bianca gefunden. Franca hatte die Neue ihres geschiedenen Gatten noch nicht kennengelernt, die inzwischen gar nicht mehr so neu war. Aber sie verspürte keinerlei Lust auf ein Kennenlernen. Ihre gemeinsame Tochter Georgina zumindest fand Bianca nett. Georgina war jederzeit herzlich willkommen in Davids und Biancas Haus in Moselweiß, wo ihr Vater sogar ein eigenes Zimmer für sie eingerichtet hatte. Es brauchte eben nicht viel, um das Herz eines Teenagers zu erobern. Aber darüber wollte Franca keine weiteren Gedanken verlieren. Die Dinge waren wie sie waren, und man musste in irgendeiner Form damit umgehen.

Natürlich hatte es nach der Trennung von David in Francas Leben noch einige Versuche mit Männern gegeben, die jedoch allesamt kläglich scheiterten.

Macht sich nicht jeder seine eigene Vorstellung vom idealen Partner, mit dem man alles teilen kann? Und wenn man merkt, dass alles nur eine Illusion ist, beendet man besser die Sache, bevor es allzu wehtut. Außerdem ist es ehrlicher, wenn man für sich bleibt und versucht, die Anforderungen, die man an das Leben stellt, bei sich selbst zu erfüllen und sich nicht von einem Partner abhängig zu machen. Wirklich glücklich ist nur der, der sich mit dieser Tatsache arrangiert hat. Zumindest ab einem gewissen Alter.

Erfreut bemerkte sie, dass in dem Regal mit den Sonderaktionen Päckchen mit Baci lagen. Sofort packte sie zwei der blauen Schachteln in ihren Einkaufswagen. Diese italienischen Schoko-Nuss-Pralinen, die sie an ihren Vater und sein Feinkostgeschäft im Koblenzer Entenpfuhl erinnerten, gab es nicht oft beim Discounter.

Als sie weiter durch die Gänge mit den Lebensmitteln strich, sah sie die »Übriggebliebenen«, mit denen sie am Abend feiern wollte, im Geiste vor sich: Zusammen mit Franca war die Gruppe um Karin zu fünft. Irmgard vom Betrug war zwar alles andere als eine Stimmungskanone, aber jeder hatte Mitleid mit ihr, wahrscheinlich, weil sie immer so traurig guckte, sodass sie auf fast keiner Übriggebliebenen-Feier fehlte. Die vierte im Bunde war Hildegard, eine robuste Dicke, die glaubte, die Gerechtigkeit dieser Welt für sich gepachtet zu haben – was sie stets lautstark durch die Gegend trompetete. Dann war da noch Helga, eine Streifenpolizistin, die Franca nur flüchtig kannte und nicht richtig einschätzen konnte.

Im Grunde genommen stellte Franca sich diesen Mädelsabend ziemlich dröge vor – außer Karin kannte sie keine der anderen näher. Aber war nicht alles lustiger, als zu Hause allein auf dem Sofa der Jahreswende entgegenzublicken?

Im Gang mit den Teigwaren kam ihr eine Frau im langen schwarzen Gewand entgegen. Von Kopf bis Fuß verhüllt, schob sie einen Einkaufswagen vor sich her. Ihr Mann stolzierte neben ihr und zischte ihr in hart klingenden gutturalen Lauten etwas zu. Offensichtlich bestimmte er, was eingekauft wurde.

Franca suchte die Augen der Frau, außer ihren Händen das einzige Lebendige an ihr, das durch den Schlitz in ihrem Nikab sichtbar war, doch die Frau blickte an ihr vorbei. Sie hatte nur Augen für ihren Mann und ihren Einkauf.

Franca dachte daran, dass bei der eigentlichen Burka, wie sie Afghaninnen trugen, sogar die Augen durch ein Stoffgitter verdeckt waren. Sie fragte sich, ob man solch ein Kleidungsstück freiwillig tragen konnte, das ganz und gar die eigene Person samt Gesicht und Augen verhüllte, sodass man selbst darunter unsichtbar blieb. Sie hatte gelesen, dass der Koran nirgendwo vorschreibe, Frauen müssten sich vollständig verschleiern. Schon öfter hatte sie versucht, sich vorzustellen, wie man eine solche Frau vernehmen sollte. In der Stadt waren ihr bisher nur vereinzelt Burkaträgerinnen begegnet. Aber aufgrund der ständig steigenden Flüchtlingszahlen konnte es durchaus sein, dass sie irgendwann in die Verlegenheit kam. Dann würde sie auf jeden Fall darauf bestehen, dass die Frau den Gesichtsschleier abnahm. Gerade bei Vernehmungen war es wichtig, die Mimik des Gegenübers zu beobachten, die viel über einen Menschen preisgibt.

Vor allen Kassen standen lange Schlangen. Franca entschied sich für die mittlere, doch bald musste sie feststellen, dass dies die langsamste war. Hier kam man lediglich im Schneckentempo voran. Jetzt ging der Kassiererin auch noch die Kassenrolle aus und musste gewechselt werden. Francas Blick wanderte genervt über die üblichen Eye-Catcher und blieb an einer Packung mit Utensilien zum Bleigießen hängen. Normalerweise vermied sie, sich in ihrem Kaufverhalten derartig beeinflussen zu lassen, doch heute machte sie eine Ausnahme. Sollten die Mädels ruhig ihren Spaß beim Deuten der Zukunft haben. Bei den Silvesterknallern direkt daneben hielt sie sich zurück. So was konnte kaufen, wer wollte. Doch eine Flasche Sekt würde sich noch gut als Mitbringsel eignen. Obwohl der Sekt ebenfalls verkaufsfördernd neben der Kasse aufgebaut war, stellte sie eine Flasche in ihren Einkaufswagen.

Warum ging das denn nur so langsam? Die Kassiererin hatte doch längst ihre Papierrolle gewechselt.

Wie man wohl in Australien Silvester feiert, dachte Franca, während sie einen weiteren Schritt vorankam. Georgina, ihre Tochter, war momentan in Sidney, wo sie vorübergehend in einem Youth Hostel wohnte. Stunden und Tage hatte sie zu Hause damit verbracht, die richtigen Informationen für »Work and Travel« zusammenzusuchen, um dieses Abenteuer, das ihr schon so lange im Kopf herumspukte, zu verwirklichen. Unterstützt wurde sie dabei hauptsächlich von ihrem Vater, der meinte, dass ein junger Mensch gar nicht genug reisen könne, es gebe so viel Interessantes in der Welt zu sehen. Eine Einstellung, die seine Neue offensichtlich bekräftigte.

Dieser Haltung war Franca im Grunde genommen nicht abgeneigt, doch je näher die Stunde des Abschieds gekommen war, umso mehr hatte sie versucht, ihre Tochter noch umzustimmen und ihr dieses Vorhaben auszureden, zumal sie alles selbst organisieren und partout keine Agentur einschalten wollte. »Viel zu teuer«, hatte sie abgewinkt. »Das Geld kann ich sparen.«

Im Grunde wusste Franca, dass Georgina gnadenlos durchzog, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Da halfen keine noch so gut gemeinten Argumente. Das arme Kind war schließlich doppelt belastet: Den Sturkopf hatte sie sowohl von ihrem Vater als auch von ihrer Mutter geerbt.

Am Ende hatte alles gut geklappt. Das Visum erlaubte, zwölf Monate im Land zu reisen und zu arbeiten. Und jetzt war sie bereits drei Wochen in Down Under und berichtete begeistert via Skype und WhatsApp über ihre Unternehmungen. Franca kam es äußerst merkwürdig vor, wenn sie von Hitzewellen über die Weihnachtstage berichtete, von schwitzenden Santa Clauses bei 30 Grad im Schatten. Ein Foto zeigte sie im Sommerkleidchen beim Weihnachtsessen, während auf der anderen Seite des Erdballs eine vergleichbar herbstliche Witterung geherrscht hatte. Nach den Feiertagen jedoch hatte es in Deutschland einen regelrechten Temperatursturz gegeben. Inzwischen hatte es zu schneien begonnen.

Endlich war Franca an der Reihe. Schnell legte sie ihre Einkäufe aufs Band, bezahlte und rollte den Wagen aus dem Supermarkt. Draußen lag eine dünne Schneedecke, die stetig wuchs. Gut, dass sie kürzlich die Winterreifen auf ihren Alfa hatte aufziehen lassen. Da in diesem Jahr lange Zeit kein Winter in Sicht gewesen war, hatte sie sich eigentlich den Reifenwechsel sparen wollen. Doch dann meldete der Wetterbericht Schnee.

Als sie den Kofferraum aufschloss, klingelte ihr Handy. Karin meldete sich mit verschnupfter Stimme. »Franca. Mich hat’s total erwischt. Wird nix bei mir heute Abend. Hab sogar Fieber bekommen. Tut mir echt leid.« Ihre heisere Stimme wurde begleitet von einem Schniefen.

Franca ließ fast den Sack Kartoffeln fallen. »Aber ich hab grade alles eingekauft«, sagte sie unglücklich.

»Ich kann nix dafür. Hab gedacht, es wird wieder. Aber es wird immer schlimmer. Bedank dich bei dem da oben, der mir diese Scheiße geschickt hat. Meinst du, mir macht es Spaß, den Silvesterabend vergrippt im Bett zu verbringen?«

Franca hütete sich, etwas dazu zu sagen, zumal auf der anderen Seite der Leitung ein gefährlich klingender pneumatischer Hustenanfall ertönte.

»Kannst dich ja mit den anderen zusammentun«, krächzte Karin, als der Anfall einigermaßen vorüber war. »Mich braucht ihr doch nicht unbedingt.«

Diese Aussicht begeisterte Franca weniger. Soweit sie wusste, lebten die anderen alle außerhalb von Koblenz. Und bei dem Schnee war das kein Spaß. »Mal sehen. Dann wünsch ich dir jetzt erst mal gute Besserung.«

Sie setzte sich hinter das Steuer. Rammte den Rückwärtsgang rein und wollte aus dem Parkplatz preschen. Da hörte sie ein hässlich knirschendes Geräusch. O nein!

Sie stieg aus, um den Schaden zu begutachten. Ein junger Mann, dessen silberfarbener Audi gefährlich nah am rechten Kotflügel ihres roten Alfa stand, grinste sie schief an. »Na, Rückwärtsfahren ham wer nicht so richtig gelernt, was?«

2. Kapitel

Die Welt draußen war in Schnee gehüllt. Bäume und Büsche schienen wie von Künstlerhand geformte skurrile Skulpturen, mit sanften Konturen ohne scharfe Ränder. Mitten auf dem weißen Rasen stand ein Schneemann, den Cem und Erol gebaut hatten. Drei Kugeln unterschiedlicher Größe aufeinandergesetzt, die Augen Schottersteine, die Nase eine Mohrrübe. Auf dem Kopf trug der Schneemann eine Polizeimütze, im angedeuteten Arm hielt er einen Besen.

Schnee bedeckte auch den kleinen Teich, den ihr Mann im letzten Sommer angelegt hatte mit den drei schwimmenden Silberkugeln darauf, die im dünnen Eis festgefroren waren. Es schneite bereits den ganzen Tag und noch immer schwebten einzelne Flocken herab, blitzten kurz auf im Licht der Gartenlaterne, um dann taumelnd zur Erde zu sinken.

Ein schönes Bild war das. Ein friedliches Bild.

»Schneeflöckchen, Weißröckchen«, begann Yvonne leise zu summen. Mit dem Kinderlied verband sie zahlreiche angenehme Erinnerungen.

Ewig hätte sie so stehen können, um das Fallen der Flocken zu beobachten und sich dabei vorzustellen, wie alles Dunkle und Verletzende umhüllt wurde, bis es weich und strahlend weiß war und niemandem mehr weh tat. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, diese Parole hatte sie immer verfochten. Ehrlich sein zu sich selbst und zu anderen, ein hehres Credo. Bis sie erkennen musste, wie schwer das einzuhalten war und wie sehr die Wahrheit verletzen konnte. Und dass es manchmal vielleicht doch besser war, genau abzuwägen, was man seinen nächsten Angehörigen zumuten konnte. Inzwischen war sie der Meinung, dass manche Dinge besser ungesagt blieben.

»Ist noch Wein da?«, hörte Yvonne Otto, den Lebensgefährten ihrer Mutter im Hintergrund fragen.

»Gibt doch gleich Sekt«, antwortete ihre Mutter.

»Du weißt, dass ich diese Knallbrause nicht mag.«

»Ich hätte euch ja gern Champagner angeboten …«, meinte Cem, »auch weil Yvonne den so gern trinkt, aber …« Er schaute zerknirscht und zuckte mit den Schultern.

»Ich merk da sowieso keinen Unterschied«, sagte Yvonnes Mutter. Dann wandte sie sich an ihren Lebensgefährten: »Und einmal im Jahr kann man sich doch mal fügen, Otto. Und mit den anderen mittun. Auch wenn’s nicht ganz den eigenen Geschmack trifft.«

Yvonne wunderte sich noch immer über solche Sätze, die ihre Mutter niemals zu ihrem Vater gesagt hätte. Da war sie immer diejenige gewesen, die sich still fügte, die eigenen Wünsche hintanstellte und auf selbstverständliche Weise tat, was man von ihr erwartete. Interessant, wie sich manche Dinge veränderten.

Asta kam auf Yvonne zugetrippelt und stupste sie mit ihrer weichen Schnauze an. Automatisch glitt ihre Hand hinunter auf das Fell der Hundedame. Vier Jahre lebte sie nun schon bei ihnen und war ein Teil ihrer Familie geworden. Die Hündin hatten sie damals aus dem Tierheim geholt. Niemand konnte sagen, was für einer Rasse sie angehörte, aber das war Cem und ihr sowieso egal gewesen. Wahrscheinlich steckte ein wenig Schäferhund in ihr, ein wenig Pudel und irgendwas Größeres dazwischen. Asta hatte sie beide angesehen, war auf sie zugelaufen und hatte sofort ihr Herz erobert. Von diesem Zeitpunkt an wich sie nicht mehr von ihrer Seite. Auch ihr Söhnchen Erol war von der Hundedame begeistert. Allerdings – ein Wachhund war sie nicht. Sie rannte auf jeden Fremden zu, leckte ihm die Hand und wollte gestreichelt werden.

Im kleinen Kreis hatten sie vorhin beim Abendessen zusammengesessen, ihre Mutter und deren Lebensgefährte Otto, Cem, Erol und sie. Es gab Fleischfondue mit einigen pikanten Soßen, die Yvonne selbst zubereitet hatte, dazu Salat und Baguette. Sie hatten sich nett unterhalten und etliche Gläser Wein getrunken. Dabei immer wieder auf die Uhr gesehen, damit man den Zeitpunkt nicht verpasste, wenn das neue Jahr eingeläutet wurde. Nun war es bald so weit.

Asta lief schwanzwedelnd und hechelnd im Wohnzimmer herum. Sie ahnte offensichtlich, dass bald etwas Aufregendes passieren würde.

»Mama, wann ist denn endlich Feuerwerk?«, ertönte das piepsige Stimmchen ihres Sohnes.

»Gleich, mein Schatz. Dauert nicht mehr lange.« Yvonne unterdrückte ein Gähnen, sah in Erols übermüdetes Gesicht und musste unwillkürlich lächeln. Genau wie sie früher.

Natürlich wollte er unbedingt aufbleiben, um das Spektakel da draußen anzuschauen. Nur ja nichts verpassen! Auch wenn seine Augen schon ganz klein und gerötet waren und er sich eigentlich nach seinem Bett sehnte. Zumal er momentan in einem besonderen Bett schlafen durfte.

Zu Weihnachten hatte er von seiner Oma ein Zelt bekommen, das er mit Cems Hilfe in seinem Zimmer aufgebaut hatte. Da hinein hatten sie die ausgediente Luftmatratze und einige Kissen und Decken gelegt. Dort schlief Erol seit dem Heiligen Abend und kam sich dabei vor wie ein kleiner Indianer.

Yvonne war gespannt, wie lange es dauerte, bis er wieder in seinem richtigen Bett liegen wollte, das viel bequemer war als die provisorische Liegestatt – aber eben nicht so abenteuermäßig. Auch in diesem Verhalten erkannte sie Züge von sich selbst. Zumindest früher war sie derart gepolt gewesen: Immer musste irgendwo etwas los sein und was Spannendes passieren. Mit zunehmendem Alter hatte sich dies zwar gelegt, doch ab und an meldete sich eine nagende Sehnsucht nach dem besonderen Kick. Unterwegssein ins Abenteuerland. Sich auf Schatzsuche begeben. Ach ja.

Dass sie nie einen wirklichen Schatz gefunden hatte, tat nichts zur Sache, Hauptsache, man blieb in Bewegung und verlor nichts von der Neugierde, die einen vorantrieb.

Unwillkürlich beugte sie sich zu ihrem Sohn hinab und drückte ihn an sich. »Hab dich ganz doll lieb«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie spürte, wie er den Bruchteil einer Sekunde versucht war, sich ebenfalls an sie zu schmiegen, dann aber siegte das Mannhafte in ihm. Gefühle zeigen war Mädchenkram!, das hatte er in letzter Zeit öfter geäußert. Wo er diesen Blödsinn wohl aufgeschnappt hatte?

Kurzerhand befreite er sich aus ihrer Umarmung und lief hinüber zu seinem Vater. »Papa, können wir jetzt eine Rakete loslassen?«

»Ein bisschen Geduld musst du schon noch haben«, antwortete Cem lächelnd und strich ihm über die lockigen dunklen Haare, die er seinem Sohn vererbt hatte. Genau wie die leicht oliv getönte Haut und die braunen Augen.

Yvonne ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen, streifte die Luftschlangengirlanden an der Decke, mit denen sie das Wohnzimmer dekoriert hatte und blieb schließlich an Monets Seerosenteich haften. Giverny, dachte sie sehnsüchtig. Ob ich da jemals hinkomme? In diesen wunderschönen Garten. Doch auch für solch kurze Reisen war kein Geld da. Sie hoffte so sehr, dass sich das bald wieder änderte, doch momentan sah es nicht danach aus. Ihr Blick wanderte weiter zu der kleinen Versammlung in der anderen Ecke des Wohnzimmers. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie außerhalb dieser Gruppe stand, die Asta hechelnd umkreiste. Yvonne fühlte sich wie auf Beobachtungsposten. Nicht ganz dazugehörig. Aber vielleicht empfand nur sie dies so – es lag ja an ihr, sich auf die Gruppe zuzubewegen und wieder Teil davon zu sein.

Asta bellte aufgeregt und hechtete zur geschlossenen Terrassentür. Am Himmel zerplatzte eine einzelne Rakete. Silberglimmer zerstob und rieselte herab. Gut, dass die Hündin keine Angst hatte vor dem Krach, der bald draußen zu erwarten war.

Frühere Silvester fielen Yvonne ein. Als sie klein war, ungefähr so alt wie Erol jetzt, und ihr Vater noch lebte. Weit vor Mitternacht hatten ihre Eltern für sie und ihren Bruder ein Feuerwerk gezündet. Einerseits, damit die Kinder in dem guten Glauben ins Bett gehen konnten, dem Ritual zum Jahresende gebührende Beachtung geschenkt zu haben. Andererseits, weil ihr Vater ein Frühaufsteher gewesen war und selten bis Mitternacht durchgehalten hatte. Mit den Hühnern schlafen gehen und mit ihnen aufwachen, das war seine Devise. Und die wurde das ganze Jahr über eingehalten. Ihre Mutter hatte sich immer gefügt, obwohl sie vielleicht auch mal gerne länger aufgeblieben wäre, gerade an einem solchen Tag. Aber sie folgte brav ihrem Gatten ins Ehebett.

Zwar hatte Yvonne sich immer ein bisschen gewundert, dass sie an diesem letzten Dezembertag die einzige Familie waren, die Feuerwerkskörper in den Himmel schossen, aber allzu viele Gedanken hatte sie sich nicht darum gemacht. Erst viel später hatte sie verstanden, wie sich die Dinge wirklich verhielten. Doch nur allzu gern dachte sie an kalte Silvesterabende zurück, wie ihre kleine Familie hinaus in die Dunkelheit und in den Schnee gestapft war, und sie erinnerte sich an die Freude, die sie empfunden hatte angesichts der feurigen Funkenregen und der surrenden Sonnenräder, die ihr Vater am Zaun befestigt und angezündet hatte.

Papa, dachte sie mit einem Ziehen in der Brust. Lass es dir gut gehen da oben. Vielleicht bist du an Silvester ja jetzt nicht mehr so müde und kannst das Himmelsspektakel ein wenig genießen.

Sie schielte zu ihrer Mutter hinüber, die sich lebhaft mit Cem und Otto unterhielt. Offensichtlich ist es manchmal ganz gut, wenn die Dinge sich verändern, dachte sie. Wenn bei ihren Eltern auch notgedrungen. Nachdem ihr Vater mit 67 Jahren überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte ihre Mutter sich noch einmal neu orientiert. Nicht zu ihrem Schlechtesten, wenn man sah, wie sie vor Lebenslust regelrecht sprühte. Sie trug ein äußerst vorteilhaftes Kleid aus blauem Samt und wirkte viel jünger und attraktiver als jemals an Vaters Seite.

Überhaupt hatten sich alle für diesen Abend schick gemacht. Yvonne trug eine schwarze Samthose und ein türkisfarbenes Paillettentop, das ihre schlanke Figur gut zur Geltung kommen ließ. Die blonden Haare hatte sie locker hochgesteckt, weil Cem diese Frisur besonders mochte. Auch ihr Mann sah sehr gut aus in seiner dunklen Anzughose, dem hellblauen Hemd und der silber- und blaugestreiften Seidenkrawatte. Dies fiel auf, da sie ihn hauptsächlich in seiner Polizeiuniform zu sehen bekam. Oder an seinen freien Tagen in eher legerer Kleidung. Ihr zuliebe trug er heute den Anzug.

»Noch fünf Minuten«, sagte ihre Mutter. Ihre Blicke irrten suchend umher, blieben schließlich auf ihrer Tochter haften. »Yvonne, komm her zu uns«, rief sie und wedelte heftig mit den Armen. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen strahlten.

Cem war bereits in die Küche gegangen und brachte die Flasche mit dem gekühlten Sekt. »Sind die Gläser gerichtet?«

»Schon längst«, ließ Yvonnes Mutter verlauten und zeigte auf das Tablett, das auf dem Esstisch stand. »Für Erol gibt’s Apfelschorle aus dem Sektglas. Dann kann er auch mit uns anstoßen. Sieht ja fast aus wie Sekt, nicht wahr?«

Wieder begann Asta heftig zu bellen. Yvonne öffnete die Terrassentür und ließ die Hündin hinaus. Ein Schwall kalter Luft stob herein. Asta sprang wie toll im Schnee herum, wälzte sich in der weißen Pracht und hinterließ überall Pfotenabdrücke.

»Die schießen schon!« Erol wollte ebenfalls in den Garten.

Seine Oma hielt ihn zurück. »Zieh dir was über, Kind, bevor du dich erkältest«, mahnte sie.

Der Satz hätte auch von mir sein können, dachte Yvonne und ging in den Flur, um Erols Jacke zu holen, in die der Junge mit ungeduldigen Bewegungen schlüpfte. Noch den Reißverschluss zu, und schon lief er hinaus zu Asta.

»Neun – acht – sieben …«, zählte Otto laut rückwärts. »Beeil dich, Junge«, feuerte er Cem an, der den Metallüberzug von der Sektflasche entfernte. Der Korken knallte. Cem füllte die bereitstehenden Kelche mit der perlenden Flüssigkeit.

Draußen hörte man Astas aufgeregtes Gebell. Ein mehrfarbiger Funkenregen erhellte den nächtlichen Himmel. Gleichzeitig begannen die Glocken zu läuten.

»Ist das schön«, rief Erol, den Kopf in den Nacken gelegt.

Cem hatte einige Raketen in leeren Flaschen bereitgestellt, die er eine nach der anderen anzündete. Nur Erol zuliebe tat er das, denn eigentlich war er gegen die Knallerei, er spende lieber für einen guten Zweck, als Geld sinnlos in der Luft zu verballern, sagte er immer. Ja, er war schon ein Korrekter, ihr Cem.

»Mama, Oma, kommt auch raus«, rief Erol voller Begeisterung und hüpfte in die Höhe.

»Wir können es auch von hier drinnen gut sehen.«

Nachdem die aufgestellten Raketen abgeschossen waren, kam Cem zur Tür herein, trat zu Yvonne und stieß mit ihr an. Die Gläser klirrten leise. »Auf dass das nächste Jahr besser wird als das vergangene«, sagte er und sah ihr tief in die Augen. »Und dass wir im nächsten Jahr wieder mit Champagner anstoßen können.«

Einen Moment war sie versucht wegzuschauen. Doch dann hielt sie seinem Blick stand. Sie wusste, dass sie Cem einiges zugemutet hatte. Er ihr allerdings auch. Im Grunde nahmen sie sich beide nichts. Zumindest hatten sie versucht, miteinander zu reden. Aber ob er ihr alles erzählt hatte? Wahrscheinlich nicht. Genau wie sie die Dinge nur an der Oberfläche gestreift und vieles von dem verschwiegen hatte, was ihn allzu sehr verletzt hätte. Allerdings wusste sie es zu schätzen, dass er nicht nachtragend war. Zumindest ließ er sich das nicht anmerken. Und sie glaubte, ihn so gut zu kennen, dass er sie mit dem Gesichtsausdruck eines aufrichtigen Menschen betrachtete, der liebt und der sich geliebt fühlt.

»Auf dass das nächste Jahr das schönste unseres Lebens wird«, sagte sie und küsste ihn. Es war ein langer, zärtlicher Kuss, der ein fast vergessenes Prickeln in ihrem Inneren wieder aufleben ließ. Ein Gefühl, für einen kurzen Moment aus der Welt zu fallen und zu schweben.

»Darf man stören? Otto und ich wollen euch schließlich auch ein schönes neues Jahr wünschen.«

»Ausnahmsweise.« Yvonne lachte und löste sich aus den Armen ihres Mannes.

»Es freut mich sehr, euch so glücklich zu sehen«, flüsterte ihre Mutter ihr ins Ohr.

»Das Gleiche kann ich nur zurückgeben«, erwiderte Yvonne.

»Wisst ihr, dass Yvonne früher ein richtiges Feuerteufelchen war?«, platzte Mutter laut in die Runde. »Einmal hat sie fast die Bude abgefackelt.«

»Mama, das muss doch nicht jeder wissen.« Yvonne tat verlegen.

In letzter Zeit gab ihre Mutter immer öfter einige von Yvonnes Eskapaden zum Besten, die wirkten, als ob sie stolz gewesen sei auf die lebhafte Tochter. Damals hatte sich das ganz anders angehört. Da war sie andauernd ausgeschimpft worden.

Eigentlich hat man mir immer erzählt, ich sei ein richtiger Feger gewesen, dachte Yvonne. Komisch, dass ich das zeitweise ganz vergessen habe.

Draußen knallte und böllerte es weiter in regelmäßigen Abständen. Zischend stiegen Raketen auf, sprühten Funken und malten bunte Sternenregen in den Nachthimmel. Asta sprang wild im Schnee hin und her, als ob sie die Raketen fangen wollte. Die Nachbarn ringsum hatten sich offenbar reichlich mit Feuerwerksbatterien und Chinaböllern eingedeckt, es wollte gar nicht mehr aufhören zu sprühen, zu zischen und zu knallen.

Yvonne genoss das Spektakel. Sie teilte nicht unbedingt die Auffassung ihres Mannes, für derart Kurzlebiges kein Geld auszugeben. Sie fand, dass man sich ab und an funkelnde Momente schaffen musste, allein schon deshalb, um sie später bei Bedarf abzurufen. Man gab so viel Geld für unnütze Dinge aus, da kam es auf ein paar Feuerwerkskörper auch nicht mehr an – man musste es ja nicht übertreiben.

Nebenan knallten ein paar besonders laute Böller.

»Mama. Warum ist das so laut?«, fragte ihr Sohn, der zurück ins Zimmer gekommen war, sich an sie drückte und ihre Hand suchte.

»Die freuen sich halt, weil ein neues Jahr beginnt.«

»Aber warum muss man dann so einen Krach machen? Raketen allein sind doch schön.«

Sie hob die Schultern. »Weil man das schon immer so gemacht hat.«

Sie wusste, dass das die dümmste Antwort war, die man einem Jungen wie Erol geben konnte. Einem wissbegierigen Kind, das den Dingen auf den Grund gehen wollte. Der sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden gab. Aber etwas Schlaueres wollte ihr partout nicht einfallen.

»Das macht man, um die bösen Geister zu vertreiben. Eine alte germanische Tradition.«

Überrascht sah Yvonne in Cems Gesicht. »Woher weißt du das denn?« Manchmal kam es ihr richtig unheimlich vor, wie viel ihr Mann mit seinen türkischen Wurzeln über germanische Bräuche und Deutschtum wusste.