Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus - David Graeber - E-Book

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus E-Book

David Graeber

3,8
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Behauptung von Wirtschaft und Politik, dass es zum bestehenden System keine Alternative gibt, wird von David Graeber in diesem Buch systematisch demontiert. Eine andere Wirtschaft, ein anderes Modell menschlicher Gemeinschaft ist nicht nur denkbar, sondern auch möglich und machbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 230

Bewertungen
3,8 (16 Bewertungen)
6
4
2
4
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

EinleitungCopyright

Einleitung

Die Lektoren des vorliegenden Buchs haben mich, vermutlich aus gutem Grund, darum gebeten, eine kurze Einleitung zu verfassen, in der ich erkläre, wie die hier versammelten Aufsätze zusammenhängen. Das ist eine interessante Frage, da die Idee, die verschiedenen Essays zu einem Band zusammenzustellen, ursprünglich gar nicht von mir stammte. Tatsächlich erschien die Aufsatzsammlung zuerst auf Griechisch unter dem Titel Κίνημα, ßία, τέχνη και επανάσταση (»Bewegung, Gewalt, Kunst und Revolution«, Athen, Black Pepper Press, 2009). Zusammengestellt hatte die Aufsätze der Herausgeber und Übersetzer Spiros Kourouklis. Als ich im Mai 2010 während eines Griechenlandaufenthalts erstmals darauf aufmerksam wurde, empfand ich die Idee zu dieser Aufsatzsammlung spontan als sehr gelungen. Sie ergab in meinen Augen intuitiv Sinn, und dieser Meinung waren wohl auch zahlreiche Personen innerhalb der Bewegung in Griechenland selbst, wie mir bald zu verstehen gegeben wurde. Insbesondere vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und der instabilen Situation, die auf die stürmischen Tage im Dezember 2009 folgten, wurden offenbar viele der im Buch enthaltenen Argumente von Anarchisten, Antiautoritären und Aktivisten in Griechenland aufgegriffen.

Aber was ist nun das verbindende, übergeordnete Thema der Aufsätze?

Vermutlich ist es sinnvoll, sich zunächst den Kontext vor Augen zu halten, in dem diese Essays ursprünglich entstanden sind. Sämtliche Texte wurden zwischen 2004 und 2010 verfasst, was für jemanden wie mich, der sich aktiv in sozialen Bewegungen engagiert, keine einfache Zeit war. Mit dem Aufkommen der Bewegung für globale Gerechtigkeit (Global Justice Movement) etwa im Zeitraum von 1998 bis 2002 hatten wir auf einmal das Gefühl, dass sich nahezu unerschöpfliche Möglichkeiten vor uns auftaten. Doch infolge der Anschläge vom 11. September geriet alles aus den Fugen. Vielen kam der Enthusiasmus abhanden, der uns all die Jahre zuvor am Leben gehalten hatte. Viele waren auch einfach ausgebrannt, gaben auf, wanderten aus, zankten sich, begingen Selbstmord, fingen ein Aufbaustudium an, promovierten oder gaben sich sonstigen makabren Formen der Verzweiflung hin. Der Punkt, an dem ich persönlich kurz davor stand zu verzweifeln, war im Jahr 2004, unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen in den USA. Damals schien es, als habe die Präsidentschaft von George W. Bush, die ursprünglich auf »gestohlenen« Wahlergebnissen beruhte, ein echtes Mandat des Volkes erhalten.

Unmittelbar nach dem 11. September 2001 hatte es zunächst den Anschein, als würden wir eine Art Wiederholung des Ersten Weltkriegs erleben. Bereits der ungefähr von 1880 bis 1914 dauernde Zeitraum wies gewisse Parallelen zu dem Jahrzehnt auf, das auf den Fall der Mauer folgte: Kriege zwischen Großmächten schienen der Vergangenheit anzugehören, und die herrschenden Kräfte huldigten einem Ethos des Freihandels, der freien Märkte und der fieberhaften Anhäufung von Kapital. Zugleich erlebten global agierende antikapitalistische Bewegungen in dieser Periode einen rapiden Zulauf, flankiert von einem revolutionären Internationalismus, innerhalb dessen die anarchistische Bewegung das dynamische Zentrum der radikalen Linken zu verkörpern schien. Die Mächtigen der Welt verfielen daraufhin in Panik und reagierten, indem sie einen Weltkrieg anzettelten, der – in seinen Folgen – nahezu ein Jahrhundert lang andauern sollte. Im Zuge dessen appellierten sie an den Nationalismus, an die nationale Sicherheit, an Rassismus und Hurrapatriotismus jeglicher Art, wodurch es ihnen gelang, die (für sie) bedrohlichen Bündnisse zu zerschlagen. Nach dem 11. September hatte es den Anschein, als wollten sie denselben Trick erneut anwenden. Die bloße Aussicht, dass in naher Zukunft eine wirkungsvolle, weltweit aktive antikapitalistische Bewegung entstehen könnte, brachte sie dazu, umgehend ihre mächtigste Waffe zu ziehen: Sie verkündeten, dass es zu einer permanenten weltweiten Kriegsmobilisierung kommen würde. Und das, obwohl der von ihnen gewählte Gegner ihnen auf lange Sicht unmöglich einen hinlänglichen Vorwand liefern könnte. Schließlich handelte es sich bei diesem um eine bunt zusammengewürfelte, schlecht organisierte Bande von Islamisten, die zudem außergewöhnliches Glück gehabt hatten. War es ihnen doch gelungen, ihren wahnwitzigen Plan in die Tat umzusetzen und einen terroristischen Anschlag zu verüben, der als einer der wenigen in der Geschichte tatsächlich »funktionierte«. Ohne Frage würden sie einen solchen Gewaltakt niemals wiederholen können.

Wie konnte die Strategie der Mächtigen unter solchen Umständen Erfolg haben? Die amerikanische Öffentlichkeit hatte aus irgendeinem Grund für dieses Projekt gestimmt. Darüber hinaus musste ich bestürzt mit ansehen, wie scheinbar jeder Versuch, einen internationalen Widerstandsgeist wiederaufleben zu lassen, scheiterte, egal ob bei den G8-Protesten, den Aktionen rund um den darauffolgenden G20-Gipfel oder bei den Demonstrationen während diverser UN-Klimakonferenzen. Zwar wurde dabei teilweise eine Reihe kleinerer taktischer Siege errungen, was jedes Mal von neuem auf einen plötzlichen Energieschub hoffen ließ, aus dem heraus sich dann eine längerfristige Bewegung entwickeln sollte. (Immer wieder hieß es: »Jetzt haben wir es endlich geschafft, wir sind über den Berg.«) Doch in Wirklichkeit ist es nie dazu gekommen. Natürlich lag dies zum Teil auch daran, dass der Grad der Repression drastisch zugenommen hatte. Genauer gesagt hatten die Polizei und andere Sicherheitskräfte offensichtlich den Eindruck, dass sie mit uns auf einmal sehr viel härter umspringen konnten. Doch es lag keineswegs ausschließlich daran. Im Gegenteil, was uns am meisten behinderte, war ausgerechnet die Tatsache, dass unser Gegner derart planlos agierte.

In diesem Zusammenhang ist mir noch gut in Erinnerung, wie ich im Jahr 2007, vor dem G8-Gipfel in Japan, von einigen japanischen Freunden gebeten wurde, eine strategische Analyse der globalen Situation aus der Sicht des Kapitals sowie der entsprechenden Protestbewegungen zu erstellen. Ich durfte dabei mit einem großartigen Team zusammenarbeiten, hauptsächlich bestehend aus Leuten, die ansonsten im Kollektiv »Midnight Notes« aktiv sind. Im Rahmen dieses Projekts entwickelten wir eine in meinen Augen nach wie vor faszinierende und überzeugende Analyse der wirtschaftlichen Sackgasse, in die sich das Kapital zu diesem Zeitpunkt hineinmanövriert hatte. Zugleich arbeiteten wir eine plausible Strategie zur Überwindung dieser Krise aus. (Im Wesentlichen gingen wir davon aus, dass man zunächst eine globale ökologische Krise ausrufen sollte. Im Anschluss daran sollte eine an einem grünen Kapitalismus orientierte Strategie umgesetzt werden, um Ressourcen, beispielsweise aus Staatsfonds, allmählich der Kontrolle der Finanzeliten zu entreißen, stattdessen wieder unter staatliche Kontrolle zu stellen und entsprechend für andere Zwecke einzusetzen.) Ich bin nach wie vor der Meinung, dass dies die bestmögliche Strategie gewesen wäre, die sie hätten wählen können, um die langfristige Überlebensfähigkeit der kapitalistischen Ordnung zu sichern. Das Problem war nur: Darum ging es ihnen primär gar nicht. Die Staats- und Regierungschefs stritten sich während der Gipfeltreffen ausschließlich über Belanglosigkeiten. Doch wie sieht eine radikale Reaktion auf allgemeine Verwirrung aus? Wie um alles in der Welt hätten wir uns eine Gegenreaktion auf ihre bösartigen Pläne ausdenken sollen, wenn sie noch nicht einmal selbst wussten, was sie eigentlich vorhatten?

Im Rückblick kann man natürlich leichter erkennen, was damals ablief. Den hohen Tieren, die während der verschiedenen Gipfeltreffen zusammenkamen, war vermutlich eher bewusst als uns, dass das gesamte System nur noch am seidenen Faden hing. (Letztlich beruhte es auf einer höchst altmodischen Allianz der Militär- und Finanzmacht, die typisch war für die Spätphase kapitalistischer Imperien.) Den Mächtigen der Welt ging es dabei weniger darum, das System zu retten, als vielmehr sicherzustellen, dass sämtliche plausible Alternativen in den Köpfen der Menschen ausradiert würden. Denn wenn das ganze System dann zusammenbrechen würde, hätten sie als Einzige Lösungen anzubieten. Nicht, dass es seit der weltweiten Finanzkrise 2008 auffallend viele Lösungsvorschläge gegeben hätte. Doch immerhin lässt sich nun nicht mehr leugnen, dass ein fundamentales Problem existiert. Die Ordnung, die zwischen 2004 und 2008 Bestand hatte, wird es in dieser Form niemals wieder geben, auch wenn sie zeitweise selbst von kritischen Kreisen überall auf der Welt zähneknirschend geduldet worden war. Sie war schlicht nicht überlebensfähig.

Die vorliegenden Texte sind somit das Produkt eines chaotischen Interregnums, in dem es schwerfiel, irgendwo einen Hoffnungsschimmer auszumachen. Falls dieser Essay-Sammlung ein verbindendes Thema zugrunde liegt, dann wohl, dass in allen Texten jeweils ein Aspekt aus diesem Zeitraum herausgegriffen wird, der zunächst besonders bedrückend oder entmutigend wirkt, also beispielsweise ein augenscheinlicher Misserfolg, ein Stolperstein, eine Gegenmacht oder ein Beispiel für einen Moment, in dem sich die weltweite antikapitalistische Bewegung eher unklug verhalten hatte. Ausgehend von diesem negativen Aspekt wird dann versucht, beispielsweise ein verborgenes Detail, das man normalerweise nicht wahrnimmt, oder einen weniger offensichtlichen Blickwinkel herauszuarbeiten, von dem aus gesehen die scheinbar trostlose Landschaft auf einmal in einem ganz anderen Licht erscheint.

Am deutlichsten offenbart sich diese Vorgehensweise in den ersten drei Aufsätzen, die jeweils von den Lehren handeln, welche man aus der Bewegung für globale Gerechtigkeit ziehen könnte. Im Grunde gilt dies jedoch für alle Essays, die in diesem Band versammelt sind.

Am explizitesten ausgeführt ist dies wohl in Der Schock angesichts des Sieges, weshalb die Essay-Sammlung mit diesem Text eröffnet wird. Wie bereits erwähnt, hatten die meisten Menschen, die in der globalen Gerechtigkeitsbewegung aktiv gewesen waren, nicht das Gefühl, sonderlich viel bewegt zu haben. Wir alle hatten miterlebt, wie nach den ersten aufregenden Jahren interne Machtkämpfe entflammt waren und sich Erschöpfung und Verwirrung breitgemacht hatten. Bündnisse zerbrachen, und es gab endlose erbitterte Diskussionen über Rassismus, Sexismus, Privilegien, Lebensstil, das so genannte Gipfel-Hopping, Entscheidungsfindungsprozesse, die mangelnde Zusammenarbeit mit echten widerständischen Gemeinschaften und so weiter. Dies konnte nur eins heißen: Die Bewegung hatte sich letztlich als zu schwach und ineffektiv erwiesen, und uns war es nicht gelungen, auch nur ein einziges unserer zentralen Ziele zu erreichen.

Paradoxerweise war diese Entwicklung jedoch eigentlich ein direktes Ergebnis unseres Erfolgs. Die meisten jener kleinlichen Streitereien waren im Prinzip indirekte strategische Debatten darüber, wie es nun weitergehen sollte, da wir so viele unserer unmittelbaren Ziele so schnell erreicht hatten. So wollten wir beispielsweise einer auf Strukturanpassungsprogrammen beruhenden Politik ein Ende setzen und neue weltweite Handelsabkommen verhindern. Des Weiteren sollte der Ausbau von Institutionen neoliberaler Herrschaft wie IWF und WTO gestoppt und deren Einfluss beschnitten werden. Das Problem hierbei war, dass niemand die Erfolge als solche erkannte, was es nahezu unmöglich machte, eine umfassende und ehrliche Auseinandersetzung hierüber zu führen. Die Diskussionen wurden immer hitziger, und die daraus entstehenden Frustrationen überwogen schließlich derart, dass es fast niemandem auffiel, dass wir unsere Ziele ja eigentlich erreicht hatten! Es ist zwar richtig, dass der Text mit einer wesentlich weitreichenderen Frage endet, und zwar der Frage: Was würde es bedeuten, tatsächlich zu gewinnen?, wie es die Zeitschrift Turbulence in einer Sonderausgabe ein oder zwei Jahre später formulieren sollte. Doch in erster Linie setzt sich der Essay mit der außergewöhnlichen historischen Schlagkraft von Bewegungen auseinander, die auf den Prinzipien der direkten Aktion und der direkten Demokratie basieren. Gleichzeitig wird auf die eigentümliche Tatsache aufmerksam gemacht, dass unseren Gegnern die potenzielle Wirkmächtigkeit solcher Bewegungen viel eher bewusst zu sein scheint, als denjenigen, die innerhalb dieser Bewegungen selbst aktiv sind (was sich an deren panikartigen Reaktionen nur allzu deutlich ablesen lässt). Auch dass solche Bewegungen tatsächlich eine Bedrohung für globale Machtstrukturen darstellen, scheinen sie eher zu erkennen als die Aktivisten selbst.

Dasselbe Thema wird im Aufsatz Geteilte Hoffnung erneut aufgegriffen und weiter vertieft. Wer sich für die Welt ein anderes Organisationsprinzip als den Kapitalismus wünscht, für den ist es fast normal, sich die meiste Zeit über deprimiert und entmutigt zu fühlen. Doch woher kommt dieses Gefühl? Könnte es nicht sein, dass unsere Niedergeschlagenheit nur daher stammt, dass Kapitalisten und Politiker alles daransetzen, uns ein solches Gefühl einzuimpfen? Vielleicht ist genau das der eigentliche Zweck des Neoliberalismus. Der neoliberale Kapitalismus als Regierungsform zeichnet sich dadurch aus, dass er um jeden Preis den Anschein erwecken will, es gebe keine Alternative, wie Margaret Thatcher in den 1980er Jahren bekanntermaßen verkündet hatte. Mit anderen Worten, es wird erst gar nicht mehr ernsthaft versucht zu argumentieren, dass es sich bei der heutigen Wirtschaftsordnung um eine gute, gerechte und vernünftige Ordnung handle. Es wird auch nicht mehr behauptet, das System sei sehr wohl in der Lage, irgendwann eine Welt hervorzubringen, in der die meisten Menschen sich frei und sicher sowie materiell in der Lage fühlen, sich während eines nennenswerten Teils ihres Lebens den Dingen zu widmen, die sie für wirklich wichtig halten. (Es handelt sich im Gegenteil um ein schreckliches System, in dem noch nicht einmal die allerreichsten Länder in der Lage sind, die Grundversorgung der Mehrheit ihrer Bürger, etwa in Bezug auf Gesundheit oder Bildung, zu gewährleisten.) Es heißt jetzt schlicht, das System funktioniere zwar nur unzureichend, doch alle anderen Systeme würden im Gegensatz dazu überhaupt nicht funktionieren. (Es ist faszinierend, wie schnell sich etwa gegen Ende des Kalten Kriegs die Wortwahl verändert hat, mit der die Sowjetunion beschrieben wurde. Natürlich würde niemand, der noch ganz bei Trost ist, ein solches System wiederaufbauen wollen, und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird dieser Fall zum Glück auch nie eintreten. Interessant ist dennoch, dass sich die Sprachregelung praktisch über Nacht verändert hat. Zuerst hieß es, eine von oben verordnete Planwirtschaft ohne irgendwelche Marktkräfte könne mit den fortschrittlichsten kapitalistischen Mächten weder in militärischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht mithalten. Dann wurde nur noch abschätzig und im Brustton der Überzeugung beteuert, dass der Kommunismus »einfach nicht funktioniere« – was im Grunde heißt, dass es ein solches System nie gegeben haben konnte. Eine erstaunliche Aussage, wenn man sich einmal vor Augen hält, dass die Sowjetunion tatsächlich existierte, und zwar fast 70 Jahre lang. Außerdem hat sie Russland in wenigen Jahrzehnten von einem rückständigen Agrarstaat in eine militärische und technologische Großmacht verwandelt.)

In den Jahren kurz vor und kurz nach dem Ende des Kalten Kriegs blieb der wahre Charakter des neoliberalen Kapitalismus noch weitgehend verborgen. Damals hielten sich übertrieben enthusiastische neoliberale »Reformer« für Revolutionäre, und jeder glaubte, dass aus den Armen der Welt mithilfe von Mikrokrediten erfolgreiche Unternehmer werden würden. In den darauffolgenden Jahren wurde das neoliberale Projekt jedoch auf das reduziert, was es im Kern schon immer war: mitnichten ein wirtschaftliches Projekt, sondern im Gegenteil ein politisches Projekt, das darauf abzielte, die Fantasie der Menschen vollständig zu zerstören. Im Rahmen dieses Projekts wurde bereitwillig in Kauf genommen, die kapitalistische Ordnung – mittels umständlicher Verbriefungen und irrsinniger militärischer Vorhaben – gleich mit zu vernichten, falls dies nötig werden sollte, um das neoliberale Projekt als unvermeidlich darzustellen. Hinter unserem Gefühl der Hilflosigkeit steht somit eine gigantische und ungeheuer teure Maschine, die das heutige System mit großer Wahrscheinlichkeit unter ihrem eigenen Gewicht zerschmettern wird.

Im letzten Essay dieser Gruppe, Revolution rückwärts, werden die Risiken dieses Kriegs gegen die Fantasie auf einer noch tiefgreifenderen Ebene betrachtet. Dieser Aufsatz hat eine merkwürdige Vorgeschichte. Ursprünglich war der Text für eine Sonderausgabe der Zeitschrift New Left Review in Auftrag gegeben worden, wobei der Herausgeber aktiv an der Strukturierung des Essays beteiligt war. Ein Jahr später wurde der Aufsatz jedoch kurzerhand abgelehnt, und mir wurde nicht einmal Gelegenheit gegeben, mich zu den Kritikpunkten zu äußern. (Tief im Innern sind die Herausgeber der New Left Review Aristokraten und berüchtigt für diese Art von selbstherrlichem Verhalten.) Der einzige Kommentar, den ich erhielt, war – natürlich nicht genau in diesen Worten, aber fast –, dass es sich für englischsprachige Autoren nicht zieme, eigene theoretische Konzepte zu entwickeln; dies solle man besser deutsch-, italienisch- oder französischsprachigen Theoretikern überlassen. (Unsere Funktion besteht anscheinend schlicht darin, diese Theorien entsprechend zu kommentieren.)

Wie auch immer, ob es mir nun zusteht, theoretische Überlegungen anzustellen oder nicht, jedenfalls tat ich in diesem Aufsatz genau das. Vorausgegangen war diesen Überlegungen ein jahrelanges Engagement innerhalb des Direct Action Network und anderen anarchistisch orientierten Gruppen. Diese Arbeit brachte mich dazu, über einen weiteren Aspekt nachzudenken, der unter heutigen Radikalen offenkundig für Verzweiflung sorgt: Was ist nur aus der guten alten Revolution geworden? Über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts hegten in Ländern wie den USA oder Deutschland selbst die Kapitalisten den begründeten Verdacht, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis man sie am nächsten Baum aufknüpft. Heutzutage können sich die wenigsten Revolutionäre ein solches Szenario vorstellen. Doch was bedeutet es dann in unserer heutigen Zeit, Revolutionär zu sein? Die alte apokalyptische Version von Revolution – inklusive siegreicher Straßenschlachten, spontaner Volksfeste, der Schaffung neuer demokratischer Institutionen und letztlich der Neuerfindung des Lebens selbst – hatte sich irgendwie nie richtig verwirklichen lassen. Es gibt auch keinen besonderen Grund zu glauben, dass sie jemals möglich gewesen wäre. Natürlich haben die Menschen nie aufgehört, davon zu träumen, und es ist auch nicht anzunehmen, dass solche Träume je verschwinden werden. Es geht vielmehr darum, ob wir überhaupt eine Chance haben, eine lebenswerte Welt zu schaffen. Wir dürfen uns die Revolution nicht mehr nur ausschließlich in einem nationalstaatlichen Rahmen vorstellen – wie die Anarchisten nicht müde werden zu betonen. Noch viel wichtiger ist allerdings, wie wir miteinander umgehen, während wir die Revolution vorbereiten, vor allem in den weniger aufregenden und romantischen Momenten. Dies wird besonders von den Feministinnen immer wieder betont. Doch unabhängig davon, wie der endgültige taktische Sieg dann wirklich aussehen mag, sind wir zumindest schon dabei, die einzelnen Puzzleteile neu zu ordnen. Die großen Mobilisierungen in Seattle, Prag oder Genua, aber auch die andauernden direkten Aktionen an Orten wie Griechenland, Chiapas oder Südkorea haben im Prinzip so funktioniert, dass zwar alle bekannten Phasen der Revolution durchlaufen wurden, die traditionelle Reihenfolge jedoch schlicht auf den Kopf gestellt wurde. Um die gesamte Tragweite dieser zeitlichen Umkehrung zu verstehen, ist es erforderlich, noch einmal intensiv und in kreativer Weise zu überdenken, was Begriffe wie Gewalt, Entfremdung oder »Realitätssinn« tatsächlich bedeuten.

Die folgenden zwei Aufsätze scheinen zunächst völlig andere Themen aufzugreifen, doch im Grunde verfolgen auch sie ein ganz ähnliches Anliegen. Beide suchen nach erlösenden Elementen in vermeintlichen Abgründen, was im ersten Fall vielleicht eher ersichtlich wird. Der Essay Armee der Altruisten ist direkt aus dem Gefühl einer hoffnungslosen intellektuellen Frustration heraus entstanden. Als ich am Mittwoch, dem 3. November 2004, aufwachte, musste ich erfahren, dass George W. Bush als Präsident der Vereinigten Staaten wiedergewählt worden war. Anscheinend war es bei dieser Wahl sogar mit rechten Dingen zugegangen. An diesem Tag sollte ich im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit dem Titel »Anthropologie und klassische Gesellschaftstheorie« ein Graduiertenseminar an der Yale University abhalten. Das Thema an diesem Morgen wäre gewesen »Die Religionstheorie von Max Weber«. Aber keinem war so recht danach. Stattdessen artete das Seminar in eine langwierige und teils qualvolle Diskussion darüber aus, ob Gesellschaftstheorie an sich überhaupt relevant sei. War das, womit wir uns beschäftigten oder wofür wir ausgebildet wurden, überhaupt sinnvoll? Verschaffte uns »die Theorie« wirklich einen besseren Überblick über das, was soeben geschehen war? Reichte nicht einfach der gesunde Menschenverstand aus, um zu verstehen, was sich da gerade ereignet hatte, insbesondere, warum so viele Menschen aus der Arbeiterklasse in einer Weise gewählt hatten, die ihren eigenen Klasseninteressen diametral entgegengesetzt schien? Und falls die Theorie dies nicht leisten konnte, welchen Zweck hatte es dann überhaupt noch, eine akademische Laufbahn anzustreben? Es gelang uns nicht, zu irgendwelchen aussagekräftigen Schlussfolgerungen zu kommen (obwohl die Debatte zum Ende hin eine interessante Wendung nahm und wir schließlich darüber diskutierten, ob es nicht möglich sei, die US-amerikanische Landmasse in separate Territorien aufzuspalten und etliche Gebiete mit Kanada und andere mit Mexiko zusammenzulegen. Wir produzierten sogar Aufkleber mit der Aufschrift »Dieses Gebiet untersteht nicht mehr der amerikanischen Rechtshoheit«.) Doch die eigentliche Frage blieb trotz allem ungelöst, und ich zerbrach mir weiterhin den Kopf darüber, zumal in dem Moment noch nicht einmal Konsens darüber bestanden hatte, dass Theorie überhaupt von Bedeutung sei.

Ich beispielsweise hatte mehrere wunderbare Jahre meines Lebens damit verbracht, fieberhaft zu forschen und wie wild an einem Buch über eine anthropologische Theorie des Wertes zu tippen. Damals war ich überzeugt, es sei quasi meine intellektuelle Pflicht, der Welt all diese wirkmächtigen theoretischen Konzepte zur Verfügung zu stellen, die an der University of Chicago entwickelt worden waren, während ich dort studierte und promovierte. Die eigentlichen Urheber dieser Theorien hatten diese nämlich nie in irgendeiner allgemein zugänglichen Form publiziert, was ich als ziemlich verantwortungslos empfand. Das Ergebnis meiner Bemühungen stellte, zumindest in meinen Augen, einen wichtigen Forschungsbeitrag innerhalb der anthropologischen Disziplin dar. Als ich meine Arbeit dann im Jahr 2001 veröffentlichte, musste ich jedoch erkennen, dass die Vertreter der Disziplin meine Meinung nicht teilten. Niemand schenkte der Publikation viel Aufmerksamkeit, was mir recht deutlich vermittelte, dass das Theoretisieren im Stile der University of Chicago, das Entwickeln umfassender Theoriegebäude, inzwischen als irrelevant und passé

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem TitelRevolutions in Reverse: Essays on Politics, Violence, Art, and Imagination bei Minor Compositions, einem Imprint von Autonomedia, Brooklyn, New York.

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Erste Auflage April 2012

Copyright © 2011 by David Graeber

Copyright © 2012 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

eISBN 978-3-641-08271-0

www.pantheon-verlag.de

www.randomhouse.de

Leseprobe