Kampf den Zombies - Paul Krugman - E-Book

Kampf den Zombies E-Book

Paul Krugman

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Beschreibung

In Talkshows, Leitartikeln, Büchern tauchen sie immer wieder auf: wirtschaftspolitische Thesen, die beliebt sind, einleuchtend klingen und seit Jahrzehnten immer wieder hervorgekramt werden. Das Problem ist nur: Sie sind falsch! Den Kampf gegen diese Mythen hat sich Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman auf die Fahnen geschrieben. In "Kampf den Zombies" geht er klug, geistreich und bewaffnet mit Fakten gegen diese Irrtümer an. Die hier versammelten Artikel seiner beliebten New York Times-Kolumne decken eine breite Themenpalette ab: Mängel im Gesundheitswesen, die Entstehung von Immobilienblasen, der Sinn und Unsinn von Steuerreformen, die Bedeutung sozialer Sicherheit für den Zusammenhalt einer Gesellschaft … Die Zeit ist reif für eine Versachlichung politischer Debatten und eine Konzentration auf Fakten statt Mythen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Arguing with Zombies: Economics, Politics, and the Fight for a Better Future

ISBN 978-1-324-00501-8

Copyright der Originalausgabe 2020

Copyright © 2020 by Paul Krugman. All rights reserved.

Originally published in the United States by W. W. Norton & Company, Inc.,

500 Fifth Avenue, New York, N.Y. 10110.

Copyright der deutschen Ausgabe 2021:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Matthias Schulz

Gestaltung Cover: Daniela Freitag

Gestaltung, Satz und Herstellung: Timo Boethelt

Lektorat: Sebastian Politz

ISBN 978-3-86470-733-9

eISBN 978-3-86470-734-6

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenbuchverlage

www.instagram.com/plassen_buchverlage

Im Gedenken an meinen verstorbenen Kollegen und Freund

Uwe Reinhart, der mehr als alle anderen die Debatten

über Gesundheitsökonomie vorangetrieben hat.

Er hat mir sehr geholfen, mich nicht zum Narren zu machen.

WIRTSCHAFTSNOBELPREISTRÄGER

PAUL KRUGMAN

KAMPF DEN ZOMBIES

Warum manche Ideen aus Politik und Wirtschaft nicht totzukriegen sind

INHALT

DANKSAGUNG

EINLEITUNG: DER GUTE KAMPF

1. DIE RETTUNG DER SOZIALVERSICHERUNG

Essay: Nach der Khaki-Wahl

Schreckgespenst Sozialversicherung

Die erfundene Krise

Der Glaube ans Scheitern

Lektionen aus der Sozialversicherung

Erinnerungen an die Privatisierung

Die Schokoladenseiten des Staats

2. DER WEG ZU OBAMACARE

Essay: Eine positive Agenda

Der Patient Krankenversicherung

Musterschüler im Gesundheitswesen

Terror im Gesundheitswesen

Bitte warten Sie

Hoffnung im Gesundheitswesen

Angst im Abseits

Obamacare will und will nicht scheitern

Fantasiegespinste im Gesundheitswesen

3. DER ANGRIFF AUF OBAMACARE

Essay: Ein Akt der Grausamkeit

Drei Beine gut, kein Bein schlecht

Die geniale Stabilität von Obamacare

Krank werden, pleitegehen, sterben

So können die Demokraten bei der Krankenversicherung abliefern

4. EINE BLASE PLATZT

Essay: Die Summe aller Furcht

Blasen sind aus

Dieses Zischen

Wir innovieren uns in die Finanzkrise

Die Madoff-Wirtschaft

Die Ignoranz-Strategie

Keiner versteht Schulden

5. KRISENMANAGEMENT

Essay: Der Triumph der Makroökonomie

Rückkehr der Depressionsökonomie

IS-LMentar

Eine Mathematik des Konjunkturpakets (Nerdkram, aber wichtig)

Die Obama-Lücke

Die Tragödie des Konjunkturprogramms

6. DIE KRISE DER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN

Essay: Die Kosten schlechter Ideen

Die sagenhaften 70er

Diese 80er-Show

Wie konnten Ökonomen dermaßen danebenliegen?

Schlechte Absichten, Pathos und die Ökonomie der Republikaner

Wo liegt das Problem bei Functional Finance? (Nerdkram)

7. AUSTERITÄT

Essay: Very Serious People

Mythen der Sparpolitik

Die Excel-Depression

Jobs, Qualifikationen und Zombies

Struktureller Quatsch

8. DER EURO

Essay: Eine Brücke zu viel

Der spanische Gefangene

Die Hummel ist abgestürzt

Europas unmöglicher Traum

Was ist los mit Europa?

9. FALSCHE FUFFZIGER IN DER FISKALPOLITIK

Essay: Die Leichtgläubigkeit der Defizitnörgler

Der tolle Mister Flim-Flam

Die gekaperte Kommission

Was steht drin im Ryan-Plan?

Schmelzende Schneebälle und der Schuldenwinter

Demokraten, Darlehen und Doppelmoral

Über das Bezahlen einer progressiven Agenda

10. STEUERSENKUNGEN

Essay: Der Ober-Zombie

Das Twinkie-Manifest

Der größte Steuerbetrug der Geschichte

Trumps Steuerschwindel, Phase 2

Warum war Trumps Steuersenkung so eine Luftnummer?

Trumps Steuersenkung – noch schlimmer, als Sie gehört haben

Die Reichen einseifen

Elizabeth Warren macht den Teddy Roosevelt

11. HANDELSKRIEGE

Essay: Globaler Quatsch und das Echo

Oh, was für ein trumpiger Handelskrieg!

Eine Einführung in Handelskriege

Das Comeback der korrupten Zölle

12. UNGLEICHHEIT

Essay: Amerika in Schieflage

Die Reichen, die Rechten und die Fakten

Graduierte oder Oligarchen?

Geld und Moral

Gebt nicht Robotern die Schuld an niedrigen Löhnen

Was stimmt nicht mit Trumpland?

13. KONSERVATIVE

Essay: Die neue konservative Bewegung

Dieselbe alte Partei

Eric Cantor und der Tod einer Bewegung

Der große Mitte-rechts-Trugschluss

Die Leerräume der US-Politik

14. IGITT! SOZIALISMUS!

Essay: Sozialistenhetze im 21. Jahrhundert

Kapitalismus, Sozialismus und Unfreiheit

Nicht alles ist faul im Staate Dänemark

Trump gegen die sozialistische Gefahr

15. KLIMA

Essay: Das Wichtigste überhaupt

Trump und die tödlichen Totalverweigerer

Die Verderbtheit der Klimawandelleugner

Die Klimafrage war die Feuerprobe für den Trumpismus

Hoffen wir auf ein grünes neues Jahr

16. TRUMP

Essay: Warum nicht das Schlimmste?

Das Paranoide in der Politik der Republikanischen Partei

Trump und die Aristokratie des Betrugs

Schluss damit: Trump ist kein Populist

Parteilichkeit, Parasiten und Polarisierung

Warum es auch hier geschehen kann

Wer hat Angst vor Nancy Pelosi?

Wahrheit und Tugend in Zeiten Trumps

Das monströse Endspiel des Konservatismus

Männlichkeit, Moneten, McConnell und Trumpismus

17. ÜBER DIE MEDIEN

Essay: Mehr als Fake News

Lockangebote

Triumph des Belanglosen

Erfüllen Wirtschaftsanalysen überhaupt einen Zweck?

Ein Jahr der Dummheit

Hillary Clinton ergeht es wie Gore

18. GEDANKEN ZUR WIRTSCHAFT

Essay: Die trostlose Wissenschaft

Wie ich arbeite

Die Instabilität der Moderation

Transaktionskosten und Bindungen: Warum ich ein Krypto-Skeptiker bin

ANHANG

DANKSAGUNG

Der Großteil der Artikel in diesem Buch erschien ursprünglich als Zeitungskolumnen. Beim Schreiben von Kolumnen ist es nahezu unmöglich, sich in Echtzeit zu beraten oder auch nur zusammenzuarbeiten. Man steht auf, trinkt einen Kaffee, entscheidet, worüber man schreiben wird (im Voraus zu planen lohnt sich meistens nicht, weil einen das Tagesgeschehen oft genug überrollt), und gibt bis 17 Uhr seinen Text ab. Bei Blogeinträgen vergeht zum Teil keine Stunde, bis aus einer vagen Idee ein Text wird, der öffentlich zugänglich ist. Hier bleibt also noch weniger Zeit, um Diskussionen zu führen. In den meisten Fällen blieb nur eine Person, bei der ich konstruktive Kritik und ein Echo einholen konnte, und das war meine Frau Robin Wells, deren Rückmeldungen häufig von unschätzbarem Wert waren. Doch die Grundlage des Kolumnenschreibens bilden laufende Diskussionen zu unterschiedlichen Themen. Im Verlauf der hier abgebildeten 15 Jahre habe ich die Intelligenz und das Wissen zahlreicher Personen in Anspruch genommen. Ich werde versuchen, einige wenige hier zu nennen, wohl wissend, dass diese Liste alles andere als vollständig ist – ich habe im Verlauf dieser Zeit buchstäblich Tausende Kolumnen und Blogeinträge verfasst und kann mich in vielen Fällen nicht einmal mehr erinnern, wessen Expertise ich dafür in Anspruch genommen habe – und dass zahlreiche Personen zu Unrecht nicht erwähnt werden.

Beim Thema Gesundheitswesen habe ich viel Hilfe von Uwe Reinhardt erhalten, dem dieses Buch auch gewidmet ist, und von Jonathan Gruber.

Dean Baker verhalf mir zu der Überzeugung, dass wir ein gewaltiges Problem mit einer Blase auf dem Häusermarkt haben.

Brad DeLong und ich agierten im Grunde wie ein Team mit unseren Forderungen, auf die Krise eine keynesianische Antwort zu finden.

Für meinen Artikel über die Probleme mit Finanzen und der Markteffizienzhypothese habe ich mich sehr auf die Arbeit von Justin Fox gestützt.

Mike Konczal half mir, die fehlgeleitete Logik der Austeritätspolitik zu begreifen, und Simon Wren-Lewis half mir zu verstehen, warum diese fehlgeleitete Logik in Großbritannien vorherrschte.

Richard Kogan war, wenn ich mich recht entsinne, die erste Person, die mich darauf hinwies, dass das Problem der Schuldenlawine gar nicht existierte.

Emmanuel Saez und Gabriel Zucman haben uns allen nicht nur enorm viel über Besteuerung beigebracht, sie haben mir auch sehr dabei geholfen, neue Vorschläge der Demokraten zu verstehen, insbesondere die von Warren angeregte Vermögensteuer.

Chad Brown ging mit mir durch, was bei Trumps Strafzöllen geschah. Larry Mishel hat mir fast alles beigebracht, was ich über die Zusammenhänge (oder die fehlenden Zusammenhänge) zwischen Technologie und Ungleichheit weiß. Grundsätzlich habe ich mich häufig auf meine Stone-Center-Kollegin Janet Gornick verlassen, wenn es darum ging, Daten zur Ungleichheit zu interpretieren.

Was ich über die neue konservative Bewegung weiß, stammt größtenteils von Rick Perlstein.

Leslie McCall, eine weitere Kollegin vom Stone Center, half mir, die politikwissenschaftlichen Grundlagen hinter der Wählerhaltung zu Steuern und Haushaltsausgaben korrekt (oder zumindest weniger falsch) zu erfassen.

Meine Korrespondenz mit dem unvergleichlichen Michael Mann half mir, die hässlichen politischen Seiten der Klimawissenschaft zu begreifen.

Und schließlich noch ein Wort des Danks an Drake McFeely von Norton, der bereits lange, bevor ich für die Times zu schreiben begann, meine Bücher verlegte. Dank ihm sind sie viel besser, als sie es ansonsten geworden wären.

EINLEITUNG

DER GUTE KAMPF

Ein Leben als Experte war niemals Teil des Plans.

Als ich 1977 graduierte, träumte ich von einem Leben in Lehre und Forschung. Sollte ich überhaupt eine Rolle in öffentlichen Debatten spielen, dann voraussichtlich die als Technokrat – als jemand, der politischen Entscheidern leidenschaftslos Informationen darüber zukommen lässt, was funktioniert und was nicht.

Und tatsächlich ist es so: Sieht man sich an, was aus meiner Forschungsarbeit am meisten zitiert wird, dann handelt es sich vorwiegend um unpolitische Dinge. Es dominieren Arbeiten über Wirtschaftsgeografie und internationalen Handel. Diese Arbeiten sind nicht nur unpolitisch, sie befassen sich größtenteils überhaupt nicht mit Politik. Es geht vielmehr darum, einen Sinn hinter globalen Handelsmustern und den Standorten von Wirtschaftszweigen zu erkennen. In der Fachsprache handelt es sich um „positive Volkswirtschaftslehre“ – es wird analysiert, wie die Welt funktioniert – und nicht um „normative Volkswirtschaftslehre“ – Rezepte dafür, wie die Welt eigentlich funktionieren sollte.

Doch im Amerika des 21. Jahrhunderts ist alles politisch. In vielen Fällen gilt es bereits als parteiische Handlung, die Faktenlage zu einer bestimmten ökonomischen Frage zu akzeptieren. Ein Beispiel: Wenn die Federal Reserve jede Menge Staatsanleihen kauft, wird die Inflation dann steigen? Empirisch ist die Antwort eindeutig: Nein, wenn sich die Wirtschaft in einer Depression befindet. Die Fed kaufte nach der Finanzkrise von 2008 für 3.000 Milliarden Dollar Staatsanleihen, aber die Inflation blieb auf niedrigem Niveau. Doch Behauptungen, die Politik der Fed fördere die Inflation, wuchsen sich zur offiziellen Linie der Republikaner aus, insofern galt es schon als liberale Haltung, einfach nur die Realität zu akzeptieren.

In manchen Fällen gilt es schon als parteiisch, bestimmte Fragen zu stellen. Wenn Sie fragen, wie es um die Einkommensungleichheit bestellt ist, rechnen Sie damit, dass nicht wenige Konservative Sie als unamerikanisch anprangern werden. Allein schon die Verteilung der Einkommen zu thematisieren oder zu vergleichen, wie schnell die Einkommen der Mittelschicht und die der Reichen wachsen, ist aus deren Sicht „marxistisches Gerede“.

Und selbstverständlich ist bei der Ökonomie nicht Schluss. Im Vergleich zu Klimaforschern haben wir Ökonomen es einfach, denn ihnen droht Verfolgung, weil ihre Schlussfolgerungen mächtigen Interessengruppen nicht gefallen. Oder nehmen Sie die Sozialwissenschaftler, die die Ursachen der Waffengewalt erforschen: Von 1996 bis 2017 war es der Seuchenschutz- und Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control buchstäblich verboten, Forschung zu finanzieren, die sich mit Verletzungen und Todesfällen durch Schusswaffen befasste.

Was also tun als angehender Wissenschaftler? Eine Möglichkeit besteht darin, die politischen Grabenkämpfe auszublenden und einfach seine Arbeit zu machen. Eine derartige Entscheidung kann ich respektieren und für die meisten Wissenschaftler (sogar in der Volkswirtschaftslehre) ist es die richtige Entscheidung.

Aber wir benötigen auch öffentliche Intellektuelle: Menschen, die die Forschung verstehen und respektieren, dabei aber bereit sind, sich ins politische Getümmel zu stürzen.

Dieses Buch ist eine Sammlung von Artikeln, in denen ich versucht habe, diese Rolle zu spielen. Sie sind größtenteils für die New York Times geschrieben. Ich gehe später darauf ein, wie ich in diese Situation geraten bin und was ich versuche, daraus zu machen. Zunächst jedoch möchte ich eine andere Frage stellen: Was hat es mit all der Politisierung auf sich?

DIE WURZELN DER POLITISIERUNG

In der Politik gibt es zahllose Themen und man kann sich gut vorstellen, dass die Menschen eine Vielzahl von Positionen einnehmen, die sich nicht entlang einer einfachen Links-rechts-Achse einsortieren lassen. Es lassen sich Wähler vorstellen, die sehr für strengere Waffenkontrollen eintreten und aggressivere Maßnahmen gegen die globale Erwärmung fordern, aber wenn es um die Sozialversicherung und den Gesundheitsdienst Medicare geht, befürworten sie eine Privatisierung oder gleich die vollständige Abschaffung dieser Angebote.

In der Praxis dagegen ist die Politik im modernen Amerika ziemlich eindimensional. Das gilt ganz besonders bei den gewählten Volksvertretern. Sagen Sie mir, wo ein Kongressmitglied zu einem Thema wie allgemeine Gesundheitsversorgung steht, und ich kann Ihnen sagen, wo diese Person in Klimafragen steht (und andersherum). Was definiert diese politische Eindimensionalität? Grundsätzlich ist es das traditionelle Links-rechts-Kontinuum: Wie stark sollte der Staat Ihrer Meinung nach in eine freie Marktwirtschaft eingreifen, um Risiken und Ungleichheiten zu reduzieren? Möchten Sie eine Gesellschaft wie im modernen Dänemark mit hohen Steuern, starker sozialer Absicherung und umfangreichem Schutz der Arbeitnehmer, oder möchten Sie eine Gesellschaft wie Amerika im „Gilded Age“ [Anm. d. Übers.: die Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs nach Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs], als „Laissez-faire“ das Motto des Tages war?

Auf einer Ebene geht es bei dieser Streitskala um Werte. Im linken Lager herrscht eine Vorstellung sozialer Gerechtigkeit vor, wie sie der Philosoph John Rawls formulierte: Die Menschen sollten für die Art von Gesellschaft eintreten, die sie wählen würden, wenn sie nicht wüssten, wer sie sind und welche Rolle sie zu spielen haben. Diese moralische Haltung lässt sich zusammenfassen als: „Ich habe es nur Gottes Gnade (bei weniger religiöser Neigung auch: dem Schicksal/der Fügung) zu verdanken, dass ich in dieser Lage bin.“

Im rechten politischen Lager dagegen halten es viele Menschen für unmoralisch, dass sich der Staat in der Absicht einmischt, Ungleichheit und Risiken zu minimieren. Wenn man die Reichen besteuert, um den Armen zu helfen, kommt das einer Art Diebstahl gleich, und sei die Absicht noch so lohnenswert.

Die Volkswirtschaftslehre gibt uns nicht vor, welchen Werten wir anhängen sollten. Sie kann uns allerdings verraten, was von einer Politik zu erwarten ist, die einem bestimmten Wertekanon entspricht. Da jedoch kommt die Politisierung ins Spiel. Insbesondere Gegner einer größeren Rolle des Staats argumentieren gern, dass eine derartige Rolle nicht nur unmoralisch sei, sondern auch kontraproduktiv, ja, sogar destruktiv. Und wenn die Fakten dies nicht hergeben, werden halt die Fakten attackiert, wie auch jene, die diese Fakten produzieren.

Im Grunde kann diese Form der Politisierung sowohl von links wie auch von rechts kommen. Tatsächlich gab es Fälle, wo mächtige Akteure sich weigerten einzugestehen, dass beispielsweise Preiskontrollen zu Verknappungen führen können oder dass das Drucken von Geld Inflation nach sich zieht – siehe „Venezuela, jüngste Geschichte“. Selbst in Amerika gibt es im Lager der Linken einige, die Sie (also mich) als von Unternehmensinteressen gesteuerten Lakai hinstellen, weil Sie darauf hingewiesen haben, dass es mehrere Wege gibt, zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung zu gelangen, und dass sich dies erreichen lässt, ohne Privatversicherer ihrer wichtigen Rolle zu berauben.

Doch dass im modernen Amerika alles politisch aufgeladen ist, hängt angesichts der Realitäten von Geld und Macht vor allem mit Druck von rechts zusammen.

Denn auch wenn sich philosophische Argumente für eine Gesellschaft mit geringen Steuern und minimaler staatlicher Intervention anführen ließen, setzt der moderne Konservatismus doch weniger auf philosophische Überzeugungskraft als vielmehr auf die Tatsache, dass einige Leute persönlich massiv profitieren würden, würden wir Kurs zurück auf das „Gilded Age“ nehmen. Diese Gruppe mag nicht sehr groß sein, aber sie ist extrem wohlhabend. Sie hat ein starkes Interesse daran, zu vermitteln, dass eine Entwicklung in die von ihnen präferierte Richtung zum Wohle aller wäre. Und so ist die finanzielle Unterstützung durch rechtsgerichtete Milliardäre eine mächtige Kraft, wenn es darum geht, Zombie-Ideen am Leben zu erhalten – Ideen, die Gegenbeweise längst hätten aus der Welt schaffen müssen, die stattdessen jedoch weiter durch die Gegend schlurfen und sich in den Gehirnen der Menschen festsetzen.

Kein anderer Zombie hält sich so hartnäckig wie die Aussage, dass eine Besteuerung der Reichen verheerende Folgen für die gesamte Wirtschaft hat und Steuersenkungen für Spitzenverdiener deshalb ein wundersames Wirtschaftswachstum nach sich ziehen. Wieder und wieder versagt diese Doktrin in der Praxis, aber das ändert nichts an der stetig wachsenden Unterstützung, die die These in der Republikanischen Partei findet.

Es sind noch andere Zombies unterwegs: Wenn Sie einen Niedrigsteuerstaat mit wenigen staatlichen Leistungen haben wollen, sollten Sie betonen, dass soziale Netze schädlich sind und nicht funktionieren. Mit viel Mühe und Aufwand beharrt man also darauf, dass eine allgemeine Gesundheitsversorgung unmöglich sei, auch wenn es abgesehen von den USA jedes andere fortschrittliche Land der Welt irgendwie dennoch hinbekommt.

Sie verstehen, worauf ich hinauswill. Die Politisierung von Analysen zu Steuern und Ausgaben ist leicht nachvollziehbar, aber warum erstreckt sich die Politisierung auch auf Bereiche, in denen die Klasseninteressen nicht so deutlich auf der Hand liegen? Selbst Milliardäre benötigen einen bewohnbaren Planeten, warum also hat sich der Klimawandel zu solch einem Zankapfel zwischen links und rechts entwickelt? Rezessionen tun allen weh, warum also sperren sich Konservative dagegen, zur Bekämpfung von Wirtschaftsflauten Geld zu drucken? Und warum hängen rassistische Einstellungen so eng mit der Haltung zu Besteuerung und Staatsausgaben zusammen?

Ein Großteil der Antwort hat damit zu tun, dass die politischen Akteure (zu Recht, meine ich) glauben, alle Formen staatlichen Handelns seien durch eine Art Halo-Effekt miteinander verbunden. Sind die Menschen davon überzeugt, dass der Staat aktiv werden muss, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, dann sind sie auch offener für die Vorstellung, der Staat müsse aktiv werden, um Ungleichheit zu reduzieren. Sind sie überzeugt, dass sich Rezessionen mithilfe der Geldpolitik bekämpfen lassen, sind sie auch offener für politische Maßnahmen, die den Zugang zu medizinischer Versorgung erweitern.

Das war schon immer so. Die amerikanische Rechte kämpfte in den 1940er- und 1950er-Jahren voller Inbrunst gegen den Keynesianismus. Das ging so weit, dass sie versuchte zu verhindern, dass diese Theorien an den Universitäten gelehrt werden – und das, obwohl John Maynard Keynes sie völlig zu Recht als „moderat konservative“ Doktrin beschrieb – als Weg, den Kapitalismus zu erhalten, und nicht als Versuch, ihn zu ersetzen. Warum also der Widerstand? Weil die Republikaner die Lehre als Keil ansahen, der die Tür für mehr Staat im Allgemeinen öffnen würde. Heute sind wir viel stärker politisiert als damals, insofern reicht die Politisierung auch weiter.

Neben dem Halo-Effekt wirkt sich noch strategisches Politikdenken aus. Früher einmal besaß die Politiklandschaft in Amerika zwei Dimensionen und nicht bloß eine – es gab eine Links-rechts-Achse, aber auch eine Rassengleichheit-Rassentrennung-Achse. Und bis zum heutigen Tag gibt es eine beträchtliche Zahl von Wählern, denen für ihre eigenen Belange Big Government gefällt, die aber keine Menschen mit dunklerer Haut mögen. (Die gegenteilige, libertäre Position – wenig Staat und Rassentoleranz – ist logisch stimmig, aber außer ein paar Dutzend Typen mit Fliegen um den Hals scheinen sich nur wenige dafür begeistern zu können.) Aber es gibt nahezu keine rassistischen Big-Government-Politiker. Stattdessen versucht die ökonomische Rechte die weiße Arbeiterschaft für sich zu gewinnen, indem sie deren Feindseligkeit gegenüber anderen Rassen bedient (während sie gleichzeitig die Programme angreift, von denen die Arbeiterschaft abhängig ist). Das hat dazu geführt, dass Rassentoleranz und andere Formen von Linksliberalismus wie Geschlechtergleichheit und LGBTQ-Rechte derselben politischen Spaltung unterliegen wie alles andere.

Wozu all das geführt hat, sagte ich bereits: Alles ist politisch. „Jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten“, sagte der demokratische Senator Daniel Patrick Moynihan, doch im modernen Amerika glauben viele Menschen, sie hätten durchaus ein Anrecht auf ihre eigenen Fakten. Das bedeutet, der Traum der Technokraten, als politisch neutrale Analysten politischen Entscheidern zu besserer Regierungsarbeit zu verhelfen, ist tot, zumindest für den Augenblick. Doch Wissenschaftlern, die sich dafür interessieren, in welche Richtung wir uns als Gesellschaft bewegen, stehen noch weitere Möglichkeiten offen.

EXPERTENTUM IM ZEITALTER DER POLARISIERUNG

Angenommen, Sie sind jemand, der sich in einem technischen Thema wie der Volkswirtschaftslehre recht gut auskennt, der aber auch Einfluss auf den öffentlichen Diskurs nehmen möchte, also darauf, wie Menschen, die sich mit den technischen Themen nicht auskennen oder sich dafür nicht interessieren, über dieses Thema debattieren. Offenkundig beschreibt das meinen Status, aber es trifft auch auf eine Reihe anderer Personen zu. Es gibt andere Ökonomen, die sich in den öffentlichen Raum gewagt haben – Leute wie Joseph Stiglitz, ein großartiger Ökonom, der sich als öffentlicher Intellektueller neu erfunden hat, oder Simon Wren-Lewis aus Großbritannien. Zudem gibt es immer mehr Journalisten mit einem guten Hintergrund in Ökonomie, etwa David Leonhardt von der Times oder Catherine Rampell von der Washington Post. Was ist nötig, um diese Rolle wirksam ausfüllen zu können?

Im letzten Abschnitt des Buchs finden Sie einen Essay („Wie ich arbeite“), den ich 1991 geschrieben habe und der vier Grundregeln für die Forschung enthält. Lassen Sie mich an dieser Stelle meine vier Regeln für eine professionelle Auseinandersetzung mit den Medien vorstellen, die sich auf nahezu alles in diesem Buch auswirken. Die ersten beiden Regeln sollten nicht strittig sein, die anderen beiden schon eher, schätze ich. Hier ist die Liste:

•Bleib bei den einfachen Sachen

•Schreibe auf Englisch

•Sei ehrlich, was Unehrlichkeit angeht

•Habe keine Angst, über Motive zu sprechen

BLEIB BEI DEN EINFACHEN SACHEN

In der Volkswirtschaftslehre gibt es zahlreiche schwierige Fragen – Fragen, bei denen auch ernsthafte, ehrliche Wissenschaftler nicht zu einem Konsens finden. Wie sollten Experten/Ökonomen mit derartigen Fragen umgehen?

Ich empfehle in diesem Fall meistens, dass sie, wo immer es geht, von derartigen Fragen die Finger lassen sollten. In Wirklichkeit dreht sich in der realen Welt die absolute Mehrheit der Ökonomie-Dispute um einfache Fragen, also Fragen, für die ganz eindeutig richtige Antworten vorliegen, bei denen mächtige Interessengruppen diese Antworten aber nicht akzeptieren wollen. Man kann den öffentlichen Diskurs verbessern, indem man sich auf diese Fragen konzentriert und sich bemüht, die richtigen Antworten zu vermitteln. Die kniffligen Fragen verschwinden dadurch nicht, aber die Kommentarseiten von Zeitungen und Zeitschriften sind auch kein guter Platz, um darüber zu diskutieren.

Wenn es beispielsweise um die Auswirkungen von Staatsschulden geht, muss die Öffentlichkeit wissen, dass der Versuch, den Haushalt während einer Wirtschaftsdepression auszugleichen, die Depression verschlimmern wird und dass die Angst, es könne zu einer ausufernden Schuldenspirale kommen, deutlich übertrieben ist. Es gibt andere, kniffligere Themen, etwa die Frage, welcher Zinssatz dazu dienen sollte, Infrastrukturausgaben zu bewerten. Aber die einfachen Fragen liefern reichlich Material, über das es sich zu schreiben lohnt.

SCHREIBE AUF ENGLISCH

Das ist selbstverständlich nicht wortwörtlich zu verstehen. Tatsächlich würde die Welt besser dastehen, wenn mehr Leute grundlegende Konzepte der Wirtschaft auf Deutsch erklären würden. Was ich damit sagen will: Um als Experte effektiv zu sein, müssen Sie mit einer einfachen Sprache arbeiten und nicht voraussetzen, dass die Menschen Konzepte, mit denen sie nicht vertraut sind, schon irgendwie begreifen werden.

Nehmen wir zur Verdeutlichung Increasing Returns and Economic Geography, meine am häufigsten zitierte wissenschaftliche Arbeit. In den Jahren, in denen ich ausschließlich forschte (das Paper wurde 1991 veröffentlicht), galt ich unter Ökonomen als jemand, der klar schrieb, der gut Intuitionen vermitteln konnte und der den Mathematikanteil überschaubar hielt. Dennoch finden Sie in dieser Arbeit Aussagen wie diese (und mit den Gleichungen will ich gar nicht erst anfangen): „Bei Vorliegen eines unvollkommenen Wettbewerbs und positiven Feedback-Effekten kommt es auf pekuniäre Externalitäten an.“ Ob wohl auch nur ein Prozent meiner Leserschaft bei der Times eine klare Vorstellung davon hätte, worum es da geht?

Keine Fachausdrücke zu verwenden ist schwieriger, als es klingt. Das liegt zum Teil daran, dass Fachsprache meistens einen Zweck erfüllt – dieses Zitat vermittelt seinem Zielpublikum etwas sehr Wichtiges und ohne die Kunstbegriffe bräuchte es viel Raum und Zeit und Hunderte, wenn nicht Tausende Worte, um denselben Punkt zu vermitteln. Ein weiterer Grund: Wenn man sich seit Jahren mit einem technischen Thema befasst hat, kann es einem schwerfallen, sich zu erinnern, wie normale oder sogar kluge, gebildete Menschen tatsächlich sprechen.

Ich schreibe seit zwei Jahrzehnten für die Times und doch bekomme ich noch immer gelegentlich Nachfragen aus dem Lektorat zu der einen oder anderen Passage, weil dort etwas nicht verstanden wurde (und es die Leser nicht verstehen werden), weil ich, ohne nachzudenken, unterstellt habe, dass die allgemeine Leserschaft mit Begrifflichkeiten genauso umgeht, wie es Ökonomen tun. Wenn Ökonomen beispielsweise von Investitionen reden, meinen sie normalerweise den Bau neuer Fabriken und Bürogebäude, aber das müssen sie auch ausdrücklich dazusagen, wenn sie nicht wollen, dass die Leser glauben, sie würden über Aktienkäufe und dergleichen reden.

Genauso wenig bedeutet das aber auch, dass man seine Leser für dumm halten sollte. Man muss sich nur genau überlegen, wie man kommunizieren möchte. 2019 veröffentlichte ich eine Kolumne („Getting Real About Rural America“), die teilweise eine verkappte Umformulierung von Argumenten aus besagter Arbeit von 1991 war. Ich glaube, die meisten Leser haben begriffen, worauf ich hinauswollte, auch wenn ich viele von ihnen verärgerte.

SEI EHRLICH, WAS UNEHRLICHKEIT ANGEHT

Jetzt kommen wir zu den kontroverseren Bereichen des Expertentums. Wie bereits gesagt, ist heutzutage alles politisch. Das führt dazu, dass viele öffentliche Debatten in der Volkswirtschaftslehre und in allen anderen Bereichen in böser Absicht geführt werden.

Nehmen wir das augenscheinlichste Beispiel: Wer dafür eintritt, dass wir die Steuern für die Reichen senken sollten, mag so tun, als habe er die Faktenlage studiert und sei dann zu diesem Urteil gelangt, aber das stimmt nicht. Es gibt keine Beweise, die jemanden dazu bringen würden, seine Meinung zu ändern. In der Praxis reagiert dieses Lager auf Gegenbeweise, indem es die Messlatte verschiebt. Dieselben Leute, die prognostizierten, dass Bill Clintons Steuererhöhung eine Depression nach sich ziehen würde, erklären nun, dass der Boom der Clinton-Ära eine langfristige Auswirkung der Steuersenkungen gewesen sei, die Ronald Reagan 1981 vornahm. Oder sie lügen einfach und denken sich Zahlen und andere „Fakten“ aus.

Wie also sollte ein Ökonom/Experte mit einer derartigen Realität umgehen? Ich kenne eine Antwort, von der ich weiß, dass sie vielen Ökonomen zusagt: weitermachen, als führe man eine Diskussion in guter Absicht. Man präsentiert die Beweise und erklärt, warum es bedeutet, dass die eine Seite recht hat und die andere unrecht. Fertig, aus.

Ich vertrete, wie Sie sich gewiss gedacht haben, einen anderen Standpunkt: Aus meiner Sicht reicht das nicht und ist dem Publikum gegenüber sogar unfair. Wenn Sie sich mit Argumenten auseinandersetzen, die in böser Absicht vorgebracht werden, sollte die Öffentlichkeit nicht nur erfahren, dass diese Argumente falsch sind, sondern auch, dass sie in böser Absicht angeführt werden. Es ist, um ein anderes Beispiel anzuführen, wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Menschen falschlagen, die prognostizierten, dass die Anleihekäufe der Fed zu einer galoppierenden Inflation führen würden. Wichtig ist aber auch, darauf hinzuweisen, dass keiner aus diesem Lager bereit war, seine Fehleinschätzung einzugestehen oder zu erklären, wie man auf die falsche Spur geraten war … und dass einige abrupt ihre Haltung in dem Augenblick änderten, als ein Republikaner ins Weiße Haus einzog.

Anders gesagt: Wir sollten ehrlich sein, was die Unehrlichkeit anbelangt, die sich durch politische Debatten zieht. Häufig ist Verlogenheit die Botschaft. Und das bringt mich zu meiner abschließenden Regel.

HABE KEINE ANGST, ÜBER MOTIVE ZU SPRECHEN

Ich wünschte, wir würden in einer Welt leben, in der man davon ausgehen kann, dass politische Argumente in guter Absicht vorgetragen werden. Auf einige Fälle trifft das tatsächlich zu. So gibt es eine echte Debatte zu der Frage, wie wirksam die „quantitative Lockerung“ (das Anleihekaufprogramm der Fed) die Wirtschaft ankurbelt. Ich zähle zu den Skeptikern, kann die Optimisten aber respektieren und denke, beide Seiten sind offen dafür, sich überzeugen zu lassen.

Doch in den meisten wichtigen politischen Debatten, die im 21. Jahrhundert in Amerika geführt werden, argumentiert eine Seite dauerhaft in böser Absicht. Ich habe bereits dafür plädiert, dass man darauf hinweisen und den Lesern erklären muss, dass die abgehobenen Behauptungen über die Wirksamkeit von Steuersenkungen falsch sind, aber nicht nur das: Man muss auch dazu sagen, dass diejenigen, die derartige Behauptungen ins Feld führen, wissentlich unaufrichtig sind. Und ich möchte noch einen Schritt weitergehen: Wer fair mit seiner Leserschaft umgehen möchte, muss auch erklären, warum diese Menschen unehrlich sind.

Das bedeutet hauptsächlich, über das Wesen des modernen amerikanischen Konservatismus zu sprechen und über das verflochtene Netz von Medienorganisationen und Denkfabriken, die die Interessen rechtsgerichteter Milliardäre bedienen, ein Netz, das im Grunde die Republikanische Partei übernommen hat. Es ist dieses Netzwerk namens Movement Conservatism, das Zombie-Ideen wie den Glauben an die Magie von Steuersenkungen am Leben erhält. Bei einer echten, in guter Absicht geführten Debatte gehört es sich nicht, die Motive der Gegenseite infrage zu stellen. Debattiert man allerdings mit Widersachern, die in böser Absicht handeln, hat es mit Aufrichtigkeit und dem Umgang mit dem tatsächlichen Geschehen zu tun, auf die Motive der Gegenseite einzugehen.

Ich wünschte, die Welt wäre anders. Manchmal sehne ich mich nach der Naivität meiner beruflichen Jugend zurück, als ich einfach versuchte, die richtige Antwort zu finden, und als ich davon ausgehen konnte, dass die Menschen, mit denen ich debattierte, dasselbe Ziel verfolgten. Aber wenn Sie als öffentlicher Intellektueller Wirkung erzielen wollen, dann befassen Sie sich mit der Welt, in der Sie leben, nicht mit der, in der Sie gern leben würden.

ÜBER DIESES BUCH

Ich habe im Jahr 2000 angefangen, für die New York Times zu schreiben. Zuvor hatte ich einige Jahre lang monatliche Kolumnen für Fortune und Slate verfasst, aber in erster Linie war ich noch immer in der Forschung tätig. Tatsächlich verfasste ich 1998, was ich persönlich für meine wohl beste akademische Arbeit halte: „It’s Baaack: Japan’s Slump and the Return of the Liquidity Trap“.

Die Times erwartete von mir, dass ich fast ausschließlich über Wirtschaft und Ökonomie schreibe, aber ich fand mich in einer Situation wieder, die weder ich noch sie so erwartet hätten. Unter George W. Bush war die Regierung in einem Ausmaß unaufrichtig, wie es die amerikanische Politiklandschaft noch nie zuvor erlebt hatte (inzwischen allerdings von den Trumpisten überholt), und sie führte uns mit offensichtlich falschen Behauptungen (zumindest aus meiner Sicht) in einen Krieg. Und doch schien keiner der Kolumnisten in den führenden Zeitungen willens, darauf hinzuweisen. Das war dann wohl meine Aufgabe, hatte ich das Gefühl.

Meine besten Arbeiten aus dieser Zeit veröffentlichte ich 2003 in der Sammlung The Great Unraveling [deutsch: Der große Ausverkauf: Wie die Bush-Regierung Amerika ruiniert, Campus, 2004]. Insofern musste ich mir diese Zeit nicht noch einmal vornehmen, fand ich.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen macht dieser Band also 2004 weiter, nach Bushs Wiederwahl. Zu diesem Zeitpunkt befassten sich viele andere Leute mit dem betrügerischen Marsch in den Krieg. Das erlaubte es mir, Themen zu beleuchten, die mir von Haus aus deutlich mehr lagen – etwa der Versuch, die Sozialversicherung zu privatisieren, und die Bemühungen, den Krankenversicherungsschutz auszuweiten.

Mehr als ein Drittel dieses Buchs behandelt unterschiedliche Aspekte der Finanzkrise von 2008 und ihre Auswirkungen. Abgesehen von Leuten, die ohnehin ständig irgendwelche Krisen prognostizieren, hatte diese Krise niemand wirklich kommen sehen. Mir war klar, dass es auf dem Immobilienmarkt eine gewaltige Blase gab, aber das Ausmaß der Schäden, die das Platzen der Blase anrichtete, schockierte mich. Ich hatte nicht erkannt, wie anfällig unser Finanzsystem durch das Wachstum unregulierter „Schattenbanken“ geworden war.

Nach dem Crash allerdings fanden sich Ökonomen, die diese Dinge studiert hatten, auf vertrautem Terrain wieder. Über Finanzkrisen wissen wir viel, sowohl aus der Theorie als auch aus der Geschichte. Wir wissen auch viel darüber, wie Volkswirtschaften nach einer Krise ticken: Meine Arbeit von 1998 befasste sich damit, was geschieht, wenn Nullzins nicht ausreicht, wieder für Vollbeschäftigung zu sorgen. Mit diesem Problem hatten sich bis dato nur die Japaner herumärgern müssen, nun wurde es in der gesamten westlichen Welt zur Norm.

Die rund fünf Jahre nach der Krise von 2008 waren für mich zugleich die besten und die schlimmsten Jahre. Die besten, weil meine Rolle als Zeitungskolumnist und meine akademische Forschung nahezu perfekt ineinandergriffen. Ich konnte viel dazu sagen, was die politischen Entscheider nun zu tun hätten. Die schlimmsten insofern, als die politischen Entscheider sich hartnäckig weigerten, unser Wissen zu nutzen. Stattdessen stritten sie um Haushaltsdefizite, bewaffnet mit schlechten und häufig in schlechter Absicht gegebenen Ratschlägen. Das Ergebnis war gewaltiges und unnötiges Leid.

Im Rest des Buchs geht es vor allem um das, was der Titel schon besagt – ich ärgere mich mit Zombies herum, sei es der Steuersenkungs-Zombie oder der Klimawandel-Zombie, und auch mit der konservativen Bewegung, die dafür sorgt, dass diese Zombies weiterhin in der Gegend herumschlurfen. Natürlich ist auch viel über Donald Trump dabei, aber für mich ist Trump weniger ein Bruch mit der Vergangenheit als vielmehr die Krönung dessen, wohin uns die neue konservative Bewegung seit Jahrzehnten steuert.

Zum Abschluss folgt noch etwas leichtere Lektüre – nun ja, nicht wirklich, aber es sind Sachen, die meine Laune aufhellen. Im letzten Abschnitt empfehle ich eine Auswahl mehr oder weniger stark volkswirtschaftlich geprägter Beiträge, die zu meinen intellektuellen Wurzeln zurückführen. Sie sind etwas anstrengender und enthalten mehr Fachausdrücke als meine Times-Kolumnen, aber ich hoffe, dass sich zumindest einige Leser die Mühe machen, herauszufinden, wie ich tatsächlich über das eine oder andere Thema denke.

Dieses Buch schildert die Geschichte eines Kampfs für Wahrheit, Gerechtigkeit und eine Welt ohne Zombies. Ob dieser Kampf wirklich jemals endgültig gewonnen sein wird? Ich weiß es nicht, aber er kann verloren werden. Auf jeden Fall ist es ein Kampf, den auszutragen es sich lohnt.

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DIE RETTUNG DER SOZIALVERSICHERUNG

NACH DER KHAKI-WAHL

Die Wahlnacht 2004 war kein so gewaltiger Schock, wie es die Wahlnacht 2016 werden sollte, aber Amerikas Liberale waren dennoch zutiefst enttäuscht. Im Rückblick hat sich das Image von George W. Bush verbessert – die Menschen erachten ihn (zu Recht) als besser als Donald Trump und vergessen darüber die Ungeheuerlichkeiten, die sich in seiner Amtszeit zutrugen. An allererster Stelle ist zu nennen, dass er Amerika unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in einen Krieg geführt hat, der den Tod Hunderttausender nach sich zog. Mitzuerleben, wie die Wählerschaft ihn für diese Niedertracht noch belohnte, war nicht schön.

Was hinzukommt: Viele Beobachter sahen die Wahl damals nicht als einmaliges Ereignis, sondern als Startschuss für eine dauerhafte Herrschaft der Konservativen. Im Fernsehen (damals schalteten die Menschen noch die normalen Fernsehsender ein) waren überall Menschen zu sehen, die den Tod des amerikanischen Liberalismus verkündeten und Bushs Wahlsieg als Bestätigung der Theorie einordneten, dass wir Amerikaner im Grunde genommen eine konservative Nation sind.

Doch wer genauer hinschaute, erkannte eine andere Geschichte. Die Wahlen von 2004 waren keine Ratifizierung der konservativen Politik, denn die Wahlen waren insofern bemerkenswert gewesen, als es keine politischen Diskussionen gegeben hatte. Zum Teil lag das daran, dass politische Themen es nicht schafften, die Trivialisierung zu durchbrechen, die weite Teile der Nachrichtenmedien erzeugt hatten. Ich habe mir die Aufzeichnungen der Nachrichtensendungen auf den Fernsehsendern angesehen, weil mich interessierte, was dem Publikum über die gesundheitspolitischen Vorschläge der beiden Kandidaten vermittelt worden war, Vorschläge, die sich doch sehr stark unterschieden. Die Antwort war: nichts. Es war ein paarmal darüber berichtet worden, wie die Vorschläge politisch liefen, aber nicht ein einziges Wort darüber, was denn überhaupt im Programm stand.

Stattdessen ging es in dieser Wahl um Image und Wahrnehmung. Bush sonnte sich noch im Nach-9/11-Glanz und der Illusion, im Irak einen Sieg errungen zu haben. Für viele Amerikaner galt er noch als heldenhafte Ikone der nationalen Sicherheit, insofern war es das, was die Briten eine „Khaki-Wahl“ nennen [Anm. d. Übers.: eine Wahl, die stark von einem laufenden oder gerade erst beendeten Krieg beeinflusst wird]. Ein weiteres wichtiges, wenn auch nicht ganz so zentrales Thema waren die traditionellen Werte: Erste Stimmen hatten sich für eine Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe starkgemacht, was zu heftigen Gegenreaktionen geführt hatte.

Wie ich damals scherzte: Bush wurde wiedergewählt, weil er sich als Beschützer Amerikas vor verheirateten schwulen Terroristen ausgab. Doch was verkündete er unmittelbar nach der Wahl als das dringlichste Mandat seiner Wähler? Die Privatisierung der Sozialversicherung und ihre Umwandlung in ein System privater Rentenkonten.

Warum waren Bush und sein Beraterteam überzeugt, mit diesem Thema einen politischen Sieg erringen zu können? Zum Teil, weil sie – wie so viele wohlhabende Menschen – keine Vorstellung davon hatten, von welch großer Bedeutung die Sozialversicherung für die meisten Amerikaner ist.

Als gut bezahlter politischer Berater, Journalist, Thinktank-Experte oder dergleichen verfügt man vermutlich über eine ordentliche private Altersvorsorge und kann davon ausgehen, mit 65 Jahren über beträchtliche Rücklagen zu verfügen. Doch die meisten Rentner beziehen den Großteil ihres Gelds über die Sozialversicherung, für ein Drittel ist es sogar die einzige Einnahmequelle. Nachdem den Menschen klar wurde, dass Bush das Programm tatsächlich aushöhlen wollte, verloren sie ihre gute Laune.

Doch Bush und seinem Team unterlief nicht nur eine Fehleinschätzung, was die Beliebtheit der Sozialversicherung bei der Wählerschaft insgesamt angeht, man verließ sich auch zu sehr auf den Konsens der Elite. Inzwischen mag sich die Situation ändern, aber während des Zeitraums, den dieses Buch abdeckt, gab es zu jedem Zeitpunkt Dinge, die innerhalb des Beltways jeder, der als klug und gut informiert gelten möchte, „wusste“ – aber nicht, weil diese Dinge unbedingt wahr waren, sondern weil jeder andere aus der Elite sie auch sagte. [Anm. d. Übers.: Innerhalb von Washingtons Ringautobahn (englisch beltway) arbeiten die Politiker, Lobbyisten und Denkfabriken, kurzum das politische Establishment.] Zu den Dingen, die jeder sagte, gehörte, dass die Sozialversicherung in der Krise steckt und einer umfassenden Reform unterzogen werden müsse. Wer so sprach, hatte sich nicht persönlich damit befasst, wie Amerikas Rentensystem funktioniert und wie die künftige Arithmetik aussah. Wer so sprach, wusste bloß, dass von ihm erwartet wurde, so zu sprechen. Ich schrieb einmal, es sei eine Art „Medaille für Ernsthaftigkeit“, wenn man sich hinstelle und erkläre, die Sozialversicherung stecke in der Krise und die Leistungen müssten gekürzt werden.

Der Wunsch, seriös zu klingen, ging mit dem Wunsch einher, „trendy und hip“ zu klingen. Zum Zeitpunkt der Privatisierungsdebatten existierte die Sozialversicherung bereits seit 70 Jahren und für viele Kommentatoren war allein schon das Grund genug für Veränderung. Es musste doch etwas geben, das mehr nach 21. Jahrhundert klang.

Schließlich hatte sich auch die betriebliche Altersversorgung drastisch verändert. Die altmodische Variante, bei der man jeden Monat einen festen Betrag einzahlte („festgelegter Leistungsplan“), war durch ein Modell abgelöst worden („beitragsorientierter Leistungsplan“), bei dem man Geld in ein Investmentkonto einzahlte. Warum nicht mit der Sozialversicherung genauso vorgehen?

Es gab sehr gute Gründe dafür, nicht so vorzugehen. Die neue private Altersvorsorge war viel stärker risikoorientiert, was bedeutete, dass es noch wichtiger für die Menschen war, ein stabiles garantiertes Einkommen für den Fall zu besitzen, dass ihre Investitionen sich als Fehlschlag erwiesen. Für Menschen, die es nicht gewohnt waren, ausführlich über die ökonomischen Grundlagen der Verrentung nachzudenken, war dies jedoch nicht offensichtlich.

Und an dieser Stelle kam ich ins Spiel (und eine Reihe weiterer progressiver Nerds). Im Grunde waren es vor allem zwei Sachen, die die Sozialversicherung vor der Privatisierung retteten – der gewaltige Widerstand, den die Öffentlichkeit leistete, nachdem ihr bewusst wurde, was da geschah, und die entschlossene Haltung der demokratischen Führung und insbesondere von Nancy Pelosi, sich diesem elitären Unfug zu widersetzen. (Pelosi auf die Frage, wann sie ihre eigenen Pläne für die Sozialversicherung vorstellen würde: „Niemals. Reicht Ihnen das als Antwort?“) Aber Leute wie ich hatten eine Rolle (eine wichtige, wie es damals schien) dabei zu spielen, diesem Unfug die Luft herauszulassen: Uns kam die Aufgabe zu, nachzuweisen, dass die vermeintliche Krise nicht real war, dass Privatisierung keine Lösung für ein echtes Problem ist, dass es eine der Aufgaben des Staats ist, Rentnern eine Grundversorgung zukommen zu lassen, und dass der Staat diese Aufgabe besser erledigen kann als der private Sektor.

Und es geschah etwas Erstaunliches: Zum ersten Mal, seit ich Kolumnist für die New York Times geworden war, konnte sich meine Seite tatsächlich in einer politischen Debatte durchsetzen.

SCHRECKGESPENST SOZIALVERSICHERUNG

5. März 2004

Der Jahresbericht, den die Treuhänder der Sozialversicherung vorgelegt haben, zeigt ein System, das finanziell ziemlich gut dasteht. Tatsächlich wären nur bescheidene Kapitalspritzen erforderlich, um zu gewährleisten, dass das derzeitige Niveau an Sozialleistungen mindestens die nächsten 75 Jahre beibehalten werden kann. In anderen Berichten dagegen ist die Rede von einem System in schweren finanziellen Nöten. Die New York Times schrieb am Dienstag über eine Studie, die das Finanzministerium 2002 erstellt hatte. Darin heißt es, Sozialversicherung und Medicare stünden mit 44.000 Milliarden Dollar in den roten Zahlen. Was stimmt denn nun? [Anm. d. Übers.: Die Krankenversicherung Medicare ist vor allem für Menschen ab 65 Jahren, für Menschen mit Behinderung oder für Dialysepatienten gedacht.]

Kleiner Hinweis: Selbst rechte Politiker beteuern öffentlich ihren Herzenswunsch, die Sozialversicherung zu retten, aber im Hintergrund sind Ideologen am Werk, denen jeder Vorwand recht ist, das System zu zerschlagen. Wenn also Menschen, die in ideologiegetriebenen Einrichtungen arbeiten (eine Kategorie, zu der man leider mittlerweile auch das US-Finanzministerium zählen muss), einen alarmierenden Bericht produzieren, muss man ihn mit großer Vorsicht genießen.

Erstens machen zwei Worte einen gewaltigen Unterschied – „und Medicare“. Der Studie zufolge entfallen von den 44.000 Milliarden Dollar Unterfinanzierung nur 16 Prozent auf die Sozialversicherung. Zweitens beruht die angenommene Unterfinanzierung beider Programme vor allem auf Prognosen für die weit entfernte Zukunft: 62 Prozent der kombinierten Unterdeckung fallen nach 2077 an.

Zeigt der Bericht des Finanzministeriums also, dass wir vor einer Krise bei der Sozialversicherung stehen? Nein. Das Problem der Sozialversicherung ist demografischer Natur: Während die Bevölkerung altert, wird die Zahl der Pensionäre schneller steigen als die Zahl der Arbeitenden. Das führt dazu, dass die Kosten der Sozialleistungen in den nächsten 30 Jahren um ungefähr zwei Prozent des BIP zunehmen werden und anschließend weiter langsam steigen. Zum Vergleich: Schreibt man Bushs Steuersenkungen dauerhaft fest, würden die Einnahmen um mindestens 2,5 Prozent des BIP sinken, und zwar ab sofort. Aus diesem Grund – und weil die Sozialversicherung anders als der Rest der Bundesregierung aktuell einen Überschuss ausweist – sind Bushs Steuersenkungen ein viel größeres Problem für die fiskalische Zukunft des Landes als die Unterfinanzierung der Sozialversicherung.

Medicare wird zwar häufig mit der Sozialversicherung in einen Topf geworfen, aber es handelt sich um ein anderes Programm, das vor anderen Problemen steht. Der prognostizierte Anstieg der Medicare-Ausgaben hängt nicht in erster Linie mit der demografischen Entwicklung zusammen, sondern mit den steigenden Kosten der medizinischen Versorgung. Das wiederum spiegelt vor allem den medizinischen Fortschritt wider, der es den Ärzten erlaubt, immer mehr Krankheiten zu behandeln.

Ob sich dieser Trend fortsetzt, ist auf sehr lange Sicht alles andere als gewiss. Sollte er sich fortsetzen, stehen wir möglicherweise auf lange Sicht vor einem echten Dilemma, das nicht nur die Betreuung der Pensionäre betrifft, sondern die gesamte medizinische Versorgung, und das mehr moralischer als wirtschaftlicher Natur ist. Es könnte der Zeitpunkt kommen, an dem der Staat gezwungen wäre, deutlich mehr Geld als heute aufzuwenden, um allen Amerikanern sämtliche Vorteile der modernen Medizin bieten zu können. Gewährleistet der Staat diese Versorgung nicht, würde das bedeuten, dass er zusieht, wie arme und Mittelschicht-Amerikaner früh sterben oder mit einer stark reduzierten Lebensqualität zu leben hätten, weil sie sich keine umfassende medizinische Betreuung leisten können.

Aber dieses Dilemma wird es unabhängig davon geben, was wir mit der Sozialversicherung machen, ja, es ist nicht einmal klar, dass wir jetzt versuchen sollten, das Dilemma zu lösen. Ich bin dafür, auf lange Sicht zu handeln: Es ist skandalös, wenn die Etatentwürfe der Regierung nur fünf Jahre abdecken, damit sie bekannte Kosten einige weitere Jahre später verstecken kann. Wir sollten für die Zukunft planen, gar keine Frage, aber stecken wir uns doch ein paar Grenzen. Wenn jemand eine ominöse Warnung über die Medicare-Kosten ab 2077 herausgibt, frage ich mich: Warum sollten haushaltspolitische Entscheidungen, die wir heute treffen, berücksichtigen, welche Kosten möglicherweise für noch nicht erfundene medizinische Behandlungen auflaufen, mit denen wir noch nicht geborene Generationen behandeln?

Die größte Gefahr, der sich die Sozialversicherung derzeit ausgesetzt sieht, ist politischer Natur: Werden diejenigen, die die Sozialversicherung hassen, versuchen, sie mit Panikmache und unscharfen Zahlenspielen zu Fall zu bringen?

Nachdem Alan Greenspan [Anm. d. Übers.: Vorsitzender der US-Notenbank von 1987 bis 2006] forderte, die Leistungen der Sozialversicherung zu kürzen, erklärten republikanische Kongressmitglieder, die Lösung seien individuelle Rentenkonten. Erstaunlich, dass sie bis heute mit diesem Schlangenöl hausieren gehen, und noch erstaunlicher, dass es ihnen die Journalisten bis heute durchgehen lassen. Im Wall Street Journal schrieb jemand umsichtig: „Individuelle Rentenkonten allein werden die Missstände der Sozialversicherung nicht aus der Welt schaffen.“ Ich schätze, das stimmt – genauso, wie man nicht abnimmt, wenn man sich ausschließlich von Donuts ernährt. Warum ist es so schwer, klar und deutlich zu erklären, dass eine Privatisierung die finanzielle Lage der Sozialversicherung nicht verbessern, sondern verschlechtern würde?

Sollten wir über bescheidene Reformen nachdenken, die die Kosten der Sozialversicherung senken oder ihre Einnahmequellen ausweiten? Selbstverständlich. Aber Obacht, wenn jemand behauptet, man müsse das System zerstören, um es bewahren zu können.

DIE ERFUNDENE KRISE

7. Dezember 2004

Eine Privatisierung der Sozialversicherung – was bedeuten würde, das derzeitige System komplett oder in Teilen durch private Rentenkonten zu ersetzen – wird nichts zur finanziellen Stärkung des Systems beitragen. Wenn überhaupt, wird die Situation danach nur schlimmer werden. Doch um die Privatisierung auf politischer Ebene durchsetzen zu können, muss der Öffentlichkeit unbedingt vermittelt werden, dass das System kurz vor dem Zusammenbruch steht und dass wir die Sozialversicherung zerstören müssen, um sie zu retten.

Wenn ich im Januar zu meinem üblichen Rhythmus zurückkehre, werde ich zu diesem Thema einiges zu sagen haben, aber hier und heute halte ich es für wichtig, meine Auszeit zu unterbrechen und dem Gerede von einer Krise der Sozialversicherung den Stecker zu ziehen.

An der Arbeitsweise der Sozialversicherung ist nichts Merkwürdiges oder Geheimnisvolles. Es handelt sich schlicht um ein staatliches Programm, das durch eine zweckgebundene Steuer finanziert wird, die auf den Lohn erhoben wird – ähnlich wie die Highway-Wartung durch eine zweckgebundene Kraftstoffsteuer finanziert wird.

Aktuell übersteigen die Einnahmen aus der Lohnsteuer die Beträge, die in Form von Leistungen ausgeschüttet werden. Das ist Absicht und die Folge einer Lohnsteuererhöhung von vor zwei Jahrzehnten … empfohlen von niemand anderem als Alan Greenspan. Ronald Reagan hatte gerade erst Steuern gesenkt, die vor allem die sehr gut Situierten betrafen, nun regte Greenspan an, eine Steuer zu erhöhen, die vor allem Haushalte mit geringem oder mittlerem Einkommen betraf. Seine Begründung: Die zusätzlichen Einnahmen würden benötigt, um einen Treuhandfonds aufzubauen. Auf diesen könne man zurückgreifen und Leistungen erbringen, sobald die Babyboomer [Anm. d. Übers.: die geburtenstarken Jahrgänge, in den USA von etwa 1946 bis 1964] anfingen, in Rente zu gehen.

Aber Behauptungen, die Sozialversicherung stecke in der Krise, enthalten auch ein Körnchen Wahrheit, dass nämlich diese Steuererhöhungen nicht groß genug ausfielen. In einem aktuellen Bericht erklärt das Haushaltsbüro des Kongresses, das vermutlich etwas realistischer in die Zukunft blickt, als es die Sozialversicherung mit ihren sehr vorsichtigen Prognosen tut, dass dem Treuhandfonds voraussichtlich im Jahr 2052 die Mittel ausgehen werden. Das bedeutet nicht, dass das System dann „bankrott“ ist, denn selbst nach dem Ableben des Fonds decken die Einnahmen der Sozialversicherung 81 Prozent der zugesagten Leistungen. Doch das ändert nichts daran: Auf lange Sicht gibt es ein Finanzierungsproblem.

Allerdings handelt es sich um ein Problem von bescheidener Größe. Um die Lebenszeit des Treuhandfonds ohne Veränderung der Leistungen bis ins 22. Jahrhundert verlängern zu können, müssten die Einnahmen um gerade einmal 0,54 Prozent des BIP steigen. Das entspricht weniger als drei Prozent der Staatsausgaben und ist weniger als das, was wir derzeit im Irak ausgeben. Es entspricht nur ungefähr einem Viertel der Einnahmen, die uns durch die Steuersenkungen von Präsident Bush entgehen – in etwa so viel wie der Anteil jener Erleichterungen, die Menschen mit einem Jahreseinkommen von über 500.000 Dollar zukommen.

Angesichts derartiger Zahlen fällt es nicht allzu schwer, sich Haushaltsmaßnahmen vorzustellen, die das Pensionsprogramm absichern würden, und zwar ohne grundlegende Veränderungen und auf Generationen hinaus.

Es stimmt, dass die Bundesregierung insgesamt vor einer sehr großen finanziellen Unterdeckung steht. Diese Engpässe haben allerdings deutlich mehr mit Steuersenkungen zu tun – Steuersenkungen, die Bush dennoch unbedingt dauerhaft festschreiben möchte – als mit der Sozialversicherung.

Aber weil die Privatisierungsbemühungen davon abhängen, dass man die Öffentlichkeit von der Existenz einer Krise der Sozialversicherung überzeugt, müssen die Privatisierer ihr Bestes geben, eine derartige Krise zu erfinden.

Mein Lieblingsbeispiel für ihre Hütchenspiel-Logik geht in etwa so: Als erstes beharren sie darauf, man müsse den aktuellen Überschuss von Sozialversicherung und dem mit dem Überschuss aufgebauten Treuhandfonds ignorieren. Die Sozialversicherung, so die Begründung, sei nämlich keine unabhängige Organisation, sondern nur Teil der Bundesregierung.

Übrigens: Sollte der Treuhandfonds tatsächlich bedeutungslos sein, dann handelte es sich bei der von Greenspan propagierten Steuererhöhung in den 1980er-Jahren um nichts anderes als einen Fall von Klassenkampf. Die Besteuerung der amerikanischen Arbeiterklasse stieg, die Steuern der Wohlhabenden sanken und die Arbeiter haben im Gegenzug für ihr Opfer nichts vorzuweisen.

Aber das ist ohnehin egal, denn dieselben Leute, die behaupten, eine Sozialversicherung, die Überschüsse anhäuft, sei keine eigenständige Institution, beteuern, dass es sich um eine Krise handele, wenn zum Ende des nächsten Jahrzehnts hin die Leistungen die Einnahmen aus der Lohnsteuer übersteigen. Warum? Die Sozialversicherung habe ihre eigene zweckgebundene Finanzierung und müsse deshalb auf eigenen Füßen stehen.

Niemand kann aufrichtig beide Positionen gleichzeitig vertreten, aber an der Haltung der Privatisierer ist ohnehin nur sehr wenig aufrichtig. Ihr Ziel ist es nicht, die Sozialversicherung zu retten, sie sind gekommen, sie zu beerdigen. Sie treibt nicht die Möglichkeit um, dass das System eines Tages versagen könnte, sie beunruhigt vielmehr der historische Erfolg des Systems.

Denn die Sozialversicherung ist ein staatliches Programm, das funktioniert, ein Beleg dafür, dass ein moderates Maß an Besteuerung und Ausgaben das Leben der Menschen besser und sicherer machen kann. Genau aus diesem Grund wollen die Rechten es zerstören.

DER GLAUBE ANS SCHEITERN

17. Dezember 2004

Während die Regierung Bush Amerika davon überzeugen will, die Sozialversicherung in einen gewaltigen 401(k)-Plan zu verwandeln, können wir von anderen Ländern lernen, die diesen Weg bereits eingeschlagen haben. [Anm. d. Übers.: Als „401(k) plan“ wird in Amerika ein Modell der privaten Altersvorsorge bezeichnet, das üblicherweise vom Arbeitgeber bezuschusst wird.]

Es ist nicht allzu schwer, etwas über die Erfahrungen anderer Länder in Sachen Privatisierung herauszufinden. Die Century Foundation (www.tcf.org) beispielsweise hält eine Vielzahl weiterführender Links bereit.

Dennoch haben die amerikanischen Nachrichtenmedien ihrem Publikum bislang nur wenig Informationen über internationale Erfahrungen zur Verfügung gestellt, wenn man davon absieht, dass das Cato Institute und andere Organisationen, die sich für eine Privatisierung der Sozialversicherung starkmachen, Gelegenheit bekamen, positive Geschichten aus Chile zu erzählen. Vor allem an zwei offenen Geheimnissen ließ man die Öffentlichkeit bislang nicht teilhaben:

Bei einer Privatisierung wandert ein großer Teil der Beiträge, die die Arbeitnehmer leisten, als Gebühren in die Taschen der Anlageunternehmen.

Viele Pensionäre landen in der Armut.

Jahrzehntelange Marketingarbeit der Konservativen hat die Amerikaner davon überzeugt, dass staatliche Programme immer mit einem Wasserkopf einhergehen, während die Privatwirtschaft immer schlank ist und effizient arbeitet. Geht es allerdings um die Sicherung der Rente, dann gilt das Gegenteil. Mehr als 99 Prozent der Einnahmen der Sozialversicherung fließen in die Leistungen, die Verwaltungskosten liegen bei unter einem Prozent. Im chilenischen System sind die Verwaltungsgebühren etwa 20-mal so hoch und das ist ein typischer Wert für privatisierte Systeme.

Diese Gebühren wirken sich enorm auf die Renditen aus, die die Menschen auf ihren Konten erwarten können. In Großbritannien, wo es seit den Tagen von Margaret Thatcher ein privatisiertes System gibt, haben die staatlichen Regulierer nach einem heftigen Aufschrei über die hohen Gebühren einiger Anlageunternehmen die Gebühren schließlich gedeckelt. Und dennoch verschlingt dieser Posten auch weiterhin einen großen Anteil der britischen Altersvorsorge.

Geht es um die reale Rendite, die die Amerikaner auf ihren privaten Ruhestandskonten erwarten können, wäre „vier Prozent oder weniger“ eine vernünftige Prognose. Würden wir ein System einführen, in dem die Verwaltungsgebühren ein ähnliches Niveau wie in Großbritannien betragen, würden die Nettorenditen, die an die Arbeiter zurückfließen, um über ein Viertel reduziert. Wenn man tiefe Einschnitte bei den Garantieleistungen und eine deutliche Zunahme des Risikos hinzunimmt, haben wir es mit einer „Reform“ zu tun, die allen wehtut – nur nicht der Investmentbranche.

Verfechter einer Privatisierung beharren darauf, dass die Kosten deutlich niedriger gehalten werden könnten. Es stimmt, die Kosten werden gering sein, wenn die Investitionen sich auf Indexfonds mit geringen Betriebskosten beschränken – wenn also Regierungsvertreter und nicht Einzelpersonen die Investment-Entscheidungen treffen. Aber wenn das System auf diese Weise laufen soll, handelt es sich bei der Behauptung, die Arbeiter würden die Kontrolle über ihr eigenes Geld haben, um unlautere Werbung – vor zwei Jahren taufte Cato sein „Project on Social Security Privatization“ um und ersetzte „Privatization“ durch „Choice“. [Anm. d. Übers.: Das libertäre Cato Institute zählt zu den wichtigsten Denkfabriken Amerikas in wirtschaftspolitischen Fragen.]

Und wenn Arbeiter aufgrund von Bestimmungen gezwungen sind, sich mit kostengünstigen Investitionen zu begnügen, werden Lobbyisten der Investmentbranche versuchen, diese Regeln kippen zu lassen.

Nur damit das klar ist: Ich glaube nicht, dass das zentrale Motiv für eine Privatisierung darin besteht, dass man Finanzunternehmen ordentlich die Taschen füllen möchte. Nein, hier geht es in erster Linie um ideologische Dinge. Aber diese Zusatzeinnahmen sind ein wichtiger Grund dafür, dass die Wall Street eine Privatisierung gutheißt. Alle anderen sollten sehr argwöhnisch sein.

Und dann ist da das Thema Altersarmut.

Was die Privatisierungs-Befürworter, die das chilenische System preisen, niemals erwähnen: Sein Versprechen, die staatlichen Ausgaben zu senken, hat dieses System bislang nicht erfüllt. Mehr als 20 Jahre nach seinem Entstehen pumpt der Staat weiterhin Geld ins System. Warum? Weil Chiles Staat „Arbeiter subventionieren muss, denen es nicht gelingt, ausreichend Kapital für eine Mindestrente anzuhäufen“, wie es in einem Bericht der US-Notenbank heißt. Anders gesagt: Eine Privatisierung hätte viele Pensionäre zu bitterer Armut verurteilt und der Staat ist wieder eingesprungen, um sie zu retten.

Dasselbe Bild zeigt sich in Großbritannien. Die dortige Pensions Commission warnt, dass jeder, der glaube, die von Thatcher vorgenommene Privatisierung habe das Rentenproblem gelöst, einer Illusion anhänge. Jede Menge zusätzlicher staatlicher Ausgaben würden nötig werden, um zu verhindern, dass sich unter den älteren Mitmenschen wieder großflächig Armut ausbreitet – ein Problem, von dem Großbritannien genau wie die USA eigentlich dachten, sie hätten es gelöst.

Großbritanniens Erfahrungen sind von unmittelbarer Relevanz für die Pläne der Regierung Bush. Kann man den bisherigen Andeutungen glauben, wird der endgültige Plan vermutlich in Aussicht stellen, durch Kürzung der garantierten Sozialleistungen Geld zu sparen. Diese Ersparnisse werden sich jedoch als Illusion erweisen: In 20 Jahren wird eine amerikanische Form der britischen Kommission warnen, dass der Staat sehr viel Geld wird in die Hand nehmen müssen, um die bevorstehende explosionsartige Zunahme der Altersarmut zu verhindern.

Die Regierung Bush will also ein Rentensystem abschaffen, das funktioniert und das sich mit bescheidenen Reformen auf Generationen hinaus zukunftssicher machen ließe. Stattdessen setzt sie auf gescheiterte, nachgebaute Systeme, die andernorts in der Praxis weder Einsparungen erbrachten noch die alten Mitmenschen vor der Armut schützen konnten.

LEKTIONEN AUS DER SOZIALVERSICHERUNG

15. August 2005

Gestern ist die Sozialversicherung 70 geworden. Und zur Überraschung fast aller ist das erfolgreichste staatliche Programm des Landes weiterhin intakt.

Noch vor wenigen Monaten waren sich alle einig, dass Präsident Bush seinen Willen bekommen würde, was die Sozialversicherung angeht. Stattdessen ist die Privatisierungsinitiative so heftig gefloppt, dass das Thema nahezu komplett aus den landesweiten Diskussionen verschwunden ist.

Ich würde mir die Sozialversicherung aber gern für einen Moment erneut vornehmen, denn es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, womit Bush sich durchmogeln wollte.

Viele Fachleute und Kommentatoren loben Bush weiterhin für sein Bemühen, die Sozialversicherung zu „reformieren“. Tatsächlich war Bush angetreten, die Sozialversicherung zu beerdigen, und nicht, sie zu retten. Im Laufe der Zeit hätte der Bush-Plan aus einer Sozialversicherung einen offenen Investmentfonds gemacht. Von dem System, das FDR [Anm. d. Übers.: Franklin Delano Roosevelt, US-Präsident von 1933 bis 1945] ins Leben rief, wäre außer dem Namen nichts mehr geblieben.

Bush hat nicht nur seine Ziele falsch dargestellt, er hat auch wiedergeholt gelogen, was das derzeitige System anbelangt. Oh, Entschuldigung, war das unhöflich von mir? Dennoch ändert das nichts daran, dass Bush wiederholt Dinge gesagt hat, die nachweislich falsch sind und von denen sein Stab gewusst haben muss, dass sie falsch sind. Die Falschangaben reichten von der Behauptung, die Sozialversicherung behandele Afroamerikaner ungerecht, bis zu der Behauptung: „Wenn wir nur ein Jahr warten, steigen die Kosten für die Reparatur der Sozialversicherung um 600 Milliarden Dollar.“

Die Regierung hat die Verwaltung der Sozialversicherung politisiert und Steuergelder dafür ausgegeben, parteipolitische Ziele zu verfolgen. Vertreter der Sozialversicherung nahmen an Events teil, bei denen es sich im Grunde um durch Steuergelder finanzierte politische Veranstaltungen handelte, von denen skeptische Mitglieder der Öffentlichkeit ausgeschlossen waren.

Ich schreibe in der Vergangenheitsform, aber einiges ist bis heute zu beobachten. Vergangene Woche schrieb Jo Anne Barnhart, die Leiterin der Sozialversicherung, einen Gastkommentar, in dem sie behauptete, die Sozialversicherung, wie wir sie kennen, sei für eine Gesellschaft ausgelegt, in der die Menschen nicht lang genug leben, um Sozialleistungen in großen Mengen in Anspruch zu nehmen. „Die Zahl der heute lebenden alten Menschen ist größer, als sie sich 1935 irgendjemand hätte vorstellen können“, so Barnhart.

Nun steht aber auf der Webseite der Social Security Administration, also Barnharts eigener Behörde, ein Artikel („Life Expectancy for Social Security“), der ganz ausdrücklich die Vorstellung zurückweist, die Sozialversicherung sei ursprünglich „so entwickelt worden, dass nur einige wenige Menschen die Leistungen in Anspruch nehmen können“. Ebenfalls zurückgewiesen wird die Vorstellung, dass „eine angebliche dramatische Zunahme der Lebenserwartung in den vergangenen Jahren“ das System vor Probleme stelle.

Und die aktuelle Zahl alter Amerikaner als prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht in etwa dem, was die Gründer der Sozialversicherung erwartet hatten. 1934 veröffentlichte FDRs Kommission zu ökonomischer Sicherheit einen Bericht, der den Rahmen für das Gesetz zur Schaffung der Sozialversicherung darstellte. In diesem Bericht heißt es, im Jahr 2000 würden 12,7 Prozent der Amerikaner 65 Jahre oder älter sein. Die tatsächliche Zahl: 12,4 Prozent.

Allen Anstrengungen Barnharts zum Trotz scheint das Thema Privatisierung im Augenblick tot zu sein. Die demokratische Führung im Kongress widersetzte sich dem Lager jener, die sich für Privatisierung starkmachten, indem sie sich weigerte, nachzugeben. Und die amerikanische Bevölkerung machte deutlich, dass sie die Sozialversicherung, so wie sie derzeit ist, durchaus mag.

Aber die Kampagne für eine Privatisierung war auch Anschauungsunterricht dafür, wie die Regierung ihre Politik verkauft – indem sie ihre Ziele falsch darstellt, indem sie lügt, was die Fakten angeht, und indem sie ihre Kontrolle über den Staatsapparat missbraucht. Es waren dieselben Taktiken, mit denen auch Steuersenkungen und der Irakkrieg verkauft wurden.

Zwei gute Gründe sprechen dafür, sich genauer mit dieser Lektion zu befassen. Zum einen, um für das gewappnet zu sein, was auch immer als nächster Punkt auf Bushs Tagesordnung steht. Allem knallharten Gerede über den Iran zum Trotz glaube ich nicht, dass er einen weiteren Krieg vorschlagen kann – die Truppen reichen schon für die Kriege, die wir jetzt führen, nicht aus. Aber es bleibt immer noch Spielraum für eine weitere große innenpolitische Initiative, möglicherweise eine Steuerreform.

Vorsicht ist besser als Nachsicht – die wahren Ziele der Reform werden anders sein als die genannten, die Regierung wird Dinge über das aktuelle System behaupten, die nicht wahr sind, und das Finanzministerium wird sich rein parteiisch an den Debatten beteiligen.

Der zweite Grund: Die Öffentlichkeit hat die Privatisierungspläne instinktiv abgelehnt. Im Zusammenspiel mit der wachsenden Unzufriedenheit über das Debakel im Irak eröffnet sich dadurch den Demokraten eine Gelegenheit, die Täuschungsmuster der Regierung zu thematisieren. Aber werden sie sich wirklich trauen, diese Gelegenheit zu nutzen? Schließlich müssten dann einige von ihnen einräumen, dass auch sie sich haben hinters Licht führen lassen.

ERINNERUNGEN AN DIE PRIVATISIERUNG

Blog der New York Times, 28. März 2015

Dave Weigel hat eine der interessanteren Harry-Reid-Retrospektiven verfasst. Er konzentriert sich auf Reids Rolle beim Kampf gegen Bushs Anstrengungen, die Sozialversicherung zu privatisieren, und vor allem darauf, wie er ein Bündnis mit liberalen Bloggern einging. [Anm. d. Übers.: Weigel ist ein Journalist, der seit 2015 für die Washington Post schreibt. Der Demokrat Harry Reid saß von 1987 bis 2017 für Nevada im Senat, von 2005 bis 2015 als Fraktionsführer seiner Partei.]

Dass ich mich sehr gut an diese Episode erinnere, hat mehrere Gründe. Einer davon war der, dass auch ich damals sehr viel schrieb und ein schlechtes Argument für die Privatisierung nach dem anderen widerlegte. Es war nicht das erste Mal, dass ich so etwas tat, aber dieses Mal war es aus zweierlei Gründen anders als sonst: Es ging wirklich hoch her und zur Abwechslung gewann meine Seite die politische Auseinandersetzung.

Darüber hinaus hat diese Zeit meine Wahrnehmung sehr geprägt, was die Wirkweise politischer Argumente im modernen Amerika anbelangt. Es gibt immer drei Lager: das rechte Lager, das wenig Interesse an Fakten oder Logik hat, das linke Lager (das nicht sonderlich links steht, sondern in den meisten anderen Ländern wohl als Mitte-links gelten würde) und das Lager der selbst ernannten Zentristen, die im Land insgesamt nur über eine sehr geringe Wählerschaft verfügen, aber innerhalb des Washingtoner Beltways viel Einfluss besitzen.

In den Debatten um die Sozialversicherung konnte man sehr früh lernen, dass die Zentristen verzweifelt an eine Symmetrie zwischen links und rechts glauben wollen und daran, dass Demokraten und Republikaner auf ihre Weise gleich extrem sind. Und das bedeutet, sie versuchen stets, etwas Nettes über Republikaner und deren politische Vorschläge zu sagen, egal wie furchtbar diese Vorschläge auch sind. Auf diese Weise schaffte es Paul Ryan zu einer Auszeichnung für die Übernahme finanzpolitischer Verantwortung. [Anm. d. Übers.: Paul Ryan ist republikanischer Kongressabgeordneter und war von 2015 bis 2019 Sprecher des Repräsentantenhauses.]

2005 stellte Bush also eine fragwürdige Behauptung und eine völlig unlogische Schlussfolgerung auf. Erstens, die Behauptung, die Sozialversicherung stecke in der Krise. Zweitens, die Lösung für das Problem sei eine Privatisierung. Dabei hätte das für die Finanzierung des Programms überhaupt keine Erleichterung dargestellt. Wie konnten Zentristen über einen derart offenkundigen Taschenspielertrick Nettigkeiten äußern?

Sehen wir uns an, was Joe Klein 2005 zu sagen hatte: [Anm. d. Übers.: Joe Klein ist Autor und politischer Kommentator, 2005 beim Time Magazine]