Kaspar Hauser - Wesen, Unschuld, Erduldungen - Georg Friedrich Daumer - E-Book

Kaspar Hauser - Wesen, Unschuld, Erduldungen E-Book

Georg Friedrich Daumer

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Beschreibung

Kaspar Hauser ein Betrüger? Niemals! meint Professor Daumer, der mit Kaspar Hauser von seinem Auffinden bis zu seinem Tod in Kontakt stand und ihn zeitweise auch als Pflegevater betreute. Mit seinem dritten und letzten Werk über den Nürnberger Findling schuf Prof. Daumer ein Standardwerk zu diesem rätselhaften Kriminalfall. Niemand kannte Kaspar Hauser besser als er und niemand sonst hätte besser als er beurteilen können, ob Kaspar Hauser lediglich ein Komödiant oder das Opfer eines teuflischen Verbrechens war ...

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Mit einer Anzahl bisher noch unveröffentlichter Aufsätze, Nachrichten

und Erklärungen gewichtvoller Beobachter, Zeugen und Sachkenner,

namentlich auch zur Ergänzung des teils an sich mangelhaften, teils noch

ungenügend und mit Weglassung relevanter Bestandteile mitgeteilten

Aktenmaterials.

Zu Ende geht mein Erdenlauf,

Bald wird die letzte Kraft ermatten;

Da steigt noch einmal vor mir auf,

Du armes Kind, dein blut’ger Schatten.

Dein Geistermund, er haucht mir zu:

„O Du mein Freund zu allen Zeiten,

Mein Kämpfer und mein Schützer Du

In allen noch so harten Streiten!

Ich war – das ist Dir tief bewußt –

Greu’lhaft zu handeln nie imstande;

Der eine traf mich in die Brust,

Die andern deckten mich mit Schande.

Du strittest hier, Du strittest dort;

Der Sieg der Unschuld war entschieden;

Und ich in meinem dunklen Port

Schlief wiederum in tiefem Frieden.

Doch nimmer ruht der Hölle List,

Der Hölle Grimm auf dieser Erden;

Aufs neue nach so langer Frist

Soll ich beschimpft, zertreten werden.

Laß Deine Lieb’ und Deinen Mut

Mich auch in diesem Kampf erproben;

Nimm mich auch jetzt in Deine Hut!

Nicht fehlen wird die Kraft von oben.“

Du sprichst es und ich bin zur Hand;

Ich und mein Schwert, wir sind die alten,

Und heilig ist der Treue Band;

Wir werden unser Amt verwalten.

Inhalt.

A. Gesichtspunkte und Erörterungen allgemeinster Art. Verhältnis der Hauser’schen Streitsache zu Wissenschaft, Kultur, Zeitgeist und verschiedenen Standpunkten und Tendenzen der Gegenwart.

Glauben und Unglauben. In welch’ allgemeinerem Sinne dieser Gegensatz hier in Anwendung kommt.

Die Phraseologie des vulgären Rationalismus und Materialismus.

Die Wissenschaft und Kultur der Gegenwart als angebliche Bundesgenossin und Stütze der „negativen Kritik.“ Wie in dieser Hinsicht die wahre Sachlage, wie namentlich auch die Aussichten in die Zukunft beschaffen.

Professor Preyer über Kaspar Hauser. Besonders was dessen von Feuerbach beschriebene Art zu sehen betrifft.

Die Natur in ihrer dem Menschen gegenüber behaupteten unbegrenzbaren Freiheit und Selbständigkeit. Ihre nie zu Ende gehenden, immer neu überraschenden Paradoxien, Rätsel und Seltsamkeiten.

A. R. Wallace und John Herschel über das Fehlschlagen, die schließliche Beschämung und Schmach und die Schädlichkeit apriorischer Vorurteile und Leugnungen von Tatsachen für Wissenschaft und Leben.

Beispiel eines ärztlich bezeugten Hauser’schen Wunders unleugbarer Art.

Über den Spiritismus als Zeiterscheinung und Zeichen der Zeit.

B. Chronologische Übersicht der hauptsächlichsten Begebenheiten, Umstände, Folgen und Zusammenhänge des Hauser’schen Falles.

C. Die verschiedenartigen Auffassungen, Theorien, Hypothesen, die in dieser Angelegenheit möglich und zutage gekommen.

D.Der Autor und seine Freunde, Mitbeobachter und Glaubensgenossen in der Hauser’schen Angelegenheit.

Der Autor selbst und die ihm von den Gegnern beigelegten Charaktereigenschaften.

In welchem Zustand Kaspar Hauser zu dem Autor kam und welche Behandlung desselben ihm geboten war.

Des Autors

Mitteilungen über Kaspar Hauser

betreffend. Nachweisung analoger, die Hauser’schen Phänomene sogar noch überbietender Erscheinungen und Tatsachen wissenschaftlich unzweifelhafter und anerkannter Art. 1

Über einige Persönlichkeiten, namentlich spezielle Freunde des Autors, welche den Findling kannten, beobachteten, prüften, mit ihm umgingen und über ihn Zeugnis gaben: v. Tucher, v. Hermann, Wurm, Preu, Osterhausen, L. Feuerbach.

Über des Präsidenten v. Feuerbach Gesundheitsumstände, Geisteskräfte und Tod während der Hauserzeit.

Die Gräfin v. Albersdorf, ihr Verhältnis zu Stanhope, ihr System, ihre Visionen und ihr Verdienst.

Dr. Heidenreich, als zur gläubigen Partei gehörig, aus seiner Abhandlung über Kaspar Hauser nachgewiesen.

E. Fremde Aufzeichnungen, wie sie sich in den vom Autor seit der Hauserzeit aufbewahrten eigenhändigen Manuskripten mehrerer Freunde von ihm befinden.

Aufzeichnungen Prof. Dr. Hermanns über Hausers Leben in seinem Kerker und seine Reise von da nach Nürnberg.

Aufzeichnungen von Gottlieb Freih. v. Tucher aus dem Jahre 1828.

Aufzeichnungen von Dr. L. Feuerbach aus den Monaten Juli und August 1828.

Aufzeichnungen des damaligen Kandidaten der Theologie Bäumler jun., die von Hr. v. Pirch im März 1830 angestellten sprachlichen Experimente betreffend.

F. Des Findlings eigentümliche Beschaffenheiten in den verschiedenen Zeiten seines Lebens unter uns, und der Beweis, welchen sie für die Wahrhaftigkeit seiner Erscheinung und Geschichte liefern. Mit bisher noch ungedruckten Zeugnissen, Notizen und Hauser’schen Reliquien.

Über zwei wesentlich zu unterscheidende Zeiträume in Hausers Erscheinung und Entwicklung.

Erklärung Herrn Röders, pens. Schranneninspektors zu Nürnberg. Widerlegung aktenmäßiger Lügen über das Benehmen des rätselhaften Ankömmlings.

Hiltel und Blaimer. Zwei Zeugen der gewichtvollsten Art und keine Romantiker und Mystiker.

Hausers Leiden nach seinem Eintritt in die Menschenwelt und seine Sehnsucht, in seinen alten Zustand zurückzukehren.

Beschaffenheit der Augen und des Sehvermögens.

Körperhaltung, Stehen und Gehen, Beschaffenheit der Hände und Füße Hausers in erster Zeit.

Eigentümlichkeit der Empfindung für sinnliche Eindrücke, namentlich was elementarische, mineralische und animalische Prozesse, Gegenstände und Stoffe betrifft.

Diätetische Absonderlichkeiten. Ausschließliches Leben von Wasser und Brot usw.

Hausers Sprachvermögen und Sprachkenntnis in dessen unbekanntem Vorleben und zur Zeit seiner Erscheinung in Nürnberg.

Hausers Unbekanntschaft mit den gewöhnlichsten Gegenständen und Erscheinungen.

Hausers geschlechtliche Beschaffenheit und Verhaltungsweise.

Hauser das Kind und die Kunigunde Lechner.

Über Hausers psychische Vermögenheiten, namentlich was seine in den ersten Zeiten seiner Erscheinung enorme Fassungs- und Gedächtniskraft betrifft.

Hauser als Reiter.

Hauser im Jahre 1832, geschildert vom Präsidenten v. Feuerbach.

Ein Brief von Hauser aus dem Jahre 1832.

Resultate der Leichenöffnung.

G. Hausers Meinungen, Vorstellungen, Erwartungen in Betreff seiner selbst, seine Phantasien, Träume, Visionen, Delirien, Äußerungen im Sterben – ein Beweis seiner Unschuld und Truglosigkeit.

H. Die Widersacher. Beleuchtung ihres persönlichen Verhaltens und ihrer literarischen Betätigungen.

Der englische Graf und seine unbegreifliche Metamorphose.

Dr. Julius Meyer und seine

Authentischen Mitteilungen

.

Das Hickel’sche Opus und seine Authentizität.

Die Ansbacher Mißhandlungen.

Die Nürnberger Feindin.

Wie man selbst Hausers weiches Gemüt und Tränenergüsse verdächtigt und zu Anzeichen seiner angeblichen Schlechtigkeit macht.

Wie die „neg. Kritik“ die Toten für sich reden und zeugen läßt.

Wie Hauser, den man immer und überall der Lüge bezüchtigt, vielmehr selbst belogen und betrogen wurde.

Über einige besondere Vorwürfe, welche dem Findling seine Feinde machen.

I. Zur Geschichte der Attentate, Nürnberger Mordversuch. Ansbacher Katastrophe. Mit einer Anzahl der relevantesten Aussagen und Zeugnisse, die bis jetzt noch nicht veröffentlicht sind.

Der Nürnberger Mordversuch.

Wahrnehmungen verschiedener Personen in Betreff der Ermordung Hausers, aus guter Quelle geschöpft, nebst den daraus zu ziehenden Schlüssen, wodurch der ganze Vorgang in ein neues Licht zu stehen kommt.

Lehrer Meyer in Ansbach über Hausers letzte Lebensmomente. Eine wichtige Mitteilung aktenmäßiger Art zur Ergänzung einer von Dr. Meyer verstümmelt gelieferten Deposition.

Ludwig Feuerbach über Hausers Tod. Aus des Autors Briefwechsel mit Feuerbach.

Über die Annahme einer Selbstverwundung Hausers in dem Ansbacher Fall mit besonderer Rücksicht auf den von der

Frankfurter Zeitung

gelieferten Gegenbeweis.

Bürgermeister Binders Traueranzeige.

K. Das sich im Hintergrund bergende Mysterium.

Allgemeine Bemerkungen.

Berichte von Varnhagen.

Auszug aus dem der Königin Karoline von Bayern übersendeten

Memoire

Anselm v. Feuerbachs über Hausers Stand, Gefangenschaft und Herkunft.

Vehse und die

Pariser Broschüre

.

Die

Frankfurter Zeitung

. Geheimrat Welckers Überzeugungen und Erzählungen. Hausers Amme. Georg Fein und die Gräfin Benzel-Sternau. Garnier, Sailer und Hennenhofer. Die Ermordung des Studenten Lessing und deren Folgen. Hennenhofers Tod und Nachlaß.

Aus den Akten des Kriminalgerichtes in Zürich. Depositionen. Hennenhofer’sche Briefe.

Der badische Staatsminister Freiherr v. Hacke und seine mutmaßliche Selbstentleibung.

Merkwürdige Familienähnlichkeiten.

Vision einer hohen Dame.

Die Geschichte von der aus dem Rhein gefischten Flasche. Der angeblich bei Laufenburg am Rhein gefangengehaltene Thronberechtigte. Hausers angeblicher Aufenthalt in Hochsal.

Schloß Falkenhaus als Hausers Aufenthalt und Kerker vor seiner Erscheinung in Nürnberg und die nach Gmünd auslaufenden Spuren des Kerkermeisters.

Mitteilungen eines Anonymus über Hacke und Stanhope.

Amerikanische Mitteilungen. Erinnerungen und Überzeugungen ehemaliger badischer Untertanen in New York.

Die Hennenhofer’schen

Memoiren

und die daraus resultierende Entscheidung der Hauser’schen Streitsache.

L. Verschiedene Einzelheiten.

Rahel über die Großherzogin Stephanie.

Forschungen nach den verlorengegangenen magistratischen Akten.

Der Spott und Hohn der unbekannten Missetäter oder das Satanische in seiner reinsten Gestalt.

Wie es mit der Wahrhaftigfeit, Redlichkeit und Glaubwürdigkeit einer ganzen Anzahl von Personen bestellt ist, die in dieser Geschichte als Zeugen, Berichterstatter, Darsteller und Beurteiler vorkommen.

Der Museumsaufsatz vom Mai 1872 oder die rasend gewordene „Nüchternheit.“

Erklärung der Zeichnungen.

Der Kopf.

Das Wappen.

Zur Literatur.

Notizen und Auszüge aus einigen wichtigen Quellen und Urkunden, die dem Autor erst in letzter Zeit bekanntgeworden.

Aus einer französischen Schrift, wo besonders eine Stelle aus Hennenhofer’s

Memoiren

von größtem Gewicht.

Aus den Feuerbach’schen Nachlaßpapieren.

Das Biberbach’sche Haus. Stanhope.

Aus Stanhopes Briefen an Feuerbach. Stanhope in Mannheim der Großherzogin Stephanie und ihrer Umgebung gegenüber. Seine Falschheit gegen Feuerbach und sein planmäßiger Übergang in seine nachherige Metamorphose.

Die großherzogliche Geistererscheinung.

Die auf Ungarn bezüglichen Dinge betreffend. Aus v. Röders, des Präsidenten v. Feuerbach, Prof. Rumys und v. Tuchers Briefen.

Aus dem Briefwechsel Hofrat Hofmanns und Staatsrat Klübers, wo namentlich die Nachrichten von dem Benehmen des Lehrers Meyer und dem Tode des hiernach ohne Zweifel an Gift gestorbenen Präsidenten v. Feuerbach von Interesse sind.

Hauser’sche Handschriften und Zeichnungen.

Vorrede.

Die Kaspar Hauser’sche Streitsache, die schon vordem so viele Geister, Herzen und Federn aufgeregt und in Bewegung gesetzt, dann jedoch, nach Dezennien, wenigstens für das Gedächtnis und die Teilnahme des allgemeineren Publikums1, so ziemlich tot und begraben war, hat in unseren Tagen eine unerwartete Auferstehung gefeiert, ist in einen neuen heftigen Kampf ausgeschlagen und insofern ganz wieder zu einer Sache der Gegenwart geworden. Es ist, als ob ihr ein, bei allem Wechsel der Zeiten und Dinge, unvertilgbares Leben eigne, als ob sie wenigstens so lange nicht ruhen könne und solle, bis sie zu ihrem vom Schicksal bestimmten Ziel und Abschluß gekommen. Das Verdienst – wenn dies Wort hier am Orte ist – den Anstoß zu dem überraschenden Ereignis gegeben, die tiefschlummernde Fehde gewaltsam wiederaufgeweckt, die Gläubigen und Wissenden zu neuen Protestationen, Erörterungen und Zeugnissen gezwungen zu haben, hat sich Herr Dr. Julius Meyer, königlich-bayerische Bezirksgerichtsassessor zu Ansbach, durch seine daselbst bei Seybold erschienenen, mit größter Reklame angekündigten und begleiteten Authentischen Mitteilungen über Kaspar Hauser erworben. Derselbe ist – was in Hinsicht des persönlichen Grundes und Zusammenhanges der Sache bemerkenswert – ein Sohn jenes Lehrers Meyer, bei welchem Kaspar Hauser, nach seiner Wegnahme von Nürnberg, untergebracht war, welcher in so enger Verbindung mit dem Grafen Stanhope und dem Gendarmerie-Offizier Hickel gestanden, in Gemeinschaft mit diesen den unglücklichen Jüngling durch die feindseligsten Darstellungen in so argen Verruf gebracht, sich gegen denselben, wie er selbst in seinem schriftlichen Nachlaß ganz offen gesteht und erzählt, die empörendsten Handlungsweisen erlaubt2, ihn sogar noch nach der tödlichen Verwundung und bei dem jammervollen Hinscheiden desselben als einen elenden Betrüger und gauklerischen Selbstmörder behandelt hat. Diese Gehässigkeiten und Beschuldigungen in Form einer aktenmäßigen Darstellung, Kritik und Beweisführung, wobei es aber ganz nur auf einen der Tendenz gemäß hervorgebrachten Schein angelegt ist, zu erneuern, zu verstärken und zu vollenden, hat sich nun der mit der Geistes- und Gesinnungserbschaft des Vaters ausgerüstete Sohn zur Aufgabe gemacht. Zu diesem Behuf hat er für nötig gefunden, nicht nur gegen jenen Ärmsten selbst, sondern auch gegen dessen Freunde und Vertreter mit allen nur möglichen, selbst den moralisch unerlaubtesten, Mitteln zu Werke zu gehen, vor allem mich, als den in wesentlichen Beziehungen hauptsächlichsten Berichterstatter und Zeugen für die Natur und Wahrhaftigkeit der betreffenden Erscheinung und Geschichte, in den Augen der Welt intellektuell und moralisch tot zu machen. Zu den alten Vergehungen wurden auf diese Weise nur neue gefügt, ohne daß jene gebessert wurden und ohne daß dieses ganze Gebaren überhaupt zu seinem Ziel kam.

Die durch dasselbe hervorgerufene journalistische Polemik dürfte keinem meiner Leser unbekannt geblieben sein; so namentlich, was mein verehrter Freund, Gottlieb Freiherr v. Tucher, und ich selbst in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlicht haben. Die Sache war damit noch nicht in der Art abgetan, daß eine besondere Gegenschrift überflüssig geworden wäre; eine solche wurde denn auch angekündigt und liegt nun im gegenwärtigen Buch dem Publikum vor. Es ist mir schon während der Ausarbeitung desselben die große Freude und Befriedigung geworden, mich durch die freundlichsten, gütigsten und wertvollsten Mitteilungen, wie sie mir von achtungswerten, in die Hauser’schen Geheimnisse mehr oder weniger eingeweihten Personen zukamen, auf das Wünschenswerteste ermuntert und unterstützt zu sehen und daraus zu erkennen, erstlich, wie wenig die Gegner hoffen dürfen, dem alten Hauserglauben, der schon als solcher zu tief gegründet, zum Teil aber noch mehr als Glaube, nämlich Wissen und Einsicht ist, den Todesstoß zu versetzen; zweitens, in Rücksicht auf mich selbst insbesondere, wie wenig Dr. Meyers Schmähungen die von ihm beabsichtigte vernichtende Wirkung getan. Und so habe ich ein Werk vollendet, welches nicht nur das schon sonst Gegebene so gründlich, als möglich, abhandelt, sondern auch viel unerwartet Neues und Lichtgebendes darbieten wird.

Es sind verschiedene Gründe und Zwecke, die mich zur Verabfassung dieser Schrift bestimmt haben. Ich will und darf es erstlich nicht dulden, daß der unglückliche Jüngling, der mir wert gewesen, der mir auch seinerseits bis an sein schreckliches Ende dankbar und vertrauensvoll zugetan geblieben, den ich gegen seine Beschimpfer und Zertreter stets verteidigt habe und auch jetzt in Schutz zu nehmen berufen zu sein glaube, aufs neue so schmählich behandelt wird, indem man einen nichtswürdigen, grundverdorbenen Buben, eine „Schlange“, eine „Teufelsseele“, ein wahres Scheusal und Ungeheuer aus ihm macht, vor welchem es uns grauen müßte; ich sehe mich genötigt, bei dieser Gelegenheit, wenn auch zum Teil noch so ungern, vollends alles zu sagen, was ich Betreffendes weiß und was zu dessen Reinigung von so extremen Anschwärzungen dient. Zweitens habe ich auch meine eigene Ehre zu schützen, welche niemals in dem Grade angegriffen worden ist, wie von der sich so nennenden „negativen Kritik“ geschieht, die mich in ihrer Weise förmlich zu morden sucht, um, über meine Leiche hinwegschreitend, zu ihrem edlen und liebenswürdigen Zweck zu gelangen. Drittens schreibe ich der Wissenschaft zuliebe, da der Nürnberger Findling ein kostbares Eigentum derselben geworden ist, welches ihr Menschen, die ganz andere, als wissenschaftliche Zielpunkte im Auge haben, so gewaltsam zu entreißen bemüht sind, und welches sie gegen diese Räuber festzuhalten, nicht unterlassen darf. Die Sache hat endlich auch ein nicht zu übersehendes Humanitätsinteresse praktischer Art. Wenn die „negative Kritik“ ihren Zweck erreichte, so würde das ein Ereignis sein, zu welchem sich die Menschheit nicht Glück zu wünschen hätte; dagegen diese den entgegenstehenden Bemühungen, im Fall des Gelingens, eine nicht unerhebliche Wohltat verdanken wird. Wenn, wie die Lang, Stanhope, Merker, Meyer, Hickel die Welt zu bereden suchen, alles Mögliche betrüglich dargestellt werden kann, der Nürnberger Findling trotz alldem, was besonders in den ersten Zeiten seines Lebens unter uns so entschieden für ihn sprach, doch nur betrogen hat; wenn ein elender, hergelaufener Bursche, Gaukler und Gauner eine so allgemeine Täuschung bewirken und ebensogut den schlichten, gewiß „gesunden“ Menschenverstand und die fachmäßige Erfahrenheit eines Hiltel, als die humane Auffassung eines Binder, den edlen Geist eines v. Tucher, den penetranten Scharfblick eines Hermann, die hohe Bildung und Einsicht eines Feuerbach etc. zum Besten haben; wenn er Polizeimänner, Juristen, Staatsmänner, Militärpersonen, Mathematiker, Philosophen, Ärzte, Geistliche, Bürger, überhaupt Menschen und Charaktere aller Art, hohe und niedrige, gelehrte und ungelehrte, alte und junge, erfahrene und unerfahrene, geistreiche und trockenverständige, hingebungsvolle und skeptische etc. so völlig und so beharrlich hintergehen konnte, dann gibt es gar kein Kennzeichen der Wahrheit und Unschuld mehr; dann wird sich Argwohn und Unglaube, in vollkommen berechtigtem Fortgang, ins Unbegrenzte steigern; dann wird die Besorgnis, mystifiziert und düpiert und infolgedessen als Schwachkopf verlacht und verachtet zu werden, leicht selbst mildere Charaktere zur äußersten Härte und Schonungslosigkeit verleiten, und es wird für den Unschuldigen kaum mehr eine Hoffnung und Rettung geben. Wie lehrreich dagegen und von wie guter Folge für die unter bösem Anschein leidende und ringende Unschuld wird es sein, wenn die Wahrheit des vielbestrittenen Hauser’schen Falles endlich definitiv festgestellt und über jeden Angriff des Unglaubens, der Leugnung und Verhöhnung für immer hinausgehoben ist; wenn das unsäglich traurige Schicksal des Unglücklichen, der selbst noch auf dem Sterbebett als Gaukler und böser Bube so schimpflich und grausam behandelt worden und mit lautem Jammer darüber ins Grab gesunken ist, die Welt, wie zu tiefstem Mitleid und gerührtester Teilnahme an ihm selbst, so zugleich zum Unwillen über die fühllosen und unbarmherzigen Menschen bewegt, welche zu seiner furchtbaren Todeswunde und seinem frühen Dahinsinken in das ihm bereitete Grab auch noch diese letzte, bitterste Kränkung hinzugefügt haben! Es wird eine ewige Warnung für ähnliche Fälle sein, und Vorgesetzte, Richter, Publikum behutsamer in ihren Urteilen und Handlungen machen.

Politische Interessen und Zielpunkte waren mir in dieser Sache von jeher fremd und sind es ebenso auch jetzt. Zu dem Anteil, den ich an dem rätselhaften Jüngling nahm, hat mich zunächst ganz einfach nur mein Herz, die Empfindung des Mitleids und die himmlische Erscheinung einer engelschönen und engelreinen Seele, wie sie sich hier darstellte3, dann in zweiter Linie die instruktive wissenschaftliche Wichtigkeit des Gegenstandes bestimmt. Für die meisten Menschen war Hauser wohl hauptsächlich oder gar nur deshalb so merkwürdig und interessant, weil sie in ihm einen beiseite geschafften Prinzen, Thronberechtigten u. dgl. Erblickten. Für mein Gefühl und Verhalten waren solche Vorstellungen und Annahmen von keinem Belang; ob er in einem Palast oder einer Hütte entsprungen, war mir einerlei; und hatte sich’s herausgestellt, daß er ein armes, verstoßenes Bauern- oder Tagelöhnerkind gewesen4, so wäre ich ihm in derselben Weise zugetan geblieben. Daß er etwas von Geburt Hohes sei, davon konnte ich, bei reiflicher Überlegung aller Umstände, allerdings ebenfalls nicht zweifeln; es bewiesen mir das namentlich die auf ihn gemachten Mordanfälle, denen er zuletzt so tragisch unterlag, so wie die Art, wie sie ausgeführt wurden. Solche hätte man auf einen niedrig geborenen Menschen schwerlich gemacht; die vielfach wahrgenommenen Missetäter5 hätten sich auch nicht in einer solchen, den höheren und bemittelteren Ständen eigenen Kleidung dargestellt; sie hätten sich, wenn sie nicht mit allen möglichen Hilfsmitteln versehen, nicht auf alle nur denkbare Weise unterstützt und geschützt gewesen wären, auch wohl nicht so völlig der Entdeckung und Ergreifung entziehen können.6 Ich werde nicht umhin können, auch diese Seite des Ganzen zu berühren und namentlich von den vielfachen und gewaltigen Anzeichen zu sprechen, welche auf den Punkt hinführen, auf welchen schon des Präsidenten v. Feuerbach Vermutungen und Forschungen gerichtet waren. Mir selbst haben sich früher, wie meine Enthüllungen7 dartun, andere Gedanken aufgedrungen, die ich auch noch jetzt nicht völlig aufgeben kann, die aber mit jenen ersteren nicht unvereinbar sind. Was ich in letzter Zeit, als sich die Fahnen der Hauser’schen Streitsache neu entfaltet hatten und mir die schon oben berührten, über alle Erwartung freundlichen und vertrauensvollen Mitteilungen zuflossen, in Erfahrung gebracht, läßt mich glauben, daß ich nunmehr mit meinen Ansichten, auch was den tiefsten Hintergrund der betreffenden Erscheinungen und Tatsachen betrifft, nicht mehr auf dem unsicheren Boden der bloßen Meinung und Vermutung, sondern auf dem festen Grund historischer Wahrheit und Gewißheit stehe. Es sind mir von zum Teil vorher ganz unbekannten Personen die merkwürdigsten, überraschendsten und geheimsten Dinge bekanntgegeben worden. Ich darf nicht alles davon publizieren; was ich aber mitteilen kann, dürfte, in Verbindung mit den anderweitigen, ohnehin schon in meinem Besitz befindlichen Momenten, genügen, um die Wißbegierde des Publikums auch in Betreff der dunkelsten Seite dieser Angelegenheit zufriedenzustellen und dessen Anschauung mit der meinigen konform zu machen. Ich werde das, was ich weiß, nicht zu einer Art von Roman oder Novelle mit phantastischen Zutaten verarbeiten, wie die Pariser Broschüre getan; das duldet der strenge historische und wissenschaftliche Ernst meiner Arbeit nicht; um so mehr Reiz und Wert aber wird sie für diejenigen haben, welchen es nicht bloß um eine amüsante Lektüre, sondern vor allem um Wahrheit zu tun ist.

Der offenen Darlegung des Hauser’schen Mysteriums traten vordem Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten entgegen, welche jetzt nach Verfluß so vieler Jahre, nicht mehr vorhanden sind, indem namentlich die politische Bedeutsamkeit und Bedrohlichkeit der Sache gänzlich weggefallen ist. Das regierende Fürstenhaus, das hier in Betrachtung kommt, steht fest, genießt die Achtung des Landes und ist jenen finsteren Geheimnissen durch Zeit- und Personenwechsel in der Art entrückt, daß ihm aus der Entschleierung derselben kein sachlicher Nachteil und keine persönliche Kränkung mehr erwachsen kann. Die Sache gehört ganz nur noch der Geschichte an; und es wäre ein vergebliches Unternehmen, sie auch dieser entreißen zu wollen. Es würde betreffenden Ortes wohl freilich lieber gesehen werden, wenn sie verschollen und vergessen wäre und wenigstens nicht mehr in einer die alten Erinnerungen so lebhaft auffrischenden Weise zur Sprache käme. Daran aber, daß dies geschieht, sind nicht wir, die Verteidiger des verlästerten Jünglings und unserer eigenen Ehre, die wir ja gerne geschwiegen hätten und in dieser Angelegenheit gar nicht mehr aufzutreten gedachten, sondern diejenigen Schuld, die gegen ihn und uns so übermütig, aufregend und gewaltsam provozierend vorgegangen. Ich möchte endlich fragen, ob es denn für das Gefühl des betreffenden hohen Hauses, welches, so viel man weiß, dieselbe Überzeugung hat, wie wir, nicht auch tiefverletzend ist, wenn jenes unglückselige Glied desselben, das sogar die frappanteste Familienähnlichkeit in seinen Gesichtszügen darbot, in ein so häßliches und schimpfliches Licht gestellt wird, wie neuestens wieder durch das Meyer’sche Werk geschieht; ob man daher nicht Ursache hat, den Vertretern des Mißhandelten, noch im Grabe so schandbar Verleumdeten nicht bloß zu verzeihen, sondern sogar Dank zu wissen? Daß sie auf solchen rechnen und dabei irgendeinen persönlichen Vorteil für sich im Auge haben, diese Lächerlichkeit wird ihnen hoffentlich niemand zutrauen. Sie kennen ihre Lage und ihr Schicksal; sie stehen bereits an ihrem Grabe und haben keine andere Absicht mehr, als ihre Pflicht zu tun und mit befriedigtem Gewissen abzuscheiden. Doch wäre es ihnen lieb, wenn sie zu bewirken vermöchten, daß die Ungunst, die ihnen in der angedeuteten Beziehung zuteil werden kann, einer milderen Anschauungsweise und Stimmung wiche.

Der Hauser’sche Fall ist von einer viel ausgedehnteren, umfassenderen Bedeutsamkeit, als er dem nur oberflächlich darum Wissenden erscheinen mag. Weit entfernt, auf sich selbst, als dies dunkle und, womöglich, durch ein glückliches Vermuten, Erraten oder Beweisen aufzuhellende historische Rätsel und Geheimnis, beschränkt zu sein, berührt er sich zugleich mit den universellsten, tiefgehendsten Interessen, Problemen, Tendenzen und Streitfragen der Gegenwart und der Menschheit überhaupt. Die Gegner setzen ihre Berechtigung zu Unglauben, Negation, Herabsetzung und Verspottung der sich affirmativ Verhaltenden vorzugsweise und mit großem Nachdruck darein, daß sie, ihrer Behauptung nach, auf dem durch die progressive Geistesarbeit des Zeitalters erreichten Standpunkt heutiger Wissenschaft, Kritik und Einsicht stehen, wobei sie ganz nur den vulgären Rationalismus und Materialismus, die apriorische Abweisung von allem, was irgendwie den Charakter oder Anschein des Außerordentlichen und Wundersamen hat, im Sinne haben. Diese im extremsten Grade negative Denk- und Beurteilungsweise herrsche zur Zeit in solchem Grade und mit solchem Recht, daß irgendein Widerspruch damit schon einfach hinreiche, eine Sache oder Person der kritischen Verdammnis zu überliefern. Ich war dadurch veranlaßt, auf eine Betrachtung und Erörterung der wissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Sachlage und des Kampfes der verschiedenen Denkarten und Systeme unserer Epoche einzugehen , und zu zeigen, daß die Sache der Gegner auch in dieser Hinsicht so überaus glänzend nicht stehe und die angeblich so gewaltige Feste, in der sie ihre Stellung genommen, keine so unangreifbare, ungefährdete und vor ihrem Fall sichere Zwingburg sei, als sie sich einbilden, vielmehr Anzeichen ihres Sturzes vorhanden seien, die der Ignoranz freilich noch nicht bemerklich sein mögen. Es entstanden auf diesen Anlaß hin mehrere Aufsätze, die hier zu finden, diejenigen befremden kann, welche die ins Universelle gehende Natur dieser Polemik nicht kennen. Es wird mancher nicht begreifen, wie in einem Buch über den Nürnberger Findling z. B. von dem sogenannten Spiritualismus oder Spiritismus unserer Tage die Rede sein kann; vielleicht auch glauben, ich wolle die, wiewohl so wenig passende, Gelegenheit benützen, um den modernen Geisterglauben und Magismus zu empfehlen. Man braucht sich nicht davor zu entsetzen. Es handelt sich bloß um die Charakteristik der Gegenwart und den Widerspruch und Konflikt der Meinungen und Tendenzen darin, wobei so frappante Gegensätze, wie der erwähnte, nicht unberührt bleiben können. Wenn ich dem Publikum einen Glauben zumute, so ist es überhaupt nur der an wohlbezeugte, keinem berechtigten Zweifel unterliegende Tatsachen und an die Zeugnisse unbescholtener, respektabler und glaubwürdiger Zeugen und Gewährsmänner, so wie ihn ganz allgemein und ausnahmslos Vernunft, Bildung und Wissenschaft fordern, die ohne solchen gar nicht existieren können. Diesen Glauben verlangen, und zwar mit großem Nachdruck, auch unsere Materialisten – wobei sie freilich die Inkonsequenz begehen, nur die für ihre Ansichten sprechenden Tatsachen gelten, denen hingegen, welche ihnen zuwider sind, keine Berücksichtigung und Anerkennung zuteil werden zu lassen.

Es ist im Sinne eines letzten Wortes über diese Angelegenheit, daß ich vorliegende Schrift herausgebe. Ich glaube hiermit alles getan zu haben, was mir in diesem Punkt oblag; ich bin ein Greis und meinem Ende, wie es scheint, bereits ganz nahegerückt; bei meinen physischen Umständen ist es ein Wunder, daß ich noch lebe.8 Ich glaube indessen noch immer so viel geistige Kräfte zu besitzen, um eine solche Pflicht erfüllen zu können und einem solchen Konflikt gewachsen zu sein; ein alter Kriegsmann, wie ich bin, kann, selbst wenn er sich bereits zur Ruhe begeben, doch wohl gelegentlich wieder einmal zu seinem Schwert greifen und die Stärke seines Armes versuchen; es wird dem zum Streit Genötigten und Verbundenen auch wohl ein höherer Beistand nicht fehlen. Daß mir, wie von jeher, so auch jetzt, die Wahrheit heilig, und daß ich nirgends in dieser Schrift mit Wissen und Willen ein unwahres Wort gesprochen, beteuere ich auf das Feierlichste. Auch hier fehlen bestimmte Absichten nicht; es sind aber keine unrechten und bösartigen; es sind die schon oben genannten, die man nicht wird tadeln können; sie gehen ganz nur aus meinen Überzeugungen und Verpflichtungen hervor; und es werden zur Erreichung derselben durchaus nur moralisch erlaubte Mittel angewendet. Das unterscheidet dieses Buch wesentlich von Tendenzschriften in ganz anderem Sinne des Wortes, wo weder Zwecke, noch Mittel von der Art sind, daß sie vor dem Richterstuhl der Humanität, der Moral und des Gewissens zu bestehen vermögen.

Dr. Meyer macht am Schluß seines Werkes die Bemerkung: „Schlosser in seiner Geschichte des 18. und 19. Jahrhundertes gedenkt der Geschichte Kaspar Hausers als einer Fabel, die vom deutschen Volk geglaubt werde.“ Meyer unterstreicht das Wort „Fabel“, die von uns unterstrichenen Worte natürlich nicht; aber diese sind das für uns Wertvolle. Der Glaube an jene Geschichte ist ein dem deutschen Volk eigener und natürlicher; die Nation braucht sich desselben nicht zu schämen, er beruht auf ihrem Sinn und Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit, und sie wird sich denselben auch schwerlich entreißen lassen. Wer es zu tun versucht, der steht nicht auf deutschem Grund und Boden; wohl aber stehen auf solchem wir, die Verteidiger, und können hoffen, die volkstümlichen Sympathien für uns zu haben. Wir vertreten hier nicht nur den Unglücklichen und uns selbst, die seinethalben Verfolgten, Geschmähten und Gekränkten, sondern auch unsere Nation und unseren Nationalcharakter. Könnte ein Buch, wie das Meyer’sche, eine durchschlagende Wirkung tun; könnte sich das Volk zu der herz- und geistlosen Kritik bekehren lassen, welche aus dieser Geschichte eine Fabel macht und dabei mit so viel Härte, Lüge, Fälschung und Tücke verfährt, so wäre es nicht mehr wahrhaft deutsch; und wir unsererseits würden uns nicht mehr viel darauf zugute tun, Deutsche zu sein. Daß dies nicht der Fall sein werde, dafür bürgen uns die entrüsteten Stimmen und energischen Protestationen, die sich dagegen bereits – nicht nur von seiten derer, welche speziell beteiligt, sondern auch von anderen – in deutschen Journalen erhoben haben, die sogar von seiten ausgewanderter Deutscher aus Amerika herübergetönt.9

1 Einzelnen Personen, wie ich sie kenne, und wie sie sich mir mündlich und schriftlich mitgeteilt, ist der in seiner Art ganz einzige Fall niemals aus dem Sinne gekommen, vielmehr stets der Gegenstand ihrer, wenn auch verborgenen, Betrachtungen und Forschungen geblieben.

2 Man kann über diese fast unglaublichen Tatsachen, die man geneigt sein würde, für pure Lügen und Verleumdungen zu halten, wenn sie nicht in Dr. Meyers eigenem, „authentischem“ Buch stünden, in unserem Abschnitt H. Nr. IV. das Nähere lesen. Wenn solche Dinge freiwillig mitgeteilt werden, wie manches, vielleicht noch Schlimmere, mag mit Stillschweigen bedeckt sein!

3 Dies bitte ich nicht für eine poetische Übertreibung und Schwärmerei zu halten; es ist nichts, als ein Versuch, das, was wir wirklich so glücklich waren, vor uns zu haben, auszusprechen oder vielmehr anzudeuten. Ich habe ein mit speziellen Zügen ausgestattetes Gemälde jenes ganz einzigen psychischen Phänomenes in meinen Mitteilungen II. S. 7 ff. geliefert, „Das rührende Bild der reinsten Güte“, heißt es hier, „welches Hausers Erscheinung in den ersten Zeiten gewährte, übertrifft alles, was von dieser Art die Phantasie erfinden könnte, und läßt sich in der Fülle seiner Lebendigkeit durch keine Beschreibung ausdrücken.“ Die herzlosen Spötter, mit denen ich es in dieser Streitsache zu tun habe, mögen darüber lachen; ich halte, wie ich es trotzdem tun zu müssen glaube, auch hier mein Zeugnis aufrecht. Hauser bewies in jener Periode, daß der Mensch edel geschaffen ist und daß die Bestialität nicht die Grundlage seiner Natur bildet. Hauser konnte in einer so verderbten Welt, wie die unserige ist, nicht bleiben, was er anfangs war, als er sich noch nicht in dieselbe, wie er doch mußte, hineingelebt und hineingefunden hatte. Es sprechen aber noch in der Ansbacher Periode, wo ihn die Meyer und Hickel in ihrer wunderbaren Dreistigkeit zur „Schlange“ und zum „Teufel“ machen, die Zeugnisse Feuerbachs und Pfarrer Fuhrmanns für ihn; ersterer spricht noch in seinem 1832 erschienenen Buch über ihn S. 151 von seiner „unbeschreiblichen Güte und Liebenswürdigkeit“, die er zu den Resten des „Außerordentlichen“ rechnet, was noch zu jener Zeit an ihm geblieben war.

4 Ich dachte wirklich darüber nach, ob er dies nicht sein könne, und schuf mir versuchsweise eine Theorie und Erklärung der Art, die ich aber nicht haltbar befand.

5 Man wird hierüber das Beizubringende und Relevante weiter unten finden.

6 Man vergleiche, was darüber Feuerbach in seinem Memoire (dessen Leben und Wirken Leipzig 1872 II. S. 320 ff.) vorträgt. Es werden hier die Sätze aufgestellt und bewiesen: „Bei den an Hauser begangenen Verbrechen sind Personen beteiligt, welche über große, außerordentliche Mittel zu gebieten haben.“ Und: „Hauser muß eine Person sein, an deren Leben und Tod sich große Interessen knüpfen.“

7 Anmerk. d. Hrsg.: Enthüllungen über Kaspar Hauser . Von G. Fr. Daumer. Frankfurt a. M. 1859.

8 War man vielleicht der Meinung, ich sei wirklich schon tot und könne nicht mehr reden? Ich möchte es fast glauben, da sonst der gar zu dreiste Lug und Trug, womit man wider mich zu Werke geht, schwer zu fassen ist. Kurz vor Erscheinung des Meyer’schen Werkes starb ein Bruder von mir in Frankfurt a. M., wo ich früher ebenfalls gelebt. Hat man mich vielleicht mit diesem verwechselt?

9 S. K. Nr. XIII.

A.

Gesichtspunkte und Erörterungen allgemeinster Art. Verhältnis der Hauser’schen Streitsache zu Wissenschaft, Kultur, Zeitgeist und verschiedenen Standpunkten und Tendenzen der Gegenwart.

I.

Glauben und Unglauben. In welch allgemeinerem Sinne dieser Gegensatz hier in Anwendung kommt.

Sehen wir von allen besonderen Beziehungen und Interessen ab, die in der Hauser’schen Streitsache stattfinden und möglich sind, so können wir deren Bedeutung dahin bestimmen, daß sich in ihr der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben darstelle. Dies bedarf jedoch einer Erklärung und Verständigung. Man pflegt, wenn in der Art gesprochen wird, speziell nur an die religiösen und kirchlichen Positionen, deren Gegensätze und Negationen zu denken. Davon kann hier keine Rede sein; damit berührt sich unsere Sache nicht; der Hauserglaube, sozusagen, erscheint völlig unabhängig davon und man hat niemals ein solches Moment hineinzubringen versucht. Der Präsident v. Feuerbach war bekanntlich kein Frömmler10; und zu Nürnberg befand sich Hauser nicht bloß mitten unter einer protestantischen Bevölkerung; man polemisierte daselbst auch heftig gegen Kirchenglauben und Pietismus; und diejenigen, denen der Findling zunächst in die Hände fiel, standen vorwiegend auf dieser Seite. Wenn daher Dr. Meyer von einem weichlichen, schwärmerischen Schwachsinn und Aberwitz jener Periode spricht, welcher die Hauser’sche Geschichte ihre romantische Gestaltung verdankt, – ein Vorwurf, der besonders auf Nürnberg zu fallen hätte – so ist dies ganz unpassend und tatsächlich falsch. Die Stimmung und Richtung, die hier stattfand, war vielmehr eine ganz entgegengesetzte.

Was ich hier unter Glauben verstehe, ist auch nicht bloß die Meinung, daß Hauser ein heimlich beiseite geschaffter Prinz, Graf, Magnat und dergleichen gewesen sei; diese hat, wenigstens für mich, niemals einen wesentlichen Reiz gehabt und niemals mein Handeln bestimmt; mein Anteil an Hauser war zunächst ganz nur einfach persönlicher und menschlicher Art und Natur, und dann, wegen der merkwürdigen Phänomene, welche dieses „rare Exemplar“ der Menschengattung der Beobachtung bot, durch wissenschaftliche Interessen begründet und gesteigert.

Ich verstehe hier, um es endlich positiv auszusprechen, unter Glauben die Anerkennung des Außerordentlichen, auch wenn es der allgemeinen Begriffswelt widerspricht; die Hingabe an die dasselbe darbietende und nur roherweise wegzuleugnende Tatsache; an den dadurch bezeugten tiefen, inneren Zusammenhang der Dinge; an das nicht auf platter Hand Liegende, nicht stofflich und mechanisch zu Fassende und Erklärende und dennoch Wahre und Wirkliche, dem aber der gemeine materialistische Verstand so antipathisch entgegensteht, das er so leidenschaftlich um jeden Preis und auf jedem nur möglichen Wege zu beseitigen sucht. Auf diesem Glauben beruht nicht nur alle Religion, sondern auch alle Kultur im vollen, menschlichen Sinne des Wortes; er ist nicht bloß das Gebot einer äußerlichen Satzung und Autorität, sondern eine Forderung der Vernunft, der echten, unbefangenen Wahrheitsforschung und Wissenschaft; und wenn er fällt, so geht der Weg der Menschheit – trotz all der äußeren Vorteile der Technik, Industrie und materialistisch-rationalistischen Richtung und Rührigkeit – zur Barbarei, zur Vernichtung der menschlichen Totalität, zum Verlust aller höheren Menschenwürde, zur Erstickung aller feineren und edleren Gefühle der Menschenbrust, sowie aller tieferen Einsichten des Menschengeistes, zur unerträglichen Verarmung des Gemütes und Lebens, und so zur allgemeinen, wenn nicht äußeren, doch inneren Fäulnis und Auflösung fort11 – einem Resultat und Ausgang des Prozesses, der in unseren Tagen in den erschreckendsten Symptomen erkennbar und drohend genug zutage steht.12 Zu diesem „Fortschritt“ im schlimmsten Sinn des Wortes würde in seiner Art auch der Triumph der „negativen Kritik“ beitragen, wie er neuestens wieder durch das Meyer’sche Werk bewirkt werden soll. Siegt dagegen die gläubige Auffassung, können die sie vertretenden Autoritäten nicht entwertet werden, muß die Hauser’sche Erscheinung mit all ihren wohlbezeugten Eigentümlichkeiten und Merkwürdigkeiten anerkannt werden und kann man ihr den gebührenden Platz in Geschichte und Wissenschaft nicht mehr streitig machen, so erleidet jener gemeine Verstand eine empfindliche Niederlage; und das muß jedem erwünscht sein, der sich auf dem dürren, so geist- als herzlosen Feld einer solchen Negation nicht wohl und heimisch fühlt, sei er in religiöser Hinsicht, was er wolle, halte er es mit dieser oder mit jener kirchlichen Partei oder habe er seine besondere Glaubensansicht. In diesem universellen Sinne habe ich schon seit manchem Jahre in verschiedenen Schriften und Aufsätzen für den Glauben zu wirken gesucht und damit bei den verschiedensten Religionsparteien und ernstgesinnten Personen aller Art Anklang und Beifall gefunden13; in diesem Sinne suche ich es auch hier zu tun.

II.

Die Phraseologie des vulgären Rationalismus und Materialismus.

1.

Die Parteien des Tages pflegen ihre Aushängeschilder, Phrasen, Schlagwörter zu haben, womit sie sich selbst ins hellste Licht, sowie die entgegenstehenden in den dunkelsten Schatten stellen. Mit so wohlfeilen Waffen schlägt und gewinnt man der urteilslosen Menge gegenüber am bequemsten seine Schlachten; und bedient sich solcher um so mehr, je weniger man Wahrheit und Recht auf seiner Seite hat. Ein solcher Ausdruck ist auf Seite derjenigen, mit welchen man es hier zu tun hat, der gesunde Menschenverstand, der den Gläubigen, namentlich mir, abgesprochen wird.14 Für gesund gilt hier, wie überhaupt in solchen Fällen, nur das negative Verhalten, der Unglaube, die Leugnung der mißliebigen Tatsachen, so gewiß sie auch sein mögen; die Wahrnehmung, Beobachtung, Anerkennung von solchen gilt für eine Folge pathologisch abnormer Seelentätigkeit, welche leere Imaginationen, Träume, Phantasmen erzeugt; das Wahrgenommene ist hiernach nicht dem Objekt eigen, sondern auf dasselbe nur aus der einbildungsreichen Subjektivität verrückter Toren und Schwachköpfe übergetragen. Diese, wenn auch persönlich und sachlich noch so grundlose Annahme ist das Hauptmanöver derjenigen, welche den gesunden Menschenverstand für sich allein gepachtet und allen anderen Menschen aus den Händen gerissen haben. Gleichbedeutende Phrasen sind „Nüchternheit, nüchterne Kritik, schlichte Betrachtung, ruhige Untersuchung“ etc. Das alles soll nur stattfinden, wenn die Resultate der Untersuchung absolut negativ ausfallen – was nicht besser ist, als wenn man behaupten wollte, ein Richter fälle ein richtiges und gerechtes Urteil nur dann, wenn er den Angeklagten verdammt, nie aber, wenn er ihn freispricht.

2.

Die Sache liegt in Wahrheit so. Den gesunden Menschenverstand, der mit Recht diesen Namen trägt, kann niemand mehr schätzen, als ich; auch liegt derselbe mit der gläubig aufgefaßten Hauser’schen Geschichte keineswegs im Streit. Im Gegenteil: derselbe fordert hier aus den allerobjektivsten Gründen, wovon man sich aus meinen und anderen Aufsätzen15 leicht überzeugen kann, gebieterisch Glauben und Anerkennung; Unglaube und Leugnung dagegen ist hier dasjenige, was den Charakter subjektiven und willkürlichen Verhaltens im Widerspruch mit dem Objekt trägt; und wir könnten daher unsere Vertretung der Sache ganz füglich als eine Appellation an den gesunden Menschenverstand bezeichnen. Aber was man so nennt, ist allzuoft und namentlich in diesem Fall nichts anderes, als jener gemeine, bornierte, jeder tieferen Einsicht und Wissenschaft entbehrende und doch unendlich dünkelhafte und arrogante Menschenverstand – wenn man ihm noch diesen viel zu edel und ehrenvoll lautenden Namen lassen will; jener triviale, sich in unseren Tagen auf jeder Bierbank brüstende Rationalismus und Materialismus, der nichts gelten läßt, als was mechanisch zu fassen und zu erklären oder doch eine so gewöhnliche, alltägliche Erscheinung ist, daß sie – sollte sie auch eine im Grunde höchst wunderbare sein – den Anschein und Charakter einer solchen verloren hat.16 Leute, die auf dieser Stufe stehen, haben für alles, was nicht in diesen ihren vulgären Begriffskreis fällt, eine vornehm-verächtliche Miene oder ein höhnendes Gelächter bereit, und sind dreist genug, die geist- und kenntnisreichsten Männer vor das Forum ihrer Ignoranz zu ziehen und für Dummköpfe zu erklären. Geht ihnen das aber nicht leicht genug, so nehmen sie die schlechtesten und abscheulichsten Mittel zu Hilfe, erfinden die geflissentlichsten Unwahrheiten, entstellen Tatsachen und Umstände, bedienen sich jeder Art von Lüge und Verleumdung, um das ihren Zwekken sachlich und persönlich Widerstehende zu beseitigen – wie sie es in dieser Geschichte von jeher auf eine Weise getrieben haben, die alle Grenzen der Moral, des Gewissens und der Scham übersteigt. Das alles wird dem Publikum unter der Firma des gesunden Menschenverstandes, der nüchternen Kritik, der schlichten Betrachtung, der ruhigen Untersuchung etc. dargeboten und verkauft.

3.

Einer der merkwürdigsten Umstände dieser Geschichte ist nun aber der, daß der bezeichnete rationalistisch-materialistische Fanatismus mit dem wundersamen Objekt, das ihm im Wege steht, bei alledem nicht fertig wird; daß er sich vielmehr bei jedem neuen Anlauf, den er nimmt, ganz entsetzlich blamiert. So war es, als v. Lang seine giftigen Pfeile schleuderte, so, als Eschricht wider den Kaspar-Hauser-Glauben und seine Repräsentanten wie ein wütender Hund losfuhr; so auch wieder jetzt, da dieser Meyer, der antiromantische Sohn des antiromantischen Vaters, dessen Erbschaft er angetreten, seine mit so großer Reklamepracht verkündeten und eingeführten Authentischen Mitteilungen ins Publikum geworfen. Ob hier nicht noch etwas anderes im Hintergrund liegt, als der Fanatismus des gemeinen Menschenverstandes – ein Zweifel, welchen ein Freund in der Augsburger Allgemeinen Zeitung merken ließ – weiß ich nicht; auf jeden Fall ist es der in Obigem charakterisierte Standpunkt, auf welchen sich Meyer bei seiner Polemik stellt, und ich halte mich daher nur an diese zutage stehende Seite.

Was hat man hier nicht alles schon auf das Ehrenrührigste angegriffen, verdächtigt, herabgesetzt und beschimpft! Hauser war ein hergelaufener schlechter Bursche, Binder ein Schwachkopf, Feuerbach ein Phantast, ich insbesondere der Narr aller Narren, dazu noch ein Lügner und Fälscher;

Tucher ein junger Mann ohne Erfahrung17 und ebenfalls nicht frei von Aberglauben; die Nürnberger Ärzte magnetistische Schwärmer, Dr. Albert in Ansbach beeinflußt18; Polizeirat Merker hat seiner Zeit sogar den grundehrlichen Gefangenenwärter Hiltel in ein böses Licht zu setzen versucht. Wohl ist in dieser Geschichte Lug und Trug und jede böse List und Tücke zu Hause; aber nicht auf Seite der Gläubigen, welche nur der sich objektiv darbietenden Wahrheit ihre Geltung lassen und für sie ihr redliches, furchtloses Zeugnis ablegen, sondern auf einer ganz anderen Seite, wie ich schon in meinen Enthüllungen gezeigt und nun auch wieder in der vorliegenden Schrift zu zeigen veranlaßt und gezwungen bin.

III.

Die Wissenschaft und Kultur der Gegenwart als angebliche Bundesgenossin und Stütze der „negativen Kritik.“ Wie in dieser Hinsicht die wahre Sachlage, wie namentlich auch die Aussichten in die Zukunft beschaffen.

1.

Dr. Meyer ist der süßen Meinung, die Wissenschaft und Kultur der Gegenwart sei ganz nur auf seiner Seite, der Seite des absoluten Unglaubens an alles Ungewöhnliche, Außerordentliche, nicht dem allergemeinsten Verstand Faßliche und selbst dem Ignoranten Bekannte, was er alles zusammen verlacht und verhöhnt und als „das Übersinnliche, Wunderbare, Groteske, Abenteuerliche“ bezeichnet, zu dem sich in der Hauserzeit eine krankhafte, schwächliche Neigung gebildet habe, über welche man aber zur Zeit glücklich hinausgekommen sei.19 Die Ärzte Preu und Osterhausen seien, gleich mir, Anhänger der längst veralteten Lehre vom Somnambulismus und verwandter Erscheinungen des Sinnen- und Seelenlebens gewesen und hätten ihre Beobachtungen mit Vorliebe auf diesen Punkt gerichtet. Das ist schon in persönlicher Beziehung unrichtig. Osterhausen war ein Praktiker der alten Schule und gab sich mit Magnetismus, Somnambulismus etc. gar nicht ab. Zum Beleg jedoch, daß dies der Fall gewesen, führt Dr. Meyer20 an, wie dieser Arzt erzähle: Hauser sei durch den Dunst einer in seiner Nähe geöffneten Champagnerflasche halb betrunken gemacht worden. Dies wird unter die somnambulen Phänomene gerechnet! Es ist dies ein Seitenstück zu der eigentümlichen Äußerung desselben großen Kritikers, daß Freiherr v. Tucher, indem er die Aussagen einer Somnambule über Hauser zur Anzeige brachte, der Lehre vom Hereinragen der Geisterwelt in die unserige seinen Tribut abgetragen.

Daß, während Dr. Meyer aufwuchs, Materialismus und Unglaube an alles nicht bloß Stoffliche und Mechanische sich mächtig erhoben hat und noch jetzt in Wissenschaft und Leben eine große Rolle spielt, ist richtig. In dieser Schule ist der Mann gewesen; diesem Standpunkt gehört er an und meint, er stehe damit auf dem Gipfel der Zeitbildung, dem alles irgendwie Widerstreitende, als für immer antiquiert, überwunden und widerlegt, zu weichen habe. Die Zeit, in der wir leben, könnte aber als eine gesunkene, in Barbarei zurückgefallene zu betrachten sein; und dann wäre es, einsichtsvollen Beurteilern gegenüber, kein großer Ruhm, auf ihrer Gipfelhöhe zu stehen; es wäre vielmehr das Schmählichste, was sich denken ließe. So allgemein und unbedingt läßt sich aber unsere Periode doch nicht als eine solche betrachten, die ganz nur auf der Stufe eines Meyer steht und dessen Denkart teilt. Es fehlt auch nicht an bedeutungsvollen Gegensätzen, die man nicht einfach ignorieren kann, die keineswegs im Verschwinden begriffen und nicht ohne Hoffnung und Zuversicht eines in näherer oder fernerer Zeit bevorstehenden Durchschlagens sind.

Ich will von der großen, massenhaften Reaktion, welche der moderne Spiritismus bildet, der sich sogar zum Rang einer neuen Religion und Religionsgesellschaft zu erheben trachtet, gar nicht sprechen, wiewohl derselbe jedenfalls ein Zeitphänomen ist, welches bei Charakterisierung und Beurteilung unserer Epoche nicht umgangen werden darf.21 Es soll bloß von der Wissenschaft im gangbaren und anerkannten Sinne des Wortes die Rede sein. Und selbst hier täuscht sich unser Gegner, wenn er einen so einseitigen und beschränkten Standpunkt, wie der seinige ist, zu dem der ganzen Wissenschaft und Kultur der Gegenwart macht. Er täuscht sich noch mehr, indem er wähnt, daß diese Wissenschaft und Kultur sogar schon große Empfindlichkeiten und Reizbarkeiten der Nerven und Sinne für alberne, romantische Märchen und Fabeln halte, die vor ihren fortgeschrittenen Einsichten nicht bestehen können. Jeder Physiologe und Pathologe, jedes bezügliche wissenschaftliche Werk und jede einschlägige Zeitschrift wird ihn darüber belehren können. Auch Magnetismus und Somnambulismus, die Lehre vom Ahnen und Hellsehen der Menschen und Tiere etc. ist für moderne Denker und Forscher nicht so allgemein veraltet und ins Kehrichtfaß geworfen, wie er sich vorstellt. Ein in hohem Grade anerkannter Philosoph der neuesten Zeit ist E. v. Hartmann, der Verfasser der Philosophie des Unbewußten, welches Werk ein bei Produkten solcher Art unerhörtes Glück gemacht und in drei Jahren drei Auflagen erlebt hat.22 Dasselbe mag Meyer zur Hand nehmen, um zu sehen, wie gegenwärtig die Sachen stehen. Darin werden Tatsachen angeführt, nachgewiesen und geltend gemacht, worüber seine Ignoranz laut auflachen würde und müßte, wenn es ihr die Sachlage gestattete. Er lese, was ich daraus in einer vor kurzem edierten Schrift23 exzerpiert habe. Ich will nur folgende Worte Hartmanns ausheben: „Die Grunderscheinungen des Mesmerismus oder tierischen Magnetismus sind nachgerade als von der Wissenschaft anerkannt zu betrachten.“ – – „Ich habe diesem Experiment mehrfach beigewohnt und mich durch die sorgfältigste Untersuchung der Lokalität, wie der Person des Magnetiseurs, gegen jede Täuschung gesichert.“ Meyer lese – um ihm eine besonders instruktive Quelle zu nennen, die Schriften von Maximilian Perty24 welche ebenfalls unserer Zeitperiode angehören; da wird er sich noch mehr überzeugen können, daß der vulgäre Rationalismus und Unglaube, welchen er für die höchste geistige Blüte der Menschheit und ihrer Geschichte hält, nicht in der Art gesiegt hat, daß andere Weltanschauungen nur noch im Licht der Lächerlichkeit und des Unsinnes erscheinen können. Es ist sogar wahrscheinlich, daß sich in einiger Zeit in den wissenschaftlichen Kreisen ein großer, durchgreifender Umschlag ereignen und dann vielmehr jene platte Art von Rationalismus und Materialismus als etwas Veraltetes und Verächtliches, dessen sich der Gebildete zu schämen habe, gelten werde. Vor dem Richterstuhl dieser Zeit wird um so weniger auch die von Dr. Meyer vertretene „negative Kritik“ bestehen.

2.

Der Materialismus und einseitige Realismus der modernen Zeiten hat die Philosophie, namentlich die deutsche, und das, was man in Deutschland so zu nennen pflegt, dermaßen in Verruf gebracht, daß man sehr allgemein nur noch mit Verachtung davon spricht und sich gar nicht mehr näher damit befassen mag. Trotzdem ist die Philosophie, auch speziell die deutsche, nicht für tot und begraben zu achten. In der Allgemeinen Zeitung laufenden Jahres (1872) verteidigt Professor Frohschammer, einem Apostel der Darwin’schen Lehre gegenüber, der sich in jener Weise äußert, die deutsche Philosophie und spricht dabei von der Anerkennung, welche sie im Ausland finde, wie sie bei allen Kulturvölkern in Achtung stehe und sich wirksam erweise, in Belgien, Spanien, Italien, Frankreich, England, Nordamerika. In dem letzteren hat man eine Zeitschrift für spekulative Philosophie gegründet, und zwar von Amerikanern, nicht von Deutschen, und gerade die schwierigsten Werke, wie z. B. Fichtes Wissenschaftslehre , in das Englische übersetzt. „Es scheint, daß in dieser so praktischen Nation das Bedürfnis entstanden ist, dem realistischen Treiben ein ideales Gegengewicht zu geben und daß gerade Fichtes kühne Abstraktionen und sein titanisches Streben, alles unter die Macht des Gedankens zu beugen, am meisten imponieren“ etc. Welch ein Glück neuestens in Deutschland selbst die Hartmann’sche Philosophie gemacht, die allerdings viel Empirisches hereinzieht, aber auch sehr viel Mystisches enthält, ist schon erwähnt worden. Man wird jenes gar zu hohlen modischen Treibens immer mehr satt. Als eine geistvolle, hochgebildete, keiner bestimmten religiösen und kirchlichen Richtung angehörige Dame meine im Jahre 1870 herausgekommene Charakteristiken und Kritiken gelesen, schrieb sie mir, diese Schrift habe einen sehr wohltuenden Eindruck auf sie gemacht; sie finde sie höchst zeitgemäß „gerade jetzt, wo man von allen Seiten mit Materialismus, Mechanismus und Rationalismus dermaßen überschüttet und übersättigt wird, daß man es gar nicht mehr aushält.“

3.

Im Magazin für die Literatur des Auslandes25 steht ein Artikel über Od und Ozon von H. Beta; da lese ich: „In England hat das sogenannte Tischrücken wieder eine wissenschaftliche Prüfung veranlaßt. Unzählige Tatsachen dieser Tischrückerei ließen sich nicht mehr verleugnen; sie mußte also naturgeschichtliche Ursachen haben. Diese hat Dr. Richardson in dem von ihm entdeckten Nervenäther gefunden.“ Beta glaubt indessen, daß hinter diesem Nervenäther noch ein anderer wissenschaftlich nachgewiesener Äther, der Weltäther, stecke. Vom Od heißt es, wie sich „Berliner Kathederweisheit“ gegen seine Anerkennung gesträubt. In ihm hätten seitdem praktische Ärzte, wie Medizinalrat Dr. Neumann, eine wesentliche Kraft der Naturselbsthilfe, ein Heilmittel gegen allerhand Leiden und Schmerzen gefunden. „Es wird wohl bald wieder eine Zeit kommen, wo diesen feineren Natur- und Geisteskräften wieder mehr Aufmerksamkeit zugewendet wird. Dem unlängst erschienenen Antimaterialismus von Dr. L. Weiß werden wohl noch mehr gerüstete Ritter vom Geiste folgen.“

4.

Der Materialismus beruft sich mit größtem Nachdruck auf die angeblich evidenten und unwiderleglichen Tatsachen, durch welche seine Sätze bewiesen werden. „Den Beobachtungen kann niemand entfliehen“, sagt Moleschott, „die Tatsache herrscht.“ Und Büchner: ,,Wir werden nur diejenigen Gegner beachten, die sich mit uns auf den Boden der Tatsachen, der Empirie begeben. Man scheide die Philosophie in Wortphilosophie und in Tatsachenphilosophie, und es wird sich zeigen, wo die Wahrheit ist.“ Die Materialisten pochen aber auf die Tatsachen nur deshalb, weil sie meinen, dieselben sprächen so ganz nur für sie; und tun es inkonsequent nur so lange, als sie dieselben wirklich oder scheinbar für sich in Anspruch nehmen können; außerdem wehren sie sich auf alle Weise auch gegen das Faktische und Empirische. Das hilft ihnen aber wenig. Die Herausforderung, sich mit ihnen auf den Boden der Tatsachen, der Empirie zu begeben und da den Streit auszufechten, wird angenommen. Ich selber habe diesen Weg in meinen Schriften schon längst eingeschlagen; es geschah und geschieht eben jetzt mit großem Glück auch von anderen. Und da tragen die Herren den Sieg nicht davon: es zeigt sich, daß das Faktische und Empirische in vorwiegendem Grade vielmehr auf seiten ihrer Bestreiter ist, ja daß, was sie für Tatsache, Naturgesetz und geschichtliche Wahrheit ausgeben, sogar nur ein falsches Vorgeben ist.

Das Lieblingsthema des modernen Materialismus ist die von ihm behauptete Identität von Seele und Gehirn; und es ist besonders hier, wo er sich so triumphierend auf die angebliche Gewalt der Tatsache stützt. „Alles Gefasel“, sagt Büchner, „welches die philosophischen Psychologen von der Selbständigkeit des menschlichen Geistes etc. vorgebracht, erscheint, der Macht der Tatsachen gegenüber, völlig wertlos.“ Dagegen befindet sich nun in der Zeitschrift: Natur und Offenbarung26 eine Reihe vortrefflicher Artikel, mit der Überschrift: Antimaterialistische Studien auf Tatsachen gegründet von Dr. Karl Scheidemacher, welche dem Materialismus, insbesondere was jene Hauptfrage über das Verhältnis von Seele und Hirn betrifft, siegreich, ja zermalmend entgegentreten. Es wird hier gezeigt, „daß die Physiologie eine zahllose Menge von unbestreitbaren Tatsachen bietet, die der Materialismus nicht erklären kann, die ihn direkt schlagend widerlegen und die das herrlichste, unwiderleglichste Zeugnis für die Selbständigkeit und Immaterialität der menschlichen Seele abgeben.“ Wenn die Materialisten behaupten: „Die überwiegende Mehrzahl aller Ärzte und medizinischen Psychologen bekennen sich zu der Ansicht, daß Wahnsinnige immer gehirnleidend seien“, so stehen sie, wie Scheidemacher sagt und nachweist, „geradezu als Lügner da.“ Der berühmte Schrödter van der Kolk, der gerade in diesem Punkt eine große Autorität ist, sagt, die psychische Theorie und psychische Therapie habe auf dem Feld der Geisteskrankheiten

zur Zeit das Übergewicht. Aus solchen Erscheinungen ist doch wohl klar genug, daß die Glorie des materialistischen Systemes im Erblassen ist, und daß sich dasselbe dauernd nicht wird halten lassen.

Meyer sagt im Nürnberger Korrespondenten : „Möchten doch Daumers Mitteilungen aus den Bibliotheken hervorgeholt und vom Standpunkt der heutigen Naturwissenschaft einer gründlichen Kritik unterworfen werden! Meine Gesamtauffassung des Hauser’schen Falles würde hierdurch eine wesentliche Stütze gewinnen.“ Er meint, es solle sich ein Materialist vom reinsten Wasser darübermachen und vom Standpunkt seiner einseitigen und beschränkten Naturanschauung aus alles von mir Beobachtete und Berichtete für dummes Zeug erklären, das man heutzutage nur verlachen und verachten könne. Das wäre indessen kein Richterspruch der Wissenschaft, sondern bloß ein Urteil der Partei, dem wohl nicht alle wissenschaftlichen Zeitgenossen beistimmen würden. Und wenn letzteres auch der Fall wäre, so bliebe noch immer die Hoffnung auf eine weisere Nachwelt übrig, welche Gerechtigkeit üben würde. Meine Schriften, mag sich auch noch so mancher Irrtum und Fehlgriff darin befinden, sind, ich darf es den mich verfolgenden Bosheiten und Bübereien gegenüber wohl sagen, eine Fundgrube von neuen Ideen und Entdeckungen, welche die Menschheit vielleicht nicht für immer unbeachtet und unbenützt lassen wird. Die menschlichen Dinge wandeln sich im Laufe der Zeiten wundersam. Ehre und Schmach gehen nicht selten, sei es infolge eines plötzlichen Umschlages oder eines sukzessiven Umgestaltungsprozesses, in ihr völliges Gegenteil über; und so ist namentlich schon manches, was jahrzehnte- und jahrhundertelang verachtet und vergessen war, dann dennoch aus dem Staub hervorgeholt worden und zu einer nicht mehr zu erwartenden Anerkennung und Geltung gekommen. Schon jetzt hat einiges von mir, was anfangs allgemein zurückgewiesen wurde, seinen Weg in die Literatur der Gegenwart gefunden, wiewohl ohne daß mein Name dabei genannt wurde. Auf diesen kommt es auch gar nicht an; ich selber mache mir wenig daraus, wenn ich persönlich vergessen werde; nur wünsche ich allerdings, wie jeder, der sich sein ganzes

Leben lang im Dienst des Wahren und Guten abgemüht, daß ich nicht ganz umsonst gelebt und gearbeitet haben möchte.

IV.

Prof. Preyer über Kaspar Hauser. Besonders was dessen von Feuerbach beschriebene Art zu sehen betrifft.

Kaspar Hauser, als dieses „rare Exemplar“ der Menschengattung, das sogar als das einzige seiner Art betrachtet werden kann, als eine Erscheinung, die so noch nie beobachtet worden ist und sich vielleicht nie mehr so der Beobachtung bieten wird, ist ein wertvolles, instruktives Objekt und Eigentum der Wissenschaft geworden, welche sich diesen kostbaren Besitz schwerlich wird nehmen lassen. Es kann hier, wenn man auch einzelnes anders, als vor 40 Jahren, aufzufassen und zu verstehen, geneigt oder genötigt sein sollte, doch im ganzen keineswegs bloß von überwundenen Standpunkten, ja von einer Kinderzeit der Wissenschaft die Rede sein, in welcher sie noch durch ein schlechtes Subjekt schimpflich düpiert werden und phantastisch sich selbst täuschen konnte; es ist ganz bestimmt auch noch die Wissenschaft unserer Zeit, von welcher obiger Ausspruch gilt. Das kann man z. B. aus der Schrift von Prof. Preyer in Jena: Die fünf Sinne des Menschen27 sehen. Der Verfasser handelt hier über denselben extremen Gegensatz, den ich schon in meinen Enthüllungen hervorgehoben, den Gegensatz, welchen Hausers Erscheinung und Beschaffenheit zu jener der in früher Jugendzeit in die Wildnis und unter Tiere geratenen und das reine Widerspiel des Nürnberger Findlings darstellenden Individuen bildet. Prof. Preyer führt Fälle von so verwilderten Knaben und Mädchen an und fährt dann fort: „Ein ungleich weniger abstoßendes Bild zeigte der Unglückliche, welcher im frühen Kindesalter in einen unterirdischen, matt erleuchteten Raum gebracht, daselbst mindestens von seinem 4. bis 16. Jahr, ohne ein menschliches Wesen zu sehen, ernährt und während der Opiumnarkose gewaschen (?) wurde. Unter diesen Umständen erreichten die Sinne eine beispiellose Feinheit. In vorgerückter Dämmerung wurden die dunkelsten Farben deutlich erkannt, in großer Entfernung ein Kirchhof gewittert. So fein waren seine Nerven, daß ein paar Tropfen Wein schon berauschten“ etc. Letzteres ist zu wenig gesagt; Hauser genoß gar kein berauschendes Getränk; aber schon der Saft der Weinbeeren und der bloße Weinduft berauschte ihn.

S. 42 kommt Preyer auf die Erfahrungen zu sprechen, welche man an Blindgeborenen machte, die durch Operationen sehend geworden. „Der blindgeborene Knabe, welcher in seinem 13. Jahr von Chefelden operiert wurde, wußte, wie es in dem Bericht des Operateurs wörtlich heißt, so wenig über Erscheinungen zu urteilen, daß er sich einbildete, alle Sachen, die er sah, berührten seine Augen, wie das, was er fühlte, seine Haut. Er erkannte die Gestalt keines Gegenstandes, unterschied auch kein Ding von dem anderen, so verschieden sie auch von Gestalt und Größe waren. Als man ihm aber sagte, welche Dinge es waren, deren Form er zuvor durch das Gefühl erkannt hatte, so betrachtete er sie aufmerksam, um sie wiederzuerkennen. Erst zwei Monate nach der Operation machte er die Entdeckung, daß Wandgemälde erhabene und vertiefte Stellen besäßen. Ebenso meinte Kaspar Hauser, als er schon über vier Wochen unter Menschen gelebt hatte, in dem Turm zu Nürnberg, statt die Landschaft durch das Fenster zu sehen, es sei ein Brett mit bunten Flecken dicht vor seinem Auge aufgerichtet, und wandte sich mit Abscheu davon ab.“

Prof. Preyer führt dann28 die Beschreibung des Falles, wie sie Feuerbach in seiner Schrift29 gegeben, wörtlich an; und ich muß mir hier im Interesse der von mir vertretenen Sache wenigstens in abgekürzter Weise dasselbe erlauben. Es ist von dem Besuch die Rede, welchen Feuerbach am 11. Juni 1828 dem Findling auf dem Vestener Turm in Nürnberg gemacht. „Ich befahl Kaspar, nach dem Fenster zu sehen, deutete auf die große, weite Aussicht in die schöne, im Schmuck des Sommers prangende Landschaft und fragte ihn: ob das nicht schön sei? Er gehorchte, fuhr aber sogleich mit sichtbarem Abscheu wieder zurück und rief: garstig, garstig!“ Warum er diesen Anblick garstig fand, konnte Feuerbach damals nicht herausbringen. Daß Hauser durch das Hereinfallende, für ihn zu grelle Licht, beleidigt werde, schien hier aus Gründen, die Feuerbach angibt, nicht der Fall zu sein. Später im Jahre 1831 war Hauser bei ihm als Hausgenosse; und da fragte Feuerbach, warum denn damals auf dem Turm der Anblick der Landschaft durch das Fenster so abstoßend auf ihn gewirkt habe. Er antwortete: „Wenn ich nach dem Fenster blickte, so sah es immer so aus, als wenn ein Laden ganz nahe vor meinen Augen aufgerichtet sei und auf diesen ein Tüncher seine Pinsel mit Weiß, Blau, Grün, Gelb, Rot, alles bunt durcheinander ausgespritzt habe. Einzelnes darauf, wie ich jetzt die Dinge sehe, konnte ich nicht erkennen und unterscheiden. Das war denn ganz abscheulich anzusehen; dabei war es mir ängstlich zumute, weil ich glaubte, man habe mir das Fenster mit dem buntscheckigen Laden verschlossen, damit ich nicht ins Freie sehen könne. Daß das, was ich so gesehen, Felder, Berge, Häuser gewesen, daß manches, das mir damals größer vorkam, als ein anderes, viel kleiner sei, als dieses, manches Große viel kleiner, als wie ich es sah, davon habe ich mich erst später auf meinen Spaziergängen überzeugt; endlich habe ich gar nichts mehr von dem Laden gesehen.“ Auf weitere Befragung bemerkte er: „Anfangs habe er nicht unterscheiden können, was wirklich rund, dreieckig oder nur so gemalt gewesen. Die Pferde und die Männer auf seinen Bilderbögen seien ihm gerade so vorgekommen, wie seine in Holz geschnitzten Pferde und Menschen; jene so rund, wie diese, und diese so flach, wie jene. Doch habe er beim Ein- und Auspacken seiner Sachen bald einen Unterschied gefühlt, und sei dann, erst selten, endlich gar nicht mehr in den Fall gekommen, solche Verwechslungen zu machen“

Hierzu bemerkt Professor Preyer: „Dieser schlichte Bericht ist ungemein wertvoll. Er zeigt schlagend, wie die Raumanschauungen erst allmählich durch Erfahrung zustande kommen und auf der Beurteilung von Empfindungsunterschieden beruhen. Er zeigt ferner den mächtigen Einfluß des Tastsinnes auf das Entstehen der Raumanschauungen; er zeigt endlich, daß Farbenempfindungen längst deutlich vorhanden sind, ehe von der Tiefenwahrnehmung die Rede sein kann. – – – Meine zahlreichen Beobachtungen an kleinen Kindern, welche vollkommen zu der Erzählung Hausers passen, ergaben, daß die Farbenunterscheidung längst eine ganz sichere ist, wenn Größenunterschiede noch durchweg falsch angenommen werden.“

So urteilt, – und zwar noch heutzutage, auf dem Standpunkt der Gegenwart – die Wissenschaft. Die „negative Kritik“ dagegen erklärt die ganze Sache für eine auf Hausers „Lügentalente“ beruhende Mystifikation, die sich derselbe erlaubte.30 Wahrscheinlich kannte der nicht nur verschmitzte, sondern auch sehr gelehrte Bursche den Fall mit dem operierten Blinden des Cheselden, und wandte ihn auf sich an, um dem Präsidenten ein recht scheinbares Märchen aufzuheften und sich ihm auch wissenschaftlich interessant zu machen. Dieser selbst bemerkt noch zuletzt: „Da Kaspar noch nicht weiter gegangen war, als vom Turm zum Herrn Bürgermeister und allenfalls noch durch eine oder die andere Straße; da er, infolge seiner reizbaren Augen, wie aus Furcht zu fallen, im Gehen stets auf seine Füße sah, und aus Lichtscheu immer vermied, in das offene Licht hinauszublicken, so hatte er lange Zeit keine Gelegenheit, über die Perspektive und die Entfernung der Gegenstände Erfahrung zu machen. Alle die mancherlei Dinge der weiten Gegend samt einem ziemlich schmalen Streifen des blauen Himmels, die den Raum des Fensters von dem unteren Teil des Rahmens bis oben hinauf ausfüllten, mußten ihm daher als gleich nahe, neben- und übereinanderliegende Erscheinungen, mithin das Ganze als eine das Fenster bedeckende, aufrechtstehende Tafel erscheinen, auf welcher sich die für ihn nicht unterscheidbaren, kleineren und größeren, verschiedengefärbten Gegenstände nur wie unförmliche, bunte Klötze ausnahmen“

V.

Die Natur in ihrer dem Menschen gegenüber behaupteten unbegrenzbaren Freiheit und Selbständigkeit. Ihre nie zu Ende gehenden, immer neu überraschenden Paradoxien, Rätsel und Seltsamkeiten.

1.

Es ist nichts so kurzsichtig und borniert, als wenn man sich vermißt, der Natur eine Grenze zu ziehen, ihr ein diktatorisches „bis hierher und nicht weiter!“ zuzurufen, Tatsachen, die über diese Linie hinausgehen, für Unmöglichkeiten und diejenigen, welche dieselben anerkennen, für zurückgebliebene Zöpfe, Schwärmer und Schwachköpfe zu halten.