Kathedralen - Claudia Piñeiro - E-Book

Kathedralen E-Book

Claudia Piñeiro

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Beschreibung

Lía glaubt nicht mehr an Gott. Nicht, seit ihre siebzehnjährige Schwester grausam ermordet wurde. In ihrer streng religiösen Familie fühlt sie sich völlig allein gelassen, und bald bricht sie den Kontakt zu ihr gänzlich ab. Dreißig Jahre vergehen ohne den geringsten Hinweis auf den Mörder, dreißig Jahre, die tiefe Gräben in der Familie hinterlassen. Erst eine unerwartete Begegnung wirbelt die Vergangenheit wieder auf und entfesselt einen Sturm, der alle mit sich reißt. Claudia Piñeiro ergründet ein erschütterndes Familiengeheimnis, hinter dem ein Netz von religiösem Fanatismus, kirchlichem Machtanspruch und Repressionen sichtbar wird.

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Über dieses Buch

Dreißig Jahre sind vergangen, seit Lías jüngere Schwester grausam ermordet wurde, ohne den geringsten Hinweis auf den Mörder. Seither geht ein Riss durch die Familie, Lía lebt lebt tausende Kilometer entfernt. Doch eine unerwartete Begegnung wirbelt die Vergangenheit wieder auf und entfacht einen Sturm, der alle mit sich reißt.

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Claudia Piñeiro (*1960) ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Argentiniens. Nach dem Wirtschaftsstudium arbeitete sie als Journalistin, Dramatikerin und Regisseurin. Sie erhielt den Premio Clarín, den LiBeraturpreis und den Premio Hammett und war für den International Booker Prize nominiert.

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Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Claudia Piñeiro

Kathedralen

Roman

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2020 bei Alfaguara Argentina, Buenos Aires.

Lektorat: Nina Hübner

Originaltitel: Catedrales

© Claudia Piñeiro 2020 c/o Schavelzon Graham Agencia Literaria www.schavelzongraham.com

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Westend61 GmbH (Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31106-0

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Version vom 11.12.2022, 20:02h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

KATHEDRALEN

Lía1 – Seit dreißig Jahren glaube ich nicht mehr an …2 – Wieder öffnete Ángela die Tür und trat dann …3 – Mehrere Tage vergaß ich Mateo. Wie überhaupt fast …Mateo1 – Ich kam an einem Sonntag nach Santiago de …2 – Zusammen mit meinem Großvater legte ich mir meinen …3 – Meinen dreiundzwanzigsten Geburtstag feierte ich in Barcelona …Marcela1 – Ana ist in meinen Armen gestorben2 – In der dritten Klasse wechselte ich an die …3 – ( )Elmer1 – »…«2 – Ich habe Alfredo Sardá angelogen. Nicht in Bezug …3 – Als Alfredo Sardá mich um Hilfe bat …Julián1 – Ich stamme aus einer katholischen Familie. Unter meinen …2 – Carmen lernte ich beim Firmunterricht in der Gemeinde …3 – Ich beichtete zwei Mal bei Pater Manuel …Carmen1 – Ich glaube an Gott. Aus tiefster Seele …2 – Bei den anderen hießen wir bloß »die Sardá-Schwestern« …3 – Seit dieser Nacht weiß ich, wie Blut wirklich …Epilog: AlfredoDanksagung und HinweiseNachweise

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Für alle,die sich ihre eigene Kathedrale errichten,ohne Gott.

Die Religion des einen Zeitalters istdie literarische Unterhaltung des nächsten.

RALPH WALDO EMERSON

Lía

Ich will es denken und glauben, aber ich habe Angst, ich könnte irgendwann aufhören, es zu glauben. Ich frage mich, ob die Tatsache, so sehr daran glauben zu wollen, nicht schon der Beweis ist, dass man nicht mehr daran glaubt.

EMMANUEL CARRÈRE, Das Reich Gottes

1

Seit dreißig Jahren glaube ich nicht mehr an Gott. Genauer gesagt: Vor dreißig Jahren habe ich mich zum ersten Mal getraut, das zuzugeben. Vielleicht glaubte ich damals schon seit Längerem nicht mehr. Man gibt seinen Glauben ja nicht von einem Tag auf den anderen auf. Zumindest ich nicht. Die ersten Anzeichen versuchte ich noch auszublenden. Ich spürte aber, dass in mir etwas keimte, das früher oder später als frischer, grüner Trieb aus mir herausbrechen würde, bis ich es irgendwann in die Welt hinausschrie: »Ich glaube nicht an Gott.«

Das ungute Gefühl, das ich im Vorfeld empfand, war eigentlich Angst. Was würde geschehen, wenn ich tatsächlich meinen Glauben aufgab? Welchen Preis müsste ich dafür bezahlen? Ich bemühte mich, diese Gedanken zu verscheuchen, wie einen bösen Traum, wie etwas Verbotenes, und mich stattdessen auf vernünftigere Dinge zu konzentrieren. Bis es mich eines Tages wie ein Schlag traf; völlig verwirrt und schutzlos stand ich da, unfähig zu begreifen, was um mich herum vorging, und noch weniger die Gründe dafür. Von da an konnte ich endgültig nicht mehr so tun, als wäre ich gläubig. Ich glaubte nicht mehr an Gott – als man mir mitteilte, dass meine jüngere Schwester Ana tot aufgefunden worden war, gab es keinen Zweifel mehr. Das sagte ich auch bei der Totenwache am nächsten Tag.

Ana – unser »Küken«, wie Papa sie nannte –, mit der ich das Zimmer teilte, die mir regelmäßig Kleider klaute und die zu mir ins Bett schlüpfte, um mir Geheimnisse anzuvertrauen, die niemand sonst erfahren durfte. Am Nachmittag kam der Priester, um sein Beileid auszusprechen und für sie zu beten. Julián, der damals noch im Priesterseminar war, begleitete ihn. Meine Eltern forderten mich auf, mit ihnen am verschlossenen Sarg zu beten. Ich weigerte mich. Sie bestanden darauf, sie sagten, es werde mir guttun, und fragten, warum ich nicht beten wolle. Ich wich der Frage aus, bis ich schließlich erwiderte: »Weil ich nicht an Gott glaube.« Das sagte ich sehr leise und mit gesenktem Kopf. Dann sah ich auf – alle starrten mich an. Da sagte ich es noch einmal laut. Meine Mutter trat auf mich zu, fasste mich am Kinn und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen und meine Worte zu wiederholen. Wie Petrus, aber felsenfest überzeugt, leugnete ich meinen Glauben ein drittes Mal. »Da dachte Petrus an das Wort, das Jesus gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.« Matthäus, 26,75. Auch dreißig Jahre nachdem ich mich vom Glauben losgesagt habe, kann ich ganze Passagen aus der Bibel auswendig zitieren. Als hätte man mir die Worte eingebrannt. Nur die Kapitel- und Versnummer muss ich nachschlagen, was ich auch jedes Mal tue, weil es mir durch meinen Beruf in Fleisch und Blut übergegangen ist. Zumindest rede ich mir das ein, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass womöglich reine Zwanghaftigkeit dahintersteckt. Wie kann das sein? Wie haben sie das damals bloß geschafft? »Und er ging hinaus und weinte bitterlich.« Ich weinte allerdings nicht, anders als Petrus. Ich stand mit zitternden Beinen da, fühlte mich aber stark, im Vollbesitz meiner Kräfte, in einem Alter, in dem man sonst an allem zweifelt.

Ganz anders die restlichen Anwesenden, die ihr Unbehagen nicht verbergen konnten, bis auf den Priester, der so tat, als ging ihn die Sache nichts an. Scheinbar nachsichtig lächelnd erklärte Pater Manuel, das komme von der Erschütterung über die brutale Ermordung meiner Schwester Ana, in diesem jugendlichen Alter sei eine derartige Reaktion nur zu verständlich und dürfe nicht überbewertet werden. Meine Mutter konnte er damit beruhigen, wobei sie zur Sicherheit dennoch erwähnte, ich würde ständig versuchen, die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen; nicht einmal jetzt, wo meine Schwester gestorben sei, könne ich es ertragen, nicht im Mittelpunkt zu stehen. »So sind sie, die Zweitgeborenen«, sagte sie früher immer, wenn sie sich über mich ärgerte. In jenem Augenblick verzichtete sie darauf, der Gedanke muss ihr aber durch den Kopf gegangen sein. Mir war ein Rätsel, wie sie sich unter diesen Umständen überhaupt mit etwas anderem als dem Tod ihrer jüngsten Tochter beschäftigen konnte.

Mein Vater kannte mich besser, ihm war klar, dass ich es ernst meinte. Er nahm mich zur Seite und bat mich, die Sache zu überdenken oder wenigstens zu sagen, ich sei Agnostikerin. Meine ältere Schwester Carmen, die die ganze Totenwache über schon einen völlig verstörten Eindruck gemacht hatte, ohne deshalb ihre Umgebung auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen, tat, als wäre niemand von dem Schicksalsschlag so betroffen wie sie, und heulte sich bei nächster Gelegenheit bei ihren Freunden von der Acción Católica aus. Zugleich nutzte sie die Gelegenheit, um alte Rechnungen zu begleichen: Seit jenem Tag hat sie kein Wort mehr mit mir gesprochen.

Nähe und Verbundenheit spürte ich damals nur in den Blicken Marcelas. Sie war Anas beste Freundin gewesen und saß jetzt, mehrere Meter vom Sarg entfernt, auf dem Boden – mit dem Rücken an der Wand, um nicht umzukippen. Ihre Körpersprache gab unmissverständlich zu erkennen, dass sie von niemandem berührt oder getröstet werden wollte, und so schluchzte sie verzweifelt vor sich hin. In der Art, wie sie mich ansah, las ich nicht nur, dass sie auf meiner Seite stand und wir denselben Schmerz und dasselbe Grauen empfanden. In ihren Augen lag auch eine Bitte, die sie jedoch offensichtlich nicht in Worte fassen konnte, als wäre ihr selbst nicht klar, was sie eigentlich sagen wollte. Womöglich sollte ich sie bloß von dort wegbringen; vielleicht hatte aber auch sie jeden Glauben an Gott verloren. Wie sie mich anstarrte, während sie immer wieder einen Ring an ihrem Finger rauf- und runterwandern ließ, ohne ihn jemals ganz abzustreifen, werde ich nie vergessen. Irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen – der Ring gehörte mir, der Türkis, der darin eingefasst war, war für unsere Hände viel zu groß. Ana hatte ihn als ihren »Glücksring« bezeichnet und ihn mir regelmäßig geklaut, wenn sie stark sein musste, wie sie es nannte. Ich frage mich noch heute, wieso ihr ausgerechnet mein Ring Stärke verleihen sollte. Ich selbst hatte jedenfalls nie etwas davon verspürt. Bei wichtigen Prüfungen oder wenn sie sich mit einem Jungen treffen wollte, der ihr gefiel, streifte sie sich den Ring über. Oder wenn sie mit der Schulmannschaft an einem Volleyballturnier teilnahm – einmal gestand sie mir, dass sie ihn sich für die Partien in den Slip schob, damit er sie nicht beim Spielen störte, und ich schrie: »Igitt!« Wahrscheinlich hatte Marcela den Ring von Ana, oder Ana hatte ihn bei ihr vergessen. Es war mir egal, denn was sollte ich in diesem Augenblick mit einem Glücksring, der meiner Schwester, als es darauf ankam, nicht geholfen hatte? An diesem Tag sprach ich nicht mit Marcela, und später ging sie gewissermaßen verloren – wie sich herausstellte, funktionierte ihr Kurzzeitgedächtnis nicht mehr. Schuld daran waren die traumatischen Erlebnisse im Zusammenhang mit Anas Tod und ein heftiger Schlag auf den Kopf, den sie damals abbekommen hatte. So konnte ich sie nichts mehr fragen. Anas Tod hinterließ bei uns allen seine Spuren.

Nachdem ich mich zur Atheistin erklärt hatte, betrauerte meine Familie nicht nur den Abschied von meiner Schwester, sondern auch den von meinem Glauben. Hatte ich ausgerechnet während der Totenwache damit herausrücken müssen? Unbedingt, da bin ich mir ganz sicher, das war ich Ana schuldig, ich wollte es auf jeden Fall gesagt haben, bevor ihr Körper – ihre Körperteile – endgültig in der Erde verschwand und ich mich für immer von ihr verabschieden musste. Damals begriff ich, dass »Atheist« ein unanständiges, schlimmes Wort ist. Und dass die meisten Gläubigen es ertragen können, wenn jemand an einen anderen Gott glaubt, keinesfalls aber, wenn man an überhaupt keinen Gott glaubt. Ob sie es nun offen aussprechen oder indirekt zu verstehen geben, ein Atheist ist für sie offensichtlich eine »gescheiterte« Persönlichkeit. Der eine oder andere geht sogar so weit zu behaupten, dass jemand, der nicht glaubt, unweigerlich böse sein muss – wer an keinerlei Gott glaubt, kann kein guter Mensch sein.

Ich versuche, nicht an diesen Tag zu denken. Ana soll in meiner Erinnerung so sein, wie sie war, wenn sie zu mir ins Bett schlüpfte, um mir ein Geheimnis anzuvertrauen. Was den Glauben oder die Abwesenheit desselben angeht, so stelle ich mir dazu keine Fragen mehr. Seit meiner Weigerung, an Anas Sarg zu beten, lasse ich mich auf keine Erzählung egal welcher Religion mehr ein, die, und das im 21. Jahrhundert, etwas Erfundenes als Wahrheit ausgeben will. Dass so viele Menschen auch Jahrtausende später noch Geschichten für bare Münze nehmen, die jeder Glaubwürdigkeit entbehren, wie wir sie selbst von der harmlosesten Fiktion erwarten, irritiert mich. Vielleicht haben sie nicht nur Angst davor, ihre alten Überzeugungen aufzugeben, sondern wollen auch auf den angenehmen Nebeneffekt nicht verzichten, den diese mit sich bringen – so schöne Dinge wie Weihnachtsgeschenke oder der Himmel, der uns nach dem Jüngsten Gericht erwartet. Für mich haben diese Begriffe schon lange jede Bedeutung verloren. Wer nicht mehr an Gott glaubt, rechnet auch mit keinem ewigen Leben mehr und ebenso wenig mit irgendwelchen Engeln, die ihn beschützen. Und erst recht nicht damit, dass die Menschen um einen herum diese Entscheidung gutheißen. Bestechlichkeit gilt in unserer Welt als unvermeidliches Übel, also muss es eine Menge Menschen geben, die so tun, als würden sie glauben, um auf besagte Dinge nicht verzichten zu müssen. Ich war dazu nicht imstande. Als der Schleier, der uns im Alltag vor der brutalen und grausamen Realität bewahrt, so plötzlich zerrissen war, ließ diese Lüge sich nicht aufrechterhalten.

Darum blieb ich bei dem, was ich gesagt hatte, als die anderen sich um Anas Sarg aufstellten und anfingen, das Ave-Maria zu beten. Ich wollte nicht, dass meine Worte als jugendlicher Ungehorsam abgetan wurden; allen sollte klar sein, dass ich meine Überzeugung zum Ausdruck gebracht hatte. Ich leugnete meinen Glauben also ein viertes Mal. Das hatte nicht mal Petrus gewagt. Kaum waren sie bei der Zeile »gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus« angekommen, trat ich ans eine Ende des Sargs, legte die Hände auf das glänzende Holz, das den zerstückelten Leib meiner Schwester umschloss, und sagte leise, aber mit Nachdruck, und so, als würde ich ebenfalls beten: »Ich glaube nicht an die Frucht eines jungfräulichen Leibes, ich glaube nicht an Himmel und Hölle, ich glaube nicht, dass Jesus auferstanden ist, ich glaube nicht an Engel und auch nicht an den Heiligen Geist.« Das wiederholte ich ein ums andere Mal, wie ein Mantra. »Ich glaube nicht an die Frucht eines jungfräulichen Leibes, ich glaube nicht an Himmel und Hölle, ich glaube nicht, dass Jesus auferstanden ist, ich glaube nicht an Engel und auch nicht an den Heiligen Geist.«

Die anderen dachten zunächst, ich würde dasselbe sagen wie sie, doch nach und nach befielen sie Zweifel, und sie verstummten, bis irgendwann bloß noch meine Stimme zu vernehmen war. Da bekreuzigte sich der Priester. Und meine Mutter trat hastig auf mich zu, um mich zu ohrfeigen, woran mein Vater sie gerade noch hindern konnte. Geändert hätte sie aber auch mit einer Ohrfeige nichts – ich glaubte nicht mehr, und darum hatte ich auch keine Angst mehr. Weder vor Gott noch vor sonst jemandem. Meine Schwester war ermordet worden, zuerst hatte man versucht, sie zu verbrennen, dann hatte man ihren Körper zerstückelt und wie Müll abgeladen – was sollte mir da noch Schlimmes passieren, nur, weil ich zu glauben aufhörte?

Bei der Beerdigung weinte ich nicht, ich war viel zu verstört. Stattdessen schwieg ich. Und in den dreißig Jahren seither habe ich auch sonst kaum je geweint. Wenn Anas Tod mich nicht zum Weinen gebracht hatte, was sollte mich dann dazu bringen? Die Wut, oder vielmehr der Hass auf ihren Mörder, ließ meinen Schmerz verstummen. So ist das bis heute. In die Kirche ging ich von da an auch nicht mehr – ich betete nicht mehr, trug nicht mal ein Kreuz an der Halskette als Schmuck und beichtete auch nie mehr einem Priester irgendwelche angeblichen Sünden, um anschließend eine Hostie zu empfangen, die unmöglich der Körper von wem auch immer sein kann. Ich verabschiedete mich von all dem kollektiven Wahn und blieb dabei: Ich war Atheistin. Seitdem fühlte ich mich frei. Allein, von allen abgelehnt, aber frei.

Die Art, wie die anderen mich ansahen, dass Carmen nicht mehr mit mir sprach, die stillen Vorwürfe meiner Mutter, die angestrengten Versuche meines Vaters, zwischen uns zu vermitteln, all das konnte ich nach einigen Monaten nicht mehr aushalten. Am allerwenigsten jedoch ertrug ich, dass Ana nicht mehr da war und niemand mir sagen konnte, wer sie umgebracht hatte und warum, wer sie verbrannt, ihr die Beine und den Kopf abgetrennt und ihre Körperteile auf einem verlassenen Grundstück deponiert hatte, das den Leuten aus der Umgebung als Müllhalde diente. Ich verließ mein Zuhause, meine Stadt, mein Land, mein bisheriges Leben. Und fing in neuntausend Kilometern Entfernung ein neues an – in Santiago de Compostela.

Ana hatte einmal einen Dokumentarfilm über den Jakobsweg gesehen und träumte davon, dass wir ihn eines Tages gemeinsam gehen würden. Damals waren wir noch Jugendliche, eine derartige Reise wäre uns erst möglich gewesen, wenn wir arbeiten und ein wenig Geld zurücklegen könnten – wenn wir »erwachsen« wären. Ana durfte aber nicht erwachsen werden; durch ihren Tod wurde ich es dafür von einem Tag auf den anderen. Ich fand eine Stelle als Arzthelferin und sparte, bis ich das Geld für ein Flugticket nach Spanien beisammenhatte. Später fuhr ich mit dem billigsten Zug von Madrid nach Santiago, er hielt fast an jedem Bahnhof. Das war mein ganz persönlicher Jakobsweg, von Buenos Aires aus und ohne Wanderstiefel. Schon bald fing ich an, in einer Hotelrezeption zu arbeiten, wo ich täglich mit Pilgern zu tun hatte, die einem Glauben anhingen, den ich inzwischen aufgegeben hatte. Vielleicht war ich nicht nur nach Santiago gekommen, um Anas Wunsch zu erfüllen, womöglich wollte ich hier auch verstehen lernen, warum manche Menschen immer noch an eine tausendundeinmal erzählte, völlig unrealistische Geschichte glauben.

Heute besitze ich in Santiago eine Buchhandlung. Nach meiner Arbeit in dem Hotel fing ich hier zunächst als Verkäuferin an, Jahre später übernahm ich die Leitung. Als der Eigentümer starb, machten die Erben mir dankenswerterweise ein so günstiges Übernahmeangebot, dass ich nicht Nein sagen konnte. In dieser Buchhandlung werde ich sterben, kein Zweifel, hier ist mein Platz auf der Welt. Täglich kommen draußen Pilger vorbei. Sie werfen aber bestenfalls einen flüchtigen Blick in die Auslage, zuallererst wollen sie ans Ziel, in die Kathedrale von Santiago. Den Kauf eines Buches ziehen sie – manche von ihnen – erst danach in Betracht; wenn sie ihr Zimmer im Hotel oder einer Pilgerherberge bezogen haben, kehren sie zu meiner Buchhandlung zurück und stöbern eine Weile herum. Wer kein Spanisch kann, nimmt zumindest einen Bildband über die Stadt mit. Jetzt, am Ende ihrer Wanderung, haben sie keine Angst mehr vor zusätzlichem Gepäck. Ich höre ihren Unterhaltungen zu, entschlüssele ihre Gebärden, manchmal verstehe ich auch die Sprache, die sie sprechen. Viele von ihnen glauben ebenso wenig an Gott wie ich, da bin ich mir sicher – auch sie sind Atheisten. Sie haben sich nicht aus religiösen Gründen auf den Weg nach Santiago gemacht. Sie wollten ein bestimmtes Ziel erreichen, sich beweisen, dass sie das, was sie sich vornehmen, auch in die Tat umsetzen können. Sie glauben an sich selbst, ihr Durchhaltevermögen, ihre körperliche und seelische Stärke. Diesem Glauben fühle ich mich ziemlich nahe. Ich könnte auch so ein atheistischer Pilger sein.

»Entschuldige, Lía.« Ángela, die als Buchhändlerin bei mir arbeitet, öffnete die Tür meines Büros, ohne anzuklopfen.

»Ja?«, sagte ich, ließ mir den Ärger über ihr plötzliches Erscheinen aber nicht anmerken.

»Da will dich jemand sprechen.«

»Ach ja, wer denn?«, fragte ich wenig interessiert.

»Eine Frau, sie heißt Carmen Albertín.«

Ich begriff nicht sofort, der Vorname meiner Schwester in Verbindung mit Juliáns Nachnamen klang für mich immer noch ungewohnt. Ich wusste, dass sie, einige Zeit nachdem er das Seminar verlassen hatte, geheiratet hatten, mein Vater hatte mir in einem Brief davon erzählt. Worüber ich mich geärgert hatte, schließlich hatten wir ausgemacht, dass wir, er und ich, uns zwar regelmäßig schreiben würden; auf meine Bitte hin hatten wir aber auch verabredet, dass in den Briefen weder davon, was ich machte, noch davon, was sie machten, die Rede sein sollte, es sei denn, der Mörder Anas wurde gefunden. So lautete unsere Vereinbarung, als hätten wir uns versprechen wollen, dass wir nie aufgeben würden zu versuchen, die Wahrheit herauszufinden. Davon abgesehen wollte ich durch nichts an das erinnert werden, was ich zurückgelassen hatte, wie ich auch nicht wollte, dass die anderen wussten, was für ein Leben ich mir hier aufgebaut hatte. Nur mit meinem Vater wollte ich den Kontakt aufrechterhalten, auf seine Stimme konnte ich nicht verzichten, auch wenn sie mich nur schriftlich erreichte.

Dass Carmen jetzt mit Nachnamen Albertín hieß, wusste ich also. Für mich waren wir aber trotzdem weiterhin die Sardá-Schwestern: Carmen, Lía und Ana Sardá. Die schöne Ana mit den blauen Augen, die jedes Mal rot wurde, wenn mein Vater sie vor anderen »Küken« nannte, woraufhin sie das Gesicht hinter ihren braunen Haaren versteckte.

Ángela stand wartend in der Tür. Ich war wie betäubt und wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Sie hat außerdem gemeint, dass sie Verwandte von dir sind«, fügte sie hinzu.

»Dass sie Verwandte sind? Ist die Frau denn nicht allein?«

»Nein, sie ist mit einem Mann da, ihr Ehemann, nehme ich an. Sie hat ihn nicht vorgestellt, aber ich würde sagen, die beiden sind verheiratet. Soll ich sie fragen?«

Das war nicht nötig, es war klar, um wen es sich handelte. Meine Schwester hatte also nach dreißig Jahren beschlossen, wieder mit mir zu sprechen, und es lag an mir, mich auf ihr Spiel einzulassen oder nicht.

Schon als wir klein waren, hatte immer Carmen bestimmt, was wir spielen sollten und wer welche Rolle zu übernehmen hatte. Einwände von Ana oder mir ließ sie nicht gelten. Dass sie, unsere große Schwester, sich Zeit für uns nahm, war mehr als genug, wir hatten ihr dankbar zu sein, auch wenn ich jedes Mal die »alleinstehende Tante« spielen musste. Von ihren Plänen auch nur im Geringsten abzuweichen, war für Carmen unvorstellbar, und jede Auflehnung von uns Kleinen gegen die Vorschriften der »carmenzentrischen« Welt wurde umgehend mit Schweigen, Spott oder Verbannung in eine dunkle Ecke unseres Hauses bestraft. Als Kinder – und zum Teil auch noch als Jugendliche – gehorchten wir ihr nahezu widerspruchslos. Carmen war nicht nur älter als wir, wir hatten auch vor niemandem sonst so viel Angst, nicht einmal vor unserer Mutter, die sich für gewöhnlich alle Mühe gab, uns einzuschüchtern. Außerhalb unserer vier Wände erwies meine Schwester sich jedoch als völlig anderer Mensch. Ich werde nie begreifen, wie sie es schaffte, sich, kaum hatte sie die Haustür hinter sich zugemacht, in eine einnehmende, charismatische, ja verführerische Person zu verwandeln. Hätte ich Ángela in diesem Augenblick nach ihrem ersten Eindruck gefragt, hätte sie bestimmt geantwortet: »Sie ist sehr nett!« Diese Fähigkeit, zwei völlig verschiedene Gesichter zu besitzen – je nachdem, ob sie es mit uns oder mit anderen Menschen zu tun hatte –, störte mich damals am allermeisten an ihr.

Als sie jetzt unversehens in meiner neuen Welt auftauchte, lag unsere Kindheit jedoch weit zurück. Und meine Ängste und Wut auch. Glaubte ich wenigstens.

»Soll ich sie zu dir schicken, Lía? Oder willst du lieber vor in den Laden kommen?«

2

Wieder öffnete Ángela die Tür und trat dann zur Seite, um Carmen und Julián durchzulassen. Meine Schwester dankte ihr im Vorbeigehen mit einem freundlichen Nicken, und Ángelas Lächeln bestätigte meine Befürchtung, dass sie sie zweifellos »sehr nett« fand. Obwohl ich mich innerlich auf das Erscheinen der beiden vorbereitet hatte, stockte mir der Atem, als ich sie nun vor mir sah. Ich stand auf. Noch hatte keiner ein Wort gesagt. Mein eines Bein fing an zu zittern. Damit es aufhörte, hob ich es leicht an und beugte das Knie. Es ärgerte mich, dass mein Körper auf Carmens Anwesenheit immer noch so unerwartete Reaktionen zeigte. Jetzt, in meinem kleinen Büro und im Beisein Juliáns, war das Schweigen, das Carmen und mir in der Zeit vor meinem Aufbruch zur Gewohnheit geworden war, plötzlich unangenehm. Vermutlich überlegten wir drei, jeder auf seine Weise, wer nach all den wortlosen Jahren den ersten Schritt tun würde.

»Hallo Lía, was für eine schöne Buchhandlung!«, sagte Julián schließlich. Offenbar sah er sich als Mann in der Pflicht, die Initiative zu übernehmen. Eben das und sein versöhnlicher Tonfall reizten mich umso mehr.

»Hallo«, erwiderte ich trocken.

»Lang ists her«, ließ Carmen sich erst einige Sekunden später vernehmen. Ihr reservierter und hochmütiger Tonfall war noch genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte.

Auf Küsse und Umarmungen verzichteten wir. Wir gaben uns nicht einmal die Hand. Ohne noch etwas zu sagen, deutete ich auf die vor dem Schreibtisch stehenden Stühle. Julián zog den für Carmen ein Stück zurück und wartete, bis sie Platz genommen hatte. Auf dem wenig anmutigen Möbelstück, das ich von den Vorbesitzern übernommen hatte, wirkte sie wie eine Königin.

Carmen war ganz die Alte.

Ihr Haar war offenkundig gefärbt, hatte seinen früheren Glanz aber verloren. Die Hüften waren breiter geworden. Das Seidentuch um ihren Hals bemühte sich vergeblich, das Doppelkinn zu verbergen. So oder so hätte ich sie auch inmitten einer riesigen Menschenmenge sofort entdeckt. Ihren hochmütigen Blick, den leicht nach links geneigten Kopf, das leise Lächeln, das ihren Mund umspielte und ebenso gut einen Vorwurf hätte ausdrücken können. Und das schwere Silberkreuz in ihrem Ausschnitt, das einst meiner Mutter gehört hatte.

Julián dagegen hätte ich wohl nicht ohne Weiteres wiedererkannt. Nicht nur, weil er die eintönig graue, schwarze oder blaue Kleidung abgelegt hatte, an der er auch ohne Soutane und Kollar als künftiger Priester zu erkennen gewesen war – er war jetzt vielmehr eindeutig ein Mann und damit ein völlig anderer Mensch. Seine Gesichtshaut wirkte rau und spröde, an den Schläfen zeigten sich graue Stellen, und die Stirn durchzogen zwei tiefe Falten, für die er eigentlich zu jung war. Was den Mann, der mir jetzt schweigend gegenübersaß, jedoch vor allem von dem jungen Seminaristen aus unserer Gemeinde in Adrogué unterschied, waren die braunen Augen – sie zitterten nicht mehr, wenn er einen ansah. Hatten Ana oder ich damals in seiner Gegenwart eine vorlaute oder auch unanständige Bemerkung gemacht, hatten seine Lider unwillkürlich zu flattern begonnen, zunächst, als wollten sie sich erstaunt schließen, so als hätte er nicht richtig verstanden, um sich gleich darauf weit zu öffnen. Oft hatten unsere Äußerungen nur das Ziel gehabt, ebendiese Reaktion bei ihm hervorzurufen.

Ich glaube, Ana war in Julián verliebt. In gewisser Weise waren wir das damals alle – es war wie eine Fantasie, die man sich nicht einzugestehen wagt, die Entdeckung der erotischen Anziehungskraft des Verbotenen oder einfach nur Verblüffung über einen Mann, der zu einer Zeit, zu der die Geschlechterrollen noch klar verteilt waren, darauf verzichtete, seine Virilität unter Beweis zu stellen. Ana allerdings war vermutlich ernsthaft verliebt. Genau das wollte sie mir wahrscheinlich auch in der Nacht zwei Tage vor ihrem Tod sagen, als sie darum bat, zu mir ins Bett schlüpfen zu dürfen, um mir ein Geheimnis anzuvertrauen, was ich ihr mit der Begründung abschlug, ich sei zu müde, ich schliefe schon fast, lieber morgen. Wie hätte ich ahnen sollen, dass es manchmal kein Morgen gibt? Seltsamerweise hakte Ana nicht nach, anders als sonst, wenn sie etwas von mir wollte. Sie sagte, sie fühle sich nicht gut, aber wenn sie wirklich mit mir hätte sprechen wollen, hätte sie sich selbst von den heftigsten Magenschmerzen nicht abhalten lassen. Vielleicht war sie sich nicht sicher, ob sie mir die Sache wirklich anvertrauen sollte. Vielleicht war sie sogar erleichtert, als ich ihre Bitte abschlug. Mitten in der Nacht glaubte ich, sie weinen zu hören. Ich sah zu ihrem Bett hinüber, wo sie sich ganz unter die Decke verkrochen hatte. Sie zitterte. Nach einer Weile fing sie jedoch an, tiefer zu atmen, als hätte sie sich beruhigt. Ich versuchte, wieder einzuschlafen, denn am nächsten Tag musste ich wegen meiner ersten Prüfung an der Universität sehr früh aufstehen, und so würde es die ganze Woche weitergehen. Obwohl ich wusste, dass es meiner Schwester nicht gut ging, beschloss ich also, weiterzuschlafen. Dass sie sich, mit siebzehn, in einen Mann verliebt hatte, der auf dem Weg war, Priester zu werden, und keine von uns auch nur beim Namen kannte, schien mir nicht so schlimm. Viel schlimmer war es, sich in einen Mann zu verlieben, der frei war, aber offensichtlich jemand anderen im Blick hatte, wie es mir damals passierte. Wir hätten darüber sprechen können, aber mit Ana hätte das bestimmt sehr lange gedauert, und ich musste unbedingt schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag, sagte ich zu mir selbst, bevor mir die Augen zufielen.

Bis heute mache ich mir Vorwürfe deswegen. Mit ihr zu sprechen hätte nichts daran geändert, dass sie später ermordet wurde, aber ich hätte doch eine ganz andere letzte Erinnerung an sie. Statt meines Neins würde ich mich heute an eine Umarmung erinnern, an ihre Hand auf meiner Schulter, während sie sich an mich kuschelte – vielleicht auch mit meinem Haar spielte – und mir Dinge ins Ohr flüsterte, die außer mir niemand aus unserer Familie erfahren durfte.

»Du wunderst dich bestimmt, dass wir hier sind«, sagte Carmen jetzt. Natürlich wunderte ich mich, auch darüber, dass sie zusammen erschienen waren.

»Hat man etwa herausgefunden, wer Ana ermordet hat?«, fragte ich unvermittelt. Carmen richtete sich auf und sah mich, ohne etwas zu erwidern, von oben herab an.

Sie hätte auch gar nichts zu sagen brauchen, mir war ohnehin klar, dass sie nicht aus diesem Grund in meinem Büro saß, ich wollte ihr bloß zu verstehen geben, dass das Einzige, was mich an ihrem Besuch hätte interessieren können, eine Antwort auf die Frage nach Anas Mörder gewesen wäre. Was sie in Wirklichkeit hergeführt hatte, hätte ich im Traum nicht sagen können. Ich erinnerte mich wieder an die unendlichen Umwege, die Carmen normalerweise nahm, bevor sie auf das Thema zu sprechen kam, um das es ihr eigentlich ging, und wie sehr mich das früher jedes Mal gestört hatte. Seit jeher kannte sie nichts Schöneres, als sich selbst reden zu hören, immer vorausgesetzt, die anderen hörten widerspruchslos zu.

Nach einer quälend langen Pause wiederholte sie leise meine Frage, um anschließend hinzuzufügen: »Lía, Anas Tod … Das Thema ist doch längst abgeschlossen, kein Mensch sucht heute noch nach ihrem Mörder. Du schon? Wirklich? Auch nach dreißig Jahren noch?«

»Ich schon, wirklich, auch nach dreißig Jahren noch.«

Julián rutschte voller Unbehagen auf seinem Stuhl hin und her. Ich machte es den beiden zugegebenermaßen nicht leicht, aber in jedem Fall wäre es Carmens Aufgabe gewesen, für bessere Stimmung zu sorgen. Sie war schließlich zu mir gekommen. Von mir aus hätte sie in diesem Augenblick keineswegs hier zu sitzen brauchen. Ich interessierte mich auch jetzt nicht im Geringsten für ihr Leben und für den Ort, von dem ich vor dreißig Jahren fortgegangen war. Nur die Beziehung zu meinem Vater hielt ich aufrecht. Aber dabei war stets nur von der unmittelbaren Gegenwart die Rede, vor allem versicherten wir uns immer wieder aufs Neue, dass wir einander lieb hatten. Vor ein paar Wochen war sein letzter Brief gekommen, ich hatte ihn schon beantwortet und würde sicher bald wieder Post von ihm erhalten.

Fast wäre Carmen nach meiner Erwiderung aufgestanden und gegangen. Julián konnte sie gerade noch davon abhalten, indem er ihr besänftigend die Hand auf den Oberschenkel legte. Dass sie sich umstimmen ließ, bewies, dass sie, aus welchem Grund auch immer, auf mich angewiesen war. Ihr Mann senkte den Kopf und seufzte. Dann blickte er auf, sah mich an – ohne dass seine Lider flatterten – und bat wortlos um Entgegenkommen. Ich hielt seinem Blick stand und gab ihm durch ein leichtes Kopfnicken zu verstehen, dass ich einverstanden war. Ihm, nicht Carmen zuliebe. Da übernahm er es, ohne weitere Umschweife den eigentlichen Grund ihres Besuches anzusprechen: »Wir haben einen Sohn, er heißt Mateo. Gerade ist er dreiundzwanzig geworden.«

Sie hatten also einen Sohn. Aber was ging mich das an? Dass sie ihn nach einem Apostel benannt hatten, wunderte mich nicht. Hätten sie eine Tochter, hieße die bestimmt María Inmaculada oder etwas ähnlich Superfrommes. Ich sagte jedoch nichts, die Nachricht löste keinerlei Freude in mir aus, nicht einmal die Erkenntnis, dass ich folglich Tante war.

Ich hatte Juliáns Bemerkung aber falsch verstanden. Ich dachte, er wolle bloß ein wenig die Situation entschärfen, und begriff erst im nächsten Augenblick, dass sie im Gegenteil tatsächlich ihres Sohns wegen hier waren. Was nichts daran änderte, dass das Einzige, was mich interessiert hätte, eine Antwort auf die Frage nach Anas Mörder gewesen wäre. Davon abgesehen hätte ich gern gewusst, wie sie mich aufgespürt hatten. Ich war mir sicher, dass sie meine Adresse nicht von meinem Vater erfahren hatten. Er hatte mir versprochen, dass er sie geheim halten würde. Für alle Fälle benutzte ich ein Postfach als Absendeadresse. Aber mein Vater hätte ihnen ganz bestimmt nicht einmal gesagt, in welcher Stadt ich jetzt lebte. Sie mussten es auf anderem Weg herausbekommen haben. 

Ich wappnete mich mit Geduld, vor allem, weil jetzt Carmen wieder das Wort übernahm und wie gewohnt weit ausholte.

»Mateo ist unterwegs, um sich verschiedene Kathedralen anzusehen. Er studiert Architektur. Schon als kleiner Junge hat er alle zum Ruhm Gottes errichteten Bauwerke bewundert. Wir haben ihn im katholischen Glauben erzogen, mit großer Ernsthaftigkeit, so wie wir selbst ihn praktizieren. Und in Europa gibt es so wunderschöne Kathedralen. Darum haben wir gemeinsam beschlossen, dass er unbedingt diese Reise machen soll, für sein Studium und für unseren Glauben.«

Nach dem Wort Glauben hielt meine Schwester inne. Sie wollte wohl deutlich machen, worin wir uns am stärksten unterschieden. Ich tat ihr jedoch nicht den Gefallen, mir anmerken zu lassen, wie unangenehm mir dieses Thema war. Wie ich mir auch keinerlei Mühe gab, das Schweigen durch irgendwelche banalen Bemerkungen zu überbrücken. Auch Julián sprang diesmal nicht ein. Offenkundig hatte er beschlossen, sich aus dem Kräftemessen von uns Schwestern herauszuhalten. Ich stand auf, goss zwei Tassen Kaffee ein und stellte sie vor ihnen ab. Ohne ein Wort zu sagen.

Als Carmen den Zucker umgerührt hatte, sprach sie weiter. Kein Zweifel – sie war auf meine Hilfe angewiesen.

»Mateo meldet sich schon seit einer ziemlichen Weile nicht mehr. Sein Handy ist ausgeschaltet. Zuerst haben wir gedacht, er hätte die SIM-Karte gewechselt, um Geld zu sparen, und dass er sich melden würde, sobald er in einem Hotel ist und über WLAN telefonieren kann. Als er dann aber auch an seinem Geburtstag nicht zu erreichen war, haben wir angefangen, uns Sorgen zu machen. Wir haben festgestellt, dass er sein E-Mail- und sein Facebook-Konto gelöscht hat. Wir konnten uns über keinen der gewohnten Kanäle mehr mit ihm in Verbindung setzen. Das geht jetzt schon seit …« Sie verstummte. Ich hatte den Eindruck, dass ihr die Stimme versagte, aber auch das rührte mich nicht.

Carmen konnte tatsächlich nicht weitersprechen. Sie sah sich hilfesuchend um und bat mich mit einer Handbewegung um ein Glas Wasser. Ich stand auf, brachte ihr das Gewünschte und wartete ab. Aber auch als sie getrunken hatte, hatte sie sich noch nicht wieder gefasst. Dass sie eine solche Schwäche an den Tag legen konnte, hatte ich nie an ihr erlebt. In diesem Augenblick zeigte sich offensichtlich ihre mütterliche Seite. 

Da ergriff Julián das Wort und befreite sie aus ihrer unangenehmen Lage. »Wir haben die Sache an einen Fachmann übergeben und wissen jetzt, dass Mateo am Leben ist. Das ist natürlich am wichtigsten. Unsere große Sorge ist aber, dass er irgendwelche mentalen Probleme hat. Er ist sehr sensibel. Menschen wie er können manchmal nicht richtig zwischen der Wirklichkeit und ihren Vorstellungen unterscheiden. Er hat bis jetzt zu Hause gelebt, bei uns, und wir sind davon ausgegangen, dass das nach der Rückkehr aus Europa auch erst mal so bleiben würde. Dass er völlig den Kontakt zu uns abbricht, ohne irgendeine Erklärung, ist jedenfalls nicht normal. Vor seiner Abreise hatte es keinerlei Streit gegeben, nicht im Geringsten.«

»Warum auch? Dafür hätte es überhaupt keinen Grund gegeben«, meldete meine Schwester sich zu Wort, die sich anscheinend wieder gefasst hatte. »Wir drei sind uns immer einig, wir sind glücklich. Dass er auf diese Weise verschwunden ist, ist völlig unerklärlich.«

Ich hatte da meine Zweifel. Wer wirklich glücklich ist, brüstet sich nicht damit, erst recht nicht in einer solchen Situation. Offensichtlich wollte sie sich vor allem selbst etwas vormachen. Oder sich von jeder Schuld freisprechen.

»Und wieso seid ihr hergekommen? Was habe ich mit all dem zu tun?«

»Der Privatdetektiv konnte nachverfolgen, wo und wann Mateo seine Kreditkarte benutzt hat«, erklärte Julián. »In der letzten Zeit hat er gleich dreimal in dieser Buchhandlung Bücher gekauft. Bis dahin wussten wir bloß, dass er in Santiago ist, was uns nicht gewundert hat, er ist schließlich unterwegs, um sich Kathedralen anzusehen.«

»Und dass er Bücher kauft, ist auch nichts Besonderes, er ist geradezu verrückt nach Büchern«, sagte Carmen. »Manchmal hat das fast etwas Zwanghaftes.«

Ob sie in diesem Augenblick daran dachte, dass ich selbst eine Buchhandlung betreibe?

»Die größte Überraschung war jedoch«, fuhr Julián fort, »dass er offenbar nicht nur ausschließlich hier seine Bücher kauft, in dieser Buchhandlung, sondern dass diese Buchhandlung dir gehört.«

Bei diesen Worten spürte ich, dass meine Schwester mich hasserfüllt ansah.

»Und?«, sagte ich, ohne mir irgendeiner Schuld bewusst zu sein.

»Weißt du, wo unser Sohn ist?«, fragte Carmen jetzt unumwunden.

»Bis jetzt wusste ich nicht einmal, dass ihr einen Sohn habt. Falls er tatsächlich hier war, hat er sich mir jedenfalls nicht vorgestellt. Vielleicht weiß er gar nicht, dass dieses Geschäft einer Schwester seiner Mutter gehört. Womöglich ist er bloß zufällig hier vorbeigekommen.«

»Diese Möglichkeit haben wir natürlich auch in Betracht gezogen«, erwiderte Carmen. »Dass Gott ihn hergeführt hat.«

»Vielleicht wollte Gott, dass wir uns wiedersehen, Lía«, ergänzte Julián.

»Ich glaube nicht an Gott, das wisst ihr.«

»Aber vielleicht …«

»Ich glaube nicht an Gott«, sagte ich noch einmal und mit so viel Nachdruck, dass sie nicht weiter nachhakten.

Carmen fing an, ihre Handtasche zu durchwühlen. Um sich schneller Überblick zu verschaffen, legte sie einige Sachen auf meinen Schreibtisch. Dafür musste sie mehrere Bücher und Unterlagen von mir zur Seite schieben, was sie ohne zu fragen tat – sie war immer noch ganz die Alte. Schließlich hielt sie mir ein Foto hin. Darauf war ein auffallend, ja geradezu unanständig schöner junger Mann zu sehen. Dem ich aber noch nie begegnet war, da war ich mir ganz sicher, andernfalls hätte ich mich an ihn erinnert.

»Den kenne ich nicht«, sagte ich.

»Vielleicht könntest du deine Kassenbücher durchsehen, dann wüssten wir, was für Bücher er gekauft hat. Das wäre möglicherweise hilfreich«, sagte Carmen und fügte etwas für sie ganz und gar Untypisches hinzu: »Bitte, Lía.«

Im ersten Moment hielt ich ihre Bitte für ehrlich gemeint. Fast hätte sie mich gerührt, fast wäre sie auch für mich kurz die Carmen gewesen, als die die anderen sie für gewöhnlich erlebten. Aber da zückte sie ihr Taschentuch und schnäuzte sich so übertrieben heftig wie früher, wenn sie Ana und mir hatte weismachen wollen, es gehe ihr furchtbar schlecht, weshalb wir unbedingt tun müssten, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Da fiel mir auch wieder ein, wie oft sie mir einen Schlag in die Magengrube verpasst hatte, sobald es ihr gelungen war, mich, und sei es für eine Sekunde, aus der Deckung zu locken. Das würde mir nicht noch einmal passieren, schwor ich mir. Vergeblich, wie sich schon bald herausstellen sollte. Völlig vergeblich.

»Na gut, aber ganz so schnell geht das nicht.«

»Er kommt bestimmt noch mal in deinem Laden vorbei«, fiel Julián mir ins Wort. »Wir werden ein paar Tage in der Gegend bleiben, vielleicht finden wir ihn ja irgendwo. Und falls du ihn siehst und mit ihm sprechen kannst, sind wir dir natürlich für jeden Hinweis dankbar. Dass ernsthaft Gefahr für ihn besteht, glauben wir nicht – dass ihn jemand bedrohen würde oder so. Die größte Gefahr stellt dafür manchmal unser eigener Kopf dar, weil er uns dazu bringt, verrückte Dinge zu glauben.«

»Oder gar nicht mehr zu glauben«, versetzte ich boshaft.

»Mateo ist ein bisschen durcheinander. Aber das geht vorbei. Wir haben ihn gut erzogen, darauf verlasse ich mich, vor allem aber verlasse ich mich auf den Glauben«, verkündete Carmen. Und bevor ich erwidern konnte: »Ich nicht«, fügte sie hinzu: »Ich lasse dir meine Visitenkarte da, dann kannst du jederzeit Kontakt zu uns aufnehmen. Und das Foto kannst du ebenfalls behalten, ich habe mehrere Exemplare. Zeig es doch mal deinen Angestellten, vielleicht hat eine von ihnen den Jungen ja gesehen. Das hätten wir natürlich auch selbst tun können, aber wir wollten keine unnötige Aufregung verursachen. Du weißt ja, wie wir sind – Zurückhaltung ist nie fehl am Platz …«

Für einen Moment blitzte der altbekannte Hass in ihren Augen wieder auf. Sie räumte ihre Sachen zusammen, stand langsam auf und bedeutete Julián durch eine Handbewegung, ihrem Beispiel zu folgen. Er zögerte, anscheinend hätte er gern noch über das ein oder andere gesprochen, nachdem wir uns dreißig Jahre lang nicht gesehen hatten. Aber Carmen blickte ihn so lange unverwandt an, bis auch er sich erhob.

Durch den Schreibtisch voneinander getrennt, verabschiedeten wir uns. Ohne Umarmungen oder sonstige Berührungen, wie bei ihrer Ankunft. Bloß ein paar Worte und ein Kopfnicken. Da bemerkte ich, dass meine Schwester ein Metallkästchen auf dem Tisch hatte stehen lassen.

Als ich sie darauf hinwies, erwiderte sie: »Nein, das ist für dich. Da ist Papas Asche drin.«

»Wie?«, stammelte ich und wäre fast ohnmächtig geworden.

»Also, die Hälfte davon. Die andere Hälfte habe ich in Mamas Grab getan. Als Katholikin wollte sie natürlich eine Erdbestattung. Aber er hatte sich eine Einäscherung gewünscht. So haben wir es dann auch gemacht, obwohl es unserer Überzeugung widersprach. Ich habe gedacht, du würdest das sicher gern bei dir aufbewahren. Oder nicht?«

Ich sagte kein Wort. Mir wurde schwindlig und ich musste mich setzen. Damit kam sie jetzt, kurz vor dem Weggehen! Wie beiläufig, als wäre alles andere, worüber wir gesprochen hatten, wichtiger als die Tatsache, dass unser Vater gestorben war. Meine Mutter war für mich schon seit Langem tot, und wann genau sie gestorben war, spielte für mich keine große Rolle. Aber mein Vater war für mich bis gerade eben noch am Leben gewesen. Wie ich meine Schwester auf einmal hasste – das würde ich ihr nie verzeihen.

Eins musste ich allerdings zugeben, auch in diesem Fall war sie sich treu geblieben: Wenn es um sie ging, beziehungsweise um ihren Sohn, war alles andere zweitrangig, selbst der Tod unseres Vaters. Da war es nur konsequent, mir das Kästchen mit der Asche meines Vaters auf den Tisch zu stellen wie ein Mitbringsel aus der Heimat. Als kleines Dankeschön im Voraus für meine Bemühungen, sozusagen.

»Wann ist Papa denn gestorben?«, fragte ich, als ich mich halbwegs wieder im Griff hatte.

»Vor zwei Monaten, ein paar Tage vor Mateos Abreise«, sagte Julián, und mir wurde klar, dass er schon tot gewesen sein musste, als sein letzter Brief bei mir eintraf. »Er hat länger durchgehalten, als die Ärzte und wir erwartet hatten.«

»Er war krank, wusstest du das nicht?«, fragte Carmen.

»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete ich.

»Er hatte Krebs. Einen Hirntumor. Es ist sehr schnell gegangen, und am schlimmsten war, dass er zuletzt nicht mehr er selbst war«, sagte Carmen.

»Was heißt, nicht mehr er selbst?«

»Er hat wirres Zeug geredet, Lügen erzählt. Das war aber keine Absicht, es lag an dem Tumor.«

»Ich hatte ja keine Ahnung …«

»Woher denn auch! So geht es, wenn man sich davonmacht und alle Verbindungen kappt. Dann bekommt man manche Dinge eben nicht mit. Natürlich hat das auch Vorteile«, versetzte sie.

Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was Julián über unsere Unterhaltung dachte. Einerseits kam er mir abweisend vor, als schiene er sich zu wünschen, dass Carmen endlich zum Ende kam. Andererseits machte er einen betroffenen Eindruck, ich bildete mir sogar ein, ihm stünden Tränen in den Augen. Wie genau sein Verhältnis zu meinem Vater gewesen war, wusste ich nicht. Vielleicht hatte er ihn aufrichtig geliebt und trauerte über seinen Tod, aber vielleicht weinte er auch, weil er Carmens Gehässigkeit nicht ertrug. 

So oder so hatten sie aber nicht aus diesem Grund eine Reise von mehreren Tausend Kilometern auf sich genommen. Ich wollte bloß noch, dass sie verschwand, dass sie beide verschwanden, zu bereden gab es nichts mehr. Ihnen ging es offenbar genauso, denn kurz darauf hatten sie tatsächlich mein Büro verlassen, und ich saß reglos an meinem Schreibtisch und starrte auf das Metallkästchen vor mir.

Bis irgendwann das Telefon läutete, was mir half, in die Gegenwart zurückzukehren. Ich verstaute Mateos Foto und das Kästchen mit der Asche meines Vaters in der Schreibtischschublade, warf Carmens Visitenkarte in den Papierkorb und nahm erst dann den Hörer ab.

3

Mehrere Tage vergaß ich Mateo. Wie überhaupt fast alles. Ich war völlig eingenommen von dem Gedanken an den Tod meines Vaters, seine Einsamkeit während der Krankheit, obwohl er alle möglichen Menschen um sich gehabt haben musste, und seinen Schmerz – oder auch seine Wut – über das bevorstehende Ende. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ihm aus purem Egoismus verboten hatte, mir egal welche Neuigkeiten von zu Hause mitzuteilen. Ich hätte bei ihm sein oder wenigstens in meinen Briefen Anteil an seinem Leid nehmen müssen.

Ich ging mehrmals seine letzten Antworten durch – nirgends fand sich auch nur der kleinste Hinweis auf seine Erkrankung. Aber auch keinerlei Anzeichen der Verwirrtheit, von der Carmen gesprochen hatte. Vielleicht war die Schrift an manchen Stellen ein wenig zittrig, was mir aber nur durch den Vergleich mit früheren Briefen auffiel. Nach meiner wütenden Reaktion auf seine Nachricht von Carmens und Juliáns Hochzeit vor vielen Jahren – ich hatte ihm mitgeteilt, dass ich erst einmal keine Briefe mehr schicken würde – musste er befürchtet haben, ich könne endgültig den Kontakt abbrechen. Geduldig hatte er abgewartet, ohne mich zu drängen, bis ich mich von mir aus zurückmeldete. Er kannte mich und wusste, dass er andernfalls das Risiko einging, nie wieder von mir zu hören.

Mehrere Monate schrieb ich ihm damals nicht. Bis an einem Frühlingstag ein Mann in die Buchhandlung kam, dessen Rasierwasser genau so roch, wie ich es von meinem Vater erinnerte. Da hätte ich am liebsten geweint. Wie immer wollten aber keine Tränen kommen. Daraufhin schrieb ich ihm wieder. Von diesem Tag vor fast dreißig Jahren an beschränkte sich unser Austausch noch konsequenter auf allgemeine Dinge. Als wären wir Nachbarn oder Freunde, waren wir beide ängstlich darauf bedacht, dem anderen keinesfalls zu nahe zu treten. Was uns wirklich verband, verbargen wir hinter distanzierter Freundlichkeit. So fügte sich wie von selbst ein Thema ans andere. Im Lauf der Zeit gelang es uns, Nähe zuzulassen, ohne Gefahr zu laufen, einander zu verletzen. Und wir konnten uns weiterhin ohne unerwünschte Zeugen unserer Liebe versichern. Im Bewusstsein, dass mein Vater dieses Stück Papier in Händen gehalten hatte, strich ich jedes Mal zärtlich über seine Briefe, und er empfand es umgekehrt womöglich genauso. Eben deshalb kam wohl auch keiner von uns irgendwann mit dem Vorschlag, uns statt durch Briefe über E-Mail oder telefonisch auszutauschen.