Katzenauge - Margaret Atwood - E-Book

Katzenauge E-Book

Margaret Atwood

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Beschreibung

»Katzenauge«, einer der erfolgreichsten Romane von Margaret Atwood, erzählt von der schillernden Gefühlswelt kleiner Mädchen. Die erwachsene Elaine erinnert sich an ihre Freundschaft mit Cordelia, die, grausam und schlagfertig, der Quälgeist ihrer jungen Jahre war. Ein großer Roman über die Kindheit und die von Hassliebe geprägte Beziehung zweier Frauen.

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Übersetzung aus dem kanadischen Englischvon Charlotte FrankISBN 978-3-492-97078-5April 2017Die Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel»Cat’s Eye« im Verlag Doubleday, New York© O. W. Toad, Ltd. 1988Copyright für die deutsche Übersetzung von Charlotte Franke:© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1990Neuauflage im Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016Alle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCoverabbildung: Young Girl in Green, 1927 (oil on canvas),Lempicka, Tamara de (1898–1980)/Musee National d’Art Moderne,Centre Pompidou, Paris, France/Bridgeman ImagesDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Die Bilder und die anderen Werke moderner Kunst, die in diesem Buch vorkommen, existieren nicht. Sie wurden jedoch von den Künstlern Joyce Wieland, Jack Chambers, Charles Pachter, Erica Heron, Gail Geltner, Dennis Burton, Louis de Niverville, Heather Cooper, William Kurelek, Greg Curnoe und der pop-surrealistischen Töpferin Lenore M. Atwood und einigen anderen beeinflusst; und von der Isaacs Gallery, dem alten Original.

Die physikalischen und kosmologischen Seitensprünge in diesem Buch sind Paul Davies, Carl Sagan, John Gribbin und Stephen W. Hawking und ihren faszinierenden Büchern zu diesen Themen verpflichtet sowie meinem Neffen David Atwood wegen seiner erhellenden Ausführungen über Fädchen.

Als die Tukanas ihr den Kopf abschnitten, fing die alte Frau ihr Blut in den Händen auf und blies es in die Sonne. »Meine Seele geht auch in dich ein!«, rief sie. Seit dieser Zeit nimmt jeder, der tötet, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, die Seele seines Opfers in seinem Körper auf.

Eduardo Galeano, Erinnerung an das Feuer: Geburten

Warum erinnern wir uns an die Vergangenheit, und nicht an die Zukunft?

Stephen W. Hawking,

EISERNE LUNGE

1

Die Zeit ist keine Linie, sondern eine Dimension, wie die Dimensionen des Raums. Lässt sich der Raum krümmen, so lässt sich auch die Zeit krümmen, und wenn man genügend Wissen besäße und sich schneller als Licht bewegen könnte, dann könnte man auch zurückreisen in der Zeit und an zwei Orten zugleich sein.

Das sagte mir mein Bruder Stephen, wenn er beim Lernen seinen ausgefransten kastanienbraunen Pulli anhatte und dabei die meiste Zeit auf dem Kopf stand, damit Blut in sein Gehirn rann und es mit Nahrung versorgte. Ich wusste nicht, was er meinte, aber vielleicht hat er es mir auch nicht besonders gut erklärt. Er fing schon damals an, die Ungenauigkeit von Wörtern hinter sich zu lassen.

Aber seither habe ich die Zeit als etwas angesehen, das eine Form besitzt, als etwas, das man sehen kann, wie flüssige Dias, die übereinanderliegen. Man blickt nicht an der Zeit entlang zurück, sondern in sie hinein und hinunter wie durch Wasser. Manchmal kommt dieses an die Oberfläche, manchmal jenes, manchmal gar nichts. Nichts geht weg.

2

»Stephen sagt, die Zeit ist keine Linie«, sage ich. Cordelia verdreht die Augen, wie ich es nicht anders erwartet habe.

»Ach ja?«, sagt sie. Diese Antwort stellt uns beide zufrieden. Sie rückt die Zeit an ihren Platz und Stephen auch, der uns »Teenager« nennt, als wäre er nicht selber einer.

Cordelia und ich fahren mit der Straßenbahn in die Stadt, wie immer an den Samstagen im Winter. Die Luft in der Straßenbahn ist muffig, sie riecht verbraucht und nach Wolle. Cordelia gibt sich lässig und stößt mich ab und zu mit dem Ellbogen an, während ihre graugrünen Augen, undurchdringlich und glitzernd wie Metall, völlig ausdruckslos die anderen Leute anstarren. Sie kann jeden niederstarren, und ich bin fast genauso gut. Wir sind unzugänglich, wir funkeln, wir sind dreizehn.

Wir haben lange Wollmäntel an, mit einem Gürtel zum Binden und hochgeschlagenem Kragen, genauso wie die Filmstars, und heruntergeklappte Gummistiefel mit dicken Männersocken. Die Kopftücher, die unsere Mütter uns geben, damit wir sie umbinden, die wir aber abnehmen, sobald wir ihren Blicken entschwunden sind, stecken in unseren Taschen. Wir verabscheuen Kopfbedeckungen. Unsere Münder sind hart, pastellrot, glänzend wie Nägel. Wir halten uns für Freundinnen.

In der Straßenbahn sind immer alte Damen, jedenfalls kommen sie uns alt vor. Ganz verschiedene. Manche in ordentlicher Kleidung – gut geschnittene Harris-Tweedmäntel, mit dazu passenden Handschuhen und adretten Hüten mit einer kleinen steifen Feder an der Seite. Andere sind ärmer und sehen fremdartig aus, um ihre Köpfe und Schultern sind dunkle Schals geschlungen. Andere haben eine rundliche Figur und ein mürrisches Gesicht und selbstgerecht zusammengekniffene Lippen, und an ihren Armen hängen Einkaufsbeutel; diese Frauen bringen wir mit Billigangeboten in Kaufhäusern und Ramschkäufen in Zusammenhang. Cordelia erkennt billige Kleider auf den ersten Blick. »Kunststoff«, sagt sie. »Billig.«

Und dann gibt es die Frauen, die noch nicht aufgegeben haben, die sich noch immer gern herausputzen. Viele sind es nicht, aber sie fallen auf. Sie tragen scharlachrote Kleider, oder auch purpurrote, und wild baumelnde Ohrringe und Hüte, die an Bühnenrequisiten erinnern. Unter ihren Röcken sehen ihre Unterröcke hervor, Unterröcke in ungewöhnlichen, anzüglichen Farben. Alles, was nicht weiß ist, ist anzüglich. Ihr Haar ist strohblond oder babyblau gefärbt oder, was neben ihrer zerknitterten Haut noch verblüffender wirkt, glänzend schwarz wie alte Pelzmäntel. Ihre Lippenstiftmünder sind viel zu groß und die roten Farben fleckig, Augen zittrig rund um die richtigen Augen gezogen. Diese Frauen reden meistens mit sich selbst. Eine von ihnen summt andauernd »Lamm – Lamm« vor sich hin, wie ein Lied; und eine andere sticht mit ihrem Schirm gegen unsere Beine und sagt »nackich«.

Das sind die, die wir am liebsten mögen. Sie sehen fröhlich aus, voller Fantasie, sie scheinen sich nicht darum zu kümmern, was die andern Leute denken. Sie sind entkommen, auch wenn uns nicht klar ist, wem sie entkommen sind. Wir glauben, dass sie sich ihre irre Kleidung und die Ticks selbst ausgedacht haben und dass wir uns, wenn es mit uns mal so weit ist, auch welche auswählen können.

»Genauso werd ich mal sein«, sagt Cordelia. »Allerdings werd ich ein hechelndes Pekinesenhündchen haben und alle Kinder von meinem Rasen jagen. Ich werd einen Hirtenstab tragen.«

»Ich halt mir einen Leguan«, sage ich, »und trag nur noch Cerise.« Es ist ein Wort, das ich erst vor kurzem gelernt habe.

Heute denke ich: Und wenn sie einfach nicht sehen konnten, wie sie aussahen? Vielleicht hatten sie nur schlechte Augen. Mir geht es inzwischen nicht viel anders: zu dicht am Spiegel, und ich sehe mich verschwommen, zu weit weg, und ich kann keine Einzelheiten erkennen. Wer weiß, was für Gesichter ich schneide, wie verrückt ich mich anmale? Selbst wenn ich die richtige Entfernung habe, verändere ich mich. Es wechselt ständig; an manchen Tagen sehe ich aus wie eine abgewrackte Fünfunddreißigjährige, an anderen wie eine muntere Fünfzigerin. Das hängt sehr vom Licht ab und davon, wie man sich betrachtet.

Ich esse in rosa Restaurants, die der Haut schmeicheln. Gelbe Einrichtungen machen gelb im Gesicht. Ich verwende tatsächlich Zeit darauf, über diese Frage nachzudenken. Eitelkeit wird zu einer Plage; ich kann verstehen, warum die Frauen sie am Ende aufgeben. Aber so weit bin ich noch nicht.

In letzter Zeit ertappe ich mich des Öfteren dabei, wie ich laut vor mich hin summe oder auf der Straße mit leicht geöffnetem Mund etwas sabbere. Nur ein bisschen; aber vielleicht ist das die Kante des Meißels, der Riss in der Wand, der sich später weitet und den Blick freigibt – auf was? Welche Ausblicke leuchtender Exzentrizität oder des Wahnsinns?

Es gibt niemanden, dem ich je davon erzählen würde, außer Cordelia. Aber welcher Cordelia? Der Cordelia, die ich heraufbeschworen habe, der mit den umgekrempelten Stiefeln und dem aufgestellten Kragen, oder der davor oder der danach? Es gibt niemals nur eine, von niemandem.

Wenn ich Cordelia noch einmal begegnete, was würde ich ihr dann von mir erzählen? Die Wahrheit oder was mich gut aussehen lassen würde?

Wahrscheinlich Letzteres. Ich brauche das noch immer.

Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Ich habe nicht erwartet, sie zu sehen. Aber jetzt, seit ich wieder hier bin, kann ich kaum durch eine Straße gehen, ohne einen Blick von ihr zu erhaschen, wie sie um eine Ecke geht, durch eine Tür verschwindet. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass diese Teile von ihr – eine Schulter, beige, Kamelhaar, ein Profil, eine Wade – Frauen gehören, die im Ganzen gesehen nicht Cordelia sind.

Ich habe keine Ahnung, wie sie jetzt wohl aussehen mag. Ist sie dick, hat sie Hängebrüste, hat sie kleine graue Haare in den Mundwinkeln? Wohl kaum: Die würde sie sich auszupfen. Trägt sie eine Brille mit modischem Gestell, hat sie sich die Augenlider liften lassen, hat sie Strähnen oder getöntes Haar? Alles ist möglich: Wir haben beide das Grenzalter erreicht, diese Pufferzone, die es einem noch erlaubt, sich vorzumachen, dass solche Tricks funktionieren, solange man grelles Sonnenlicht meidet.

Ich denke an Cordelia, wie sie die immer größer werdenden Säcke unter ihren Augen betrachtet, die Haut, ganz aus der Nähe, schlaff und runzlig wie Ellbogen. Sie seufzt, legt Salbe auf, die richtige natürlich, massiert sie mit klopfenden Fingerspitzen ein. Cordelia würde genau wissen, welche die richtige ist. Sie nimmt ihre Hände in Augenschein, die schon ein bisschen runzlig werden, ein bisschen verkrümmt, so wie meine. Alles wird knorrig, der Mund beginnt zu welken, darunter, am Hals, werden in den dunklen Glasscheiben der Unterführung die Umrisse eines Doppelkinns sichtbar. Niemand sonst bemerkt bisher etwas von diesen Dingen, außer wenn sie genau hinsehen; aber Cordelia und ich haben die Angewohnheit, genau hinzusehen.

Sie lässt das Badetuch fallen, das grün ist, ein blasses Meeresgrün, das zu ihren Augen passt, sieht über die Schulter, erspäht im Spiegel die Falten über der Taille wie an einem Hundenacken und die Gesäßbacken, die schlaff herunterhängen, und als sie sich umdreht, das vertrocknete Farnkraut der Haare. Ich stelle sie mir in einem Trainingsanzug vor, ebenfalls meeresgrün, wie sie sich in irgendeiner Turnhalle verausgabt und schwitzt wie ein Schwein. Ich weiß, was sie darüber sagen würde, über all das. Wie wir damals gekichert haben, entzückt und voller Abscheu, als wir das Wachs entdeckten, das ihre älteren Schwestern sich auf die Beine strichen, das voller Haarborsten in einem kleinen Topf erstarrte. Die Grotesken des Körpers haben sie schon immer interessiert.

Ich stelle sie mir vor, wie ich ihr plötzlich, ohne Warnung, begegne. Vielleicht in einem abgetragenen Mantel und einer Strickmütze wie ein Teewärmer, im Rinnstein sitzend, mit zwei Plastiktüten, in denen sie ihre paar Habseligkeiten aufbewahrt, leise vor sich hin murmelnd. Cordelia! Erkennst du mich nicht?, sage ich. Und sie erkennt mich, tut aber so, als täte sie es nicht. Sie steht auf und schlurft auf geschwollenen Füßen davon, in den alten Socken, die sich durch die Löcher in ihren Gummistiefeln drücken, wirft mir einen Blick über die Schulter zu.

Das ist irgendwie befriedigend, schlimmere Dinge noch mehr. Ich beobachte von einem Fenster oder, um besser sehen zu können, einem Balkon aus, wie Cordelia auf dem Bürgersteig unter mir von einem Mann verfolgt wird, wie er sie einholt, ihr einen Rippenstoß versetzt – ich bringe es nicht fertig, ihr ins Gesicht schlagen zu lassen –, sie zu Boden wirft. Aber weiter schaffe ich es nicht.

Besser, ich verlege das Ganze in ein Sauerstoffzelt. Cordelia ist bewusstlos. Ich werde zu spät an ihr Krankenbett gerufen. Es stehen Blumen da, mit einem widerwärtigen Geruch, in einer Vase verwelkend, in Arme und Nase führen Schläuche, das Geräusch letzter Atemzüge. Ich halte ihre Hand. Ihr Gesicht ist aufgedunsen, weiß, wie ungebackener Plätzchenteig, mit gelblichen Kreisen um die geschlossenen Augen. Ihre Augenlider flackern nicht, aber ihre Finger zucken ganz leicht, oder bilde ich mir das nur ein? Ich sitze da und überlege, ob ich die Schläuche aus ihren Armen, den Stecker aus der Wand ziehen soll. Keine Gehirntätigkeit mehr, sagen die Ärzte. Weine ich? Und wer hätte mich wohl hierherholen sollen?

Noch besser: eine eiserne Lunge. Ich habe noch nie eine gesehen, aber in den Zeitungen waren Bilder von Kindern in eisernen Lungen, damals, als die Leute noch Kinderlähmung bekamen. Diese Bilder – die eiserne Lunge ein Zylinder, eine riesige Wurstrolle aus Metall, aus deren einem Ende ein Kopf herausguckte, immer der Kopf eines Mädchens, dessen Haare über das Kissen flössen, mit großen nächtlichen Augen – faszinierten mich, mehr als die Geschichten von Kindern, die über dünnes Eis liefen und einbrachen und ertranken, oder von Kindern, die auf Eisenbahnschienen spielten und denen die Züge Arme und Beine abtrennten. Man konnte Kinderlähmung bekommen, ohne zu wissen, wie oder wo, und in einer eisernen Lunge landen, ohne zu wissen, warum. Irgendetwas, das man einatmete oder runterschluckte oder das man sich von dem schmutzigen Geld, das andere Leute angefasst hatten, holte. Das konnte man nie wissen.

Man benutzte die eisernen Lungen dazu, uns zu erschrecken, und nannte sie als Grund dafür, warum wir Dinge, die wir gern getan hätten, nicht tun konnten. Nicht in öffentlichen Badeanstalten schwimmen, nicht mit vielen Menschen im Sommer zusammensein. Willst du etwa den Rest deines Lebens in einer eisernen Lunge verbringen?, sagten sie. Eine dumme Frage; obgleich mir ein solches Dasein, mit seiner Trägheit und seinem Mitleid, insgeheim auch verlockend vorkam.

Cordelia in einer eisernen Lunge also, beatmet wie man ein Akkordeon spielt. Um sie herum ein mechanisches ächzendes Geräusch. Sie ist bei vollem Bewusstsein, aber unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Ich komme in das Zimmer, bewege mich, spreche. Wir sehen uns an.

Irgendwo musste Cordelia doch sein. Vielleicht lebte sie keine Meile von mir entfernt, vielleicht nur einen Häuserblock entfernt. Allerdings habe ich keine Ahnung, was ich tun würde, wenn sie plötzlich vor mir stünde, zum Beispiel in der U-Bahn, wenn sie mir gegenübersäße oder auf dem Bahnsteig wartete und sich die Werbeplakate ansähe. Wir würden beide dastehen, nebeneinander, und einen großen roten Mund anstarren, der sich um ein Stückchen Schokolade schließt, und ich würde mich zu ihr wenden und sagen: Cordelia. Ich bin’s, Elaine. Würde sie sich umwenden, einen theatralischen Schrei ausstoßen? Würde sie mich ignorieren?

Oder würde ich sie ignorieren, wenn ich dazu Gelegenheit hätte? Oder würde ich wortlos zu ihr gehen, sie in die Arme schließen? Oder sie an den Schultern packen und sie schütteln und schütteln.

Ich muss stundenlang herumgelaufen sein, den Hang hinunter bis in die Innenstadt, wo jetzt keine Straßenbahnen mehr fahren. Es ist Abend, graue Tuschfarben, die die Stadt im Herbst anlegt, wie flüssiger Staub. Das Wetter jedenfalls ist noch wie früher.

Jetzt bin ich an der Stelle angekommen, an der wir immer aus der Straßenbahn gestiegen sind, in die Schneematschhaufen, die im Januar am Bordstein lagen, in den ächzenden Wind, der zwischen den heruntergekommenen Gebäuden mit den flachen Dächern, für uns noch die Verkörperung von Urbanität, vom See hereinwehte. Aber dieser Teil der Stadt ist jetzt nicht mehr flach, heruntergekommen, schäbig-vornehm. An den restaurierten Ziegelsteinfassaden leuchten Neonröhren in Kursivschrift, und es gibt eine ganze Menge Messingbeschläge, eine ganze Menge Immobilien, eine ganze Menge Geld. Dahinter ragen riesige rechteckige Türme in den Himmel, ganz aus Glas, erleuchtet, wie gewaltige Grabsteine aus kaltem Licht. Eingefrorenes Kapital.

Aber ich blicke nicht oft hinauf zu den Türmen und auch nicht auf die Menschen, die an mir vorbeikommen in ihrer modischen Aufmachung, Importe, handverarbeitetes Leder, Seide und was auch immer. Sondern ich blicke hinunter, auf den Gehsteig, wie ein Fährtensucher.

Ich spüre, wie sich meine Kehle zusammenschnürt, einen Schmerz an den Kinnbacken. Ich kaue wieder an den Fingern. Sie bluten, ein Geschmack, an den ich mich noch erinnere. Es schmeckt nach Orangeneis am Stiel, Kaugummikugeln, roter Lakritze, angeknabberten Haaren, schmutzigem Eis.

SILBERPAPIER

3

Ich liege auf dem Fußboden, auf einem Futon, der mit einem Duvet bedeckt ist. Futon, Duvet: So weit haben wir es gebracht. Ich frage mich, ob Stephen je herausgefunden hat, was Futons und Duvets sind. Wohl kaum. Wahrscheinlich hätte er einen, wenn man ihm mit Futon gekommen wäre, groß angestarrt, so als wäre er taub oder als wäre man nicht ganz richtig im Kopf. In der Futon-Dimension existierte er nicht.

Als es noch keine Futons und Duvets gab, kostete ein Hörnchen Eis fünf Cent. Jetzt kostet es einen Dollar, wenn man Glück hat, und ist noch dazu kleiner. Das ist unterm Strich der Unterschied zwischen damals und heute: 95 Cent.

Ich stehe jetzt in der Mitte meines Lebens. Ich stelle es mir wie einen Ort vor, wie die Mitte eines Flusses, die Mitte einer Brücke, halbwegs drüber weg, halbwegs vorbei. Eigentlich sollte ich inzwischen allerlei Dinge angesammelt haben: Besitztümer, Verantwortungen, Errungenschaften, Erfahrung und Weisheit. Eigentlich sollte ich ein Mensch mit Substanz sein.

Aber seit ich hierher zurückgekehrt bin, fühle ich mich nicht gewichtiger. Ich fühle mich leichter, als würde ich an Substanz verlieren, Moleküle abgeben, Kalzium von meinen Knochen, Zellen von meinem Blut; als würde ich schrumpfen, als würde ich mich mit kalter Luft füllen oder mit leise rieselndem Schnee.

Doch bei all dieser Leichtigkeit steige ich nicht etwa auf, sondern ab. Oder vielmehr werde ich nach unten gezogen, in die Schichten dieses Ortes, wie in verflüssigten Schlamm.

Tatsache ist, dass ich diese Stadt hasse. Ich hasse sie schon so lange, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann, je etwas anderes für sie empfunden zu haben.

Früher einmal war es Mode, darüber zu reden, wie langweilig es hier war. Erster Preis eine Woche in Toronto, zweiter Preis zwei Wochen in Toronto, Toronto die Gute, Toronto die Blaue, wo an den Sonntagen kein Wein zu kriegen war. Jeder, der hier lebte, sagte es: provinziell, selbstzufrieden, langweilig. Wenn man es sagte, dann war das ein Beweis dafür, dass man diese Dinge erkannte, ohne Anteil an ihnen zu haben.

Jetzt wird von einem erwartet, dass man sagt, wie sehr sie sich verändert hat. Weltstadt ist ein Ausdruck, der immer wieder, viel zu häufig, in den Zeitschriften verwendet wird. All die ethnischen Restaurants und das Theater und die Boutiquen. New York ohne den Müll und die Überfälle soll sie sein. Früher fuhren die Leute aus Toronto an den Wochenenden nach Buffalo, die Männer, um sich die Stripteaseshows anzusehen und bis in die Nacht Bier zu trinken, die Frauen, um Einkäufe zu machen; wenn sie zurückkamen, waren sie aufgeregt und missmutig und trugen mehrere Kleider übereinander, um sie durch den Zoll zu schmuggeln. Jetzt läuft der Wochenendverkehr in umgekehrter Richtung.

Ich habe keine dieser Versionen geglaubt, weder die von Langeweile noch die von Weltklasse. Für mich war Toronto niemals langweilig. Langweilig wäre nicht das richtige Wort, um solches Elend zu beschreiben, und solche Verzauberung.

Und ich kann einfach nicht glauben, dass es sich verändert hat. Als ich gestern mit dem Taxi vom Flughafen kam, an den flachen ordentlichen Fabriken und Lagerhäusern vorbei, die früher flache ordentliche Bauernhöfe gewesen waren, eine Meile der Vorsicht und Nützlichkeit nach der andern, und dann durch die Innenstadt mit dem Glitzer und den gestylten europäischen Markisen und den Pflastersteinen, konnte ich erkennen, dass alles noch genauso war wie früher. Unter all der Üppigkeit und Prahlerei ist die alte Stadt noch vorhanden, Straße für Straße aus dicken roten Backsteinhäusern, mit den Säulen davor, die wie weißliche Stiele von Blätterpilzen aussehen, und ihren wachsamen, berechnenden Fenstern. Böswillig, grollend, rachsüchtig, unversöhnlich.

In meinen Träumen von dieser Stadt verirre ich mich immer.

Neben alldem habe ich natürlich auch ein reales Leben. Manchmal kann ich kaum daran glauben, weil es mir nicht wie ein Leben erscheint, mit dem ich je davonkommen würde oder das ich je verdient hätte. Und noch etwas anderes glaube ich: dass alle in meinem Alter erwachsen sind, während ich nur so tue, als ob.

Ich wohne in einem Haus mit Vorhängen und einem Rasen davor, in British Columbia, so weit entfernt von Toronto, wie ich kommen konnte, ohne zu ertrinken. Die unwirkliche Landschaft dort ermutigt mich: die Ansichtskartenberge mit Sonnenuntergängen von der rührseligen Art, die cottageartigen Häuser, die aussehen, als hätten die sieben Zwerge sie in den Dreißigerjahren gebaut, die riesenhaften Schnecken, so viel größer, als eine Schnecke zu sein braucht. Selbst der Regen ist übertrieben, ich kann ihn nicht ernst nehmen. Ich nehme an, dass den Menschen, die dort aufgewachsen sind, diese Dinge genauso real und bedrückend vorkommen wie Toronto mir. Aber an guten Tagen ist es noch immer wie Ferien, wie Flucht. An schlechten Tagen nehme ich es nicht wahr, genauso wenig wie alles andere.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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