Kein Dach über dem Leben - Richard Brox - E-Book

Kein Dach über dem Leben E-Book

Richard Brox

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Straße ist ein gefährlicher Ort geworden für Berber, aber für Richard Brox war sie drei Jahrzehnte lang auch das Reich der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Würde. Seine Website mit Tipps und Bewertungen sozialer Anlaufstellen in vielen Städten der Republik machte ihn zum wohl bekanntesten Obdachlosen Deutschlands. Hier erzählt er seine Geschichte, die erschütternden Erlebnisse eines begabten Jungen, der es schafft, aus den Gewalterfahrungen seiner Kindheit und der Drogenkarriere seiner Jugend auszubrechen und sich freizukämpfen. Ein Lehrstück über die Schattenseiten unserer Gesellschaft und ihre soziale Verwahrlosung. «Wie viel Kraft hat dieser Mann aufwenden müssen, wie viele Abgründe erneut durchleben müssen, um diese ergreifende Biographie zustande zu bringen!» Günter Wallraff Ausgezeichnet 2020 mit dem renommierten Taiwan Openbook Award für das beste Sachbuch des Jahres. Die Gemeinde Kalletal ehrte Richard Brox durch einen Eintrag in das Goldene Buch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 337

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Richard Brox

Kein Dach über dem Leben

Biographie eines Obdachlosen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die Straße ist ein gefährlicher Ort geworden für Berber, aber für Richard Brox war sie drei Jahrzehnte lang auch das Reich der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Würde. Seine Website mit Tipps und Bewertungen sozialer Anlaufstellen in vielen Städten der Republik machte ihn zum wohl bekanntesten Obdachlosen Deutschlands. Hier erzählt er seine Geschichte, die erschütternden Erlebnisse eines begabten Jungen, der es schafft, aus den Gewalterfahrungen seiner Kindheit und der Drogenkarriere seiner Jugend auszubrechen und sich freizukämpfen. Ein Lehrstück über die Schattenseiten unserer Gesellschaft und ihre soziale Verwahrlosung.

 

«Wie viel Kraft hat dieser Mann aufwenden müssen, wie viele Abgründe erneut durchleben müssen, um diese ergreifende Biographie zustande zu bringen!» Günter Wallraff

Über Richard Brox

Richard Brox wurde 1964 in Mannheim geboren. Er kam früh, mit fünf, in das erste Heim und durchlief danach eine «Heimkarriere», flüchtete vor sexuellen Übergriffen, verweigerte die Schule, galt als schwererziehbar. Nach einem Drogenentzug Mitte der 80er Jahre verbrachte er 30 Jahre auf der Straße. Derzeit lebt er in Köln.

Dirk Kästel ist Journalist sowie Gründer und Vorstandsvorsitzender des Vereins kunst hilft geben für Arme und Wohnungslose in Köln e.V.

Albrecht Kieser gehörte lange zum Kollektiv des Rheinischen Journalistenbüros und arbeitet heute als freiberuflicher Autor hauptsächlich für den Hörfunk. Er lebt in Köln.

«Nicht mit Brandsätzen und Brandanschlägen beginnt der Hass gegen Minderheiten zu keimen, sondern mit diskriminierendem Gerede, dem nicht der energische Widerspruch entgegengesetzt wird.»

Rita Süssmuth

Für Ralph Scheuermann

 

*1.6.1957; †30.6.2017

 

Weggefährte in obdachlosen Zeiten, mit dem ich

die Schmerzen seiner Einsamkeit geteilt habe.

Vorwort von Günter Wallraff

Überleben

Ich habe erst das Werk von Richard Brox kennengelernt, dann den Menschen. Sein Werk, das war der Überlebens-Ratgeber für Obdachlose, den er im Internet aufgebaut hat. Ich war auf der Suche nach einem Insider, denn ich wollte an den Beginn meiner unerwünschten Reportagen anknüpfen und nach fast einem halben Jahrhundert erneut über Menschen berichten, die sich ohne Dach über dem Kopf durchs Leben schlagen.

So stieß ich auf eine Website, www.ohne-wohnung-was-nun.de[*], und war beeindruckt von diesem Hotelführer und Ratgeber für Menschen auf der Straße: Da wurden präzise, differenziert und nachvollziehbar Vorzüge und Nachteile einer großen Zahl von Obdachloseneinrichtungen beschrieben. Jede einzelne musste der Verfasser besucht haben, von Vorurteilen ließ er sich offensichtlich nicht leiten, vorschnelle Verallgemeinerungen waren nicht sein Ding. Denn wenn er zum Beispiel einem bundesweit agierenden Sozialverband vorwarf, seine Unterkunft an dem einen Ort sei verkommen und versifft, konnte er derselben Institution durchaus bescheinigen, an einem anderen Ort führe sie ihr Haus ganz anständig. Außerdem schien der Mensch hinter dieser Internetseite Einfluss zu haben, er wurde ernst genommen, seine Kritik veranlasste schon damals manchen Betreiber zu Korrekturen.

Als wir uns im Dezember 2008 in Köln verabredeten, lernte ich den Menschen hinter dem Werk kennen. Seitdem sind wir in Kontakt; phasenweise war er sehr eng und intensiv, dann wurde er wieder lose, und dies Hin und Her dauert bis heute an.

Ich habe viel von Richard Brox gelernt. Nicht nur über Schach, weil er der weit bessere Schachspieler ist, jemand, der an Fernschachturnieren teilnimmt. Nur ein Spiel habe ich gegen ihn gewonnen, und das hoffentlich nicht aus Freundlichkeit, damit ich überhaupt noch weiter mit ihm spielte. Er hat mir auch viele neue Erkenntnisse über das Leben der Menschen ohne eigene vier Wände vermittelt. Damit meine ich nicht nur konkrete Hinweise, Adressen und Schilderungen von Einrichtungen, die mir bei den Recherchen zu meiner Reportage «Unter Null» sehr geholfen haben. Ich meine auch tiefere Einsichten in die Lebens- und Leidensumstände, denen Menschen ohne Obdach unterworfen sind.

Richard Brox, ein hochintelligenter Mann, dem die Straße, die ihn über Jahrzehnte gezeichnet hat, diese Klugheit nicht nehmen konnte, hat sich mir nicht vom einen auf den anderen Tag anvertraut. Warum auch? Es herrscht Vorsicht, ja Misstrauen unter denen, die Platte machen, weit mehr als unter denen, die in Arbeit sind und in Wohnhäusern leben. Wenn die anderen zu viel über dich wissen, kann sich so etwas womöglich irgendwann gegen dich kehren. Also schützt du dich besser mit phantasievollen Geschichten, umgibst dich mit Fabeln und Märchen, die höchstens einen Zipfel deiner Wirklichkeit sehen lassen. Spannend müssen sie sein und sie sollen spontanes Mitgefühl auslösen. Daraus folgen nämlich bei Menschen, die halbwegs empathisch reagieren, Zuwendungen, emotionale und pekuniäre. Darauf sind Obdachlose angewiesen. Richard Brox berichtet in seinem Buch von diesen Zusammenhängen, von seinen eigenen Legenden und wie er sich von ihnen befreit hat.

Ich habe von Richard Brox außerdem gelernt: Der Weg zur eigenen biographischen Wahrheit ist für viele Berber (und natürlich nicht nur für sie) schwer und langwierig. Menschen, die aus der Enge der Häuser auf die Straße geflohen sind, haben für ihre Flucht triftige Gründe. Und sich ihnen zu stellen, ist häufig kaum zu ertragen. Das ist ein weiterer Grund, warum die eigene Lebensgeschichte mit allerlei Legenden zugedeckt wird: nicht nur, um sich vor den Blicken der anderen zu schützen, sondern auch vor der eigenen Angst.

Die wirkliche Lebensgeschichte, die Richard Brox in diesem Buch offenbart, ist ungleich dramatischer als jene, die er mir erzählt hat, als wir uns schon eine Zeitlang kannten. Wie viel Kraft hat dieser Mann aufwenden müssen, wie viele Abgründe und Entsetzlichkeiten erneut durchleben müssen, um diese ergreifende Biographie zustande zu bringen! Von den Grausamkeiten lesen wir, die die Eltern in der Nazi-Zeit durchleiden mussten und die sich in der nächsten, in Richards Generation festkrallten, von der staatlich gebilligten oder zumindest nicht unterbundenen Gewalt, die bis in die 1990er Jahre den Alltag von Kindern in Heimen und Verwahranstalten prägte. Und von der großen Not der Straße.

Ich habe in meiner Rolle als Obdachloser für meine Reportage «Unter Null»[*] viele Menschen auf der Straße kennengelernt, die von ähnlich dramatischen Gewalterfahrungen oder Lebensbrüchen gezeichnet waren wie Richard Brox.

Menschen aus allen Schichten und von jedweder Bildung und aus allen Berufsständen. Es waren familiäre Dramen wie Krankheit, Scheidungen, berufliche Abstürze oder der Tod des geliebten Partners, die diese Menschen auf die Straße geworfen haben.

Dazu einige Zahlen: Nach letzten Schätzungen – eine amtliche Statistik gibt es nicht (!) – haben immer mehr Menschen in Deutschland keine eigene Wohnung. Von 2012 bis 2014 ist ihre Zahl um 18 Prozent auf 335000 Menschen gestiegen. Jeder Zehnte von ihnen macht Platte, lebt also auf der Straße, das sind 50 Prozent mehr als 2012; die anderen kommen bei Freunden und Verwandten oder in Notunterkünften unter. Bis 2018 wird ihre Zahl vermutlich um noch einmal um 60 Prozent steigen. Mehr als eine halbe Million Menschen werden dann über keine eigene Wohnung verfügen, 60000 Obdachlose werden dann auf der Straße leben. Die meisten von ihnen sind Männer, aber die Zahl der Frauen und Kinder steigt stetig an. Ein gesellschaftlicher Skandal ersten Ranges.

Dass ich für meine Reportage «Unter Null» das Leben mit Menschen auf der Straße und in den Nachtasylen geteilt habe, wurde übrigens von manchen kritisiert. Das sei anmaßend, für mich ein Spiel auf Zeit gewesen. Ob als verkleideter Obdachloser oder als Schwarzer: ich könne das Schicksal der Betroffenen nicht wirklich teilen.

Sicherlich, ich bleibe auch als Obdachloser oder Schwarzer, als Fließbandarbeiter oder Psychiatriepatient der, der ich bin – und doch verändere ich mich, weil ich mich mit Leib und Seele einer anderen Realität aussetze. Wenn ich lange genug eine andere Identität annehme, träume ich sogar in ihr: als Schwarzer, als Obdachloser, als Türke Ali. Ich habe die Erfahrungen aus meinen anderen Identitäten mitgenommen, wenn ich wieder zu mir selbst und in gesichertere Gefilde zurückkehrte.

Ich hätte sonst Richard Brox nicht wirklich kennengelernt. Die gemeinsam durchgestandenen Nächte in Asylheimen haben ein weitaus tieferes Verständnis für einander ermöglicht, als es Interviews oder noch so ausführliche Befragungen jemals könnten. Auch wenn ich mit ihm nicht alle Erfahrungen geteilt habe: Auf der Straße bei fünfzehn Grad unter Null zu nächtigen, als türkischer Arbeiter ohne Schutzmaske Giftstäube zu entsorgen oder als Schwarzer in einen Zug voller alkoholisierter Hooligans zu steigen – so etwas kann ich anderen nicht zumuten. Da gehe ich mein ganz persönliches Risiko ein – auch das gehört zu meinem Berufsverständnis.

Ich habe mich durch meine leibhaftigen Erfahrungen, allein und an der Seite von Richard Brox, von Klischees gelöst, die auch ich über die Abgerissenen hatte. Als Zugehöriger, der ich wenigstens eine Zeitlang war, habe ich sie persönlicher, und das heißt mitfühlender kennengelernt; deshalb gebe ich heute auch den jungen Leuten, die mit ihren Hunden auf dem Gehweg lagern – nicht zuletzt, weil in den meisten Nachtasylen Hunde verboten sind –, aus Überzeugung immer wieder etwas Geld.

Die Langzeitfolgen des Lebens auf der Straße – die ständige Flucht vor der bedrohlichen Vergangenheit, die Unfähigkeit zu dauerhaften Bindungen – kann wohl niemand ohne weiteres überwinden, der viele Jahre Platte gemacht hat. Ich kenne das auch von Richard Brox: das Gefühl stetigen Scheiterns, den Hang, Kritik als Attacke misszuverstehen, die wütend verzweifelten Schuldzuweisungen, dazwischen eine Hilfsbereitschaft bis zur Selbstverleugnung. Es ist ungeheuer schwer, die eigene Seele im eigenen Körper wieder sesshaft zu machen und in ihr das Selbstvertrauen zu verankern, das Menschen wie Richard Brox abhandenkam, weil es ihnen in ihrer Kindheit und Jugend aus dem Leib geprügelt wurde.

Ich wünsche Richard Brox diese Sesshaftigkeit. Ich wünsche ihm eine berufliche Zukunft, in der er auf eigenen Beinen steht, zum Beispiel als Streetworker, der seinen Leuten einen Weg zu sich selbst zeigt und der sich gegen das allmähliche Sterben auf der Straße stemmt.

Und ich wünsche seiner Autobiographie viele Leserinnen und Leser.

I

Ausgesetzt

In den Straßen von Mannheim

Ich bekam noch eine Galgenfrist. Eine Viertelstunde wird es gewesen sein, die sie mir gewährten. Dann musste ich endgültig raus. 21 Jahre war ich alt. Vor vier Monaten, im Dezember 1985, war meine Mutter meinem Vater gefolgt, wenn auch erst acht Jahre später. Nun waren beide tot. In diesen vier Monaten hatten die Behörden mir die elterliche Wohnung noch gelassen. Das sei eine «rechtlich nicht bindende» Schonfrist, machten sie mir mehr als einmal klar. Die Wohnung sei nicht angemessen für einen «Alleinstehenden». Zwei und ein halbes Zimmer – so viel stehe mir als Sozialhilfeempfänger nicht zu.

Nicht dass ich diese zweieinhalb Zimmer ständig genutzt hätte. Ich war schon seit dem Tod meines Vaters 1977, 51 Jahre alt war er nur geworden, ein Flüchtender. Ich war damals 13 und trieb mich herum, streunte durch Heime, über Straßen und schlief, wo ich mich zusammenrollen konnte. Dennoch: Das Elternhaus, das nur eine Wohnung in einem Mietshaus war, blieb meine Zuflucht, wenn ich nicht mehr weiterwusste oder wollte. Oder wenn mich die Sehnsucht zu meiner Mutter trieb.

An diesem Morgen im April 1986 kam um sieben Uhr die Polizei. Gemeinsam mit dem Gerichtsvollzieher und einem Räumkommando aus drei Muskelpaketen standen zwei Beamte in Uniform vor meiner Wohnungstür. Sie klingelten Sturm. Irgendwann merkte ich, dass sie mich meinten, kam schlaftrunken auf die Beine und öffnete. Das war nicht meine Zeit. Ich lebte in den Nächten, verquirlte wache und weggeträumte Stunden mit Hilfe von Alkohol und Kokain zu einer dicken Soße. Ich war nicht immer bei Sinnen, auch wenn ich bei Bewusstsein war. Was wollten diese Leute vor mir? Was war das für ein Wisch, den sie mir vor die Nase hielten? Warum drängten sie mich zur Seite? Sahen sich um wie die Habichte, die auf Beute niederstoßen wollten?

Was taten jetzt diese beiden Männer, die sich am Klavier meiner Mutter zu schaffen machten? Das waren Irre! Diebe! Leichenfledderer! Sie packten ihr Klavier an! Meine Mutter war doch gerade erst tot! Ihr Klavier! An dem sie gesessen, gespielt und gesungen hatte! Da hatte ich sie doch gerade noch sitzen sehen. Und ich hatte ihr zugehört. Wie sie spielen konnte! Wie sie singen konnte! Ich lehnte an der Wand des Wohnzimmers, noch immer im Schlafanzug und in einer Art Schockstarre.

Zwei Männer hatten Gurte umgelegt, sie stemmten mit ihnen das Klavier hoch und schlurften schwer atmend mit ihrer Last nach draußen. Ein dritter schnappte sich zwei Stühle, klemmte die Lehnen aneinander und stellte zwei weitere, Lehne an Lehne, daneben. Dann trug er alle vier weg, zwei rechts, zwei links. Alle Stühle, die wir hatten!

Offensichtlich wurde vor meinen Augen die Wohnung meiner Eltern leer geräumt. Das begriff ich allmählich, obwohl ich immer noch reglos an der Wand lehnte. Ich sah es und kroch immer mehr in mich hinein, je mehr hinausgetragen wurde. Da! Die Trompete meines Vaters! Ein heiliger Gegenstand. Sein Akkordeon! Ich registrierte es hinter einem Schleier aus Angst und Schrecken. Das Sofa! Mein Sofa, auf dem ich oft als Kind geschlafen hatte, wenn meine Mutter und mein Vater mich nicht in ihrem Bett haben wollten. Ein eigenes Bett hatte ich keines.

Die Möbel würden in ein Lager gebracht. So viel hatte ich mittlerweile verstanden, der Gerichtsvollzieher hatte es mir wohl mehrfach gesagt. Wo und wie lange sie dort aufbewahrt werden würden, wurde mir nicht mitgeteilt. Vielleicht registrierte ich den Hinweis auch nicht. Genauso wenig, wie ich registriert hatte, dass der Besuch des Gerichtsvollziehers angemeldet war. Am 1. April, an diesem klassischen Scherzkekstag, sollte ich allen Ernstes rausfliegen aus meiner Wohnung.

Ich hatte mich inzwischen angezogen, wie in Trance, vielleicht war mir kalt geworden, ich weiß es nicht mehr. Ich lehnte wieder an der Wand, irgendwer fragte, ob das meine Sachen seien, da in dem Schrank. Es sah nach jugendlichen Klamotten aus, ja, dann mussten es wohl meine Sachen sein. Und im Bad das Zeugs, ob das auch mir gehören würde? Ich solle jetzt mal endlich in die Pötte kommen und einpacken, was ich mitnehmen wollte. «In einer Viertelstunde ist hier Schicht», mahnte der Gerichtsvollzieher, der die ganze Prozedur mit verschränkten Armen beobachtete. Die zwei Polizisten waren schon nicht mehr anwesend; offensichtlich hatten sie wohl befürchtet, ich könnte womöglich ausklinken, gewalttätig werden, mich auf die Möbelpacker stürzen und ihnen den letzten Teppich oder den letzten Kochtopf entreißen. Ich tat tatsächlich nichts dergleichen, ich folgte der Aufforderung und präparierte zwei Plastiktüten. Ja, ich präparierte sie, ich steckte zwei Tüten ineinander. Sie sollten nicht reißen, ich würde sie vollstopfen, um wenigstens das Wenige zu retten, was hineinpasste. Und hineindurfte. Denn der Gerichtsvollzieher beobachtete sehr genau, was ich mitnehmen wollte. Den Schmuck meiner Mutter zum Beispiel konfiszierte er, denn die Räumung war zugleich eine Pfändung. Dass ich die Eheringe meiner toten Eltern mitnehmen durfte, nannte er ein großherziges Entgegenkommen.

Ein paar Schuhe, einmal Klamotten zum Wechseln, Zahnbürste, Rasierzeug und ein Handtuch aus dem Bad: Das füllte eine Tüte. In die andere verfrachtete ich zwei Fotoalben, irgendwelche Dokumente, meine Geburtsurkunde, die in Papier eingewickelten Eheringe, einen Armreif meiner Mutter, eine billige Uhr meines Vaters, die teure wurde einbehalten. Nicht mal meine Schlagzeugstöcke und meinen Walkman ließ der gestrenge Gerichtsvollzieher mir. 20 Mark Handgeld durfte ich behalten, der Rest meines Barvermögens verschwand in der Aktenmappe des Beamten, als Taschenpfändung.

Die Wohnung war mittlerweile leer geräumt. Die Schritte der Männer hallten von den Wänden wider, die Stimmen klangen hohl. Den Boden kehrte niemand. Die Zimmer mussten nicht besenrein übergeben werden. Sie mussten nur leer sein. Ich stand noch drin, als einzig erwähnenswerter Rest. Der Gerichtsvollzieher schob mich sanft hinaus. Draußen ließ das Räumkommando den Lkw-Motor an. Er hustete eine schwarze Wolke. Deine Tüten, sagte der Gerichtsvollzieher. Was? Ah ja, meine Tüten. Ich schnappte sie mir. Die Schlüssel, sagte der Gerichtsvollzieher. Ich gab ihm meinen Wohnungsschlüssel und meinen Haustürschlüssel. Der Amtsgewaltige schloss die Tür zu meinem Elternhaus, zu meiner Elternwohnung, zweimal um und verstaute den Schlüssel in seiner Aktentasche. Tschüss, mach’s gut, sagte er. Wie ein Kumpel sagte er das. Ich konnte ihm nicht folgen. Ich schüttelte den Kopf, er schob mich noch einmal sanft zur Treppe. Unten stieg er in sein Auto.

Ich war ohne Obdach.

Ein Blick zurück auf mein elterliches Haus. Ein graues hässliches Haus in einem hässlichen Stadtteil von Mannheim. Davon hat diese Arbeiterstadt an Rhein und Neckar mehr als genug. Der Lkw und das Auto mit dem Beamten waren weg. Ich war stocknüchtern und fror trotz des milden Frühlingsmorgens. Die Uhr zeigte elf, allzu lange hatte das Leerräumen nicht gedauert. Allmählich geriet ich in Panik, dazu gesellte sich Wut. Der Boden war mir unter den Füßen weggezogen worden. Ich stand draußen, mir wehte eine sehr windige Sorte Freiheit um die Nase, die ich bis dahin, auf meinen vielen Wegen in offenes Gelände, unter freiem Himmel noch nicht geschmeckt hatte. Bitter lag sie mir auf der Zunge.

Der Sachbearbeiter auf dem Sozialamt hatte mir schon seit Anfang des Jahres in den Ohren gelegen, dass ich mir etwas anderes suchen sollte. Eine kleinere Wohnung, noch billiger. Ich wollte nicht. Und so recht konnte ich auch nicht mit meinem viel zu häufig zugedröhnten Kopf. Dass ich es nicht einmal gemusst hätte, erfuhr ich leider viel zu spät. Viele Jahre später, viele Jahre klüger. Es war eine Willkürentscheidung, mit der mich der Sachbearbeiter aus der Wohnung warf. Es hätte in seinen Entscheidungsspielraum gepasst, wenn er mich dort gelassen hätte. Spielraum, was für ein Wort, wo es um ein Dach über dem Kopf geht. Und das Dach über meiner elterlichen Wohnung war mehr, es war bis dahin das Dach über meinem Leben gewesen. «Your last shelter», hätte mein Vater wohl gesagt. Wir sprachen manchmal Englisch miteinander.

Dass ich in dieser Stunde in einen dreißigjährigen Krieg gestoßen wurde, einen ums Überleben auf der Straße, war mir nicht klar. «Dreißigjähriger Krieg» – war das eine Metapher für mein kommendes Leben? Vielleicht nicht in diesem Moment, aber am nächsten Morgen. Da fing er an, dieser Krieg, der vielleicht auch nach 30 Jahren noch nicht zu Ende ist.

Weniger ist mehr?

Wie betäubt lief ich mit meinen beiden Tüten, in denen nun meine wichtigsten und letzten Habseligkeiten steckten, planlos durch irgendwelche Straßen. Kein Sofa, zu dem ich in der Not zurückkehren konnte, kein Klavier, keine Trompete, kein Zimmer, keine Küche, kein Bad, kein fließendes Wasser, kein Klo. Keine Musikanlage. Keine Musikanlage! Keine CB-Funkgeräte! Und kein einziges Buch. Ich konnte nämlich durchaus lesen, auch wenn ich zusammengenommen wohl nur vier Jahre die Schule besucht hatte. Ja, ich las sogar gerne. Wenn ich klar denken konnte und wenn mir danach war. Ich war ja nicht blöd.

Ich kannte Mannheim wie meine Westentasche, natürlich auch die schachbrettartige, für Fremde verwirrende Straßeneinteilung im Zentrum, wusste aber nicht, wo ich entlanglief. Meine beiden Plastiktüten fest umklammert. Gegessen habe ich nichts, getrunken habe ich auch nichts, nur umhergelaufen bin ich. Irgendwann abends landete ich auf Planquadrat U5, einer Anlaufstelle für Obdachlose. Der Typ war nicht unfreundlich, fragte nicht viel, ich auch nicht, ich zeigte nur auf meine beiden Plastiktüten und murmelte etwas von Zwangsräumung und dass ich jetzt kein Bett und nichts mehr hätte. Mannheim hatte für solche Fälle eine Übernachtungsstelle, eben die im Planquadrat U5. Für mich und meine zwei Plastiktüten. Und noch einige Obdachlose mehr mit ihren Tüten oder sonst welchen Behältnissen für sonst welche Habseligkeiten.

Ich bekam etwas zu essen, Abendbrot in der Kantine, und etwas zu trinken, Früchtetee. Ich hatte keinen Alkohol dabei, nicht mal daran hatte ich gedacht, als ich durch die Stadt geirrt war. Nach dem Essen steckte man mich in einen der Schlafräume, mich und weitere 19 Männer. Mir schien, jeder von uns hatte nicht einmal einen Quadratmeter Platz, auf dem er sich drehen und wenden konnte, ohne jemand anderen anzustoßen.

Zehn Doppelstockbetten standen im Raum. Gestank stand auch im Raum, er legte sich auf den Geschmack des Wurstbrots, den ich noch im Mund hatte. Die Krakeelerei der anderen, das Geschimpfe und Schnarchen schmerzten mir in den Ohren. Erschöpft fiel ich aufs Bett, ich hatte eines der unteren ergattert. Ans Fußende meines Bettes stellte ich die beiden Tüten. Ich sprach mit niemandem, ich wollte niemandem zuhören, ich überhörte das Gekeife, die Brüller, das Gejammere. Irgendwann schlief ich ein.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, standen die Plastiktüten nicht mehr an ihrer Stelle. Ich sprang aus dem Bett, in das ich mich in voller Montur gelegt hatte, aus Ekel vor der Matratze, vor dem Laken, vor der Bettdecke. Die Tüten standen auch nirgendwo anders. Sie waren weg. Ich schrie zwei oder drei der Männer an, die noch im Raum waren, erntete Schulterzucken und ein Grinsen. Einer murmelte, dass man so doof ja wohl nicht sein könne, das sei hier doch kein Tütenaufbewahrungslager. Ich kroch unter jedes der zehn Etagenbetten, schlug Decken auf, warf Kopfkissen zur Seite und auf den Boden. Nichts. Ein kaltes Kribbeln stieg mir von den Beinen nach oben bis zur Brust, bis ins Gesicht. In den Tüten war alles, was mir außer der Bekleidung am Leibe noch geblieben war. Erinnerung findet im Kopf statt. Aber geht Erinnerung ganz ohne Gegenstände? Ich war kein Buddha, ich war 21 Jahre und drogenabhängig. Ich hatte, so war es mir vorgekommen, als ich am Vortag mein Zuhause verlassen musste, meine wichtigsten Erinnerungen mitgenommen, eingefangen in ein bisschen billigem Schmuck und ein paar Gegenständen, die meinen Eltern oder mir selber gehört hatten, in den wenigen Fotos meiner Familie, meiner Kindheit. Jetzt war nichts mehr da.

Ich stolperte heraus aus dem nach Pennernacht stinkenden Schlafraum zum Schließer der Notunterkunft, der in seiner Kabine hockte und auf das Ende seiner Schicht wartete. Ich habe nicht geweint, ich habe nicht einmal gejammert, so viel Selbstachtung besaß ich noch. Allerdings fehlte nicht viel, und mir wäre die Wut herausgeplatzt aus meiner Haut, als ich ihn fragte, ob jemand mit meinen Tüten an ihm vorbeigekommen wäre. Er schaute mich an wie ein Kleinkind, das von ihm wissen wollte, ob der Mond hier gerade als gelber Käse vorbeigerollt wäre. Hier sind zwei Dutzend Tüten vorbeigekommen, jeder hat welche, meinte er kopfschüttelnd, was glaubst du denn? Dann erklärte er mir, ich sei selbst schuld, ich hätte einfach besser aufpassen müssen.

Da drehte ich durch. Ich schrie, ich trat gegen seine Tür, er solle rauskommen, ich würde ihn fertigmachen, warum er mich nicht gewarnt hätte. Du Sau, ich schlag dir den Schädel ein, habe ich geschrien. Er hütete sich, aus seinem Kabuff zu kommen, ich war groß, ich war stark, und ich wollte an irgendjemandem meine Wut auslassen. Er wäre verrückt gewesen, hätte er sich dafür hergegeben. Er blieb, wo er war, und erteilte mir Hausverbot.

Als ich weiter tobte, meinte er hinter seiner Scheibe, ich könne ja bleiben. Aber dann würde die Polizei das übernehmen. So stand ich am ersten Tag nach der Zwangsräumung ohne alles, nur mit dem, was ich am Leibe trug, und mit 20 Mark um kurz nach sechs Uhr früh im Freien. Draußen rauschte der Verkehr, und die Freiheit rauschte in meinem Kopf. Frei von der Wohnung, frei von allen Dingen, die ich vor einem Tag noch mein Eigentum hatte nennen können. Ganz frei.

Ich brauchte Stunden – oder waren es Tage? –, bis ich den Gerichtsvollzieher anrief, in der vagen Hoffnung, er würde mir helfen. Ich hörte seiner Stimme an, wie er die Augen verdrehte. Als ob ich die unter Verschluss gehaltenen Reichtümer meiner Eltern plündern wollte. Er verwies mich auf die Polizei, die sei bekanntlich in solchen Fällen zuständig. An mein ehemaliges Hab und Gut ließ er mich nicht heran.

Die Polizei gehörte in meinem bisherigen Leben nicht zu meinen bevorzugten Anlaufstellen. Sie hatte mich eingefangen, wenn ich ausgerissen war, angehalten, wenn ich alkoholisiert oder drogenbenebelt durch die Gegend gewankt war, nicht unbedingt freundlich kontrolliert, weil ich meist unangenehm aufgefallen war. Ich ging trotzdem zur Innenstadtwache. Sie lag an der Kreuzung G4/H3, in einem von den nach dem Zweiten Weltkrieg lieblos wieder hochgezogenen vierstöckigen Bauten des Mannheimer Zentrums.

Ich stand vor dem Tresen, hinter dem der Uniformierte mir recht unbeteiligt zuhörte. Es sei bekannt, dass in Notunterkünften geklaut würde. Da könne man nichts machen. Diese Weisheit offenbarte er ohne jede innere Regung, ein routinierter Mann, wohl doppelt so alt wie ich und von zwei geklauten Tüten sicherlich nicht zu erschüttern. Ich stierte ihn an. Was noch, wollte er wissen, ob mir diese Auskunft nicht ausreiche. Ich nickte. Ich wollte eine Anzeige erstatten. Das sei verlorene Liebesmüh. Unnötiger Schreibkram. Er sprach als Autoritätsperson. Nicht dass er es ausdrücklich sagte, aber mir war klar, er wollte keine Anzeige gegen Unbekannt aufnehmen. Er hatte bestimmt recht. Es waren ja auch nur zwei Plastiktüten mit belanglosem Kram, nichts wirklich Wertvolles. Was waren schon Eheringe von Toten? Oder gar Fotoalben?

Ich musste also unverrichteter Dinge abziehen, mich abfinden mit meinem Verlust, der außer mir niemanden interessierte. Auf der Straße war alles wie immer, Leute gingen vorbei, Autos fuhren von hier nach dort, ein paar Radfahrer, ein Lkw, zwei Häuser weiter hockte ein Bettler und sammelte Geld für seinen nächsten Schnaps oder sein Essen, was wusste ich denn. Ich hatte plötzlich Angst davor, meinen nächsten Hunger nicht stillen zu können.

Ich schenkte dem Bettler keinen Blick, ich ging an ihm vorbei, weiter, irgendwohin. Die Schlafstelle war mir verboten. Also lief ich auch an diesem zweiten Tag als Zwangsgeräumter planlos und ziellos durch die Straßen von Mannheim. Warum habe ich keinen Freund aufgesucht? Warum habe ich nicht Unterschlupf bei einer Freundin gesucht? Mochte ich mich niemandem anvertrauen? Schämte ich mich meiner wohnungslosen und völlig besitzlosen Nacktheit?

Amtlicher Luxus

Ja. Ich schämte mich meiner Schutzlosigkeit. Wer selber nichts zu bieten hat, muss sich aufdrängen oder sogar unterwerfen, wenn er Hilfe braucht. Das ist schwer. Leichter ist es, sich auf eine Parkbank zu legen. Nein. Es ist nicht wirklich leichter. Dort stellt man sich öffentlich zur Schau, man ist erkennbar ohne Schutz. Ich war doch kein Penner!

Wenn ich in den nächsten Tagen auf einer Parkbank lag, dann immer nur für Minuten. So kam es mir vor. Denn wer auf einer Parkbank liegt, kann davongejagt werden wie ein räudiger Hund. Vielleicht lag ich trotzdem länger dort, wahrscheinlich bin ich auch eingenickt. Und wieder hochgeschreckt. Bevor mich jemand einen räudigen Hund schimpfen konnte. Hochgeschreckt bin ich, weitergelaufen. Parkbänke waren nicht die Lösung, das wusste ich.

Nach meiner ersten traumatischen Nacht als «echter» Obdachloser in einer Obdachlosenunterkunft blieb ich wie betäubt und fand keine Lösung. Ich erinnerte mich nicht daran, dass ich schon als Jugendlicher Platte gemacht hatte, dass ich monatelang mit Punks unterwegs gewesen war und das Überleben auf der Straße für mich nicht wirklich neu war. Aber all diese Erfahrungen waren wie weggewischt. Die Sicherheit, die ich damals erworben hatte, war einer abgrundtiefen Hilflosigkeit gewichen. Ich war nichts als Lethargie. Das Kokain, das ich mir besorgt hatte, half mir auch nicht auf. Es verstärkte nur den Nebel, in dem ich umherirrte wie ein Geist, der nicht nur sein Zuhause verloren hatte, sondern dabei war, sich selber zu verlieren.

Warum hatte ich mich nicht einmal in einer Kleiderkammer mit dem Nötigsten versorgt, bevor die nächste Nacht hereinbrach? Warum hatte ich mir nicht wenigstens eine Decke oder einen Schlafsack besorgt? Der Schock, zum ersten Mal ohne den heimischen Rückzugsort in der elterlichen Wohnung zu sein, hatte mich offensichtlich derart handlungsunfähig gemacht, dass ich an diesem zweiten Abend weiterhin nur mit dem, was ich am Leibe trug, die Nacht erwartete. Als es dunkel wurde, überraschte mich ein heftiger Regen. Es rauschte ein derartiges Aprilwetter nieder, dass ich mich in die nächste Telefonzelle flüchtete. Ich verließ sie in dieser Nacht nicht mehr. Ich kauerte mich hin, ich fror auf dem Betonboden, die dünnen stählernen Wände und die Glastür hielten die Kälte nicht ab, nur den Wind und den Regen. Ich schlief ein, schreckte hoch, schlief ein, schreckte hoch, dämmerte. Hatte ich nicht schon einmal, vor Jahren, in solch einer Zelle gelegen? Jeden Knochen spürte ich, meine Muskeln schmerzten, ob ich morgen noch leben würde?

Ein weiterer Tag war vergangen, als ich in der dritten Nacht erneut vor der Telefonzelle stand. Und wieder hier Unterschlupf suchte. Noch immer ohne Decke, ohne Schlafsack. Der nächste Tag rollte mitleidlos über mich hinweg. Der übernächste auch. Ich wusch mich im Wasser des Neckar, putzte meine Zähne mit Leitungswasser, das ich in eine Flasche abfüllte, und kam innerhalb einer Woche derart herunter, dass ich den allerletzten Pennern glich, von denen ich früher geglaubt hatte, sie gehörten einer anderen, viel tieferen Welt an. Jetzt war ich Teil von ihr. Und auch nicht. Denn ich blieb allein, sie hatten immerhin einander.

Nach einer Woche nahm ich all meine verbliebenen Kräfte zusammen und ging zum Sozialamt, zu dem Sachbearbeiter, der mich aus der elterlichen Wohnung entfernt hatte. Ich musste vor seinem Büro warten und setzte mich auf einen der einfachen Holzstühle, die an der Längswand des Flurs aufgereiht waren. Schließlich rief er mich hinein. «Sie erwarten jetzt, dass ich Ihnen morgen ein nettes Appartement vermittle, habe ich recht?», eröffnete er das Gespräch, ohne dass ich irgendetwas gesagt hätte. «Da hätten Sie sich rechtzeitiger bemühen müssen, Herr Brox. Sie haben die Räumung bis zum letzten Augenblick hinausgezögert. Jetzt haben Sie die Folgen zu tragen.» Ich stammelte nur, dass ich am Ende sei und Unterstützung bräuchte. Auf meine Sucht wies ich ihn hin, der Mann wusste davon und entgegnete, natürlich könne ich nicht so weitermachen, jetzt erst recht nicht. Aber Hilfe? «Sie werden sich gedulden müssen, Herr Brox. Es gibt Notschlafstellen, das wissen Sie. Derzeit haben wir nichts anderes.» Mit diesen Worten ging er zur Tür, öffnete sie und schob mich hinaus, wir standen noch beide, wir hatten uns in seinem Büro nicht einmal hingesetzt.

Es dauerte vierzehn Tage, bis ich zu einer Anlaufstelle für Obdachlose ging und mich mit Klamotten und einem Schlafsack versorgte. Es dauerte drei Monate, bis ich mich zum ersten Mal meinen alten Pflegeeltern, den Müllers, anvertraute. Da war ich aus dem Sog heraus, der mich in der Verwahrlosung festhielt, ich musste mich nicht mehr dafür schämen, mich ihnen anzuvertrauen. Ich hatte mir sogar angewöhnt, zwei Mal in der Woche im Herschelbad in Mannheim-Waldhof ausgiebig zu duschen. Ich aß. Ich atmete wieder. Ich war bereits auf die zweitunterste Stufe eines Obdachlosen zurückgekehrt.

 

Willi und Irmgard Müller gingen auf die sechzig zu. Willi war mit meinem Vater seit den 1950er Jahren bis zu seinem Tod befreundet gewesen. Wohl deshalb hatten sie mich auch aufgenommen, als ich zwölf war und zu Hause nichts mehr klappte. Ein Jahr hatte mein Vater damals noch zu leben. Die Müllers hatten selber keine Kinder. Oder besser gesagt, sie hatten ein Kind gehabt, das früh gestorben war. Als ich bei ihnen lebte, hatten sie mich liebevoll wie ihr eigenes Kind behandelt. Und als ich fast zehn Jahre später bei ihnen wieder hilfesuchend an die Tür klopfte, haben sie das erneut getan. Aber das waren nur kurze Besuche, ein Luftschnappen nach den Tagen und Wochen auf der Straße. Und in den Unterkünften.

Denn irgendwann versuchte ich es trotz des Diebstahls in meiner ersten Nacht erneut. Ich suchte die Notschlafstelle in K4 auf, wo es eine weitere Einrichtung für unsereinen gab. Ja, für unsereinen, denn ich akzeptierte zwar nicht, dass ich dazugehörte zu den Ausgeworfenen. Aber ich nahm es hin. Ich wehrte mich nicht mehr. Auch wenn mich in manchen Momenten die Scham überwältigte und ich vor mir selbst als einer dastand, der alles verloren hatte, nicht mehr gebraucht wurde, gescheitert war und nichts mehr wert.

Um in K4 unterzukommen, musste man eine Art Arbeitsdienst ableisten. Für 5 Mark am Tag hatten wir Reinigungsdienste zu verrichten, zum Beispiel die Betten abziehen, in der Küche spülen oder städtische Fahrzeuge und öffentliche Toiletten reinigen. Wir konnten uns aber auch um sechs Uhr am Handelshafen melden, bei der Außenstelle des Arbeitsamtes. Auch ich wurde hin und wieder vermittelt und bekam für meine Hilfsarbeitertätigkeiten von den Arbeitgebern 20 bis 30 Mark am Tag. Wer einen Gesellenbrief vorzeigen konnte, kam auf ein paar Mark mehr. Diesen Luxusverdienst gönnte das Amt uns allerdings höchstens viermal im Monat. Es gab ja, damit wir uns über Wasser halten konnten, den Tagessatz, der uns Obdachlosen vom Sozialamt ausgehändigt wurde. Dafür musste man in die Ausgabe in C7 gehen, morgens zwischen acht und zehn hatte der Schalter geöffnet. Wer seinen Ausweis vorlegen konnte, bekam etwa 15 Mark.

Ein paar Monate später begann ich mit dem Betteln. Als mir nämlich zum wiederholten Male die Sozialhilfe gekürzt wurde. Denn ich hatte den Mann beschimpft, der uns in K4 und in allen anderen Mannheimer Obdachlosenunterkünften unter der Fuchtel hatte und den Arbeitsdienst befehligte. Nicht nur, weil er das mit dem Luxusverdienst überhaupt nicht ironisch meinte. Sondern, weil er uns wahrhaft knechtete und zutiefst verachtete.

Eines Tages betrat er wieder einmal mit großmännischem Schwung den Frühstücksraum, blaffte die paar abgerissenen Gestalten an, die dort noch hockten, und schickte mich zum Kloputzen; mit kaltem Wasser und ohne Putzmittel, wie das unter seiner Regie üblich war. Eine der Frauen, die er ebenfalls auf dem Kieker hatte, sollte die Damentoiletten säubern. Vorher allerdings, so grinste er, solle sie doch mal mit ihm auf Seite kommen. Helle Augen hatte sie, wenn auch traurig verschattet, ihre Haare waren nicht verfilzt, seit dem ersten Tag, an dem sie zu uns gestoßen war, fiel sie allen auf, weil sie mit aschenputtelartiger Energie gegen die Verwahrlosung ankämpfte und sich immer aufrecht hielt. Die Frau versagte dem Amtsgewaltigen die geforderten sexuellen Dienste, mehr schamhaft als empört. Aber entschieden. Ich hatte den Wortwechsel mitbekommen und beschimpfte unseren Aufseher. Ein «geborenes Schwein» sei er, fauchte ich ihn an. Einen Ausdruck, den ich immer im Kopf behalten habe. Denn der Amtsträger setzte durch, dass ich wegen dieser vielleicht tierschutzrechtlich bedenklichen Charakterisierung keine 15 Mark mehr, sondern nur noch 10 Mark Tagesgeld bekam, für einen Strafzeitraum von drei Monaten.

Wieder behütet

Ich mied die städtischen Notunterkünfte sooft es ging. Ich machte Platte und schlief wieder draußen. Wenn es kälter war, suchte ich nach einem Heizungsschacht, auf den ich mich legen konnte. Oder ich krümmte mich erneut in irgendeiner Telefonzelle zusammen, das ist zwar nicht bequem, aber für einen Obdachlosen schon fast ein privater Raum. Wenn nicht irgendjemand dringend telefonieren musste und mit dem Fuß gegen die Tür trat, um mich zu wecken, in der Nacht oder morgens früh. Dann geriet ich in Panik, ich wusste nicht, wo ich gerade war, brauchte einige Zeit, mich zu orientieren, musste meine Knochen zurechtrücken und erhob mich mühsam. Vielleicht war es doch besser in einem stinkigen Notschlafbett. Beklaut werden konnte ich ja nicht mehr wirklich. Vermutlich haben mich in dieser Zeit der ständigen Wahl zwischen Pest und Cholera die Drogen vor dem Wahnsinn gerettet. Oder haben sie mich im Gegenteil dort festgenagelt?

In den ersten zwei Jahren, die ich als Obdachloser in Mannheim verbrachte, hat mich die Gewalt in den Unterkünften und auf der Straße seelisch immer wieder komplett zerlegt. Dieses Ausgeliefertsein! Meine Wut dagegen hat sie nicht aus der Welt zu schaffen vermocht. Die Gewalt blieb. Ob sie von Leidensgenossen ausging oder vom Aufsichtspersonal oder auch von irgendwelchen anonymen Passanten: Gewalt bricht ständig in den Alltag eines Obdachlosen ein. Sicherlich erlebt jeder Mensch in seinem Leben hin und wieder Gewalt und Aggressionen, auf der Straße, auf der Arbeit, in der Kneipe. Aber wer ein Zuhause hat, kann sich dorthin flüchten und sich von den Zumutungen erholen. Vorausgesetzt natürlich, dass nicht auch sein Heim gewalttätig gestört ist.

Aber wer nicht einmal in ein eigenes Zuhause fliehen kann, wird den Aggressionen anderer Leute in keine Richtung entkommen. Sie erwarten ihn überall, tatsächlich oder potenziell. Wem der Rückzug ins Eigene verwehrt ist, weil es kein Eigenes gibt, der lebt nirgends aufgehoben, es schwingt in ihm kein Gegengewicht gegen das Gewicht der ständigen Bedrohung und der gewalttätigen Realität, da ist nirgendwo Stille um ihn, nirgendwo kann er sich die Decke über den Kopf ziehen und ist allein, es gibt kein Atemholen. Seine innere Gefühlswaage gerät völlig aus dem Gleichgewicht und neigt sich ganz nach unten, in die Untiefen permanenter Unsicherheit. Angst wird sein nicht mehr abzuschüttelnder Begleiter. Du passt dich entweder der Gewalt an, oder du gehst unter. Ich passte mich an, um zu überleben.

Ich hatte immerhin, anders als die meisten Menschen, die ich in den Unterkünften kennengelernt habe, noch einen letzten Schutzraum, den ich hin und wieder aufsuchen konnte: die Müllers. Wenn ich nicht mehr konnte, wenn ich unterzugehen drohte in diesen Unterkünften und auf der Straße, dann klingelte ich bei ihnen. Und sie machten mir immer die Tür auf. Sie fragten nicht einmal, warum ich ein Vierteljahr gebraucht hatte, um ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie gaben sie einfach. Ohne mir Vorwürfe zu machen.

Obwohl mein Lebenswandel ja durchaus zu Vorwürfen hätte Anlass geben können. 1987, in meinem zweiten Jahr ohne eigenes Dach über dem Kopf, saß ich zum Beispiel eine Geldstrafe ab, die ich für Dealerei erhalten hatte. Vier Wochen. Ob ich das den Müllers verschwiegen habe, weiß ich nicht mehr. Aber die beiden verfügten über genügend Menschenkenntnis und sahen mir als ihrem Ziehsohn an der Nasenspitze an, was los war, wenn ich mal wieder euphorisch aufgedreht mit viel zu großen Pupillen bei ihnen hereinschneite. Sie ließen mich trotzdem meine Sachen waschen, ich bekam zu essen und zu trinken, ich bekam das Bett, in dem ich schon als Kind gelegen hatte, ich zog am nächsten Morgen meine bei ihnen deponierten Wechselklamotten an und wurde wieder laufen gelassen. Nach einem Frühstück, versteht sich, das mich satt und sorglos wenigstens über die erste Hälfte des Tages brachte.

Aber so dankbar ich sein durfte und auch war: Bei Müllers unterzuschlüpfen war keine Lösung. Ich war erwachsen. Ich musste auf die Füße kommen, ich musste auf eigenen Beinen stehen. Tatsächlich leuchtete mir im Sommer 1988 ein Lichtlein am Horizont. Schon zwei Jahre hatte ich die verschiedenen Notunterkünfte der Stadt frequentiert, war Stammgast dort, auf den Parkbänken und bei meinen lieben Müllers. Zwei Jahre ohne alles Eigene. Nun ja, eine Reisetasche, die ich mir umhängen konnte, hatte ich mir besorgt. Da war eigener Kram drin, einen Walkman nannte ich wieder mein eigen, ein paar Kassetten, Hygieneartikel – ich achtete bei all dem bodenlosen Lebenswandel auf Basispflege. Man sah mir den Penner nicht mehr an. Und Wechselklamotten warteten immer noch bei meinen alten Pflegeeltern.

Aus heutiger Sicht scheint mir, ich hätte es in diesen Jahren geübt, aber noch nicht gekonnt: das Leben auf der Straße, es annehmen, die Herausforderungen unter freiem Himmel bewältigen, dieses Leben sogar gestalten. Ich wurde noch hin und her geworfen, rannte koksaufgedreht meine Kilometer ab, lief leer, überlebte mehr, als dass ich lebte.

Dann bekam ich endlich eine kleine Wohnung – mein Bitten und Betteln bei der Stadtverwaltung hatte Erfolg gehabt –, und ich hatte zum ersten Mal wieder eigene vier Wände um mich, eine Verschnaufpause im Stadtteil Friedrichsfeld. Die Wohnung war von der Stadt angemietet worden, als zeitlich befristete Unterkunft für Obdachlose. Sechs Monate durfte man bleiben, eine Anlaufzeit sozusagen, um irgendeinen Sprung in irgendein neues, sicheres Leben zu schaffen. Nach Ablauf des halben Jahres war Ende mit Starthilfe und Hilfswohnung. Wer dann noch nicht wieder allein stehen konnte, fiel halt wieder um.

Als ich den Schlüssel in die Haustür steckte und sie aufsperrte, klopfte mein Herz heftig. Würde das der erste Schritt zurück in ein normales Leben werden? Die Wohnung lag im Souterrain. Ich stiefelte ein paar Treppen hinunter, öffnete die Wohnungstür – und schaute am helllichten Tag ins Dunkel. Souterrain, aha, das aufgehübschte Wort für Keller. So war es jedenfalls in diesem Fall. Ich konnte kaum Tageslicht sehen, nur wenn ich den Kopf in den Nacken legte und durch die schmalen Fensterluken nach oben blickte. Dann sah ich das Gras im Garten hinter dem Haus, immerhin. Ich wollte nicht undankbar sein, schaute mich um, das Mobiliar war in Ordnung, ich war von zu Hause wahrlich keine Designermöbel gewohnt, wir hatten immer zwischen Sperrmüll und geschenktem Zeugs gelebt.

Kurz nach mir kam mein Mitbewohner. Ein Alkoholiker, nicht besser dran als ich, der ich von Kokain abhängig war. Im ersten Moment war klar: Uns fehlte jeder Draht zueinander. Wir haben in diesen sechs Monaten zusammen im Keller wahrscheinlich nicht mehr als zwanzig zusammenhängende Sätze gewechselt. Jeder lebte für sich, nur das Putzen teilten wir uns. Darauf achtete eine Art Sozialarbeiter, vielleicht war er auch nur Reinigungsarbeiter. Seine Aufgabe sah er jedenfalls ausschließlich darin, einmal in der Woche nach der Sauberkeit in der Wohnung zu schauen und uns zum Putzen anzuhalten, weil die Wohnung ihm natürlich nie sauber genug war. Wir taten dann wie uns geheißen, wir wollten ja nicht vorfristig aus der Wohnung fliegen. Ansonsten waren wir uns selbst überlassen, und jeder ging seinen Geschäften, das heißt seinen Süchten, nach.

Die Wohnung verfügte sogar über eine Tür zum Garten, zu einer schmalen Grünfläche, auf der Romantiker möglicherweise eine Sitzgruppe aufgestellt hätten. Es gab keine Sitzgruppe. Dafür hatte ich ein viel größeres Glück. Im Haus wohnte nämlich zwei Stockwerke über mir Frau Raufelder mit ihrem erwachsenen Sohn Wolfgang, der etwa in meinem Alter war.