Kein Engel so rein - Michael Connelly - E-Book

Kein Engel so rein E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

An Neujahr gräbt ein Hund in den Hollywood Hills einen Knochen aus. Der Besitzer des Hundes, ein Arzt, identifiziert den Knochen als Teil eines menschlichen Skeletts und alarmiert die Polizei. Bosch geht der Sache nach und entdeckt nicht weit vom Fundort weitere Skelettteile. Ein Forensiker des LAPD stellt fest, dass es sich um die Knochen eines etwa zehnjährigen Jungen handelt, seit über zwanzig Jahren tot - und dass der Junge schwer misshandelt wurde. Der Fall weckt Erinnerungen in Bosch, der selbst eine schwierige Kindheit hatte und zeitweise in einem Waisenhaus aufwuchs. Je tiefer der Detective in die Vergangenheit des Jungen eintaucht, desto mehr erfährt er auch über sich selbst.

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Michael Connelly

Kein Engel so rein

Der achte Fall für Harry Bosch

Aus dem Amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für John Houghton,

für die Hilfe, die Freundschaft und die Geschichten

1

Die alte Frau hatte es sich mit dem Sterben noch mal anders überlegt, aber da war es schon zu spät. Sie hatte die Finger in die Farbe und den Putz der Wand gegraben, bis die meisten ihrer Fingernägel abgebrochen waren. Dann hatte sie es am Hals probiert, hatte die blutigen Fingerspitzen von unten unter das Kabel zu schieben versucht. Sie hatte so fest gegen die Wände getreten, dass sie sich vier Zehen brach. Sie hatte sich so angestrengt, einen so wild entschlossenen Überlebenswillen gezeigt, dass sich Harry Bosch fragte, was zuvor passiert war. Wo waren diese Entschlossenheit und dieser Wille gewesen, und warum hatten sie sie im Stich gelassen, bis sie sich das Verlängerungskabel um den Hals geschlungen und den Stuhl umgestoßen hatte? Warum hatten sie sich vor ihr versteckt?

Das waren keine offiziellen Fragen, die in seinem Bericht gestellt würden. Aber es waren die Dinge, die Bosch zwangsläufig durch den Kopf gingen, als er vor dem Splendid-Age-Seniorenheim am Sunset Boulevard östlich vom Hollywood Freeway in seinem Auto saß. Es war 16 Uhr 20 am ersten Tag des Jahres. Bosch hatte es mit der Feiertagsbereitschaft erwischt.

Der Tag war mehr als zur Hälfte vorbei, und Bosch war schon zu zwei Selbstmorden gerufen worden – einer mit einer Pistole, der andere mit dem Verlängerungskabel. Beide Opfer waren Frauen. In beiden Fällen gab es Anzeichen von Depressionen und Verzweiflung. Isolation. Am Neujahrstag hatten Selbstmorde immer Hochkonjunktur. Während die meisten Menschen den Tag mit einem Gefühl von Hoffnung und Erneuerung begrüßten, gab es auch jene, die ihn für einen guten Tag zum Sterben hielten, wobei einige – wie die alte Frau – ihren Fehler erst einsahen, wenn es zu spät war.

Bosch blickte auf und beobachtete durch die Windschutzscheibe, wie das letzte Opfer auf einer fahrbaren Bahre und mit einer grünen Decke zugedeckt in den blauen Lieferwagen des gerichtsmedizinischen Instituts geladen wurde. Er sah, dass in dem Lieferwagen bereits eine weitere belegte Bahre war, und er wusste, sie war vom ersten Selbstmord – eine vierunddreißigjährige Schauspielerin, die sich auf einem Hollywood-Aussichtspunkt am Mulholland Drive in ihrem Auto erschossen hatte. Bosch und die Leichencrew waren von einem Fall zum nächsten gefahren.

Boschs Handy begann zu trällern, und er war froh über die Ablenkung von seinen Gedanken über belanglose Tode. Es war Mankiewicz, der diensthabende Sergeant in der Hollywood Division des Los Angeles Police Department.

»Sind Sie mit dieser letzten Sache schon fertig?«

»Ja, eben grade.«

»Irgendwas Besonderes?«

»Eine Selbstmörderin, die es sich zu spät anders überlegt hat. Haben Sie was Neues?«

»Ja. Etwas, das ich lieber nicht über Funk durchgeben wollte. Muss ein lascher Tag sein für die Presse – es kommen mehr Anfragen von Journalisten rein als Notrufe von Bürgern. Alle wollen sie was über den ersten machen, die Schauspielerin vom Mulholland. Sie wissen schon, eine dieser Storys im Stil von: Traum von großer Hollywood-Karriere geplatzt. Und auf die letzte Meldung würden sie sich wahrscheinlich auch alle stürzen.«

»Aha. Was ist es?«

»Jemand, der oben in Laurel Canyon wohnt. In der Wonderland Avenue. Er hat gerade angerufen und gesagt, sein Hund ist mit einem Knochen im Maul aus dem Wald zurückgekommen. Er meint, er ist von einem Menschen – der Armknochen eines Kindes.«

Fast hätte Bosch laut aufgestöhnt. Zu solchen Einsätzen kam es zwischen vier- und fünfmal pro Jahr. Hysterie, auf die immer eine einfache Erklärung folgte: Tierknochen. Durch die Windschutzscheibe salutierte er den zwei Männern von der Gerichtsmedizin, die zum Führerhaus des Lieferwagens gingen.

»Ich weiß, was Sie jetzt denken, Harry. Nicht schon wieder so ein Knocheneinsatz. So was haben Sie schon hundertmal gemacht, und immer die gleiche Geschichte. Ein Kojote, ein Reh, irgendwas. Bloß, dieser Typ mit dem Hund, das ist ein Arzt. Und er sagt, er ist sich absolut sicher. Es ist ein Humerus. Das ist der Oberarmknochen. Er sagt, er ist von einem Kind, Harry. Und, jetzt kommt’s. Er hat gesagt …«

Es wurde eine Weile still, und Mankiewicz suchte anscheinend nach seinen Notizen. Bosch beobachtete, wie der blaue Lieferwagen losfuhr. Als Mankiewicz an den Apparat zurückkam, las er offensichtlich ab.

»Der Knochen hat direkt über dem mittleren Epicondylus – was immer das ist – eine deutlich erkennbare Fraktur.«

Boschs Kiefermuskeln traten hervor. Er spürte ein schwaches elektrisches Prickeln seinen Nacken hinunterlaufen.

»Adresse?«

Mankiewicz gab sie ihm durch und sagte ihm, dass er bereits eine Streife hingeschickt hatte.

»Es war richtig, es nicht über Funk durchzugeben. Wäre schön, wenn Sie es auch weiter so halten könnten.«

Mankiewicz sagte, er würde es versuchen. Bosch machte das Telefon aus und startete den Wagen. Bevor er losfuhr, warf er noch einmal einen Blick auf den Eingang des Seniorenheims. Splendid Age – Herrliches Alter. In seinen Augen hatte es überhaupt nichts Herrliches. Die Frau, die sich im begehbaren Kleiderschrank ihres winzigen Schlafzimmers erhängt hatte, hatte laut Aussagen der Betreiber des Heims keine nahen Verwandten gehabt. Sie würde im Tod genauso behandelt werden wie im Leben, allein gelassen und vergessen.

Bosch machte sich auf den Weg nach Laurel Canyon.

2

Während der Fahrt zum Canyon und dann den Look- out Mountain hinauf zur Wonderland Avenue hörte er sich im Autoradio das Lakers-Spiel an. Er war kein großer Basketballfan, aber er wollte sich über den Spielstand auf dem Laufenden halten, falls er seinen Partner, Jerry Edgar, brauchte. Bosch machte allein Dienst, weil Edgar das Glück gehabt hatte, zwei Karten für das Spiel zu bekommen. Deshalb hatte er sich bereit erklärt, die Einsätze allein zu übernehmen und Edgar nur dann zu verständigen, wenn es ein Mord oder sonst etwas war, was er nicht allein schaffte. Bosch war auch deshalb allein, weil das dritte Mitglied seines Teams, Kizmin Rider, fast ein Jahr zuvor zur Robbery-Homicide Division befördert und immer noch nicht ersetzt worden war.

Es war zu Beginn des dritten Viertels, und das Spiel gegen die Trail Blazers war noch lange nicht entschieden. Auch wenn Bosch kein eingefleischter Fan war, wusste er wegen Edgars ständigen Basketballgequatsches und seiner Bitte, vom Bereitschaftsdienst befreit zu werden, dass es ein wichtiges Spiel gegen einen der Hauptrivalen des Teams aus Los Angeles war. Er beschloss, Edgars Pager erst anzurufen, wenn er am Tatort eingetroffen war und sich ein Bild von der Situation gemacht hatte. Als der Empfang im Canyon immer schlechter wurde, schaltete er das Radio aus.

Die Straße führte steil nach oben. Der Laurel Canyon war ein tiefer Einschnitt in den Santa Monica Mountains. Die Nebenstraßen führten bis zu den Kämmen der Hügel hinauf. Die Wonderland Avenue endete in einem abgelegenen Terrain, wo unmittelbar hinter den 500000-Dollar-Häusern dicht bewaldete, steile Hänge aufstiegen. In dieser Gegend nach Knochen zu suchen würde ein logistischer Albtraum werden. Er hielt hinter dem Streifenwagen, der bereits vor dem Haus stand, dessen Adresse ihm Mankiewicz durchgegeben hatte, und sah auf die Uhr. Es war 16 Uhr 38, und er notierte es auf einer neuen Seite seines Blocks. Er schätzte, ihm bliebe nicht einmal mehr eine Stunde Tageslicht.

Auf sein Klopfen öffnete eine Streifenpolizistin, die er nicht kannte. Auf ihrem Namensschild stand Brasher. Sie führte ihn durch das Haus ins Arbeitszimmer. Dort sprach ihr Partner, den Bosch kannte und von dem er wusste, dass er Edgewood hieß, mit einem weißhaarigen Mann. Auf dem Schreibtisch, an dem der Mann saß, stand ein offener Schuhkarton.

Bosch trat vor und nannte seinen Namen. Der weißhaarige Mann sagte, er sei Dr. Paul Guyot, ein Praktischer Arzt. Als Bosch sich vorbeugte, konnte er sehen, dass der Schuhkarton den Knochen enthielt, der sie alle zusammengeführt hatte. Er war dunkelbraun und sah aus wie ein verwittertes Stück Treibholz.

Neben dem Schreibtischstuhl des Arztes sah er einen Hund auf dem Boden liegen. Es war ein großer Hund mit hellbraunem Fell.

»Das ist er also«, sagte Bosch und sah noch einmal in die Schachtel.

»Ja, Detective, das ist unser Knochen«, sagte Guyot. »Und wie Sie sehen …«

Er griff hinter sich und nahm eine schwere Ausgabe von Gray’s Anatomy von einem Bord. Er schlug sie an einer markierten Stelle auf. Bosch stellte fest, dass er Gummihandschuhe trug.

Auf der Seite war ein Knochen abgebildet, Vorder- und Hinteransicht. In der Ecke befand sich eine kleine Darstellung eines menschlichen Skeletts, in der die Humerus-Knochen beider Arme besonders hervorgehoben waren.

»Der Humerus«, sagte Guyot und tippte auf die Seite. »Und hier haben wir das gefundene Exemplar.«

Er fasste in den Schuhkarton und hob den Knochen behutsam heraus. Er hielt ihn über die Illustration in dem Anatomiebuch und nahm einen Punkt-für-Punkt-Vergleich vor.

»Mittlerer Epycondylus, Trochlea, Tuberculum majus und minus. Alles da. Ich habe Ihren zwei Kollegen bereits erklärt, dass ich Knochen auch ohne das Buch da erkenne. Dieser Knochen stammt von einem Menschen, Detective. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.«

Bosch betrachtete Guyots Gesicht. Er bemerkte ein leichtes Zittern, möglicherweise das erste Anzeichen eines Parkinson-Tremors.

»Sind Sie pensioniert, Doktor Guyot?«

»Ja, aber das heißt nicht, dass ich einen Knochen nicht mehr erkenne, wenn ich …«

»Ich wollte Ihre Aussage nicht anzweifeln, Doktor Guyot.« Bosch versuchte zu lächeln. »Wenn Sie sagen, er stammt von einem Menschen, dann glaube ich Ihnen das. Okay? Ich versuche nur, mir einen ersten Eindruck von allem hier zu verschaffen. Sie können ihn übrigens wieder in die Schachtel zurücklegen, wenn Sie wollen.«

Guyot legte den Knochen in den Schuhkarton zurück.

»Wie heißt Ihr Hund?«

»Calamity.«

Bosch blickte auf den Hund hinab. Er schien zu schlafen.

»Wir mussten sie mühsam hochpäppeln, als sie noch klein war, wissen Sie.«

Bosch nickte.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, alles noch mal zu erzählen – würden Sie mir bitte schildern, was heute passiert ist.«

Guyot streckte den Arm nach unten und zauste den Hund am Hals. Der Hund blickte kurz zu ihm hoch, dann ließ er den Kopf wieder sinken und schloss die Augen.

»Ich habe Calamity heute Nachmittag ausgeführt. Normalerweise lasse ich sie oben am Wendekreis von der Leine, damit sie in den Wald hochlaufen kann. Das mag sie sehr gern.«

»Was für eine Rasse ist sie?«, fragte Bosch.

»Ein Labrador«, antwortete Brasher hinter ihm rasch.

Bosch drehte sich um und sah sie an. Sie merkte, dass ihre Einmischung ein Fehler gewesen war, und trat mit einem Nicken an die Tür des Zimmers zurück, wo ihr Partner stand.

»Sie können schon los, wenn Sie noch woandershin müssen«, sagte Bosch. »Jetzt kann ich übernehmen.«

Edgewood nickte und gab seiner Partnerin das Zeichen zum Aufbruch.

»Danke, Doktor«, sagte er beim Verlassen des Raums.

»Keine Ursache.«

In diesem Moment fiel Bosch noch etwas ein.

»Ach, übrigens.«

Edgewood und Brasher drehten sich um.

»Geben Sie von der Geschichte hier nichts über Funk durch, ja?«

»Geht in Ordnung«, sagte Brasher und sah Bosch in die Augen, bis er den Blick abwandte.

Als die Streifenpolizisten weg waren, wandte sich Bosch wieder Dr. Guyot zu und stellte fest, dass sein Gesichtstremor jetzt etwas ausgeprägter war.

»Die beiden haben mir zuerst auch nicht geglaubt«, sagte der Arzt.

»Das liegt einfach daran, dass wir eine Menge solcher Anrufe kriegen. Aber ich glaube Ihnen, Doktor. Erzählen Sie doch weiter.«

Guyot nickte.

»Wie gesagt, ich war oben am Kreis und nahm ihr die Leine ab. Sie rannte in den Wald hoch, wie sie das immer macht. Sie hört an sich gut. Wenn ich pfeife, kommt sie sofort zurück. Das Problem ist nur, dass ich nicht mehr so laut pfeifen kann. Wenn sie deshalb wo hinrennt, wo sie mich nicht mehr hören kann, muss ich auf sie warten, wissen Sie.«

»Was ist heute passiert, als sie den Knochen gefunden hat?«

»Ich habe gepfiffen, und sie kam nicht zurück.«

»Dann war sie also ziemlich weit da oben.«

»Ja, genau. Ich habe gewartet. Ich habe noch ein paar Mal gepfiffen, und dann kam sie endlich wieder aus dem Wald zurück, bei Mr. Ulrichs Haus. Sie hatte den Knochen. Im Maul. Erst dachte ich, es wäre ein Stock, wissen Sie, und dass sie ihn apportieren wollte. Aber als sie näher kam, konnte ich erkennen, was es war. Ich nahm ihn ihr ab – was sie sich erst nicht gefallen lassen wollte –, und dann, nachdem ich ihn mir hier genauer angesehen hatte und meiner Sache ganz sicher war, habe ich bei der Polizei angerufen.«

»Dem Sergeant, der den Anruf aufgenommen hat, haben Sie gesagt, der Knochen würde einen Bruch aufweisen.«

»Richtig.«

Behutsam nahm Guyot den Knochen wieder hoch. Er drehte ihn und fuhr mit dem Finger über eine vertikale Furche in seiner Oberfläche.

»Das ist eine Bruchlinie, Detective. Es ist eine verheilte Fraktur.«

»Gut.«

Bosch deutete auf die Schachtel, und der Arzt legte den Knochen zurück.

»Doktor Guyot, wären Sie so freundlich, Ihren Hund an die Leine zu nehmen und mit mir einen kurzen Spaziergang zum Kreis rauf zu machen?«

»Aber selbstverständlich. Ich ziehe mir nur schnell andere Schuhe an.«

»Ich muss mich auch umziehen. Treffen wir uns einfach vor dem Haus?«

»Ich bin gleich so weit.«

»Das hier werde ich mitnehmen.«

Bosch setzte den Deckel auf den Schuhkarton und nahm ihn dann mit beiden Händen, um ihn beim Tragen nicht zu kippen oder seinen Inhalt in irgendeiner Weise zu schütteln.

Vor dem Haus stellte Bosch fest, dass der Streifenwagen immer noch dastand. Die beiden Polizisten saßen darin und schrieben anscheinend ihre Berichte. Er ging zu seinem Auto und legte den Schuhkarton auf den Beifahrersitz.

Da er nur Bereitschaftsdienst hatte, war er nicht in Anzug und Krawatte. Er trug einen Sportsakko mit einem weißen Hemd darunter und dazu Bluejeans. Er zog die Jacke aus, faltete sie mit der Innenseite nach außen und legte sie auf den Rücksitz. Dabei merkte er, dass der Abzug seiner Dienstwaffe, die er in einem Holster an der Hüfte trug, ein Loch in das Futter gewetzt hatte, obwohl der Sakko noch nicht mal ein Jahr alt war. Bald würde sie sich bis in die Tasche und schließlich ganz nach draußen durchwetzen. Es kam oft vor, dass er seine Sakkos von innen nach außen kaputttrug.

Als Nächstes zog er sein Hemd aus, unter dem er ein weißes T-Shirt trug. Dann öffnete er den Kofferraum, um die Arbeitsstiefel aus der Kiste mit der Tatortausrüstung zu nehmen. Als er sich gegen die hintere Stoßstange lehnte, um die Schuhe zu wechseln, sah er Brasher aus dem Streifenwagen steigen und auf ihn zukommen.

»Sieht also echt aus, hm?«

»Schätze schon. Aber erst muss es noch jemand von der Gerichtsmedizin bestätigen.«

»Gehen Sie jetzt da rauf und sehen nach?«

»Zumindest will ich es versuchen. Dürfte allerdings schon bald dunkel werden. Wahrscheinlich komme ich morgen noch mal her.«

»Übrigens, ich bin Julia Brasher. Ich bin erst seit Kurzem dabei.«

»Harry Bosch.«

»Ich weiß. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Ich streite alles ab.«

Sie lächelte über die Antwort und wollte Bosch die Hand reichen, aber er band sich gerade einen Stiefel. Er hörte damit auf und schüttelte ihr die Hand.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Mein Timing ist heute etwas daneben.«

»Das macht doch nichts.«

Er band den Stiefel ganz zu und erhob sich von der Stoßstange.

»Als ich vorhin da drinnen mit der Antwort über den Hund rausgeplatzt bin, ist mir sofort klar geworden, dass Sie ein persönliches Verhältnis zu dem Doktor aufbauen wollten. Das war dumm von mir. Entschuldigung.«

Bosch betrachtete sie einen Moment. Sie war Mitte dreißig, mit dunklem Haar, das sie zu einem straffen Zopf geflochten hatte, der ihr gerade über den Kragen reichte. Ihre Augen waren dunkelbraun. Er vermutete, dass sie sich gern im Freien aufhielt. Ihre Haut hatte eine gleichmäßige Bräune.

»Wie gesagt, das macht nichts.«

»Sind Sie allein?«

Bosch zögerte.

»Mein Partner arbeitet gerade an etwas anderem, während ich dem hier nachgehe.«

Er sah den Doktor mit dem Hund an der Leine aus dem Haus kommen. Er beschloss, seinen Tatort-Overall nicht rauszuholen und anzuziehen. Er wandte sich wieder Julia Brasher zu, die inzwischen den näher kommenden Hund beobachtete.

»Haben Sie beide nichts zu tun?«

»Nein, nicht viel los im Moment.«

Bosch blickte auf das MagLite in seiner Ausrüstungskiste hinab. Dann sah er kurz zu Brasher hoch, schnappte sich einen Öllumpen aus dem Kofferraum und warf ihn auf die Taschenlampe. Er nahm eine Rolle gelbes Tatort-Absperrband und die Polaroidkamera heraus, dann schloss er den Kofferraum und wandte sich Brasher zu.

»Könnten Sie mir dann vielleicht Ihre Taschenlampe leihen? Ich, äh, habe meine vergessen.«

»Klar, gern.«

Sie löste die Taschenlampe von dem Ring an ihrem Ausrüstungsgürtel und reichte sie ihm.

In diesem Moment erreichte sie der Arzt mit dem Hund.

»Ich bin bereit.«

»Okay, Doktor Guyot, könnten wir dann zu der Stelle hochgehen, wo Sie den Hund von der Leine gelassen haben? Und dann sehen wir, wohin er läuft.«

»Ich weiß nicht, ob Sie mit ihr Schritt halten können.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein, Doktor.«

»Dann kommen Sie bitte.«

Sie gingen die Steigung zu dem kleinen Wendekreis hinauf, an dem die Wonderland Avenue endete. Brasher gab ihrem Partner im Auto ein Zeichen und folgte ihnen.

»Wissen Sie, vor ein paar Jahren hatten wir hier oben ein bisschen Aufregung«, sagte Guyot. »Einem der Anwohner ist jemand von der Hollywood Bowl nach Hause gefolgt und hat ihn dann ausgeraubt und umgebracht.«

»Daran kann ich mich erinnern«, sagte Bosch.

Er wusste, die Ermittlungen waren noch nicht abgeschlossen, erwähnte es aber nicht. Es war nicht sein Fall.

Der Schritt, den Dr. Guyot anschlug, strafte sein Alter und seine scheinbare Verfassung Lügen. Er ließ den Hund das Tempo bestimmen und war Bosch und Brasher bald einige Schritte voraus.

»Wo waren Sie vorher?«, sagte Bosch an Brasher gewandt.

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sagten doch, Sie sind neu in der Hollywood Division. Wo waren Sie vorher?«

»Ach so. Auf der Academy.«

Er sah sie überrascht an. Offensichtlich musste er seine Altersschätzung etwas revidieren.

Sie nickte und sagte: »Ich weiß, ich bin nicht mehr die Jüngste.«

Bosch wurde verlegen.

»Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Ich dachte nur, Sie wären woanders gewesen. Sie wirken nicht wie eine Anfängerin.«

»Ich bin erst mit vierunddreißig zur Polizei gegangen.«

»Wirklich? Nicht schlecht.«

»Ja. Mich hat’s erst ziemlich spät gepackt.«

»Was haben Sie vorher gemacht?«

»Ach, alles Mögliche. Hauptsächlich rumgereist. Hab eine Weile gebraucht, um rauszufinden, was ich wirklich will. Und möchten Sie wissen, was ich am liebsten machen würde?«

Bosch sah sie an.

»Was?«

»Was Sie machen. Mordfälle.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte, ob er sie ermutigen oder davon abbringen sollte.

»Na, dann viel Glück«, sagte er.

»Ich meine, ist das für Sie denn nicht der mit Abstand befriedigendste Job? Schauen Sie doch, was Sie machen, Sie nehmen die übelsten Typen aus dem Spektrum.«

»Dem Spektrum?«

»Aus dem gesellschaftlichen Spektrum.«

»Na ja, vielleicht. Wenn wir Glück haben.«

Sie holten Dr. Guyot ein, der mit dem Hund am Wendekreis stehen geblieben war.

»Ist das die Stelle?«

»Ja. Hier lasse ich sie immer von der Leine. Sie ist dort hochgelaufen.«

Er deutete auf ein unbebautes, verwildertes Grundstück, das zunächst auf einer Ebene mit der Straße verlief, dann aber steil anstieg. Der große Betonschacht eines Abflusskanals erklärte, warum das Grundstück unbebaut geblieben war. Es gehörte der Stadt und diente dem Zweck, bei heftigen Regenfällen die Wassermassen abzuleiten und von den Häusern an der Straße fernzuhalten. Viele Straßen im Canyon waren ehemalige Bach- und Flussbetten. Ohne diese Abflusskanäle wären sie wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt worden, wenn es stark regnete.

»Wollen Sie da jetzt rauf?«, fragte der Arzt.

»Jedenfalls will ich es mal versuchen.«

»Ich komme mit«, sagte Brasher.

Bosch sah sie an, dann hörte er ein Auto und drehte sich um. Es war der Streifenwagen. Er hielt an, und Edgewood kurbelte das Fenster runter.

»Ganz heiße Sache, Partner. HD.« Er deutete auf den leeren Beifahrersitz. Brasher runzelte die Stirn und sah Bosch an.

»Ich hasse häusliche Dispute.«

Bosch grinste. Er hasste sie auch, vor allem, wenn Morde daraus wurden.

»Tja, wirklich schade.«

»Dann vielleicht ein andermal.«

Sie ging vorne um den Streifenwagen herum.

»Hier«, sagte Bosch und hielt ihr die Taschenlampe hin.

»Ich habe noch eine zweite im Auto«, sagte sie. »Geben Sie sie mir einfach bei Gelegenheit wieder zurück.«

»Wirklich?«

Er war versucht, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen, tat es aber nicht.

»Ja, wirklich. Viel Erfolg.«

»Ihnen auch. Seien Sie vorsichtig.«

Sie lächelte ihn an und ging dann rasch um den Wagen herum. Sie stieg ein, und der Streifenwagen fuhr los. Bosch wandte sich wieder Guyot und dem Hund zu.

»Eine attraktive Frau«, sagte Guyot.

Bosch ging nicht darauf ein, aber er fragte sich, ob der Arzt die Bemerkung gemacht hatte, weil er Boschs Reaktion auf Brasher bemerkt hatte. Er hoffte, es wäre ihm nicht so deutlich anzusehen gewesen.

»Also gut, Doktor«, sagte er, »dann lassen Sie den Hund mal von der Leine, und ich versuche, ihm zu folgen.«

Guyot tätschelte dem Hund die Brust und klinkte die Leine aus.

»Braves Mädchen, such den Knochen. Los! Such!«

Der Hund schoss auf das Grundstück zu und war verschwunden, bevor Bosch einen Schritt gemacht hatte. Fast hätte er gelacht.

»Also, was das angeht, hatten Sie recht, Doc.«

Er drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass der Streifenwagen weg war und Brasher den Hund nicht hatte entwischen sehen.

»Soll ich sie zurückpfeifen?«

»Nein. Ich gehe einfach so mal los und sehe mich um. Vielleicht hole ich sie ja ein.«

Er knipste die Taschenlampe an.

3

Im Wald war es dunkel, lange bevor die Sonne verschwunden war. Das Dach aus hohen Monterey-Kiefern hielt den größten Teil des Lichts ab, bevor es nach unten kam. Mithilfe der Taschenlampe arbeitete sich Bosch in der Richtung, in der er den Hund durchs Unterholz hatte preschen hören, den Abhang hinauf. Es war langwierig und mühsam. Der abschüssige Boden war von einer dreißig Zentimeter dicken Nadelschicht bedeckt, die immer wieder unter den Sohlen seiner Stiefel nachgab, wenn er darauf Halt suchte. Weil er sich, um nicht zu fallen, ständig an Zweigen festhalten musste, klebten seine Hände schon nach Kurzem von Harz.

Für die ersten dreißig Höhenmeter brauchte Bosch fast zehn Minuten. Dann wurde das Gelände flacher, und weil sich die hohen Bäume lichteten, wurde auch das Licht besser. Er blickte sich nach dem Hund um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Obwohl er die Straße und Dr. Guyot nicht mehr sehen konnte, rief er nach unten: »Doktor Guyot? Können Sie mich hören?«

»Ja, ich höre Sie.«

»Pfeifen Sie dem Hund.«

Dann hörte er einen dreiteiligen Pfiff. Er war deutlich hörbar, aber sehr leise. Offensichtlich fiel es ihm genauso schwer wie dem Sonnenlicht, durch die Bäume und das Unterholz zu dringen. Bosch versuchte, den Pfiff nachzumachen, und nach ein paar Malen glaubte er, ihn richtig hinzubekommen. Aber der Hund kam nicht.

Bosch ging weiter, blieb aber auf dem flacheren Gelände, weil er glaubte, dass jemand, der eine Leiche vergraben oder loswerden wollte, das eher auf ebenem Untergrund versuchen würde als an einem steilen Abhang. Dem Weg des geringsten Widerstands folgend, steuerte er auf ein Akaziengehölz zu. Und dort entdeckte er sofort eine Stelle, an der vor Kurzem die Erde aufgescharrt worden war, als hätte ein Tier oder jemand mit einem Werkzeug planlos im Boden gewühlt. Bosch stocherte mit der Fußspitze in der Erde und den Zweigen, und dann merkte er, dass es keine Zweige waren.

Er ließ sich auf die Knie nieder und betrachtete im Schein der Taschenlampe die kurzen braunen Knochen, die über eine Fläche von etwa dreißig mal dreißig Zentimetern verteilt waren. Er glaubte, die losen Finger einer Hand vor sich zu haben. Einer kleinen Hand. Einer Kinderhand.

Bosch richtete sich auf. Er merkte, dass ihn sein Interesse an Julia Brasher abgelenkt hatte. Er hatte nichts mitgenommen, um die Knochen einzusammeln. Sie einfach mit bloßen Händen aufzuheben und den Hügel hinunterzutragen, hätte gegen die primitivsten Grundregeln der Sicherstellung von Beweismitteln verstoßen.

Die Polaroidkamera hing an einem Schnürsenkel um seinen Hals. Er hob sie an sein Gesicht und machte eine Nahaufnahme von den Knochen. Dann trat er zurück und machte aus größerer Entfernung ein Foto von der Stelle unter den Akazien.

In der Ferne hörte er Dr. Guyots schwaches Pfeifen. Er machte sich mit dem gelben Tatortabsperrband an die Arbeit. Er wickelte ein kurzes Stück davon um den Stamm einer Akazie und spannte dann eine Absperrung um die Bäume. Während er überlegte, wie er am nächsten Morgen weiter verfahren sollte, trat er unter den Akazien hervor und blickte sich nach etwas um, das er als Luftmarkierung verwenden könnte. Er entdeckte ganz in der Nähe einen Beifußstrauch, den er mehrere Male mit dem gelben Klebeband umwickelte.

Als er damit fertig war, war es fast dunkel. Er sah sich noch einmal flüchtig um, obwohl ihm klar war, dass eine Durchsuchung mit der Taschenlampe sinnlos wäre und das Gelände am nächsten Morgen gründlich durchkämmt werden müsste. Schließlich begann er, mit dem kleinen Taschenmesser an seinem Schlüsselbund einen Meter lange Stücke von dem gelben Klebeband abzuschneiden.

Diese Streifen befestigte er beim Abstieg in regelmäßigen Abständen an Ästen und Büschen. Als er weiter nach unten kam, hörte er von der Straße Stimmen, die er zur Orientierung benutzte. An einer Stelle des Abhangs gab der weiche Untergrund plötzlich nach. Er stürzte und prallte mit dem Oberkörper gegen den Stamm einer Kiefer. Die raue Rinde zerriss sein Hemd und schürfte seine Rippenpartie übel auf.

Bosch blieb mehrere Sekunden reglos liegen. Er fürchtete, sich auf der rechten Seite ein paar Rippen gebrochen zu haben. Jeder Atemzug bereitete ihm Mühe und schmerzte. Laut stöhnend zog er sich langsam an dem Baumstamm hoch, um weiter den Stimmen zu folgen.

Wenig später hatte er die Straße erreicht, wo Dr. Guyot mit seinem Hund und einem anderen Mann wartete. Die zwei Männer machten bestürzte Gesichter, als sie das Blut auf Boschs Hemd sahen.

»Was haben Sie denn gemacht?«, rief Guyot.

»Nichts. Ich bin nur gefallen.«

»Ihr Hemd ist ja … Sie bluten!«

»Das gehört zu meinem Job.«

»Lassen Sie mich das mal ansehen.«

Der Arzt kam auf ihn zu, aber Bosch hielt die Hände hoch.

»Mir fehlt nichts. Wer ist das?«

»Ich bin Victor Ulrich«, antwortete der andere Mann. »Ich wohne hier.«

Er zeigte auf das Haus neben dem unbebauten Grundstück. Bosch nickte.

»Ich wollte nur mal sehen, was hier los ist.«

»Also, im Moment ist gar nichts los. Aber dort oben ist ein Tatort. Beziehungsweise in Kürze wird dort einer sein. Wahrscheinlich kommen wir erst morgen früh zurück, um mit den Ermittlungen fortzufahren. Aber ich muss Sie beide bitten, sich davon fernzuhalten und niemandem etwas davon zu erzählen. Ist das klar?«

Beide Männer nickten.

»Und, Doktor, lassen Sie Ihren Hund die nächsten paar Tage nicht mehr von der Leine. Ich muss jetzt zu meinem Wagen zurück, um zu telefonieren. Mr. Ulrich, wir werden mit Ihnen sprechen müssen. Sind Sie morgen erreichbar?«

»Sicher. Jederzeit. Ich arbeite zu Hause.«

»Woran?«

»Ich schreibe.«

»Okay. Dann bis morgen.«

Bosch ging mit Guyot und dem Hund zu dessen Haus zurück.

»Ich sollte mir Ihre Verletzung wirklich mal ansehen«, drängte Guyot.

»Das wird schon wieder.«

Bosch blickte kurz nach links und glaubte zu sehen, wie sich hinter einem der Fenster des Hauses, an dem sie gerade vorbeikamen, rasch ein Vorhang schloss.

»So, wie Sie gehen, haben Sie sich bestimmt eine Rippe angeknackst«, sagte Guyot. »Vielleicht sogar gebrochen. Vielleicht auch mehr als eine.«

Bosch dachte an die kleinen, dünnen Knochen, die er eben unter den Akazien gesehen hatte.

»Es gibt nichts, was man für eine Rippe tun kann«, sagte er. »Ob sie nun gebrochen ist oder nicht.«

»Ich kann sie mit Heftpflaster fixieren. Danach fällt Ihnen zumindest das Atmen um einiges leichter. Ich kann auch die Wunde versorgen.«

Bosch lenkte ein.

»Okay, Doc, Sie holen Ihre schwarze Tasche, ich hole mein zweites Hemd.«

Wenige Minuten später, in Guyots Haus, säuberte der Arzt den tiefen Kratzer an der Seite von Boschs Brustkorb und fixierte seine Rippen mit Pflastern. Danach war es nicht mehr so schlimm, aber es tat weiterhin weh. Guyot sagte, er könne ihm kein Rezept mehr ausstellen, würde ihm aber ohnehin raten, nichts Stärkeres als Aspirin zu nehmen.

Bosch fiel ein, dass er noch eine Packung Vicodin-Tabletten hatte, die er sich besorgt hatte, als er sich vor ein paar Monaten einen Weisheitszahn hatte ziehen lassen. Sie würden die Schmerzen lindern, wenn er das tatsächlich wollte.

»Es geht schon«, sagte er. »Und vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Nicht der Rede wert.«

Bosch zog sein gutes Hemd an und beobachtete, wie Guyot den Erste-Hilfe-Koffer zumachte. Er fragte sich, wie lange der Arzt schon keinen Patienten mehr behandelt hatte.

»Wie lange sind Sie schon pensioniert?«, fragte er.

»Nächsten Monat werden es zwölf Jahre.«

»Fehlt Ihnen Ihr Beruf?«

Guyot wandte sich von dem Erste-Hilfe-Koffer ab und sah ihn an. Der Tremor war weg.

»Jeden Tag. Wobei mir die Arbeit als solche – die einzelnen Fälle – nicht fehlt, wissen Sie. Aber es war etwas, was ich sinnvoll und nützlich fand. Und das fehlt mir.«

Bosch dachte an das, was Julia Brasher über die Arbeit beim Morddezernat gesagt hatte. Zum Zeichen, dass er verstanden hatte, was Guyot meinte, nickte er.

»Sie sagten, dort oben war ein Tatort?«, sagte der Arzt.

»Ja. Ich habe noch mehr Knochen gefunden. Ich muss mal telefonieren, sehen, was wir machen werden. Dürfte ich kurz Ihr Telefon benutzen? Ich schätze, mein Handy funktioniert hier nicht.«

»Nein, im Canyon nicht. Nehmen Sie den Apparat dort auf dem Schreibtisch. Ich werde Sie solange allein lassen.«

Er nahm den Erste-Hilfe-Koffer mit, als er das Zimmer verließ. Bosch ging hinter den Schreibtisch und setzte sich. Der Hund lag neben dem Stuhl auf dem Boden. Das Tier blickte auf und schien überrascht, als es Bosch auf dem Platz seines Herrchens sitzen sah.

»Calamity«, sagte er. »Heute hast du, glaube ich, deinem Namen alle Ehre gemacht.«

Bosch langte nach unten und massierte den Hals des Hundes. Der Hund knurrte, und er zog die Hand rasch zurück. Gleichzeitig fragte er sich, ob es an ihm oder an der Erziehung des Hundes lag, dass er so feindselig reagierte.

Er nahm den Hörer ab und wählte die Privatnummer seiner Vorgesetzten, Lt. Grace Billets. Er schilderte ihr, was in der Wonderland Avenue passiert war und was er auf dem Hügel gefunden hatte.

»Wie alt sehen diese Knochen aus, Harry?«, wollte Billets wissen.

Bosch sah auf das Polaroidfoto, das er von den kleinen Knochen gemacht hatte, die er auf der Erde gefunden hatte. Es war eine schlechte Aufnahme, der Blitz zu hell, weil er zu nahe dran gewesen war.

»Keine Ahnung, für mich sehen sie alt aus. Ich würde sagen, mindestens ein paar Jahre.«

»Okay. Was also am Tatort rumliegt, ist nicht frisch.«

»Vielleicht frisch entdeckt, aber nein, es ist schon eine Weile da.«

»Das habe ich auch gemeint. Deshalb glaube ich, sollten wir das Ganze erst mal auf sich beruhen lassen und erst morgen früh anfangen. Was da oben auf diesem Hügel liegt, läuft uns heute Nacht nicht weg.«

»Richtig«, sagte Bosch. »Das finde ich auch.«

Sie schwieg einen Moment, bevor sie sagte: »Diese Sorte Fälle, Harry …«

»Ja, was?«

»Sie kosten eine Menge Geld, sie kosten eine Menge Personal … und sie sind am schwersten zu lösen, falls sie sich überhaupt lösen lassen.«

»Na schön, dann klettere ich eben wieder da hoch und decke die Knochen zu. Und dem Doktor sage ich, er soll seinen Hund künftig an der Leine lassen.«

»Jetzt stellen Sie sich doch nicht so an, Harry, Sie wissen genau, was ich meine.« Sie atmete laut aus. »Der erste Tag des Jahres, und dann gleich so was.«

Bosch war still; er ließ sie ihre verwaltungstechnischen Frustrationen abarbeiten. Es dauerte nicht lang. Das war eins der Dinge, die er an ihr mochte.

»Schön, sonst noch was passiert heute?«

»Nichts Besonderes. Zwei Selbstmorde, das war’s bis jetzt.«

»Okay, wann wollen Sie morgen anfangen?«

»Ich würde gern möglichst früh da rausfahren. Ich telefoniere ein bisschen rum und sehe, was sich tun lässt. Und bevor wir überhaupt was unternehmen, lasse ich erst mal den Knochen untersuchen, den der Hund gefunden hat.«

»Okay, halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Das versprach Bosch ihr und hängte auf. Als Nächstes rief er Teresa Corazon, die Leiterin des gerichtsmedizinischen Instituts, zu Hause an. Obwohl ihre außerdienstliche Beziehung schon vor Jahren zu Ende gegangen war und Teresa seitdem mindestens zweimal umgezogen war, hatte sie immer noch dieselbe Telefonnummer, und Bosch wusste sie auswendig. Das kam ihm jetzt sehr gelegen. Er erklärte ihr, worum es ging und dass er eine offizielle Bestätigung brauchte, dass es sich um einen menschlichen Knochen handelte, bevor er weitere Schritte einleiten konnte. Außerdem, erklärte er ihr, bräuchte er für den Fall, dass sich seine Vermutung bestätigte, ein archäologisches Team, das den Tatort so bald wie möglich untersuchte.

Corazon ließ ihn fast fünf Minuten warten.

»Okay«, sagte sie, als sie wieder zurückkam. »Ich konnte Kathy Kohl nicht erreichen. Sie ist nicht zu Hause.«

Kohl war die Polizeiarchäologin. Ihr Spezialgebiet und der eigentliche Grund für ihre Vollzeitbeschäftigung bei der Polizei war, die Knochen von Leichen zu bergen, die in der Wüste im Norden des County beseitigt wurden, was im Schnitt einmal wöchentlich vorkam. Aber Bosch wusste, sie würde dafür abberufen werden, in der Wonderland Avenue die Suche nach weiteren Knochen zu organisieren.

»Und was soll ich jetzt machen? Ich hätte das gern noch heute Abend bestätigt.«

»Immer mit der Ruhe, Harry. Du bist immer so ungeduldig. Du bist wie ein Hund mit einem Knochen – kein Scherz beabsichtigt.«

»Es handelt sich um ein Kind, Teresa. Das sollten wir schon ernst nehmen.«

»Komm einfach her. Ich seh mir diesen Knochen an.«

»Und was ist mit morgen?«

»Ich werde die nötigen Schritte einleiten. Ich habe Kathy eine Nachricht hinterlassen, und sobald wir hier aufgehängt haben, sage ich im Büro Bescheid, dass sie sie über ihren Pager zu erreichen versuchen. Sie wird morgen, sobald es hell ist, mit der Grabung beginnen, und dann können wir dazustoßen. Wenn dann die Knochen geborgen sind, haben wir an der UCLA einen forensischen Anthropologen, der für uns arbeitet und den wir ebenfalls hinzuziehen können, wenn er gerade in L.A. ist. Und ich selbst werde auch hinkommen. Bist du jetzt zufrieden?«

Die letzte Ankündigung ließ Bosch stutzen.

»Teresa«, sagte er schließlich. »Ich möchte das so diskret wie möglich abwickeln – und das auch so lange wie möglich.«

»Und was genau willst du damit sagen?«

»Dass ich nicht ganz sicher bin, ob da unbedingt die Gerichtsmedizinerin des Los Angeles County dabei sein muss. Und dass ich dich schon ziemlich lange nicht mehr ohne einen Kameramann im Schlepptau an einem Tatort gesehen habe.«

»Harry, das ist mein privater Kameramann, ja? Das Material, das er filmt, ist ausschließlich für die künftige Verwendung durch mich gedacht; darüber verfüge einzig und allein ich. Das kommt nicht in den Abendnachrichten.«

»Na gut. Ich finde nur, wir sollten hier möglichst alle Komplikationen vermeiden. Es ist ein Kinderfall. Du weißt, wie die werden können.«

»Komm einfach mit diesem Knochen her. Ich muss in einer Stunde weg.«

Sie hängte abrupt auf.

Bosch bereute, nicht diplomatischer gewesen zu sein, aber zugleich war er froh, Corazon seinen Standpunkt klargemacht zu haben. Corazon war keine Unbekannte und trat in Court TV und anderen Sendungen regelmäßig als forensische Expertin auf. Außerdem hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, überallhin einen Kameramann mitzunehmen, um ihre Fälle später in einer der zahlreichen Polizei- und Justiz-Serien im breiten Programmangebot der Kabel- und Satellitensender als Fernsehdokumentationen verwerten zu können. Er durfte und wollte nicht zulassen, dass in einem Fall, in dem möglicherweise ein Kind ermordet worden war, ihre Interessen als prominente Gerichtsmedizinerin mit seinen Interessen als Ermittler in Konflikt gerieten.

Er beschloss, erst dann bei den Special Services und den K-9-Einheiten der Polizei anzurufen, wenn er hinsichtlich des Knochens Gewissheit hatte. Er stand auf und verließ das Zimmer, um nach Guyot zu suchen.

Der Arzt war in der Küche, wo er an einem kleinen Tisch saß und in ein Spiralheft schrieb. Er blickte zu Bosch auf.

»Ich mache mir nur ein paar Notizen zu Ihrer Behandlung. Ich habe mir über jeden Patienten, den ich mal behandelt habe, Notizen gemacht.«

Bosch nickte bloß, obwohl es ihm eigenartig vorkam, dass Guyot sich über ihn Notizen machte.

»Ich muss jetzt los, Doktor. Wir kommen morgen wieder. Mit einem Riesenaufgebot, nehme ich mal an. Möglicherweise brauchen wir Ihren Hund noch mal. Werden Sie zu Hause sein?«

»Ich werde hier sein und bin Ihnen gern behilflich. Was machen Ihre Rippen?«

»Sie tun weh.«

»Aber nur, wenn Sie atmen, oder? Das wird noch etwa eine Woche so bleiben.«

»Vielen Dank für die gute ärztliche Versorgung. Diesen Schuhkarton wollen Sie nicht wieder zurückhaben, oder?«

»Nein, jetzt möchte ich ihn nicht mehr haben.«

Bosch wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal zu Guyot um.

»Doktor, leben Sie allein hier?«

»Inzwischen ja. Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Einen Monat vor unserem fünfzigsten Hochzeitstag.«

»Mein Beileid.«

Guyot nickte. »Meine Tochter hat oben in Seattle eine eigene Familie. Ich sehe sie bei besonderen Anlässen.«

Fast hätte Bosch gefragt, warum nur bei besonderen Anlässen, tat es dann aber doch nicht. Er dankte dem Mann noch einmal und ging.

Auf der Fahrt aus dem Canyon und zu Teresa Corazons Haus in Hancock Park behielt er ständig die Hand auf dem Schuhkarton, damit er nicht durchgeschüttelt würde oder vom Sitz rutschte. Er spürte, wie sich tiefes Unbehagen in ihm regte. Er wusste, es lag daran, dass es das Schicksal an diesem Tag nicht gerade gut mit ihm gemeint hatte. Er hatte die übelste Sorte Fall an Land gezogen, die man überhaupt an Land ziehen konnte. Einen Kinderfall.

Kinderfälle ließen einen nicht mehr los. Sie höhlten einen aus und brachten einem Narben bei. Es gab keine kugelsichere Weste, die dick genug war, um zu verhindern, dass man durchbohrt wurde. Kinderfälle ließen einen mit dem Wissen zurück, dass die Welt voll von verlorenem Licht war.

4

Teresa Corazon wohnte in einer Villa im mediterranen Stil mit einem gepflasterten Wendekreis samt Koiteich davor. Acht Jahre zuvor, als Bosch eine kurze Beziehung mit ihr gehabt hatte, hatte sie in einer Zwei-Zimmer-Eigentumswohnung gewohnt. Für das Haus und den dazugehörigen Lebensstil kamen die Segnungen von Fernsehen und Berühmtheit auf. Sie war nicht mehr annähernd die Frau, die gegen Mitternacht mit einer Flasche billigem Rotwein von Trader Joe’s und einem Video ihres Lieblingsfilms unangemeldet bei ihm aufgetaucht war. Die Frau, die zwar hemmungslos ehrgeizig gewesen war, aber noch nicht geschickt genug, ihre berufliche Stellung zur persönlichen Bereicherung zu nutzen.

Bosch wusste, dass er sie jetzt daran erinnerte, wer sie einmal gewesen war und was sie verloren hatte, um all das zu bekommen, was sie jetzt hatte. Kein Wunder also, dass sie nur noch selten und sporadisch Kontakt miteinander hatten, und wenn sich eine Begegnung dennoch nicht vermeiden ließ, war sie so spannungsgeladen wie ein Zahnarztbesuch.

Er parkte auf dem Wendekreis und stieg mit dem Schuhkarton und den Polaroidfotos aus. Als er um den Wagen herumging und auf den Teich sah, konnte er die dunklen Umrisse der Fische erkennen, die unter der Wasseroberfläche schwammen. Lächelnd musste er an den Film Chinatown denken und wie oft sie ihn sich in dem Jahr, in dem sie zusammen gewesen waren, angesehen hatten. Er erinnerte sich, wie gut ihr die Darstellung des Gerichtsmediziners gefallen hatte. Er trug bei der Obduktion einer Leiche eine schwarze Metzgerschürze und aß ein Sandwich. Bosch bezweifelte, dass sie die Dinge immer noch mit derselben Art von Humor betrachtete.

Die Lampe, die über der massiven Holztür hing, ging an, und Corazon öffnete, bevor er die Tür erreichte. Sie trug eine schwarze Hose und eine cremefarbene Bluse. Wahrscheinlich wollte sie noch zu einer Neujahrsparty. Sie sah an ihm vorbei auf den Slickback, mit dem er gekommen war.

»Mach lieber schnell, bevor diese Kiste mein Pflaster mit Öl volltropft.«

»Guten Abend auch, Teresa.«

»Ist es das?«

Sie deutete auf den Schuhkarton.

»Das ist es.«

Er reichte ihr die Polaroidfotos und machte sich daran, den Deckel der Schachtel abzunehmen. Sie hatte eindeutig nicht vor, ihn auf ein Glas Neujahrschampagner nach drinnen zu bitten.

»Möchtest du es gleich hier machen?«

»Ich habe nicht viel Zeit. Ich dachte, du würdest früher kommen. Welcher Trottel hat die denn aufgenommen?«

»Ich.«

»Anhand dieser Fotos lässt sich überhaupt nichts sagen. Hast du einen Handschuh?«

Bosch zog einen Gummihandschuh aus seiner Jackentasche und gab ihn ihr. Er nahm die Fotos wieder an sich und steckte sie in die Innentasche seines Jacketts. Sie zog geübt den Handschuh an und griff in die offene Schachtel. Sie hob den Knochen hoch und hielt ihn ins Licht. Bosch schwieg. Er konnte ihr Parfüm riechen. Wie gewohnt war es stark, ein Relikt aus der Zeit, als sie den größten Teil ihrer Zeit in Obduktionsräumen verbracht hatte.

Nach einer Fünf-Sekunden-Begutachtung legte sie den Knochen in den Karton zurück.

»Menschlich.«

»Ganz sicher?«

Sie bedachte Bosch mit einem bösen Blick, als sie den Handschuh auszog.

»Es ist ein Humerus. Ein Oberarmknochen. Ich würde sagen, ein zehnjähriges Kind. Auch wenn du nicht mehr viel von meinen Fähigkeiten hältst, Harry, habe ich sie trotzdem noch.«

Sie warf den Handschuh in den Karton auf den Knochen. Mit ihren verbalen Sticheleien konnte Bosch leben, aber was sie mit dem Handschuh machte, störte ihn – dass sie ihn so auf den Knochen des Kindes warf.

Er langte in die Schachtel und nahm den Handschuh heraus. Ihm fiel etwas ein, und er hielt ihr den Handschuh wieder hin.

»Der Mann, dessen Hund das gefunden hat, sagte, auf dem Knochen wäre eine Fraktur. Eine verheilte Fraktur. Möchtest du ihn dir noch mal ansehen, ob du vielleicht …«

»Nein. Ich bin sowieso schon spät dran. Du musst im Moment sowieso nur wissen, dass er von einem Menschen ist. Das hast du jetzt mit Brief und Siegel. Näher untersucht wird der Knochen dann unter den entsprechenden Bedingungen in der Gerichtsmedizin. Aber jetzt muss ich wirklich los. Ich komme morgen früh vorbei.«

Bosch sah sie lange an.

»Klar, Teresa, und amüsier dich noch gut heute Abend.«

Sie wandte den Blick ab und verschränkte die Arme über der Brust. Er machte vorsichtig den Deckel auf den Karton, nickte ihr zu und ging zu seinem Auto. Er hörte, wie die massive Tür hinter ihm zuging.

Als er am Fischteich vorbeikam, musste er wieder an Chinatown denken und sprach leise den letzten Satz des Films vor sich hin.

»Vergiss es, Jake, wir sind in Chinatown.«

Er stieg in sein Auto, und als er nach Hause fuhr, hielt er den Schuhkarton auf dem Sitz neben sich die ganze Zeit mit der Hand fest.

5

Bis 9 Uhr am nächsten Morgen war das Ende der Wonderland Avenue ein Polizeilager. Und in seinem Mittelpunkt war Harry Bosch. Er dirigierte Teams von Streifenpolizei, K-9, Spurensicherung SID, gerichtsmedizinischem Institut und Special Services. Am Himmel kreiste ein Polizeihubschrauber, und ein Dutzend Kadetten von der Police Academy standen herum und warteten auf Anweisungen.

Zuvor hatte die Lufteinheit bereits den Beifußstrauch, den Bosch mit gelbem Tatort-Tape umwickelt hatte, ausgekundschaftet und aus der Luft nachgeprüft, ob die Stelle, an der Bosch die Knochen gefunden hatte, tatsächlich von der Wonderland am besten zu erreichen war. Dann machte sich die Special-Services-Einheit an die Arbeit. Der Tatort-Tapespur folgend, hämmerten und knüpften die sechs Mann des Teams eine Reihe hölzerner Rampen und Treppen mit Seilhandläufen zusammen, die zu den Knochen auf dem Hügel hinaufführten. Die Stelle war nun wesentlich einfacher zu erreichen als am Abend zuvor.

Ein solches Nest polizeilicher Aktivitäten ließ sich nicht geheim halten. Deshalb war die Wonderland bis 9 Uhr auch ein Medienlager geworden. Hinter den Straßensperren, die einen halben Block vor dem Wendekreis errichtet worden waren, drängten sich die Aufnahmewagen. Die Journalisten hatten sich in pressekonferenzgroßen Gruppen zusammengeschart. Und ein Stück über dem Polizeihubschrauber kreisten nicht weniger als fünf Nachrichtenhubschrauber. Wegen des daraus resultierenden Lärmpegels waren im Polizeipräsidium im Parker Center bereits eine ganze Reihe von Anwohnerbeschwerden eingegangen.

Bosch machte sich bereit, die erste Gruppe zur Fundstelle hinaufzuführen. Zuerst besprach er sich mit Jerry Edgar, den er bereits am Abend zuvor über die Einzelheiten des Falls in Kenntnis gesetzt hatte.

»Als Erstes«, sagte er, »bringen wir die Gerichtsmedizin und die Spurensicherung hoch. Anschließend holen wir die Kadetten und die Hunde. Ich möchte, dass du das übernimmst.«

»Kein Problem. Hast du gesehen, dass Corazon wieder ihren verdammten Kameramann dabeihat?«

»Dagegen können wir im Moment leider nichts tun – außer hoffen, dass sie sich schnell zu langweilen beginnt und in die Stadt zurückfährt, wo sie hingehört.«

»Das könnten übrigens auch genauso gut irgendwelche alten Indianerknochen sein.«

Bosch schüttelte den Kopf.

»Das glaub ich nicht. Dafür sind sie nicht tief genug unter der Erde.«

Bosch ging auf die erste Gruppe zu: Teresa Corazon, ihr Kameramann, zwei Männer von der Spurensicherung und das vier Mann starke Grabungsteam, das aus der Archäologin Kathy Kohl und drei Ermittlern bestand, die das Schaufeln übernehmen würden. Die Mitglieder des Grabungsteams hatten weiße Overalls an. Corazon trug etwas Ähnliches wie am Abend zuvor, einschließlich Schuhen mit fünf Zentimeter hohen Absätzen.

Bosch winkte die Gruppe enger zusammen, um mit ihnen sprechen zu können, ohne dass alle anderen mithörten.

»Also, wir gehen jetzt da rauf und beginnen mit Dokumentation und Bergung. Sobald wir damit fertig sind, holen wir die Hunde und die Kadetten hoch, damit sie das angrenzende Areal absuchen und die Fundstelle möglicherweise ausweiten. Sie …«

Er hielt inne und reckte Corazons Kameramann seine erhobene Hand entgegen.

»Machen Sie die Kamera aus. Sie können sie filmen, aber nicht mich.«

Der Mann nahm die Kamera runter. Nach einem vielsagenden Blick auf Corazon fuhr Bosch fort: »Sie wissen alle, was Sie zu tun haben, ich brauche Ihnen also keine Anweisungen zu erteilen. Das Einzige, worauf ich Sie allerdings hinweisen möchte, ist: Es ist nicht ganz ohne, da raufzukommen. Sogar mit den ganzen Rampen und Treppen. Seien Sie also vorsichtig. Halten Sie sich an den Seilen fest, passen Sie auf, wo Sie hintreten. Wir möchten schließlich nicht, dass sich jemand verletzt. Wenn Sie schwere Ausrüstung haben, teilen Sie sie auf und gehen Sie lieber mehrere Male. Wenn Sie trotzdem noch Hilfe brauchen, lasse ich es die Kadetten hochbringen. Achten Sie nicht auf die Zeit. Achten Sie nur auf Ihre Sicherheit. Also dann, alles klar?«

Alle nickten. Bosch winkte Corazon zu einer privaten Unterredung beiseite.

»Du bist nicht richtig angezogen«, sagte er.

»Fang jetzt bloß nicht an, mir zu erzählen …«

»Soll ich mein Hemd ausziehen, damit du meine Rippen sehen kannst? Mein Brustkorb sieht aus wie Heidelbeerkuchen, weil ich gestern Abend dort oben hingefallen bin. Dein Schuhwerk ist dafür nicht ganz das Richtige. Für die Kamera mag das alles ja gut aussehen, aber …«

»Überlass das ruhig mir. Ich komme schon klar. Sonst noch was?«

Bosch schüttelte den Kopf.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte er. »Gehen wir.«

Er schritt auf die Rampe zu, und die anderen folgten ihm. Der Special-Services-Trupp hatte einen hölzernen Torbogen gebaut, der als Kontrollpunkt diente. Dort stand ein Streifenpolizist mit einem Klemmbrett. Bevor er jemanden durchließ, notierte er Namen und Dienststelle des Betreffenden.

Bosch ging voran. Der Aufstieg war einfacher als am Tag zuvor, aber sein Brustkorb brannte vor Schmerzen, als er sich an den Seilen die Rampen und Treppen hinaufzog. Er sagte nichts und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.

Als er die Akazien erreichte, bedeutete er den anderen zu warten, während er sich unter dem Tatort-Tape hindurchduckte. Die aufgewühlte Erde und die kleinen braunen Knochen, die er am Abend zuvor entdeckt hatte, schienen unangetastet.

»Okay, kommen Sie rein und sehen Sie sich das Ganze mal an.«

Der Rest der Gruppe kam unter dem Absperrband durch und bildete einen Halbkreis um die Knochen. Die Kamera begann zu laufen, und Corazon übernahm das Kommando.

»Also, als Erstes gehen wir jetzt wieder hinter die Absperrung zurück und machen Fotos. Dann legen wir ein Raster an, und Dr. Kohl wird Ausgrabung und Bergung leiten. Wenn Sie etwas finden, fotografieren Sie es aus allen nur erdenklichen Blickwinkeln, bevor Sie es einsammeln.«

Sie wandte sich einem der Ermittler zu.

»Finch, Sie machen die Skizzen. Standardraster. Alles dokumentieren. Gehen Sie nicht davon aus, dass wir uns auf Fotos verlassen können.«

Finch nickte. Corazon wandte sich Bosch zu.

»Das wär’s dann eigentlich schon, Detective. Je weniger Leute sich hier drinnen aufhalten, desto besser.«

Bosch nickte und reichte ihr ein Funkgerät.

»Ich bin in der Nähe. Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie mich über Funk. Handys funktionieren hier oben nicht. Aber passen Sie auf, was Sie sagen.«

Er zeigte zum Himmel hinauf, wo die Medienhubschrauber ihre Kreise zogen.

»Da fällt mir ein«, sagte Kohl, »wir werden, glaube ich, zwischen den Bäumen eine Plane spannen, damit wir etwas ungestörter sind – und besser vor der Sonne geschützt. Geht das in Ordnung?«

»Ab sofort ist das Ihr Tatort«, sagte Bosch. »Machen Sie, was Sie für richtig halten.«

Gefolgt von Edgar stieg er die Rampe wieder hinunter.

»Das kann Tage dauern, Harry«, sagte Edgar.

»Sogar Wochen.«

»Aber so viel Zeit werden Sie uns nicht lassen. Das ist dir doch klar, oder?«

»Sicher.«

»Du weißt ja, bei solchen Fällen … wahrscheinlich können wir von Glück reden, wenn wir das Opfer überhaupt identifizieren können.«

»Ich weiß.«

Bosch ging einfach weiter. Als er unten an der Straße ankam, sah er, dass Lt. Billets mit ihrem Vorgesetzten, Capt. LeValley, eingetroffen war.

»Trommle doch schon mal die Kadetten zusammen, Jerry«, sagte Bosch zu Edgar. »Halte ihnen den Tatort-Standardvortrag. Ich komme gleich nach.«

Bosch ging zu Billets und LeValley und setzte sie über den jüngsten Stand der Dinge in Kenntnis. Er führte sämtliche bisherigen Maßnahmen auf, einschließlich der Anwohnerbeschwerden über das Hämmern, Sägen und Hubschrauberknattern.

»Irgendetwas müssen wir den Medien auf jeden Fall geben«, sagte LeValley. »Die Pressestelle will wissen, ob Sie möchten, dass sie sich im Parker Center darum kümmern oder ob Sie die Sache selbst übernehmen wollen.«

»Ich will damit nichts zu tun haben. Was weiß die Pressestelle über die Sache?«

»So gut wie nichts. Deshalb sollten Sie sie anrufen, damit sie eine Presseerklärung ausarbeiten können.«

»Captain, ich habe hier zu tun. Könnte ich …«

»Nehmen Sie sich die Zeit, Detective. Halten Sie sie uns vom Hals.«

Als Bosch zu den Journalisten schaute, die ein Stück weiter an der Straßensperre warteten, sah er Julia Brasher, die einem Streifenpolizisten ihre Dienstmarke zeigte und durchgelassen wurde. Sie war in Zivil.

»Also gut. Ich rufe sie an.«

Er ging in Richtung von Dr. Guyots Haus die Straße hinunter. Brasher, die ihm entgegenkam, lächelte ihn an.

»Ich habe Ihre Taschenlampe«, sagte Bosch. »Sie ist unten in meinem Auto. Ich muss sowieso zu Dr. Guyots Haus.«

»Oh, machen Sie sich deshalb mal keine Gedanken. Das ist nicht der Grund, warum ich hier bin.«

Sie änderte die Richtung und ging neben Bosch her. Er inspizierte ihre Kleider: eine verwaschene Jeans und ein T-Shirt von einem 5K-Wohltätigkeitslauf.

»Sie sind jetzt nicht im Dienst, oder?«

»Nein, ich habe die Schicht von drei bis elf. Ich dachte nur, Sie könnten vielleicht eine Freiwillige brauchen. Ich habe mitbekommen, dass Sie ein paar Leute von der Academy angefordert haben.«

»Sie möchten also da raufgehen und nach Knochen suchen?«

»Ich will was lernen.«

Bosch nickte. Sie gingen auf Guyots Haus zu. Die Tür wurde geöffnet, bevor sie sie erreichten, und der Arzt bat sie ins Haus. Bosch fragte, ob er das Telefon im Arbeitszimmer noch einmal benutzen dürfte, und Guyot zeigte ihm den Weg, obwohl das nicht nötig war. Bosch setzte sich an den Schreibtisch.

»Was machen Ihre Rippen?«, erkundigte sich der Arzt.

»Es geht.«

Brasher zog die Augenbrauen hoch, und Bosch ging darauf ein.

»Ich hatte einen kleinen Unfall, als ich gestern Abend dort oben war.«

»Was ist passiert?«

»Ach, ich dachte mir eigentlich nichts Böses, als mich plötzlich grundlos ein Baumstamm anfiel.«

Sie verzog das Gesicht, und irgendwie schaffte sie es, gleichzeitig auch zu grinsen.

Bosch wählte die Nummer der Pressestelle aus dem Gedächtnis und berichtete einem Mitarbeiter in groben Zügen über den Fall. Irgendwann hielt er mit der Hand den Hörer zu und fragte Guyot, ob er in der Presseerklärung namentlich genannt werden wollte. Der Arzt lehnte ab. Wenige Minuten später war Bosch fertig und legte auf. Er sah Guyot an.

»Sobald wir in ein paar Tagen den Fundort freigeben, werden wahrscheinlich jede Menge Journalisten hier rumschnüffeln. Ich würde mal sagen, sie werden nach dem Hund suchen, der den Knochen gefunden hat. Wenn Sie also Ihre Ruhe vor ihnen haben wollen, lassen Sie Calamity nicht aus dem Haus. Andernfalls werden sie Ihnen wahrscheinlich schnell auf die Spur kommen.«

»Ein guter Rat«, sagte Guyot.

»Und vielleicht sollten Sie auch Ihren Nachbarn, Mr. Ulrich, anrufen, dass er keinem Journalisten was erzählt.«

Beim Verlassen des Hauses fragte Bosch Brasher, ob sie ihre Taschenlampe zurückwollte, und sie sagte, sie hätte keine Lust, sie mit sich rumzuschleppen, wenn sie beim Absuchen des Geländes half.

»Geben Sie sie mir ein andermal zurück«, sagte sie.

Bosch gefiel die Antwort. So bekam er mindestens noch eine Chance, sich mit ihr zu treffen.

Wieder zurück am Wendekreis sah Bosch, wie Edgar den Kadetten Anweisungen erteilte.

»Die goldene Regel am Tatort lautet: Nichts anfassen, bevor es untersucht, fotografiert und in die Karte eingetragen ist.«

Bosch trat in den Kreis.

»Und? Können wir?«

»Sie sind so weit.« Edgar deutete mit dem Kopf auf zwei Kadetten, die Metalldetektoren trugen. »Die habe ich mir von der Spurensicherung geborgt.«

Bosch nickte und hielt den Kadetten und Brasher den gleichen Sicherheitsvortrag, den er den Leuten von der Spurensicherung gehalten hatte. Dann stiegen sie zur Fundstelle hoch. Bosch stellte Edgar Brasher vor und ließ anschließend seinen Partner durch die Sperre vorangehen. Er bildete die Nachhut und ging hinter Brasher.

»Wenn dieser Tag zu Ende geht«, sagte er, »wird sich zeigen, ob Sie immer noch zum Morddezernat wollen.«

»Schlimmeres, als jedem Funkspruch hinterherzuhecheln und bei Dienstschluss die Kotze vom Rücksitz zu putzen, kann es eigentlich gar nicht geben.«

»An die Zeiten kann ich mich noch gut erinnern.«

Bosch und Edgar ließen die zwölf Kadetten und Brasher auf dem an die Akazien angrenzenden Gelände eine Mann-an-Mann-Suche durchführen. Danach ging Bosch wieder nach unten und holte die zwei K-9-Teams, damit sie bei der Suche halfen.

Sobald das erledigt war, ließ er Edgar mit den Kadetten allein und kehrte zu den Akazien zurück, um zu sehen, wie das Grabungsteam vorankam. Kohl saß auf einer Kiste und beaufsichtigte die Anbringung der hölzernen Pflöcke, zwischen denen die Schnüre für das Ausgrabungsraster gespannt werden sollten.

Bosch hatte schon einmal mit Kohl zusammengearbeitet und wusste, dass sie sehr gründlich war und etwas von ihrem Job verstand. Sie war Ende dreißig und hatte die Figur und die Bräune einer Tennisspielerin. Bosch hatte sie zufällig einmal in einer Freizeitanlage mit ihrer Zwillingsschwester Tennis spielen sehen. Sie hatten einen Menschenauflauf verursacht. Es sah aus, als schlüge jemand den Ball gegen eine Spiegelwand.

Kohl fiel das glatte blonde Haar ins Gesicht und verdeckte ihre Augen, als sie auf das große Klemmbrett in ihrem Schoß hinabblickte. Sie machte sich auf einem Bogen Papier, auf den bereits ein Raster gedruckt war, Notizen. Bosch spähte über ihre Schulter. Kohl versah jedes einzelne Kästchen mit einem Buchstaben, wenn der entsprechende Pflock in die Erde gesteckt wurde. Oben auf die Seite hatte sie »Stadt der Knochen« geschrieben.

Bosch tippte mit dem Finger auf die Überschrift.

»Wie kommen Sie auf diesen Namen?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Weil wir gerade die Straßen und Häuserblöcke von etwas abstecken, das für uns eine Stadt werden wird«, sagte sie und fuhr dabei mit den Fingern über ein paar Linien des Rasters. »Zumindest wenn wir hier arbeiten, wird es so für uns sein. Dann ist das unsere kleine Stadt.«

Bosch nickte.

»In jedem Mord ist die Geschichte einer Stadt«, sagte er.

Kohl sah zu ihm hoch.

»Wer hat das gesagt?«

»Keine Ahnung. Irgendjemand jedenfalls.«

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Corazon, die über den an der Oberfläche liegenden kleinen Knochen kauerte und sie betrachtete, während das Objektiv der Videokamera sie betrachtete. Er überlegte, was er darüber sagen könnte, als der Signalton seines Funkgeräts ertönte. Er nahm es vom Gürtel.

»Hier Bosch.«

»Edgar. Komm mal hier rüber, Harry. Wir haben schon was.«

»Okay.«

Edgar stand etwa vierzig Meter von den Akazien entfernt an einer fast ebenen Stelle im Gebüsch. Ein halbes Dutzend Kadetten und Brasher hatten einen Kreis gebildet und sahen auf etwas in dem kniehohen Gebüsch hinab. Der Polizeihubschrauber begann immer enger über ihnen zu kreisen.

Bosch erreichte die Gruppe und sah auf den Boden. Es war der zum Teil in der Erde steckende Schädel eines Kindes, der aus leeren Augenhöhlen zu ihm hochstarrte.

»Niemand hat ihn angefasst«, sagte Edgar. »Gefunden hat ihn Brasher.«

Bosch sah sie an, und das Schmunzeln, das sonst immer um ihre Augen und ihren Mund zu spielen schien, war verflogen. Er sah wieder den Schädel an und zog das Funkgerät vom Gürtel.

»Dr. Corazon?«

Es dauerte ziemlich lang, bis ihre Stimme zurückkam.

»Ja, ich bin hier. Was ist?«

»Wir müssen den Fundort ausweiten.«

6

Mit Bosch als befehligendem General der kleinen Armee, die sich an dem erweiterten Tatort zu schaffen machte, gingen die Arbeiten gut voran. Die Knochen kamen leicht aus dem Boden und dem Unterholz auf dem Hügel, als hätten sie schon sehr lange ungeduldig gewartet. Bis Mittag hatte Kathy Kohls Team drei Quadrate des Rasters freigelegt, und Dutzende von Knochen kamen aus der dunklen Erde. Wie ihre archäologischen Pendants, welche die Hinterlassenschaften alter Kulturen zutage fördern, verwendeten die Mitglieder das Grabungsteam kleine Gerätschaften und Pinsel, um die Knochen behutsam ans Licht zu bringen. Außerdem benutzten sie Metalldetektoren und Dampfsonden. Das Verfahren war zwar zeitraubend, aber es ging schneller, als Bosch gehofft hatte.

Ausgelöst hatte diese Temposteigerung die Entdeckung des Schädels, die der Operation insgesamt etwas Dringlicheres verlieh. Zunächst wurde der Schädel aus dem Boden herausgelöst, und als ihn Teresa Corazon dann vor laufender Kamera untersuchte, wurden Frakturlinien und operative Vernarbungen sichtbar. Spuren eines chirurgischen Eingriffs bestätigten, dass die Knochen noch nicht allzu alt sein konnten. Für sich genommen waren die Frakturen noch kein eindeutiger Hinweis auf ein Gewaltverbrechen, aber betrachtete man sie unter dem Gesichtspunkt, dass die Leiche vergraben worden war, erzählten sie offensichtlich die Geschichte eines Mordes.

Als die Teams auf dem Hügel um 2 Uhr Mittagspause machten, war bereits die Hälfte des Skeletts aus dem Raster geborgen worden. Ein paar weitere Knochen waren nicht weit entfernt von den Kadetten im Gebüsch gefunden worden. Außerdem hatte Kohls Team Reste zersetzter Kleidungsstücke und eines Leinwandrucksacks zutage gefördert, der, seiner Größe nach zu schließen, einem Kind gehört hatte.

Die Knochen wurden in quadratischen Holzkisten mit Seilgriffen den Hügel hinuntergebracht. Vor der Mittagspause hatte ein forensischer Anthropologe im gerichtsmedizinischen Institut mit der Untersuchung dreier Kisten voller Knochen begonnen. Die Kleider, von denen die meisten bis zur Unkenntlichkeit zersetzt waren, und der Rucksack, der ungeöffnet geblieben war, wurden in das Labor der Scientific Investigation Division, der Spurensicherung des LAPD, gebracht.

Eine Sondierung des Grabungsrasters mit Metalldetektoren förderte eine einzige Münze zutage – einen 1975 geprägten Vierteldollar, der in ungefähr derselben Tiefe wie die Knochen etwa fünf Zentimeter neben dem linken Beckenknochen gefunden wurde. Die Vermutung war, dass sich der Quarter in der linken vorderen Tasche der Hose befunden hatte, die wie das Körpergewebe längst verwest war. Für Bosch war die Münze einer der Schlüsselhinweise auf den Todeszeitpunkt: Wenn zutraf, dass die Münze zusammen mit der Leiche vergraben worden war, konnte sich der Tod nicht vor 1975 ereignet haben.

Die Polizeiführung hatte veranlasst, dass zwei Baustellen-Verpflegungswagen in die Wonderland Avenue kamen, um die am Tatort beschäftigte Truppe mit Essen zu versorgen. Die Mittagspause war spät, und die Leute waren hungrig. Einer der Lkws gab heiße Mahlzeiten aus, der andere Sandwiches. Bosch wartete mit Julia Brasher am Ende der Schlange vor dem Sandwich-Lkw. Die Schlange schrumpfte nur langsam, aber es störte ihn nicht. Sie unterhielten sich hauptsächlich über die Ermittlungen auf dem Hügel und tauschten Klatsch über Vorgesetzte aus. Es ging darum, sich gegenseitig kennenzulernen. Bosch fühlte sich zu ihr hingezogen, und je mehr er sie von ihren Erfahrungen als Berufsanfängerin und Frau bei der Polizei erzählen hörte, desto mehr war er von ihr angetan. Sie legte in Hinblick auf ihren Job eine Mischung aus gespannter Erwartung, Ehrfurcht und Zynismus an den Tag, die Bosch von seinen Anfangstagen bei der Polizei gut in Erinnerung hatte.

Als ihn noch ungefähr fünf Personen vom Bestellfenster des Essenslasters trennten, hörte Bosch, wie jemand im Lkw einem der Kadetten Fragen über die Ermittlungen stellte.

»Sind es Knochen von mehreren Leuten?«

»Keine Ahnung, Mann. Wir suchen bloß nach ihnen, sonst nichts.«

Bosch beobachtete den Mann, der die Frage gestellt hatte.

»Waren sie richtig zerstückelt?«

»Schwer zu sagen.«

Bosch ging von da, wo er mit Brasher stand, auf die Rückseite des Lkws. Durch die offene Hecktür konnte er