Kein Indianerspiel - Karl-Heinz Baum - E-Book

Kein Indianerspiel E-Book

Karl-Heinz Baum

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Beschreibung

Karl-Heinz Baum arbeitete von 1977 bis 1990 als DDR-Korrespondent der Frankfurter Rundschau in Ost-Berlin. In dieser Zeit hat er zahlreiche Reportagen verfasst, in denen sich nicht nur die deutsch-deutsche Politik spiegelt, sondern auch der Alltag der Ostdeutschen: Mit den Menschen sprechen und sie sprechen lassen, die Wirklichkeit einfangen, um sie unvoreingenommen zu beschreiben, lautete sein journalistisches Prinzip. Dabei thematisiert Karl-Heinz Baum eindrücklich, mit welchen Schwierigkeiten er täglich als Korrespondent in der DDR konfrontiert war. Seine Auseinandersetzung mit der Tätigkeit eines Journalisten in einem gelenkten System hat bis heute nichts an Brisanz verloren.
Darüber hinaus vermitteln Hintergrundberichte zur Entstehung und Wirkung der Reportagen einen spannenden Einblick in Karl-Heinz Baums Arbeit. Zahlreiche Abbildungen, Karikaturen und konkrete Arbeitsanregungen für Schüler der 9. bis 12. Klassen ergänzen den Textband und ermöglichen den Einsatz im Geschichtsunterricht. Ein lebendiges, journalistisches Stück DDR-Geschichte.

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Seitenzahl: 364

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Karl-Heinz Baum

Kein Indianerspiel

Karl-Heinz Baum

Kein Indianerspiel

DDR-Reportagen eines Westjournalisten

Ausgewählt und herausgegeben von Jürgen Klammer

Mit Arbeitsanregungen von Renate Schliephacke

Editorische Notiz

In den Originalreportagen sind formale Vereinheitlichungen erfolgt, und Autor und Herausgeber haben aus Platzgründen hier und da Auslassungen vorgenommen. Die entsprechenden Stellen sind mit einem (…) gekennzeichnet.

Die Erstellung und Drucklegung dieser Publikation wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Februar 2017

entspricht der 1. Druckauflage vom Februar 2017

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: Ch. Links Verlag, Berlin, unter Verwendung

eines Fotos der Mauer im Ost-Berliner Grenzgebiet, hier: Stadtteil

Prenzlauer Berg, 25. 2. 1978, © Bundesstiftung Aufarbeitung,

Klaus Mehner, Bild 78_0225_POL_Wall_East_01

eISBN 978-3-86284-377-0

Inhalt

Geleitwort

Dr. Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung

Vorwort

Thomas Bellut, Intendant des ZDF

Editorial

Jürgen Klammer, Herausgeber

Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen

Auch große Steine können den Lauf eines Flusses nicht aufhalten

»Buschfunk« und andere Quellen

Kein Indianerspiel – Jeder Fehler konnte Leben kosten

Arbeitsanregungen

Journalistisches Arbeiten

Einleitung von Jürgen Klammer

Auswahl an Reportagen

Arbeitsanregungen

Schule und Jugend

Einleitung von Karl-Heinz Baum

Auswahl an Reportagen

Arbeitsanregungen

Alltag und Leben

Einleitung von Jürgen Klammer

Auswahl an Reportagen

Arbeitsanregungen

Kirche

Einleitung von Jürgen Klammer

Auswahl an Reportagen

Arbeitsanregungen

Opposition, Verfolgung, Mauerfall

Einleitung von Jürgen Klammer

Auswahl an Reportagen

Arbeitsanregungen

Nachwort

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung

Anhang

Gesamtverzeichnis der Reportagen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsnachweis

Personenregister

Dank

Zum Autor und zum Herausgeber

Geleitwort

Liebe Leserinnen und Leser,

am 9. November 1989 nahm Karl-Heinz Baum an jener Pressekonferenz teil, die den Lauf nicht nur der deutschen, sondern der Weltgeschichte ändern sollte. Schnell wurde ihm klar, was Günter Schabowski dort verkündet hatte: die Öffnung der ostdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Auch wenn manche Journalistenkollegen ihm zunächst keinen Glauben schenken wollten, sollte Karl-Heinz Baum mit seiner Vermutung Recht behalten. Die Überwindung der SED-Diktatur und der anschließende Prozess der Deutschen Einheit veränderte das Leben von allen Menschen in der DDR. Für die meisten Menschen im Westen änderte der Mauerfall nur wenig. Für den langjährigen Mitarbeiter der Frankfurter Rundschau war diese Nacht der Höhepunkt seiner Zeit als DDR-Korrespondent in Ost-Berlin. In diesem Buch dokumentiert der Journalist seine langjährige Arbeit. Kontextualisierungen und Arbeitsanregungen laden dazu ein, sich vertiefend mit seinen Artikeln auseinanderzusetzen, die sich mit gesellschaftlichen Feldern wie »Schule und Jugend«, »Alltag und Leben«, »Kirche« und »Opposition, Verfolgung, Mauerfall« beschäftigen.

Der Herbst 1989 und die Friedliche Revolution sind vielen Menschen heute noch in Erinnerung. Bei heutigen Schülerinnen und Schülern sieht das anders aus. Nach dem Mauerfall im vereinigten Deutschland geboren, besitzen sie keine eigenen Erfahrungen mit der Teilung des Landes und der kommunistischen Diktatur. Sie können sich die damaligen Ereignisse nur über die Erinnerungen und Erfahrungen von anderen erschließen. Da die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Demokratie und Diktatur nach 1945 im Unterricht nicht selten untergeht, ist es umso wichtiger, neue Zugänge anzubieten.

Gerade die Schilderungen von Zeitzeugen bieten die Möglichkeit, sich mit den jeweiligen Blickwinkeln der damaligen Zeitgenossen vertraut zu machen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Die Zeitungsartikel Baums ermöglichen einen Einblick in den Alltag und das Leben in der DDR, wie Karl-Heinz Baum es erlebte. Auf diese Weise können aus Jahreszahlen historische Erzählungen entstehen, die eine Annäherung an das Geschehen vor nunmehr über 25 Jahren bieten. Ich wünsche dem Buch, dass es viele Geschichtsinteressierte – ob jung oder alt – in die Hand nehmen, um sich auf eine faszinierende Reise in die Zeit der deutsch-deutschen Teilung zu begeben.

Dr. Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung

Vorwort

An einem kalten Januartag 1982 in Berlin gab mir, einem Doktoranden der Universität Münster, der Korrespondent der Frankfurter Rundschau Karl-Heinz Baum drei Stunden seines Journalisten-Lebens. Dafür war ich ihm damals sehr dankbar, und das Gespräch hat sich gelohnt. Ich war beeindruckt von seiner Kenntnis der DDR und seiner Erfahrung mit der journalistischen Arbeit. Immer wieder unterstrich er die Bedeutung einer »analysierenden Hintergrund-Berichterstattung«. Es sei nicht Aufgabe der DDR-Korrespondenten, immer wieder »große Sensation« zu vermelden, sagte er damals. Diese Einstellung, nicht nur an der Oberfläche der Wirklichkeit zu verweilen, durchzieht sein gesamtes Journalisten-Leben, wie die hier vorgelegten Reportagen eindrücklich belegen: Mit den Menschen sprechen und sie auch wirklich sprechen lassen, die Wirklichkeit einfangen, ohne all das ständig mit einem eigenen ideologischen Bewertungsraster abzugleichen, das ist wohl das Prinzip des Reporters Karl-Heinz Baum.

Die täglichen Schwierigkeiten des Korrespondenten bei der Arbeit in der DDR macht er immer wieder zum Thema seiner Reportagen, die kleinen Tricks zum Beispiel, um die Aufseher und Kontrolleure der Stasi und der anderen staatlichen Institutionen ins Leere laufen zu lassen. Die Arbeit eines freien Journalisten in einem gelenkten System, dieses Thema hat auch heute nichts von seiner Wichtigkeit und Brisanz verloren, der Wunsch von autoritär geführten Staaten, das Bild von der Wirklichkeit nach den eigenen Regeln zu kontrollieren und zu beeinflussen, ist weltweit stärker geworden.

Die Grundüberzeugung von Karl-Heinz Baum gilt auch heute noch: »Die DDR hat sich mit dieser Informationspolitik eher selbst geschadet.« Seine Reportagen aus und über die DDR schildern eine Welt, die es nicht mehr gibt. Die Leserinnen und Leser können mit diesem Buch die Welt noch einmal erfahren, aus dem Blickwinkel eines Neugierigen.

Wir leben jetzt in einer Zeit der rasanten Information und des raschen Urteils. Das Internet hat unsere Gegenwart durchschaubarer, aber auch verwirrender gemacht. Die schnelle Schlagzeile, die einprägsame – oft emotionale – Botschaft ersetzt die fundierte Reflexion. Journalistische Arbeit aber muss mehr leisten, hier muss tiefer gegraben, recherchiert und geprüft werden. So wie es Karl-Heinz Baum in seinen Reportagen gemacht hat.

Thomas Bellut, Intendant des ZDF, Mainz, im August 2016

Editorial

Komme ich mit Karl-Heinz Baum ins Gespräch, dauert es nicht lange, und wir reden über die DDR. »Weißt du noch, wie …« beginnt dann meist eine seiner Geschichten aus dem Journalistenalltag der Jahre 1977 bis 1990. Und wenn ich mich nicht an jedes Detail seiner Ausführungen erinnere, folgt prompt: »Aber das musst du doch noch wissen!«. Und wenn ich gar bei einer gemeinsam erlebten Begebenheit einen anderen Tag, eine andere Uhrzeit, eine andere Formulierung mühselig aus dem Gedächtnis hervorkrame, ertönt stets heftiger Widerspruch: »Nein, das war ganz anders, das war so und so.« Und meist hat er Recht.

Karl-Heinz Baum, der nie so daherkam, wie wir DDR-Bürger uns einen Westjournalisten vorstellten, hat im Verlauf der 13 Jahre seiner Akkreditierung eine Vielzahl von Personen kennengelernt, die direkt oder indirekt zu seinen Informanten wurden. Einige von ihnen haben es nach 1990 in hohe staatliche Ämter geschafft. Und alle haben ihm in jenen Jahren ihre Geschichten erzählt, Hinweise gegeben, mit ihm Dinge getan, die, wie vieles in der DDR, »nicht verboten, aber auch nicht erlaubt« waren. Für alle war »Bäumchen«, wie wir ihn nannten, eine Vertrauensperson.

Neben der Berichterstattung über die aktuellen politischen Ereignisse war vor allem das Alltagsleben in der DDR für den Journalisten Karl-Heinz Baum interessant. Besonders interessant finde ich die Geschichten über die Entstehung der Artikel, über die Hintergründe und Bedingungen der Recherchen. Sie zeigen, dass und wie es auch in einem Staat mit einem überdimensionalen Überwachungsapparat möglich war, an reale Informationen zu gelangen und diese mit der nötigen Rücksichtnahme auf die Informanten zu vermitteln.

Kein Indianerspiel vermittelt DDR-Geschichte. Es soll aber vor allem der politischen Bewusstseinsbildung derjenigen dienen, die nicht dabei gewesen sind. So wurde das Buch mit Arbeitsanregungen für junge Lernende versehen, für eine Generation, die sich nur schwer vorstellen kann, wie ihre Eltern, Verwandten, Bekannten oder überhaupt die Menschen im Osten Deutschlands dem »sozialistischen Gang« gemäß gelebt haben.

Die einzelnen Artikel wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in ihrer chronologischen Folge angeordnet. Zum leichteren Überblick erfolgte eine Gruppierung nach thematischen Schwerpunkten.

Jürgen Klammer, Leipzig, im Oktober 2016

Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen

Auch große Steine können den Lauf eines Flusses nicht aufhalten

»Jetzt ist Deutschlands Teilung besiegelt. Jetzt ist die Einheit unmöglich. Jetzt ist die Sowjetzone fest im Ostblock verankert.« Mit diesen Worten begrüßte mich am 14. August 1961, dem Tag nach dem Mauerbau, meine damalige Freundin Almut. Ich war unsicher. Schließlich sagte ich: »Eines ist jetzt klar: Die Sowjetunion gibt den Anspruch auf die Weltherrschaft auf. Wer Mauern baut, hat verloren, igelt sich ein, ist sich selbst genug. Von nun an geht es bergab, egal, welche Zwischenhochs wir erleben.« »Wir werden sehen«, sagte Almut mit einem Schimmer Hoffnung. Wir haben nie wieder darüber gesprochen. Zwei Jahre später war die Beziehung zu Ende. Vielleicht hat sich Almut am Tag des Mauerfalls an unser Gespräch erinnert. Es kam mir mit der Niederschlagung des »Prager Frühlings« im August 1968 wieder in den Sinn. Damals lebte ich in Mainz. In jenen Tagen war eine Delegation aus Prag in der Stadt, die sich wieder auf den Rückweg machte. Journalisten fragten, warum sie überhaupt zurückfahren. Die Antwort des Leiters merkte ich mir fürs Leben: »Auch große Steine können den Lauf eines Flusses nicht aufhalten.«

1964 und 1965 konnte ich zu zwei Tagungen des Hansischen Geschichtsvereins nach Leipzig und Magdeburg fahren. Besonders Leipzig blieb mir in Erinnerung. DDR-Studenten luden drei von uns West-Studenten auf ihre Bude ein. Wir diskutierten über Gott und die Welt. Spät in der Nacht kam einer auf die Idee, nach so einem Abend müsse man anstoßen. Das gehe nur mit Whisky. Einer rannte zur »Spätverkaufsstelle« (in DDR-Großstädten waren diese Läden bis Mitternacht geöffnet), 80 DDR-Mark kostete die Flasche. Alle üblichen Trinksprüche wurden verworfen, bis einer sagte: »Ich weiß, worauf wir trinken: auf unseren 65. Geburtstag!« Darauf tranken wir in jener Nacht, ich 23, die anderen ein oder zwei Jahre jünger. Seit dem Mauerbau durften Frauen mit 60 und Männer mit 65 Jahren in den Westen fahren, wurden »reisefähig« (siehe Anmerkung auf S. 24). So etwas vergisst man nicht.

1977 bat mich die Frankfurter Rundschau, ihr DDR-Korrespondent zu werden. Mit diesen Erfahrungen war ich wohl der falsche Mann. Der Korrespondent in der DDR, so meinten einige Gesprächspartner, müsste wissen, wie lange es die DDR noch gibt und wann es zur Einheit kommt. Ich wusste es nicht. Aber ich erzählte von meinem Gespräch mit Almut. Einmal sagte einer: »Du bist in die DDR gekommen, um das Ende der DDR hautnah zu erleben, damit du der einstigen Freundin sagen kannst: ›Siehst du, ich hatte recht!‹« Überrascht antwortete ich: »Als es darum ging, spielte das keine Rolle. Das war weder mein Antrieb noch der Auslöser. Aber ich widerspreche dieser Auslegung meiner Worte von damals nicht.«

Die Frage nach der Einheit musste ich in der DDR oft beantworten. Bald hatte ich eine eindeutige Antwort: »Erstens: Es wird keinen Krieg um die DDR geben. Das werden die Westmächte genauso verhindern wie die Sowjetunion. Zweitens: Es gibt also nur eine friedliche Lösung. Drittens: Die friedliche Lösung könnte über die UNO zustande kommen, wenn die Bundesrepublik einen Antrag auf deutsche Einheit stellt. Viertens: Die Bundesrepublik wird den Antrag nur stellen, wenn sie sicher ist, dass die zweite Stimme von der DDR kommt.« Sagte ich das, hieß es sofort: »Dann gibt es keine Einheit! Dann gibt es die Einheit nie!« Daraufhin sagte ich: »Ich habe Geschichte studiert. Da lernt man: Bei historischen Prozessen darf man nie ›nie‹ sagen. Man lernt auch, wie schnell sich alles ändern kann. Ich bin überzeugt: Einen anderen Weg kann es nicht geben.«

Die im Westen verbreitete These, nachwachsende DDR-Generationen wollten keine Einheit, hielt ich immer für falsch. Bei Gesprächen mit Jugendlichen in Rostock, Erfurt oder Leipzig fiel irgendwann der Satz: »Ich kann doch nichts dafür, dass ich auf dieser Seite der Elbe geboren bin.« Das war ein Bekenntnis zur Einheit. Ich habe nicht vergessen, wie 1979 ein Anhänger von Dynamo Dresden zu mir sagte: »Noch ein Deutscher Meister von der Elbe.« In jenem Jahr gewannen der Hamburger SV und Dynamo Dresden die Meisterschaft, ein Verein im Westen, der andere im Osten.

Dann war da Manfred Krug, der Schauspieler und Sänger, der im Zuge der Biermann-Ausbürgerung 1976 ein halbes Jahr später die DDR verließ, weil sie ihm fast alle Arbeitsmöglichkeiten nahm. Als er sich im Westen eingelebt hatte, gab er dem Deutschen Fernsehen ein Interview. Auf die Frage, ob auch er sehe, dass sich die Deutschen in Ost und West auseinandergelebt hätten, sagte er: Das habe er gedacht, als er noch in der DDR war. Doch inzwischen sei er zu dem Schluss gekommen: »Packt man alle 16 Millionen DDR-Menschen in einen Sack und 16 Millionen Westdeutsche in einen anderen und leert sie auf der jeweils anderen Seite, dann dauert es vier bis acht Wochen und dann funktionieren die Menschen wie die Systeme genau so wie vorher.«

Am 4. Oktober 1990, dem zweiten Tag nach der Einheit, erzählte ich Krugs Worte auf einer Podiumsdiskussion auf der Frankfurter Buchmesse. Ich erntete dafür viele Buhrufe. Da griff mein Nachbar auf dem Podium, der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer, zum Mikrofon: »Danken Sie Gott, dass Ihnen diese Prüfung erspart blieb!«

1981 zum SED-Parteitag kamen drei Journalisten renommierter britischer Zeitungen nach Ost-Berlin und fragten mich aus. Bald fragte ich: »England ist Garantiemacht für Berlin. Was macht ihr, wenn kaum einer noch weiß, warum ihr hier seid, in 20, 30 Jahren?« Einer antwortete, die zwei anderen stimmten zu: »Darüber machen wir uns keine Gedanken. Bis dahin ist Deutschland wiedervereinigt.«

Dass sich in der DDR vieles bald ändern könnte, erwartete ich, seit im April 1985 Michail Gorbatschow KPdSU-Generalsekretär wurde. Wenige Tage darauf las ich ein Porträt über den neuen KPdSU-Chef, verfasst von Zdeněk Mlynář, einem Reformer vom »Prager Frühling«. Er und Gorbatschow hatten zusammen an der Moskauer Universität studiert und im selben Zimmer gewohnt. Mlynář berichtete, zum Ende des Semesters habe Gorbatschow darum gebeten, ihm eine Postkarte in seine Heimat im Kaukasus zu schreiben. Wieder in Moskau bedankte sich Gorbatschow überschwänglich, meinte dann aber, es sei doch etwas faul in der Sowjetunion, wenn die Postkarte nicht der Briefträger, sondern der Polizeipräsident bringt, und aufs Feld beim Ernteeinsatz. Als ich das las, dachte ich: Das kann ja noch heiter werden. Er hat in jungen Jahren eine wesentliche Schwäche des Sowjetsystems erkannt.

Im Herbst 1988 lud mich Ralph Morton, damaliger Mitarbeiter der Britischen DDR-Botschaft, zum Abendessen in West-Berlin ein. Er war mit einem Mitarbeiter der Sowjetbotschaft verabredet. Der Russe fragte mich, wann ich glaubte, dass es die deutsche Einheit gebe. Meine Antwort hieß: »Wann weiß ich nicht. Aber damit die Westdeutschen nicht vergessen, dass hier auch Deutsche leben, arbeite ich hier.« Ich merkte mir, auch in der Sowjetbotschaft dachten sie über die Einheit nach.

Als in Berlin die Mauer fiel, hörte ich auf der Bornholmer Brücke meinen Namen rufen. Im Gewühl dauerte es, bis Peter Thomas Krüger, DDR-Korrespondent der Neuen Ruhr/Neuen Rhein Zeitung, neben mir stand: »Du hast es gesagt!«, schrie er. »Was soll ich gesagt haben?« »Als wir nach Frankfurt (Oder) fuhren, sagtest du: ›Wenn das mit den Gerüchten so weitergeht, haben wir die deutsche Einheit, und wir Korrespondenten haben es nicht bemerkt.‹« Es war einer meiner flapsigen Sprüche, weil sich seit Mitte September Ereignisse, aber auch Gerüchte nur so jagten. An diesem Tag, es war der 5. Oktober 1989, lautete das Gerücht: Die DDR hat an der Grenze zu Polen einen drei Meter hohen Stacheldrahtzaun von Stettin bis Zittau errichtet. Wir fanden dafür keine Hinweise.

Meine Haltung zur Einheit lässt sich so beschreiben: Immer daran denken, nie davon reden. Das bringt die Gegner der Einheit nur auf. Ich war der Meinung, es werde ein langer Weg zur Einheit sein. Ich war nicht sicher, ob ich das noch erleben würde. Für mich stand an erster Stelle: Alles unterstützen, was den Menschen mehr Freiheit bringt. Ich habe das Wirken der Korrespondenten mit drei Worten umschrieben: Was haben wir gemacht? Das Feindbild geklaut! Wenn die Menschen frei sind, müssen sie selbst entscheiden, ob sie die Einheit wollen. Ich war sicher, wie die Abstimmung ausgehen würde. Bei der ersten und letzten freien Wahl der DDR-Volkskammer haben die Parteien, die für die Einheit eintraten, mehr als drei Viertel der Stimmen bekommen.

Am Tag nach dem Mauerfall rief ich einen Experten der deutsch-deutschen Politik in Bonn an. Georg Maier war von 1974 bis 1978 Pressesprecher der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin und von 1982 bis 1985 in der Intendanz des Senders Freies Berlin für Gremien und Presse zuständig. Er sagte zu mir: »Deinen Job möchte ich haben.« »Warum?« »Er ist krisensicher. Jetzt schreibst du zehn Jahre, bis die Einheit kommt. Dann schreibst du zehn Jahre über die Probleme, die die Menschen in Ost und West mit der Einheit haben.« Wer ahnte schon, dass Phase eins nur zehn Monate dauerte, Phase zwei aber über zwanzig Jahre.

»Buschfunk« und andere Quellen

Zur Vorbereitung auf die DDR hatte ich kaum Zeit. Als Rheinland-Pfalz- und Saarland-Korrespondent mehrerer Tageszeitungen zwischen Nordsee und Alpen griff ich 1977 spannende Länderthemen auf, die gerade im Sommer leichter abgedruckt werden! Festangestellte Journalisten machen da meist Urlaub. Ich sollte vom 15. August an bei der Frankfurter Rundschau als DDR-Korrespondent arbeiten. Zuvor erfüllte ich mir noch einen Traum, eine Norwegenreise: mit der Fähre nach Oslo, mit der Bahn nach Bergen, mit den Hurtigruten zu den Lofoten. Um mich wenigstens ein bisschen auf die DDR vorzubereiten, besorgte ich mir die im Westen erschienenen Wunderbaren Jahre des Schriftstellers Reiner Kunze, der im April aus der DDR ausgereist war. Ich las von Gängeleien und Einschüchterungen Jugendlicher, von Verweisungen von der Schule.

Aber es hatte auch indirekte Vorbereitungen gegeben: Vor und nach dem Mauerbau studierte ich an der Freien Universität Berlin, fuhr häufig in den Ostteil zu Freunden und Verwandten: Im Sommer i960 lernte ich bei einer Jugendreise den gleichaltrigen Uwe aus Wittstock/Dosse kennen, damals Schüler wie ich, mit dem ich noch heute befreundet bin und der mir stets sehr geholfen hat. Als Student an der FU Berlin erzählte ich meinem Lehrer Harry Pross meine Erlebnisse. Er fand, ich müsse das unbedingt veröffentlichen, und vermittelte mir das St. Galler Tagblatt. Für diese Zeitung war ich von 1963 bis 1965 so etwas wie ein heimlicher DDR-Korrespondent. Ich schrieb natürlich unter Pseudonym (siehe »Grenzgänger. Harry Pross zum 80. Geburtstag«, in der Frankfurter Rundschau vom 2. 9. 2003).

Als studentisches Mitglied des Hansischen Geschichtsvereins fuhr ich 1964 und 1965 jeweils für ein paar Tage in die DDR – nach Leipzig und nach Magdeburg. In Leipzig flirtete ich mit des Wirtes Tochter, fragte, ob sie nicht Zeit habe. Nein, sie müsse die Pässe der Gäste zur Volkspolizei bringen. »Darf ich mitkommen?« Gegenfrage: »Haben Sie keinen Bewacher?« »Ich habe noch keinen bemerkt.« Sie nahm mich mit. Ich wartete in gehörigem Abstand. Nach zehn Minuten kam sie. Mit den Papieren war alles in Ordnung. Auf dem Rückweg ins – private – Hotel versicherte sie mir, seit dem Mauerbau habe in ihrem Hotel jeder Gast Bewacher. Ich verdankte es wohl dem Ansehen des Hansischen Geschichtsvereins in der DDR, dass es bei mir nicht so war. Er war 1961 nach dem Mauerbau nicht wie andere Vereine geteilt worden. 1966 war auch das vorbei.

»Ihre Arbeit in der DDR ist wesentlich einfacher, als Sie es im Westen gewöhnt sind. Sie brauchen dem Außenministerium nur ein Thema zu nennen, über das Sie schreiben wollen, und dann geht alles wie von selbst. Wir besorgen Ihnen die Gesprächspartner, wir besorgen Ihnen ein Hotelzimmer und was Sie sonst noch brauchen.« Mit diesen Worten begrüßte mich die Mitarbeiterin des DDR-Außenministeriums Marita Carl an einem der ersten Tage nach der Akkreditierung als Korrespondent in Ost-Berlin. Es hörte sich an, als seien in der DDR die Heinzelmännchen für Journalisten zuständig.

Allerdings hatte manche westdeutsche Redaktion ziemlich abenteuerliche Vorstellungen über die journalistische Arbeit in der DDR. Ein Kollege erzählte, seine Redaktion hätte gesagt: Die Arbeit sei fast so wie im Westen, nur seien die Gesprächspartner von der SED. Kaum ein Korrespondent hatte SED-Gesprächspartner. Mancher, der sich als SED-Mensch ausgab, so stellte es sich nach 1990 heraus, war in Wahrheit Stasimitarbeiter. Ein anderer Kollege erzählte, was ihm Bonner Kollegen für die Arbeit in der DDR rieten: »Freunde dich mit einem Mitarbeiter des Politbüros an! Nach den Sitzungen triffst du dich mit ihm.« Für uns vor Ort ein Beweis, dass solche Westkollegen die DDR nicht begriffen haben. Aus der Redaktion der Frankfurter Rundschau hörte ich solche Sätze nicht ansatzweise.

Mit den Heinzelmännchen lief es in der DDR dann doch nicht so gut. Immerhin klappte es bei den ersten Anfragen einigermaßen. Aber bald hieß es oft: »An dem Thema haben wir kein Interesse!« Das Problem war nur: Ich hatte Interesse. Ich musste mir andere Quellen suchen.

Schon in den ersten Tagen sagte mir Kollege Peter Nöldechen, Korrespondent der Westfälischen Rundschau, der mich unter seine Fittiche nahm: »Am Wochenende müssen wir zur Synode (Kirchenparlament) des DDR-Kirchenbundes nach Herrnhut.« Das liegt im Landkreis Görlitz, schlesische Oberlausitz. Ich hatte noch nie über Kirchenveranstaltungen berichtet, beim ersten Mal schnupperte ich nur hinein, musste aber feststellen, dass Kollegen, die länger dageblieben waren, große Artikel schrieben über DDR-Probleme, die sie in Herrnhut erfahren hatten. Die gewählten Vertreter der acht evangelischen Landeskirchen in der DDR wussten viel über das Leben in der DDR. Man brauchte auch keine Genehmigungen, um mit ihnen zu reden. So wurden kirchliche Mitarbeiter von den Bischöfen bis zu den Sekretärinnen bald meine zuverlässigen Informanten. Ich stellte schnell fest, was sie sagten, stimmte in aller Regel. Was in der DDR vorging, erfuhr man am besten über Kontakte zur Kirche. Es dauerte zwar manchmal lange, bis sich Dinge aus den hintersten Ecken herumsprachen. Aber die Evangelische Kirche hatte ihr eigenes Informationssystem.

Anders verhielt es sich bei der Katholischen Kirche. Sie mied die Korrespondenten so gut es ging, unterhielt allenfalls Kontakte zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung und zuweilen zum Fernsehen. Sie hatte es einfach. Wollte die DDR etwas von ihr, verwies sie die Funktionäre nach Rom. Insider behaupteten sogar, leitende Katholiken ließen über westdeutsche Vertraute den Papst wissen, welche Lösung sie am liebsten hätten. Bald hatte ich katholische Freunde, die mich auf dem Laufenden hielten. Die Zurückhaltung der Katholischen Kirche galt nicht nur westlichen Medien. Selbst der Aktionskreis Halle, der sich in der DDR bemühte, das Zweite Vatikanische Konzil als missionarischen Auftrag zu betrachten, wurde von der Bischofskonferenz und dem zuständigen Magdeburger Bischof Johannes Braun als Störfaktor gesehen und als nicht kirchliche Organisation betrachtet und so auch gegenüber staatlichen DDR-Stellen genannt. Der Historiker Sebastian Holzbrecher (Erfurt) spricht von einer »unheiligen Allianz« zwischen der Kirche und dem Staat DDR mit seinem Sicherheitsapparat. Man kann es noch deutlicher sagen: Die, die ihren Schäfchen Schutz hätten geben müssen, warfen sie stattdessen den Wölfen zum Fraß vor (vgl. Sebastian Holzbrecher: Der Aktionskreis Halle, Würzburg 2015).

Die zweite Quelle waren Menschen aus dem Kulturbereich: Schriftsteller, Theaterleute, Filmschauspieler, Musiker. Auch sie ließen uns nie in Fallen laufen. Ob Jurek Becker, Günter de Bruyn, Christoph Hein, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Erich Loest, Günter Kunert, Monika Maron, Armin Mueller-Stahl, Klaus Poche, Inge Ristock, Klaus Schlesinger, Barbara Thalheim, Bettina Wegner oder Rudi Wetzel – einst geschasster Chefredakteur der Wochenpost, später Korrespondent der schwedischen Zeitung Grafis, der wie die SED denken konnte, ihr aber nicht mehr angehörte.

Die zweite Quelle waren Menschen aus dem Kulturbereich: Schriftsteller, Theaterleute, Filmschauspieler, Musiker. Auch sie ließen uns nie in Fallen laufen. Ob Jurek Becker, Günter de Bruyn, Christoph Hein, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Erich Loest, Günter Kunert, Monika Maron, Armin Mueller-Stahl, Klaus Poche, Inge Ristock, Klaus Schlesinger, Barbara Thalheim, Bettina Wegner oder Rudi Wetzel – einst geschasster Chefredakteur der Wochenpost, später Korrespondent der schwedischen Zeitung Grafis, der wie die SED denken konnte, ihr aber nicht mehr angehörte.

Die dritte Quelle waren persönliche Freunde. Diese Freunde verließen sich meist auf den »Buschfunk«, eine Art Gerüchteküche. Nachrichten mit hohem Wahrscheinlichkeitsgehalt wurden von Mund zu Mund weitergegeben – wichtig in einem Staat, der fast alles als Geheimsache betrachtete. Nicht wenige »Buschfunk«-Meldungen stellten sich als richtig heraus. Meldete der »Buschfunk«, am nächsten Tag gebe es in Kaufhäusern der Jugendmode echte USA-Levis-Jeans, ging man eben hin und wusste Bescheid.

1979 lernte ich Rosemarie aus Sachsen kennen. Ein Jahr später heirateten wir. Sie war mir eine besonders treue Hilfe, merkte manchmal schneller als ich, warum etwas geschah, oder sagte, das kann nicht stimmen, daran ist etwas »faul«. Sie lag immer richtig.

Jahre später merkte ich, wie klug meine Entscheidung war, so gut wie keine Anträge zu stellen. Ein Freund fragte: »Gibt es bei euch einen Korrespondenten A.?« »Ja, warum?« »Er wollte unseren Betrieb besichtigen und darüber schreiben. Meine Chefin musste mit ihm sprechen. Tagelang haben sie mit ihr geübt, was sie sagen durfte und was nicht, natürlich kein Wort über Kosten. Sie ging mit schlotternden Knien hin, war froh, als er wieder weg war. Ein falsches Wort hätte ihre Stellung gekostet.« Ich fühlte mich in meinem Tun bestätigt: Solche Quälereien durften wir den Leuten nicht zumuten!

Eines Tages sagte meine »Betreuerin« Marita Carl bei einem unserer regelmäßigen Gespräche: »Sie schreiben am meisten und haben am wenigsten Kontakt zu uns.« Ob ich am meisten geschrieben habe, weiß ich nicht. Ich antwortete nur: »Was soll ich dazu sagen?« Für mich dachte ich: »Das ist ja ein unverhofftes Lob der anderen Seite.«

Einmal begrüßte mich der Mitarbeiter des DDR-Außenministeriums Rolf Muth so: »Na, Herr Baum! Haben Sie wieder Phantasiereportagen geschrieben?« In einer Diktatur ist es für Journalisten noch wichtiger als in einer freien Gesellschaft, ihre Quellen zu schützen. In Deutschland haben Journalisten ein Zeugnisverweigerungsrecht wie Rechtsanwälte, Pfarrer, Ärzte oder Abgeordnete. Deshalb hieß es zu DDR-Zeiten in meinen Artikeln häufig: »Ein Gesprächspartner« – also einer von 16 Millionen. Rolf Muth erwiderte ich: »Gegen einen solchen Vorwurf kann ich mich nicht wehren. Aber Sie wissen genau, dass es keine Phantasiereportagen sind!« Zu meiner Überraschung trollte er sich von dannen. Gerade beim Quellenschutz war stets größte Vorsicht geboten.

Kein Indianerspiel – Jeder Fehler konnte Leben kosten

»Sie haben gewiss eine Ausbildung beim Geheimdienst!« So begrüßten mich nicht selten Menschen in der DDR. Sie nahmen an, dass das bei im Westen eingesetzten DDR-Journalisten üblich sei. Ich habe nicht eine Minute für einen Geheimdienst gearbeitet. Wie ich mit dem Stasiapparat umgehen sollte, hat mir auch keiner gesagt.

Den Blick des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf westliche Korrespondenten zeigt ein 1987 gedrehter Stasilehrfilm (»Korrespondenten imperialistischer Massenmedien. Vorgeschobene Posten des Feindes im Kampf gegen den Sozialismus«), unterlegt mit düsterer, furchteinflößender, unheildrohender Musik: »Korrespondenten, aber auch Diplomaten aus NATO-Staaten sind immer dann vor Ort präsent, wenn nach ihren Informationen etwas passieren soll oder wenn sich Ereignisse nach ihrer Auffassung für eine spektakuläre Berichterstattung über die DDR eignen.«

Ein guter Satz für die Personalakte. An die bürokratische DDR-Sprache konnte man sich gewöhnen. Doch die journalistische Art, mit Menschen zu reden, stellte die Stasi vor fast unlösbare Probleme. Weiter hieß es in oben genanntem Lehrfilm der Stasi: »Dabei hat die Quelle Mensch für die Geheimdienste [damit sind Dienste im Westen gemeint, Anm. des Autors] trotz einer zunehmenden perfektionierten Nutzung technischer Spionagemethoden und -mittel weiterhin einen hohen Stellenwert. Die legalen Basen des Feindes, Korrespondenten und Diplomaten in der DDR, sind fest in das Gesamtsystem der Informationsbeschaffung integriert und nutzen rigoros alle gebotenen Arbeitsmöglichkeiten zur Abschöpfung und Eigenerkundung. Insbesondere die gesamte Breite der Kontaktpartner der legalen Basen stellt für die Geheimdienste ein großes Reservoir menschlicher Quellen dar. Diese Angriffe werden komplex und in enger Wechselwirkung vorgetragen. Die Korrespondenten streben einen solchen Umfang von Kontakten an, der es dem MfS unmöglich machen soll, den Überblick zu wahren und eine wirksame Kontrolle auszuüben.«

Wir waren »legale Basen des Feindes«, gar Stützpunkte des »Klassenfeindes«. Der »Klassenfeind« war in ihrem Freund-Feind-Denken schlimmer als der Feind, denn nach einer DDR-Redewendung schlief er nie. Journalisten arbeiten nicht nach Bürozeiten, müssen oft mit wenig Schlaf auskommen. Allein deshalb hatte der Apparat mit uns Probleme.

Bevor mich die Frankfurter Rundschau als Korrespondenten in die DDR schickte, sprachen Chefredakteur Werner Holzer und sein Vertreter Hans Herbert Gaebel mit mir. »Passen Sie auf, dass Sie nicht rausfliegen! Wir wollen die tägliche Berichterstattung, nicht die einmalige Sensation, die zur Ausweisung führt und unsere DDR-Berichterstattung auf Monate lahmlegt.« Beide versicherten, sollte wirklich etwas passieren: »Wir holen Sie raus!« Schon mein Auftrag war das Gegenteil der Stasierwartungen. Über das Leben und den Alltag der Menschen sollte ich berichten. Mit dem Wissen, dass ich weniger in Gefahr war als jene, mit denen ich sprach, schrieb ich über alles, was ich für wichtig und richtig hielt.

Die DDR sah unsere Arbeit als »Einmischung in innere Angelegenheiten«. Ja, wir haben uns eingemischt, wenn auch zu wenig. Ich war Journalist, weil ich mich ins öffentliche Leben einmischen wollte. Wer das verhindern will, darf Journalisten nicht zulassen, darf sie gar nicht erst ins Land lassen. Denn in Diktaturen geben Journalisten den unterdrückten Menschen eine Stimme.

Mein Motto für den Umgang mit der Stasi lautete: Sie erschwert meine Arbeit! Warum soll ich ihre erleichtern? Ich versuche stets, ihre Überwachung, so gut es geht, zu unterlaufen, bin aber gewiss, dass mir das nicht immer gelingt.

In meine Wohnung auf der Fischerinsel in Berlin-Mitte kamen viele Leute. Ich sagte jedem: »Hier könnt ihr alles sagen, nur unterlasst Bemerkungen, die Identifizierungen ermöglichen.« Vieles schrieben wir auf Zettel, die wir danach verbrannten. Der Kokelgeruch steckt mir noch heute in der Nase.

Die Wände in meiner Wohnung hielt ich für »russischen Beton«, für verwanzt. Einen Beweis dafür gibt es nicht. Doch scheiterte das Abhören aus folgendem Grund: Die Wanze meldete das Aufschließen der Tür und ihr Ins-Schloss-Fallen. Zehn Sekunden später hauchte sie ihr Leben aus. Denn beim Reinkommen hatte ich einen Stapel Zeitungen in die nächstbeste Ecke geworfen. Getroffen, ohne zu wissen, dass eine Wanze in der Wohnung war: mein »goldener Schuss«. Sie bauten keine neue ein, fürchteten bei meiner Unordnung das gleiche Schicksal für die nächste. Der Westimport hätte Devisen gekostet. Die sozialistische Planwirtschaft hätte eine neue finanziell womöglich nicht verkraftet.

Ihre Erkenntnis lautete, wie ich in meiner Akte nachlesen konnte: »Die ständige Unordnung in seinem Büro ist eine bewusste Abwehrmaßnahme gegen konspirative Wohnungsdurchsuchungen.« Die so geadelte »Unordnung« musste dafür herhalten, dass sie kein Telefon- und Adressenverzeichnis, keinen Terminkalender finden konnten. Solche Dinge hatte ich im Kopf.

Meine erste Arbeitsanweisung in der DDR lautete: »Als Bezieher von Zeitungen, die nicht in der Postzeitungsliste der DDR stehen, dürfen Sie sie auch nicht über den Müll der Bevölkerung zugänglich machen!« Das galt für West-Zeitungen, sie stehen nicht auf der Liste. Jeden Morgen brachte sie ein Kurier für Diplomaten und Journalisten. Ich stapelte die Zeitungen, bis die »Territorialverwaltung« sie abholte. Zeitungen des Tages legte ich obenauf. Sie verschwanden unauffällig in den Aktentaschen der Abholer.

Oft fuhr ich nach »heute« (ZDF), »Aktueller Kamera« (DDR) und »Tagesschau« (ARD) gegen 20.20 Uhr zu Freunden, zur »Quelle Mensch«, unangemeldet: »Solange Licht ist, kannst du kommen.« Eine Zeitlang überwachte mich die Stasi jeden Tag. In einem Bericht in meiner Akte heißt es: »20.30 Uhr: Das Objekt befindet sich in der Wohnung. Auftragsgemäß beenden wir die Überwachung.« Nächster Eintrag: »6.00 Uhr: Auftragsgemäß übernehmen wir die Überwachung. Das Auto des Objekts steht jetzt an einer anderen Stelle.«

Trotz täglicher Kontrolle bemerkte die Stasi den anderen Arbeitsrhythmus nicht, der den Verhältnissen der DDR geschuldet war. Die meisten Leute hatten kein Telefon. Jene, die eins hatten, wurden nicht selten abgehört. Also traf man sich am besten. Die Stasi und ich mussten uns stets knapp verfehlt haben. Morgens um sechs war ich im Tiefschlaf. Abends hatten sie Feierabend. Tagsüber achtete ich nicht auf Überwachung, fuhr zu Kollegen, ins Pressezentrum oder zur Ständigen Vertretung.

DDR-Korrespondenten hatten blaue Kennzeichen, Diplomaten rote – tagsüber gut erkennbar. Bei Fahrten zu Freunden nahm ich stille Nebenstraßen. Da erkannte man die Verfolger besser. Das Auto stellte ich am Ziel gut 300 Meter entfernt ab. Bei Freunden mit Garage parkte ich 500 Meter vorher, ging hinein, meldete mich und fuhr dann in die offene Garage. Schon war der Wagen verschwunden.

Wie bemerkte man Verfolger? Im Rückspiegel tauchten nur schnellere Autos auf. Gewöhnliche Autofahrer schlossen auf und überholten. Verfolger hielten Abstand, auch an Ampeln und im Stau. War ein Auto direkt hinter mir, versuchte ich es abzuhängen. Gelang das nicht, fuhr ich nach Hause oder ins Hotel, schaltete Licht und Fernseher ein und ging zum Nebenausgang. Die Fischerinsel 6 hatte drei Nebenausgänge, Hotels meist einen. Mit S-, U-, Straßenbahn oder Bus fuhr ich, wohin ich ohnehin wollte.

Meine liebste Stelle in Berlin ist die Abzweigung an der Stralauer Allee zur Modersohnstraße. Keine Ampel, aber Zeit genug für Linksabbieger. Ich richtete das Tempo so ein, dass ich kurz vor dem Gegenverkehr abbiegen konnte. Keiner war in der Lage zu folgen.

Die Arbeit der Staatssicherheit bewerte ich nach Kenntnis der Akten mit »Drei minus« bis »Vier plus«. In 22 Ordnern mit gut 300 Seiten allein zu Berlin ist vieles stümperhaft. Beeindruckt haben mich nur der ausgestellte Haftbefehl, ohne Delikt, ohne Datum, ohne Unterschrift und ein Blatt auf Russisch: für den KGB mit meinen Personaldaten.

Angeblich hatte ich 118 Kontaktpersonen. Tatsächlich waren es zwischen 400 und 450. 25 der 118 kenne ich nicht, nur jede fünfte Person war der Stasi bekannt. In der zweiten Liste stehen die neun wichtigsten Bekannten. Davon kenne ich sechs. Sie zähle ich nicht zu den wichtigen Bekannten. Keiner der drei anderen kennt mich.

Als sie mich ständig überwachten, merkten sie nicht, dass ich jeden Abend unterwegs war. Keine Meisterleistung! Ein Freund frühstückte fast jeden Morgen mit mir. Er arbeitete ein paar hundert Meter entfernt. Das fiel in 13 Jahren nicht auf. Nicht einmal die Beziehung zur Freundin bekamen sie mit. Dabei trafen wir uns einmal die Woche. Sie kam am Wochenende nach Berlin oder ich fuhr mit dem Zug nach Halle. Sie tauchte erst in der Akte auf, als wir verheiratet waren. Dafür braucht man keinen Geheimdienst.

Aus den Akten erfuhr ich: Sie erpressten eine Bekannte. Ihr Freund war verhaftet. Sie könne ihm helfen, wenn sie mit mir intime Beziehungen aufnehme. Die Frau verpflichtete sich, traf mich aber nicht. Sie jubelten zu früh. Als sie merkten, dass sie nicht zu mir gefahren war, ließen sie sie wie eine heiße Kartoffel fallen. Auch einen Freund wollten sie anwerben, aber er weigerte sich. Frage: »Haben Sie was gegen die DDR?« »Nein!« »Haben Sie was gegen das Gesundheitswesen?« »Nein!« »Da können Sie für uns arbeiten, wir sind eine andere Art des Gesundheitswesens.«

Zu mir kamen Menschen und fragten, was sie machen sollten – die Stasi wolle sie anwerben. Ich schickte sie alle zum selben Pfarrer. Sie sagten nur: »Ich komme von Karl-Heinz«, und er wusste Bescheid. Der Stasi berichteten sie: »Ich habe mich gegenüber einem Pfarrer offenbart.« Damit war die Konspiration gebrochen. Das Beichtgeheimnis duldete die DDR.

Gewiss – manches liest sich wie ein lustiges Indianerspiel. Es war leider keins. Jeder Fehler konnte Menschen der Staatssicherheit ausliefern, jeder Fehler konnte Leben kosten. Wenn die Stasi etwa mitbekam, dass sich jemand uns Korrespondenten oder den Mitarbeitern der Vertretung offenbarte, wurde der Betroffene wegen Spionage zu mehreren Jahren Haft verurteilt.

In meinen Akten lese ich: der Selbstmord des Ehemanns einer Verwandten 1981 hing mit mir zusammen. Er war IM, aber »Schläfer«, lieferte nicht, was sie erwarteten. Als ich in die DDR kam, weckten sie ihn. Er verriet zwar Freund Uwe, doch alle Stasimühen schlugen fehl, das zu belegen. Nach zwei vergeblichen Anwerbeversuchen wollten sie Uwes enge Mitarbeiterin anwerben. Sie tat, als wäre sie bereit. Als sie unterschreiben sollte, sagte sie: »Eine Bitte habe ich. Mein Mann hat mich verlassen. Den bringen sie mir doch dafür zurück!« Wütend verließen sie das Haus und notierten: »Diese Frau erpresst uns!«

Nun machten sie Druck auf den IM. Er sollte beweisen, dass ich Uwe kannte. Eine Woche später nahm er sich das Leben. Laut Akte lag der Selbstmord an familiären Problemen. Die Frage, woher ich Uwe kannte, lösten sie »elegant«. Der IM und ich hätten gemeinsame Sache gemacht und wahllos aus dem Telefonbuch einen Namen ausgesucht, um sie auf die falsche Fährte zu locken. Erst sechs Jahre später merkten sie: Der Kontakt bestand.

DDR-Propagandaplakat vor einer Poliklinik, wichtigste ambulante Einrichtung des staatlichen Gesundheitswesens, in Zwickau, Februar 1982.

Ernst Friedbert lernte ich 1978 beim Fußballspiel Dynamo Dresden gegen Hertha BSC kennen. Ich werde den Stadionsprecher nach dem ersten Tor nie vergessen: »1:0 für Hertha BSC Berlin-West.« Beim Ausgleich hieß es: »1:1. Tor für Dynamo Dresden« »… Ost!«, brüllten die Zuschauer. Ernst Friedbert besuchte mich häufig, einmal mit seiner Freundin. Eines Tages verabschiedete er sich: »Ich muss zur Fahne, komme wieder, sobald die Armee mich entlässt.« Die Zeit war um, doch er kam nicht. Als ich drei Jahre später auf einer Tagung bei Bonn reden sollte, wartete er schon auf dem Parkplatz. Was war geschehen? Der NVA-Soldat warf in der Stadt seines Standorts einen Brief an einen Freund in Weißenfels (Saale) ein. Darin skizzierte er einen Fluchtplan. Die Stasi las den Brief, verhaftete ihn – Verurteilung wegen Vorbereitung zur Republikflucht. »Ein halbes Jahr extra wegen des Kontakts zu dir. 2V2 insgesamt.« »Konntest du mich nicht informieren?« »Habe ich versucht. Bei Elkes Besuch sagte ich ihr: ›Du weißt, zu wem du gehen musst!‹« Über den Prozess durfte er kein Wort sagen. Sie nahm an, er sitze wegen des Kontakts zu mir, und sagte: »Das kannst du nicht von mir verlangen!« So konnte ich ihm nicht helfen.

Eckart suchte mich als erster DDR-Mensch von sich aus auf. Wir freundeten uns schnell an. Er hatte Theologie studiert, war Altenpfleger bei der »Volkssolidarität«, dem 1945 gegründeten Sozialverband. Fast jeden Tag kam er bei mir vorbei, ein halbes Jahr lang, nahm gelegentlich Gedrucktes aus dem Westen mit in seine Wohnung. Anfang Mai 1978 machte ich Urlaub. Danach kam er nicht mehr. Nach Tagen fand ich heraus, dass er verhaftet worden war. Ich informierte den Leiter der Ständigen Vertretung Günter Gaus und bot an: »Falls er wegen mir in Haft ist, gehe ich.« Das sei nicht nötig, aber ich sollte die Chefredaktion informieren. Er werde sich darum kümmern. Mitte August sagte Gaus, Eckart habe zwei Jahre wegen staatsfeindlicher Hetze bekommen. Den Freikauf würde er bis Februar schaffen. »Herr Gaus, das ist ein Pfarrerssohn, da wäre vor Weihnachten wichtig.« »Das Argument habe ich noch nie gebraucht! Aber es ist richtig gut!« Eckart wurde am 7. Dezember entlassen. Verurteilt hatte man ihn am 29. Oktober. Seitdem wusste ich, wie die DDR-Justiz »funktionierte« und wie ich Gefangene und Ausreisewillige schneller in den Westen bekam: mit Hilfe der Ständigen Vertretung.

Antje kam ziemlich aufgelöst zu mir. Sie hatte einen Ausreiseantrag laufen. Die Stasi sei da gewesen. Sie könne sofort in den Westen, wenn sie für sie arbeite. »Soll ich das machen?« »Bloß nicht! Es geht ohne die Stasi!« Es ging, dauerte aber etwas länger.

Arbeitsanregungen

1. Kennzeichnen Sie das Selbstverständnis eines freien Journalisten in der DDR im Hinblick auf Aufgabe, Auftrag, Arbeitsbedingungen und Zielsetzung.

2. Erklären Sie die Bedeutung des Angebots vom Außenministerium der DDR für Aufgabe und Arbeitsweise eines Westkorrespondenten.

3. Listen Sie Beispiele für das Motto zum Umgang mit der Stasi auf: »Sie erschwert meine Arbeit. Warum soll ich ihre erleichtern?«

Geben Sie dabei kurz das Vorgehen beider Seiten sowie das Ergebnis an, und beurteilen Sie, inwieweit der Journalist sein Motto umgesetzt hat.

4. Stellen Sie Vorgehensweisen der Stasi bei Anwerbungsversuchen eines IM (inoffiziellen Mitarbeiters) und die Reaktionen der Betroffenen zusammen.

Erläutern Sie die Bedeutung des Quellenschutzes für die Informanten eines Westkorrespondenten.

5. Beschreiben Sie, welches Bild sich die Stasi von Arbeitsweise und Zielsetzung eines westlichen Korrespondenten macht. Überprüfen Sie, was DDR-Bürger von dieser Sichtweise halten und warum.

6. Fassen Sie Selbstverständnis, Auftrag und Aufgabe der Stasi zusammen. Berücksichtigen Sie dabei auch das Foto auf S. 22.

Beurteilen Sie das Verhältnis der DDR zur »Schlussakte der KSZE« (Menschenrechte), von der DDR 1975 in Helsinki unterschrieben.

Hinweise

Informieren Sie sich im Internet über die KSZE in Helsinki und Nachfolgekonferenzen für 6. und für Abschnitt 2.

Die Arbeitsergebnisse zu 1. bis 6. sind anhand von Informationen in Texten der folgenden Kapitel zu ergänzen.

Berücksichtigen Sie das bei Anlage / Layout Ihrer Arbeitsergebnisse zu 1. bis 6.

Anmerkung zum Begriff »reisefähig«

Seit dem Mauerbau durften DDR-Bürger erst im Rentenalter, das heißt Frauen mit 60 und Männer mit 65, in den Westen fahren. Mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben waren sie »reisefähig«. Die West-Reise-Richtlinien der DDR nach dem Mauerbau waren sehr vielfältig und wurden nach zahlreichen Verhandlungen bis Ende der 80er Jahre mehrfach geändert und zum Teil verbessert. Das frühere Rentenalter für Frauen ist als sozialpolitische Maßnahme (»Errungenschaft«) zu verstehen. Rentner durften auch offiziell mit Antrag in den Westen übersiedeln (menschliche Geste einerseits – ein Kostenfaktor weniger andererseits). In der zweiten Hälfte der 70er Jahre handelte die Bundesrepublik Schritt für Schritt Reiseerleichterungen für Nichtrentner aus – Reisen in dringenden Familienangelegenheiten. Vor allem nach der Biermann-Ausbürgerung (Herbst 1976) erhielten zahlreiche prominente Künstler wie Schauspieler, Regisseure oder Maler Reisepässe und Dauervisa für den Westaufenthalt. Nicht wenige blieben für immer im Westen (zum Beispiel Jurek Becker und Manfred Krug).

Journalistisches Arbeiten

Der von Willy Brandt und Egon Bahr seit den 60er Jahren im Rahmen einer neuen Ostpolitik angestoßene »Wandel durch Annäherung« mündete nach Jahren zäher Verhandlungen in die sogenannten Ostverträge der Regierung Brandt/Scheel (Willy Brandt und Walter Scheel). Dazu gehörten neben dem Moskauer Vertrag (1970) und dem Warschauer Vertrag (1970) auch der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Dezember 1972. Bestandteil dieses Vertrages ist der »Briefwechsel vom 8. November 1972 über die Arbeitsmöglichkeiten von Journalisten«, in dem die freie und ungehinderte Arbeit in dem jeweils anderen Staat »im Rahmen der Rechtsordnung« vereinbart wurde. Die DDR erließ bald darauf die »Verordnung über die Tätigkeit von Publikationsorganen anderer Staaten und deren Korrespondenten in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Februar 1973«. Trotz der darin enthaltenen Restriktionen für eine freie journalistische Tätigkeit nahmen im Verlauf der folgenden Monate allein aus der Bundesrepublik über 20 ständig akkreditierte Hörfunk-, Fernseh- und Zeitungskorrespondenten ihre Arbeit in Ost-Berlin auf. Mehr ließ die DDR nicht zu.

Im August 1977 kam Karl-Heinz Baum als Nachfolger von Christel Sudau für die Frankfurter Rundschau nach Ost-Berlin. Seine Gedanken, Erlebnisse und Erfahrungen wie auch die Intention seiner Chefredaktion stellt er im ersten Kapitel bereits ausführlich dar. Er erwähnt ebenso Marita Carl und Rolf Muth, sie Mitarbeiterin und er Sektorenleiter in der 1973 neu gegründeten Abteilung Journalistische Beziehungen im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. De jure war die Abteilung zwar im Außenministerium angebunden, de facto unterstand sie aber dem SED-Zentralkomitee (ZK). Die per Telex eingereichten Anträge der Korrespondenten für Interviews, Reportagen und Gespräche sowie für alle Reisen in Städte außerhalb von Ost-Berlin wurden sofort, noch bevor sie über die interne Postverteilung auf dem Tisch des zuständigen Mitarbeiters landeten, direkt ans ZK und zusätzlich an die Stasi weitergeleitet, so Rolf Muth in einem späteren Interview.1Sein früherer Chef im Außenministerium, Abteilungsleiter Gerhard Meyer, berichtete sogar von zeitweilig täglichen Besprechungen um »neun Uhr bei Axen«, bei Hermann Axen, dem für internationale Beziehungen verantwortlichen Politbüromitglied.2 In streng vertraulicher Runde berieten mehrere stellvertretende Minister im Beisein von Bruno Beater, einem Stellvertreter von Stasi-Chef Erich Mielke, über jeden einzelnen Journalistenantrag und die zuvor erschienenen Artikel und Berichte. Von besonderem Interesse waren stets die Reportagen der Teams von ARD und ZDF. »Bei vielen in der DDR-Führung«, so Meyer, »herrschte eine geradezu lähmende Angst vor allem ›Öffentlichen‹« sowie ein »hypertrophiertes Sicherheitsbedürfnis«.3 Aus dieser politbürokratischen Vorgehensweise resultierten die oft langen Bearbeitungszeiten der Anträge und die immer häufiger erfolgten Absagen, wie: »An dem Thema haben wir kein Interesse!«

Den westdeutschen Korrespondenten gelangen trotz Reglementierungen der DDR-Behörden und der Sicherheitsorgane und auch ohne Anträge im Außenministerium interessante und zugleich politisch brisante Reportagen. Besonders die Berichte im westlichen Radio und Fernsehen waren den Parteikontrolleuren ein Dorn im Auge, zumal sie aus geheim gehaltenen internen Erhebungen wussten: Mehr als 90 Prozent der Menschen informierten sich über die Westmedien.

Im Frühjahr 1979 kam es zu der sich schon seit Monaten abzeichnenden Verschärfung der Arbeitsbedingungen für die westlichen Korrespondenten. Am 4. April 1979, wenige Tage vor Ostern, kündigte die Pressestelle des Ministeriums für Außenhandel der DDR strengere Devisenkontrollen an. Alle DDR-Zeitungen druckten, dass vom 16. April an DDR-Bürger nicht mehr mit Westgeld, also D-Mark, in den Intershops einkaufen können. Zugelassen waren nur noch Schecks der Forum Außenhandels-Gesellschaft mbH, sogenannte Forum-Schecks, die Banken und Sparkassen gegen D-Mark ausgaben.