Keine Angst, hier gibt's auch Deutsche! - Thomas Lindemann - E-Book

Keine Angst, hier gibt's auch Deutsche! E-Book

Thomas Lindemann

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Beschreibung

Viele Freunde sprachen es aus: Du kannst doch nicht nach Neukölln gehen, nicht mit Familie! Aber hier sind die Mieten gerade noch erschwinglich. Die Oma warnt: Wenn jemand ein Messer hat auf dem Schulhof? Und als die junge Familie gleich am ersten Wochenende beobachtet, wie ein Streit in versuchter Entführung, Verfolgungsjagd und 25 beschädigten Autos endet, fragen die Kinder: Wo sind wir hier eigentlich hingezogen, Papa? Über Neukölln ist »unendlich viel Mist geschrieben worden«, sagt der Ex-Bürgermeister Heinz Buschkowsky zu Autor Lindemann. Wahr ist: Der Stadtteil hat über 50 Prozent Migranten, bei den Jugendlichen sogar 80 Prozent. Fast die Hälfte lebt von Hartz IV. Und zugleich kommen die jungen Amerikaner genau hierher und eröffnen Bars oder Ateliers, die Gentrifizierung ist auch in Neukölln schon kräftig in Gang. Die berüchtigte Al-Nur-Moschee ist hier und der beste Elvis-Imitator der Welt auch. Lindemann besucht sie alle. Oft mit seinen Kindern. Eine aufregende Stadtreportage aus der Zukunft Deutschlands.

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www.berlinverlag.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1.Auflage 2016

ISBN 9-783-8270-7873-5

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

VORWORTKEIN LEICHTER ABSCHIED

Wir stehen vor der Schule und warten. Die ersten Kinder strömen schon heraus. Sie tragen große Kopfhörer, einige haben Skateboards, die Älteren sind modisch gekleidet. Meine Söhne Leo und Quinn sind neun und sieben Jahre alt. Mich selbst hat niemand mehr abgeholt in dem Alter. Wir leben im Stadtviertel Prenzlauer Berg, in dem gut gebildete Eltern die Herrschaft übernommen haben. Die digitale Boheme holt ihre Kinder eben ab. Gut für mich, ich mag das Plaudern mit den anderen Erwachsenen und habe heute eine Nachricht mitgebracht: Wir ziehen um! Nach Neukölln! In den sicher schwierigen, aber auch aufregendsten Stadtteil Berlins. Damit kann ich auftrumpfen. Dachte ich.

Carl kommt mir entgegen, Chefredakteur einer Zeitschrift. Und Peter, der Fotograf. Und Hannes, der teure Kaffeemaschinen an die Cafés der Gegend verkauft. Keiner reagiert, wie ich gehofft hatte. »Das könnt ihr nicht machen, nicht mit Kindern!« – »Überleg dir das noch mal. Idealismus in Ehren, aber es geht hier um deine Familie.« – »Ja, ja, das ist der verdammte Berliner Mietwucher. Jetzt müsst ihr Armen nach Neukölln gehen.«

Ich gehe ins Schulgebäude, drinnen wird alles noch schlimmer. Die Lehrerin, die unseren großen Sohn nach einer sehr modernen, freien Methode durch die ersten Schuljahre gebracht hat, ignoriert meine Ankündigung, dass wir gehen müssen, zunächst und sagt nur: »Nein, nein, das wäre nicht gut für ihn.« Später wird auch noch unsere Kinderärztin skeptisch lächeln und sagen: »Oha, mitten rein in die Szene.« Meine Begeisterung sollte auch meine eigenen Befürchtungen überdecken. Das ist gehörig misslungen.

Trotzdem bin ich kurz vor dem Umzug erst einmal erleichtert. Leo gefällt die Wohnung. Wir stehen auf der Besichtigung mit zwanzig anderen. Ein paar Frauen mit Kopftuch sind da, ein paar Studenten, die eine WG gründen wollen. Aber auch ein Single um die vierzig, der diese Wohnung ganz allein möchte, in die wir zu fünft einziehen wollen. Mein Sohn gibt sein Okay, und das war uns wichtig. Auf der Straße vor der Tür reden wir noch mit einem anderen Paar, das zwei Kinder hat. Die Frau, eine Koreanerin, hat schon Erfahrungen mit Neukölln. »Dort hinten«, sagt sie und zeigt die Straße, in der ich bald wohnen soll, entlang, »habe ich zum ersten Mal gesehen, wie eine Frau mitten am Vormittag einfach auf den Gehweg gekackt hat. Die sah auch noch relativ normal aus.« Ich packe meinen Sohn an der Hand und ziehe ihn schnell weg.

Wir bekommen den Mietvertrag, ein zwei Jahre währendes Drama Wohnungssuche findet sein Ende. Und als wir kurz darauf also wirklich nach Neukölln ziehen, hören wir von Nachbarn: »Wie ungewöhnlich, ihr kommt hierher?« Normalerweise gehen die Eltern in eurem Alter. Sie kommen als Studenten, führen hier ihr Single-Leben, Ausgehen kann man ja auch gut. Dann bekommen sie Kinder, und bevor die ins Schulalter kommen, ist die Familie schnell weg – drüben in Schöneberg oder Treptow. Bloß nicht Neukölln.

Dabei haben wir es in Prenzlauer Berg, wo unsere drei Kinder geboren wurden, nicht mehr ausgehalten. Der Modell-Stadtteil der jungen Bourgeoisie, für den das Wort »Bionade-Biedermeier« erfunden wurde, hat es sich dort etwas zu hübsch eingerichtet. Irgendwann war die aufregende Untergrund-Kultur weg, wegen der man dort lebte, die Mieten zu teuer und die Clubs von lärmempfindlichen Nachbarn weggeklagt. Das bürgerliche Cocooning hatte gesiegt und ein Idyll aus teuren Kochschulen, Privatkitas und Geschäften für besondere Olivenöle geschaffen.

Gegangen sind wir aber trotzdem erst unter dem Druck der teuren Mieten. Wo der Quadratmeter mittlerweile fünfzehn Euro kalt kostet, findet man als mittelprächtig verdienende fünfköpfige Familie keinen Wohnraum mehr. Dabei waren wir eine richtige Vorzeigefamilie für Berlin-Prenzlauer Berg: Nach den zwei Jungs haben wir – meine Frau Julia und ich – noch eine Tochter bekommen, Maja ist jetzt zwei Jahre alt. Wie die meisten im Viertel wählten wir Grün, hatten Apple-Computer und hohe Ideale. Ich engagierte mich an Schule und Kita auch nachmittags noch, ich habe für kleine Jungs Klavier gespielt, mit anderen Eltern über Vegetarismus und Playstation-Konsum diskutiert. Ich habe mich für die neue Spielstraße in unserem Viertel eingesetzt, ich ging zum Yoga. Ich bin die linksliberale Moderne. Und dann bin ich nach Neukölln gezogen. Nur zehn Kilometer entfernt, wirkt der Stadtteil wie ein anderer Planet. Eine Gegend, die schon die »Bronx Berlins« genannt wurde oder »Deutschlands härtestes Pflaster« oder schlicht »Hölle«. Wir sind in ein sogenanntes Problemviertel gegangen. Mit Kindern. Dort sind manche Träume von früher dann ziemlich schnell zerplatzt.

Der nördlichste Zipfel dieses Stadtteils ist zwar schon gentrifiziert, mithilfe von Cafés und Loft-Wohnungen relativ bürgerlich ruhiggestellt, aber eben nur der. Die Kunst- und Kulturszene trifft auf harte soziale Verhältnisse und herbe Kriminalität. Romane werden über Neukölln geschrieben, Filme kommen ins Kino. Aber in der allgemeinen Wahrnehmung bleibt der Stadtteil der Problemkiez schlechthin. Bis zu 90Prozent sind (je nach Gegend) arm. Spätestens seit dem sogenannten Brandbrief-Skandal an der Rütli-Schule 2006, als die Lehrer öffentlich vor dem Unwillen und der Gewalt ihrer Schüler kapitulierten, ist Neukölln ein Reizwort, das die ganze Republik elektrisiert. Heinz Buschkowsky, der frühere Bezirksbürgermeister, landete einen Bestseller mit dem Buch Neukölln ist überall, ging durch alle Talkshows und machte den Namen seines Stadtteils zum Symbol für soziale Probleme und angeblich scheiternde Integration.

Im Winter 2015 ist es wieder passiert: Auf einer Pegida-Demonstration am 11.November wird ein Rentner von Spiegel Online vor der Kamera befragt. Er sagt: »Ich habe Angst, dass meine Enkel mal an die Schule kommen, und die haben dasselbe Problem wie zum Beispiel in Neukölln.« Die Reporterin fragt nach zum Thema Islamisierung, er erwidert: »Dass wir im Endeffekt als Christen nicht mehr das Abendland beherrschen und dass wir von anderen Leuten übertüncht werden und dass wir nichts mehr zu sagen haben.« Aber ob man hier tatsächlich »übertüncht« wird, möchte ich herausfinden.

Eine Zeitung nannte Neukölln den »schmuddeligen Hinterhof der Stadt«. Keines der zurzeit zwanzig Berliner Sterne-Restaurants (ein oder zwei Sterne im Guide Michelin) befindet sich in Neukölln. Bizarrerweise gibt es hier dennoch die heftigsten Mietsteigerungen Berlins.

Der Stadtteil ist ein Labor für das, was Deutschland sein kann – mit allen schönen und hässlichen Seiten. Auf den Straßen liegen Müll und Hundekot, manchmal hört man von nächtlichen Gang-Schlägereien. Ein Drittel der Menschen lebt von Hartz IV. Gleichzeitig sind die Szene und das Nachtleben hier so interessant wie sonst nirgendwo, das Leben ist nirgends so urban, Multikulti ist oft wunderbar intakt. Hier sind türkische Mädchen mit Kopftuch die Klassenbesten. Amerikanische Künstler betreiben die Bars. Ungarische Juden organisieren in Moscheen Infoabende. In Neukölln ist Deutschland schon ein Einwanderungsland. Und man kann hier auch sehen, was das bedeuten kann.

Neukölln hat 325000Einwohner. Würde man es in eine Liste der deutschen Großstädte einreihen, käme es auf Platz 19. Es ist größer als Bonn, Münster oder Karlsruhe. Seltsamerweise hat die Gegend eine Geschichte, als gefährlich wahrgenommen zu werden. Sie hieß früher Rixdorf und wurde 1912 in »Neukölln« umbenannt, auch weil der alte Name stark mit Kriminalität und Sittenverfall assoziiert war. Heute ist Rixdorf der schicke und bürgerliche Teil von Neukölln, vor allem der Richardplatz. Hier hat der Sänger Frank Zander seine Kunstgalerie, und die Restaurants servieren deutsche Küche, die Verhältnisse von einst haben sich umgekehrt. Allerdings nicht so weit, als dass die Mittelschicht ihre Kinder auf die Grundschule am Platz schicken würde. Ein Bekannter, der hier wohnt, hat mit Nachbarn zum Beispiel eine Fahrgemeinschaft gegründet, um die Kinder jeden Tag tief in den Süden Neuköllns zu fahren, zu einer acht Kilometer entfernten Schule.

In Nord-Neukölln, dem ursprünglichen Neukölln, der Gegend innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings, die man eigentlich meint, wenn man von Neukölln spricht, sind knapp mehr als die Hälfte der Einwohner Migranten. Als Deutscher bin ich in meinem Kiez in der Minderheit – jedenfalls rechnerisch. Über das Gefühl sagt das noch gar nichts.

Vieles, worauf deutsche Stammtische und Medien besorgt oder belustigt reagieren, ist in Neukölln Wirklichkeit. Der »Härtetest« meiner Familie, mitten in diese Gegend zu ziehen, wird zeigen: Es ist aufregender hier, irgendwie lebensnäher, auch anstrengender. »Keine Angst, hier gibt’s auch Deutsche!« Diesen Satz sagte eine Erzieherin zu uns, als wir eine Hortgruppe für unsere Kinder suchten. Als wir sie konsterniert anschauten, setzte sie noch nach: »Und die meisten können auch mit Messer und Gabel essen.« Das war nicht zynisch oder despektierlich gemeint. Sie ist selbst »nur halb deutsch«, wie sie es nennt. Aber sie ist einfach schon lange hier und hat gelernt, Klartext zu sprechen. Was man im »Problemviertel« lernen kann und muss, darum geht es in diesem Buch.

ERSCHRECKENDES

AUF DEN UMZUG FOLGT DER SCHOCK

Oder: Wo sind wir denn hier gelandet, Papa? Wie ich meinen Kindern erklären musste, warum diese Gegend so seltsam ist.

Am Ende unserer ersten Woche in Neukölln schaut mein Sohn mich mit großen Augen an. »Papa«, fragt er, »in was für eine Gegend sind wir hier eigentlich gezogen?«

Wir waren auf dem Tempelhofer Feld, dem einstigen Flugfeld mitten in der Stadt – dem herrlichen, glücklicherweise vom geplanten Bauvorhaben der Verwaltung unangetasteten gigantischen Park. Nun spazieren wir durch kleine, von Altbauten gesäumte Straßen nach Hause. Allerdings nicht ganz so, wie wir wollen. Die Oderstraße, am Zaun des einstigen Stadtairports gelegen, ist zum Teil mit rot-weißen Bändern abgesperrt. Mehrere Polizisten bewachen die Szene. Achtzehn Autos sind verkratzt, zerstört oder weisen mächtige Dellen an der Seite auf, zwei davon stehen ineinander verkeilt auf der Straße.

Nachdem wir in den wenigen Tagen in der neuen Gegend schon Zeugen zweier großer Unfälle auf der offenkundig lebensgefährlichen Hermannstraße wurden und jeden Abend Polizeisirenen durch die Fenster hereindringen, als wäre das Leben ein Krimi aus Manhattan, kam mein Kind ins Grübeln.

Später lese ich die Polizeimeldung: Zwei Männer waren auf der Hauptstraße in Streit geraten. Wie so oft in solchen Fällen ging es darum, dass einer dem anderen Geld schuldete. Der Schuldner hatte keine Kohle, der Gläubiger keine Contenance. Man stritt sich, und auf einmal zerrten der Gläubiger und sein Kumpel die Freundin des Schuldners in ihr Auto. Die Männer entschlossen sich sozusagen zu einem Spontan-Kidnapping und rasten mit der Frau im Wagen davon. Leider waren sie dann aber zu ungestüm, zu nervös oder einfach zu doof. Der düpierte, seiner Braut beraubte Schuldner war jedenfalls viel schneller. Während einer kurzen Verfolgungsjagd rammten die beiden Gas-Gockel geparkte Autos, bis der Verfolger die Flüchtenden einkeilte, was diese aber nicht an dem Versuch hinderte, sich »freizufahren« – ein großartiges Wort, das ich seitdem immer gern mal wieder in den Mund nehme–, also sinnlos vor- und zurückzusetzen und noch weitere Zerstörung anzurichten. Die Polizei kam und nahm die gesamte Mannschaft fest.

»Only in Neukölln!« So lautet ein Hashtag, das auf Twitter und Instagram umgeht. Besonders bizarre Begebenheiten werden mit #onlyinneukoelln markiert. Wenn etwa im Columbiabad, von den Boulevardmedien gern als das »gefährlichste Freibad Deutschlands« bezeichnet, die Jugendlichen aufeinander losgehen. »Massenschlägerei!«, heißt es dann. »Bei den Temperaturen kochten wohl auch die Gemüter: Im berüchtigten Berliner Columbiabad im Stadtteil Neukölln gerieten fast 60Badegäste aneinander.« Das war im Juli 2015. Wir selbst hatten am Morgen noch in der Schlange vor den Kassenhäuschen gestanden, bevor wir angesichts der Massen aufgaben und ins Hallenbad gingen. Bei 36Grad Außentemperatur! Berlin ist längst ein internationaler Magnet, hier kaufen Skandinavier und Japaner massenhaft Immobilien, hier schieben sich Touris durch, die Härte ist gegangen. Dachte man. In Neukölln bleibt sie noch ein bisschen.

Während der Recherche zu diesem Buch sammle ich folgende Nachrichten, die nur ein halbes Jahr betreffen:

– Auf dem U-Bahnhof Schönleinstraße macht die Polizei vier Heroin- und Kokaindealer zwischen 16 und 31Jahren dingfest, einer versucht noch erfolglos, über die Gleise zu fliehen.

– Am Columbiadamm prügeln sich zwei Männer, weil es dem einen nicht passt, dass die Freundin des anderen raucht.

– Zwei bewaffnete Teenager versuchen, in der Donaustraße ein Bordell zu überfallen.

– Im August 2015 schlägt einen Mann mit einer Machete einer Frau einen Finger ab. Das geschieht vor einer Kneipe, die etwa 150Meter von meiner Wohnungstür entfernt liegt. Irgendwann abends um zehn halten zwei dunkle Autos vor der Kaschemme, und es steigen Männer mit Messern und Macheten aus. Sie gehen sofort auf eine Frau und ihre Begleiter los, hacken und stechen wie in einem schlechten Brutalo-Gangsterfilm auf die Gruppe ein. Immerhin geht niemand drauf, außer einem linken Daumen.

– In der Hasenheide, dem Park wo wir manchmal Minigolf spielen gehen, findet ein Jogger frühmorgens einen toten Mann im Gebüsch.

– Ebenfalls in der Hasenheide verprügeln zwei der dort in Scharen herumstehenden Dealer einen Zivilpolizisten mit einer Eisenstange und rammen ihm danach ein Messer in den Oberschenkel. Der Beamte muss eine Woche im Krankenhaus verbringen, die Täter entkommen.

– Auf dem S-Bahnhof Hermannstraße liefern sich ein halbes Dutzend Rumänen eine Messerstecherei. Und zwar am hellen Nachmittag.

– In der Nähe des S-Bahnhofs Neukölln wird an einem Sonntagmorgen um sechs Uhr früh ein britischer DJ erschossen. Die Tat findet vor einem kleinen Technoclub statt, der Täter ist vermutlich ein Bewohner desselben Hauses, dem es zu laut war. Die Polizei gibt folgende Täterbeschreibung heraus: Cowboyhut, lange schwarze Kutte, Schrotflinte.

– Die zahlreichen Raubüberfälle auf Spätkauf-Kioske erwähne ich gar nicht. Auch nicht, dass dabei immer wieder Macheten und andere große Waffen im Spiel sind. Vielleicht nur diesen: Im Oktober überfallen drei mit einer Axt bewaffnete Männer einen Kiosk in der Okerstraße. Obwohl der Kassierer das Geld sofort herausgibt, schlagen sie ihm mehrmals ins Gesicht.

– In der Gropiusstadt wird einem Mann aus unbekannten Gründen ins Bein geschossen.

– Vier Männer zwischen 16 und 20Jahren betreten eines Abends eine Bar, schlagen die Gäste mit einem Stromkabel, treten einer Schwangeren in den Bauch. Vermutlich ein Bandenstreit, denn es kommen immer weitere dazu, am Ende sind 80Personen anwesend.

– In der U-Bahn U7 prügeln zwei Männer wahllos auf mindestens sechs Fahrgäste ein.

– In der Nähe des Körnerparks greifen zwei Unbekannte an einem Donnerstagabend einen 21-jährigen Spaziergänger an, stechen mit einem Messer zu. Der junge Mann kommt mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus.

– Zwei Räuber, die an der U-Bahn-Station Neukölln einen Mann verprügelt haben, dann aber ohne Beute fliehen mussten, stellen sich zwei Wochen später der Polizei: Sie sind 14 und 16.

ALLEIN UNTER MIGRANTEN

In den Schulklassen, auch mitten in den Ausgehvierteln, beträgt der Migrantenanteil manchmal 100Prozent. Das liegt nicht an den Einwanderern und ihren Kindern, sondern an uns Immer-schon-Deutschen: Die weiße Mittelschicht meidet einen ganzen Stadtteil, wenn es um ihre Kinder geht.

Der kleine Karel antwortet nicht. Ich bin Gast in einer Neuköllner Grundschule. Wir überlegen, ob wir unsere Kinder auf diese Schule schicken sollen, und dürfen einen Vormittag lang hospitieren und sogar mitarbeiten. Bisher lief alles richtig gut. Die Schüler wuseln um mich herum, freuen sich offenbar und wollen mir ihre Zettel und ihre Aufgaben zeigen. Nur Karel schweigt und schaut nach unten. Wir sollen zusammenrechnen, einfache Aufgaben, eins plus vier und so was. Es gibt kleine Kugeln, die man auf Felder legen kann. »Schau doch mal«, sage ich, aber alles ohne Erfolg. Endlich bemerkt uns die Lehrerin und rauscht auf mich zu. »Ach ja, das habe ich vergessen«, erklärt sie freundlich, »Karel kann kein Deutsch. Die Familie ist gerade erst aus Albanien gekommen. Und mit Männern hat er auch ein Problem. Es gibt da leider negative Erfahrungen.«

Zu Hause ertappen meine Frau und ich uns bei der Diskussion, die wir immer gleichermaßen feige wie falsch fanden: Wollen wir unsere Kinder in eine Klasse geben, in der keiner außer ihnen deutscher Herkunft ist? Wobei uns die Herkunft herzlich egal ist, aber einige Kinder sprachen überhaupt kein Deutsch, etliche andere schlecht. Die Klassenbeste war eine niedliche Siebenjährige mit Kopftuch. Einige Kinder waren hypernervös oder anders verhaltensauffällig, sodass sie einmal am Tag zum »Psychomotorik-Training« abgeholt wurden.

Trotzdem machten all diese Kinder einen fröhlichen und freundlichen Eindruck, alle wollten mit mir reden und stolz zeigen, was sie gerade geschafft hatten. Schwer beeindruckt war ich auch davon, wie die Lehrerin, eine zierliche Person Ende fünfzig, die immer sehr leise und ernst sprach, die Klasse im Griff hatte – gerade die hibbeligen Jungs mit Konzentrationsschwierigkeiten. Aber würde es den Kindern überhaupt einen Gewinn bringen, wenn nun zwei Deutsche kommen? Zwei unter fünfundzwanzig? Und wie würden meine Jungs das aufnehmen, die noch vor ihrem zehnten Lebensjahr in einem Vorzeigestadtteil der oberen Mittelschicht mit Schlagzeugunterricht, eigener Tanztheateraufführung an der Volksbühne, Besuchen beim koreanischen Konsul und selbständiger Projektarbeit in Kleingruppen groß geworden waren? Wenn es nun plötzlich primär darum ginge, dass alle eine gemeinsame Sprache sprechen?

Wir drücken uns vor der Entscheidung. Am Ende wird es eine andere Schule, nämlich einfach die, die sich direkt in unserer Straße befindet. Wir reden uns auch ein, dass das der Grund sei. In Wirklichkeit waren wir aber eben doch nicht ganz einverstanden damit, dass unsere Kinder die einzigen deutschen Muttersprachler in ihrer Klasse sein würden.

Zweimal empfängt die Rektorin der Schule, die wir später dann auch wählen, meine Frau und mich zu langen Gesprächen. Wir sagen klar, was wir uns von einer Schule erhoffen, und sie sagt klar, dass es schwer ist mit den Eltern, die immer zählbare Resultate sehen wollen. Ihre Schule ist überlaufen, sie befürchtet Klagen zum Beginn des nächsten Schuljahres. Bei ihr sind in jeder Klasse auch ein paar Emils, Antons und Lilis neben Mohammeds, Achmeds und Evrims, und das hat sich herumgesprochen. Meine Frau und ich erzählen davon, dass wir schreiben, ich spreche von Klavier und einer Jazzband, wie die Eltern an der hoch engagierten alten Schule mithelfen, die Kinder Tanztheater machen, Schulbands und Turniere, und da unterbricht die Rektorin uns irgendwann schon: »Also, ich nehme ihre Kinder jetzt einfach. Ich weiß gar nicht, wo ich sie sonst hinschicken soll mit ihrem Profil.«

Die Klassenlehrerin, zu der die Kinder dann kommen, ist froh. Sie wünscht sich ein bisschen Wandel, ein bisschen mehr Zuzug von »anderen Leuten«. Und die anderen, das sind wir, die mit dem Abi und dem Hochschulabschluss. Dass wir trotzdem wenig Geld haben, sei gut für die Förderung: »Wenn Sie Wohngeld bekommen, immer her mit dem Antrag auf Nachlass. Jede benachteiligte Familie ist gut für unsere Förderung.« Auch für ausländische Kinder in der Klasse gebe es Zuschüsse vom Bezirk, aber leider haben sie nur eine Ausländerin hier. Ich schaue mich um und sehe zwei Mädchen mit Kopftuch, den agilen, sehr dunkelhäutigen Sammy, der so gut Fußball spielt, Yussuf und Juri und Pawel. »Die sind alle deutsch. Unsere Ausländerin kommt aus Südtirol. Italienische Wurzeln.«

Das Kopftuch sei wichtiger geworden. Es gab früher mehr Zusammenarbeit mit den Eltern. Heute habe sie manchmal Probleme, dass Mädchen sich vor dem Schwimmunterricht nicht ausziehen wollen in der Dusche, das habe es früher nicht gegeben. Es scheint, als wäre das Leben mit den Menschen nichtdeutscher Herkunft schon einmal lockerer gewesen.

EIN EX-ZUHÄLTER TRAINIERT MEINE KINDER

Andreas Marquardt, der knallharte Karate-Weltmeister, war der Schrecken des Berliner Rotlichtmilieus. Der Neuköllner machte manchmal 60000Mark im Monat, verprügelte Menschen ohne Grund. Erst als er achteinhalb Jahre im Knast saß, arbeitete er den jahrelangen Missbrauch durch seine Eltern auf. Er kehrte um, begann ein zweites Leben, will heute Kindern mit Karate Stärke geben. Und ja, natürlich dürfen meine Jungs bei ihm trainieren.

Würden Sie diesem Mann Ihre Kinder anvertrauen? Er war zwanzig Jahre lang Zuhälter, und zwar ein richtig brutaler.  Seine Huren schlug er zusammen, erklärte ihnen dann, wie sie ihren Job richtig machen, und dann mussten sie ihm noch einen blasen. Einmal, als er als Geldeintreiber unterwegs war, schnitt er einem Mann einen Finger ab. Nach Jahren einer Karriere als gefürchteter harter Hund saß er achteinhalb Jahre im Knast in Berlin-Tegel. Also, würden Sie? Ich schon! Mein Sohn trainiert jetzt zweimal pro Woche Karate bei Andreas Marquardt.

So heißt der Mann, der 1956 in Neukölln geboren wurde und auf eine schreckliche und wechselhafte, mit diesem Stadtteil untrennbar verbundene Lebensgeschichte zurückblickt – auf eine mit gutem Ausgang. Sagt er. Seine Biografie, die er vor neun Jahren aufschrieb, hat der Regisseur Rosa von Praunheim verfilmt, Härte heißt der Kinofilm. Praunheim ist eine Ikone der Schwulenszene, ein sehr aktiver Berliner Undergroundfilmer und dem Rest der Republik eigentlich nur durch ein paar alte Talkshow-Auftritte bekannt. Als Andreas Marquardt vor über zehn Jahren aus dem Knast kam, war er ein neuer Mensch. Er ließ das Rotlichtmilieu hinter sich, nur seine Partnerin Marion blieb aus jener Zeit, seine einzige Begleiterin in beiden Welten und wahrscheinlich die Frau, die ihn gerettet hat. Heute betreibt er in Neukölln sein Sportcenter mit ihr. Die Zuhälter oder andere Kontakte von früher lassen sich hier nie sehen.

Wenn ich zu meinem großen Sohn Leo sage: »Tob hier nicht so in der Wohnung rum, sonst steck ich dich zweimal die Woche in das anstrengende Karate-Training, bei dem wir letztens zur Probestunde waren«, dann schreit er: »Ja, das will ich doch!« Die Übungen mit dreißig anderen Kindern, Deutschen und Migranten, Mädchen und Jungen, haben ihm imponiert. Besonders der Schrei, den man beim Schlagen und Treten ausstoßen soll. Der drang jedes Mal bis zu mir durch, der ich zwanzig Meter entfernt vor der Tür saß und fasziniert die dort ausliegende Lebensgeschichte des Trainers las.

Es war wie bei Karate Kid. Das 600Quadratmeter große Studio von Marquardt, halb Fitnesscenter, halb Kampfsporthalle, liegt in einem kleinen Industriegebiet. Hier ist nichts mit Design zurechtgemacht wie bei den Yogastudios in Prenzlauer Berg. Wir fahren mit dem Rad die laute Lahnstraße entlang, am Baumarkt vorbei und beim Discounter-Supermarkt um die Ecke. Hinter einem kleinen, seltsamen Hof mit einem Laden für Großküchenbedarf und einer Country-Tanzkneipe liegt es dann, das Sportstudio.

Der Karatemeister Marquardt, der seine Fähigkeiten einst auf der Straße einsetzte, um andere fertigzumachen, nutzt sie heute nur noch, um Kinder und Jugendliche zu stärken. Sein Karatetraining richtet sich speziell an die Neuköllner Jugend, und er sagt den Kindern immer offen, was für einer er früher gewesen sei, dass er viele Fehler gemacht habe und dass Gewalt ins Nichts führe. Verteidigen sollen sie sich aber können und selbstsicher werden. Marquardt weiß, dass sein Weg in der Kindheit die falsche Abzweigung nahm: Der Vater schlug ihn, zertrümmerte dem Sechsjährigen einmal die Hand so heftig, dass über Monate mehrmals operiert werden musste, um die kleinen Knochen wieder zurechtzurücken. Und die Mutter nötigte ihn zum Sex. Jahrelang. Als der Teenager das nicht mehr wollte, drohte sie: »Du kommst ins Heim.« Aus diesem Elternhaus zog dann ein gefährlicher junger Mann voller Wut in die Welt.

Ich treffe Andreas Marquardt außerhalb seiner Trainingszeiten noch einmal in Ruhe, weil ich wissen möchte, wie Gewalt entsteht. Wenn einer es erklären kann, dann er, denke ich mir. Noch immer gibt es im Stadtteil Neukölln entsetzliche Straftaten. Greift man sich aus der Kriminalstatistik ein Delikt heraus, das die Lage in einem Stadtteil und auf seinen Straßen symbolisieren soll – zum Beispiel die Körperverletzung–, werden im gesamten Neukölln rund 4000 Fälle pro Jahr gezählt. In Pankow, dem Verwaltungsbezirk, der aus Prenzlauer Berg, Weißensee und dem eigentlichen Pankow selbst besteht, sind es nur 2800. Im eigentlichen Prenzlauer Berg selbst wurden im Jahr 2013 insgesamt 1280 Körperverletzungen gezählt, in Nord-Neukölln, also dem ursprünglichen Neukölln, dagegen 2865, mehr als doppelt so viele. Von der Einwohnerzahl her sind beide Stadtteile fast gleich groß.

Vor dem Treffen mit Marquardt habe ich etwas Angst, nachdem ich ihn aus seiner Biografie und dem Film mit den so grausamen Passagen kenne. Darüber hinaus heißt er mit Nachnamen genau wie der berüchtigte Türsteher des großen Berliner Szene-Clubs »Berghain«. Noch so ein Mensch, der einen Teil seines Lebens darauf gründete, andere einzuschüchtern. Nur dass mein Marquardt, der Karate-Marquardt aus Neukölln, viel gefährlicher sein kann.

Und dann sitze ich neben einem freundlichen Herrn, der Jogginghose trägt und wirklich höchst sympathisch wirkt. Am ehesten ist er: besorgt. Das Wort passt am besten. Davon, dass Neukölln sich wandele und angeblich teuer, ruhig und schick werde, spürt er nicht viel. Seine Kinder berichten ihm, wie sie in der Schule angegriffen werden, in den Bauch getreten, der Schulranzen wird ihnen abgenommen oder das Geld.

»Die Brutalität da draußen wird schlimmer«, sagt er. »Die menschlichen Werte sind nicht mehr da. Heute hauen sich die Jugendlichen an den Schulen nicht mehr in die Fresse wie wir, sondern treten den anderen halb tot.« Für die erwachsenen Kriminellen gelte das erst recht. Früher im Milieu habe man einem eine gescheuert, der sei umgefallen, und damit war der Streit beigelegt. Heute gehe das nicht mehr so, sagt Marquardt. »Heute wird gleich eine Waffe gezogen. Oder der Bruder kommt.« Die Hemmschwelle sei viel niedriger. »Wer ne Waffe trägt, benutzt die auch.« Er glaubt, dass wir »irgendwann amerikanische Verhältnisse« bekommen und in zehn Jahren eine noch viel härtere Szene auf den Straßen erleben. Da spricht ein kulturkonservativer Mann, der vieles kritisch sieht, auch die Eltern. »Die Erwachsenen holen den Kindern heute iPads und Ähnliches, um die einfach loszuwerden. Man gibt denen das in die Hand und lässt sie allein damit.«

Lieber wäre es ihm, die Kinder würden Kampfsport machen und lernen, ihren Mann zu stehen. Viel Hilfe hatte er nicht bei seiner Mission, ihnen das zu ermöglichen. Von Heinz Buschkowsky, dem Ex-Bürgermeister, dessen Name so eng mit dem Bezirk Neukölln verbunden ist, hält er zum Beispiel wenig. Der habe sich nur nach außen präsentiert. Als Marquardt vor einigen Jahren sein Sportstudio auflösen und in ein anderes umziehen musste, bot er dem Bezirk die Sportgeräte für einen symbolischen Euro an. Aber niemand nahm seine Idee auf, ein Fitnesscenter für ganz wenig Geld einzurichten, damit die Jugendlichen nicht auf der Straße sind. Oft habe er im Rathaus angerufen, wurde immer nur abgewimmelt. Am Ende bot er das Studio im ganzen Land an – direkt am nächsten Tag schickte ein Jugendzentrum aus München einen Lkw. Vier Wochen später erhielt er einen Dankesbrief aus der bayerischen Hauptstadt mit Fotos von fröhlichen Jugendlichen an seinen Geräten.

Ich war auch mal Karateka, als Student. Zwei Jahre lang habe ich Wado-Ryu und Shotokan an der Universität trainiert. Ich hatte einen besonderen Lehrer, der sich aus Prüfungen nicht viel machte und seinen paar Schülern eher das Denken des Kämpfers nahebringen wollte, die Achtsamkeit und die schnelle Reaktion. Allerdings durchaus auch die schnell ausgeführten dreißig Liegestütze zu Beginn jedes Trainings. Weil ich davor und danach eher der Typ war, der an Schreibtischen rumsitzt und liest, darf ich sagen: So fit war ich nie wieder. Meine damalige Freundin packte mich irgendwann am Arm und sagte: »Du hast ja richtig Muskeln bekommen.« Große Freude im Leben eines Geistesarbeiters! Deswegen empfinde ich eine grundsätzliche Zuneigung zu dem japanischen Sport. Die schwindet immer dann ein wenig, wenn hart gekämpft wird und man echte blaue Flecken mit nach Hause nimmt. Die Gewalt schreckt mich eben auch in dieser sublimierten Form noch etwas ab, und in jeder Trainingsgruppe gibt es Schüler, die richtig heiß darauf zu sein scheinen, sich zu prügeln. Das führt mich zu der Grundfrage zurück, um die es auch bei der Straßenkriminalität oft geht: Letztlich verstehe ich nicht, warum jemand seine Wut brutal in die Umwelt trägt.

Danach gefragt, überlegt Marquardt erst einmal einen Moment. »Ein Verbrecher wird nicht geboren, der wird gemacht. Im Elternhaus geht’s los. Wenn das Kind Gewalt spürt, will es sich rächen. An Mama oder Papa kann es nicht ran, also sucht es sich einen Kleineren draußen«, sagt er. »Oder es passiert in der Gang, dann will man mitziehen, um weiter dazuzugehören.«

Ich habe eine unschöne Anekdote für den Karatemeister im Kopf. Gerade zwei Tage vor unserem Treffen wurde mein neunjähriger Sohn Leo auf der Straße angegriffen. Von einem anderen Jungen, der kaum älter ist. Leo ging mit seiner Freundin Sona auf den Bolzplatz. Plötzlich kam Diego, ein Junge aus der Nachbarschaft, den sie schon kannten, auf sie zu, beschimpfte sie und trat beide Kinder in den Rücken. Am nächsten Tag sprach ich mit der Rektorin unserer Schule über den Vorfall, die versprach, sofort mit den Kollegen der anderen Schule zu sprechen. Eins sagte sie aber noch zu mir: Diego habe es zu Hause sehr schwer. Da ist sie wieder, die Frage, die auch Marquardts Leben bestimmt hat: Muss man gewalttätig werden, wenn man Gewalt erfahren hat? Und wie kann man, so wie er es geschafft hat, herauskommen aus dem Teufelskreis?

»Man muss es schon wollen«, sagt er. Er habe starken Rückhalt von seiner Partnerin, sei auch noch mit einem Therapeuten in Kontakt, und eine starke Persönlichkeit sei er sowieso. Wie beim Sport: »Entweder fall ich um, oder ich geh weiter.« Er wollte irgendwann nicht mehr in den Sumpf zurück, den Teufelskreis. Und er wollte das, auch wenn er kein Patentrezept habe, weitergeben. »Weil ich von der Straße komme und ein Kind war, das keine große Freude hatte, weiß ich, was die durchmachen.« Er gibt Sportseminare an Schulen. Um zu reden. Respekt vor den Erwachsenen will er lehren, Respekt sollen die Kinder haben, aber keine Angst. Und sie sollen Nein sagen lernen in der Gruppe. »Wer Nein sagt, ist stark.« Und er sagt immer offen, was mit ihm passiert ist, dass er eine schlechte Kindheit hatte.

Warum passieren Dinge, warum gibt es Mobbing? Die Lehrer seien gar nicht mehr richtig ausgebildet, hätten mitunter sogar Angst vor den Jugendlichen. »Der könnte eine Waffe haben oder einen großen Bruder, dann lauern sie mir auf. Dürfte alles nicht sein. Ein Lehrer muss eine Respektsperson sein.« Die Antwort des Karatesportlers ist dann, eine Ausstrahlung aufzubauen. »Schon allein die körperliche Präsenz macht doch eine Menge aus.« Der Staat müsste, fordert er, seinen Lehrern heute den Kampfsport fördern mit 50Prozent. Und wieder – wenn er von Veränderung in Neukölln hört, kann er nur lachen. An den Schulen passiere fast gar nichts. »Es kommen neuerdings ein paar Studenten, die verbringen ein paar Monate hier und sind schnell wieder weg.«

Ob die Straßengewalt von Deutschen, Arabern, Türken oder sonst wem ausgehe, ist Marquardt egal. »Deutsch heißt auch nicht, dass alles super ist. Wenn man auf Bekloppte trifft, die Ausländer hassen oder Schwächlinge hassen, kann es alles wieder schwierig werden«, sagt er. Dass die jungen bürgerlichen Eltern aus Neukölln gern wieder wegziehen, wenn ihre Kinder ins schulpflichtige Alter kommen, hält er für kurzsichtig. »In Schöneberg gibt es genauso viel Brutalität wie in Neukölln. Und ein Junge aus gutem Haus in Zehlendorf kann sich auch eine Waffe besorgen.«

Bei den Arabern seien die Eltern schon »mehr hinterher«, dass sie Respekt und Angst vor dem Papa haben. Aber die Repression, die sie zu Hause erfahren, geben sie draußen weiter. Wichtig sei, mit den Jugendlichen zu reden, etwas mit ihnen zu machen. Die meisten sind in seiner Kindergruppe, 4 bis 11Jahre alt. Daneben bietet er noch ein Training für Jugendliche bis sechzehn an. Alle Älteren gehen zu den Erwachsenen. Männer und Frauen trainieren zusammen. Denn Frauen werden ja, meint Marquardt, auf der Straße auch eher von Männern angegriffen, wenn sie denn angegriffen werden. Sie sollen es also trainieren, sich gegen einen Mann zu verteidigen. Die Sportler bei ihm sind Jugoslawen, Türken, Araber, Griechen, Deutsche, jede Herkunft ist vertreten. 250Kids trainiert er, 60Jugendliche und 80Erwachsene. Das nennt er seine Verantwortung. Er wollte nie, wie andere Aussteiger aus dem Milieu, nach Thailand abhauen. Was soll er in Thailand? Manche Karateka sind fast dreißig Jahre bei ihm geblieben und haben inzwischen schon ihre Kinder bei ihm angemeldet.

Er hat schon mal einem Jugendlichen ein Messer in die Hand gegeben, sich drei Meter entfernt hingestellt und gesagt: »Greif mich an!« Wenn der Junge es dann versucht, greift Marquardt blitzschnell hinter sich, zieht eine Pistole und hält sie seinem Gegenüber ins Gesicht. Der Schrecken soll die Lehre vermitteln: Gewalt erzeugt wieder Gewalt, und es gibt immer einen, der brutaler oder verrückter ist. »Kampfsport heißt nur, dass ich mich wehren kann, dass ich kein Opfer bin.« Oder, das sagt er mehrmals: Man könne sich mit seinen Fähigkeiten einsetzen, um einem Schwächeren aus einer Gefahr herauszuhelfen. Denn bis die Polizei da sei, sei es doch oft zu spät. Aber auf der Straße zu kämpfen, sei Unsinn.

Der Begriff des »Opfers« gehört mittlerweile zum normalen Neuköllner Wortschatz. »Wenn wir jetzt durch die Straße laufen«, sagt Marquardt, »kann ich genau sagen: Das ist ein Opfer, das ist ein Opfer, und das da drüben auch. Von der Körperhaltung und vom Blick und der Ausstrahlung her.« Wenn einer aufrecht durch die Straßen gehe, mache das viel aus. Das will er vermitteln. Sein Freund Carsten Stahl wolle das Gleiche, mache etwas Ähnliches, er ist die Hauptfigur der RTL-II-Serie »Privatdetektive im Einsatz«. Sie wollen den Leuten sagen: Hört auf, denkt nach, mit Gewalt kommt man immer an eine Grenze. Stahl ist auch mal ein Knacki gewesen, wie er. Sie unterhalten sich oft über ihre Arbeit.

In der Mainzer Straße, Ecke Flughafenstraße, ist Marquardt aufgewachsen. Damals war Neukölln noch nicht von Ausländern geprägt, das kam erst Ende der Achtziger. Aber Neukölln war immer ein Arbeiterbezirk. Sportstudios besaß Marquardt immer, seit 1974, an verschiedenen Orten der Stadt. Neukölln und Kreuzberg zuerst, nach der Wende auch drüben. Einige gingen pleite, er hatte sich zu viel vorgenommen. Marion, mit der er jetzt 33Jahre zusammen ist, hat den Rest gehalten und geleitet, auch als er im Knast war. »Man wird hier nicht reich, aber ich bin mein eigener Herr.« Früher, als Zuhälter, hatte er im Monat manchmal 60000 bis 80000 D-Mark, heute lebt er von vielleicht 1500Euro. Ob er glücklich ist? Da überlegt er nicht: »Natürlich. Ich will es so, es ist gut so.« Er hat ein kleines Auto, das reicht, der Laden soll laufen.

Er hat den achten Dan und ist damit der höchste Dan-Träger in Deutschland. Bis zum sechsten hat er alle Prüfungen in Asien absolviert, die weiteren werden ehrenhalber verliehen. Der neunte soll bald folgen. Wegen seiner Verdienste um die Erziehung der Jugend, hat ihm jemand verraten. Bei seinem Meister Suzuki, der jetzt 88Jahre alt ist, hat er als junger Mann auch mal anderthalb Jahre lang gelebt und gearbeitet. Seit fast 55Jahren macht er nun Karate.

Hat er seine destruktive Zeit überwunden? Er wird nicht mehr gewalttätig, da hat er Mechanismen. Aber überwinden, die eigenen Verletzungen, das kann man nicht hundertprozentig, sagt er, »das kann ich nicht vergessen.« Es gibt Momente, da kommen ihm die Tränen, abends, oder nachts, oder wenn er mit seiner Partnerin redet. Aber er kann reden.

NEUKÖLLN IN ZAHLEN

Nord-Neukölln ist der eigentliche Stadtteil Neukölln, um den es auch meist geht in diesem Buch. Es ist der alte Bezirk Neukölln, der vom Landwehrkanal bis zur Stadtautobahn reicht oder vom Tempelhofer Feld (das teilweise zu Neukölln gehört) bis fast an den Treptower Park. Der Verwaltungsbezirk Neukölln umfasst auch noch die Stadtteile Britz, Buckow, Gropiusstadt und Rudow, sie gehören also ebenfalls zu Neukölln, haben auch einen hohen Migrantenanteil, aber nach Süden hin wird es zunehmend ruhiger und dörflicher. Nord-Neukölln ist am dichtesten bebaut, mit 14000Einwohnern pro Quadratkilometer etwa auf dem Niveau von Brooklyn, und beherbergt auf seinen zwölf Quadratkilometern etwas mehr als die Hälfte aller Neuköllner. Hartz-IV-Empfänger sind 76800Personen in Neukölln, die Hartz-IV-Quote liegt damit bei 29Prozent. Weitere statistische Daten im Überblick:

EINWOHNER

Neukölln gesamt   325700

Nord-Neukölln   167100

EINWOHNER MIT MIGRATIONSHINTERGRUND

Nord-Neukölln   53Prozent

Neukölln gesamt   32Prozent

ANTEIL DER EINWOHNER MIT MIGRATIONSHINTERGRUND BEI DEN UNTER 18-JÄHRIGEN

Nord-Neukölln   80Prozent

Neukölln gesamt   69Prozent

AUSLÄNDER, ALSO EINWOHNER, DIE NICHT ÜBER EINEN DEUTSCHEN PASS VERFÜGEN

Nord-Neukölln   33Prozent

Neukölln gesamt   24Prozent

ARBEITSLOSENQUOTE

Neukölln   15,1Prozent

Ausländer in Neukölln   24,4Prozent

Berlin   11Prozent

SCHULABGÄNGER OHNE ABSCHLUSS

Nord-Neukölln   21Prozent

Neukölln gesamt   14Prozent

Berlin   9Prozent

PROBLEMATISCHE FINANZEN

74 von 100Euro, die das Bezirksamt Neukölln ausgibt, fließen in die sogenannten Transferleistungen. Insgesamt sind das 588Millionen Euro im Jahr. Der größte einzelne Haushaltsposten ist mit fast 200

DIE LEBENSLÜGEN DER MITTELSCHICHT

Wie man auf den sozialen Abstieg zusteuert, wenn man den gegenwärtigen Mietenwahnsinn nicht mitmachen kann. Und wie das moderne, Bio kaufende und Grün wählende junge Bürgertum zwar links redet, aber rechts lebt. Ihr Problemviertel haben die Deutschen sich selbst erzeugt.

Während meiner Wohnungssuche erhielt ich eine besonders rüde Mail. Eine Maklerin vermittelte mir zwar keine Wohnung, wohl aber eine Beleidigung. Nachdem ich Fragen zur Wohnung geäußert hatte, schrieb sie mir: »Herr Lindemann, an Querulanten und Korinthenkacker vermieten wir sowieso nicht!« Es ging um eine Wohnung am Leopoldplatz in Berlin-Wedding, die mehr als anderthalb Mal so teuer war, wie es der Mietspiegel maximal vorschreibt. Für solche Angebote wurde der Paragraf des Mietwuchers geschaffen. Er ist faktisch, wie so vieles im Mieterschutz, ein zahnloses Regulierungsinstrument, wird nie angewandt und wurde vom Bundesgerichtshof auch stark ausgehöhlt. Wie dem auch sei: Die Dame wollte eine knapp geschnittene 5-Zimmer-Wohnung für mehr als 1500Euro vermieten. Das mag die Münchner unter den Lesern nicht weiter beeindrucken, aber in Berlin, und erst recht in einer nicht gerade edlen Gegend, ist es das Doppelte dessen, was unlängst noch üblich war und was vermutlich die anderen Mieter des Hauses noch zahlen. Und ich hatte mir erlaubt, sie freundlich darauf hinzuweisen.

Während der zweijährigen Suche nach einer großen, aber nicht teuren Wohnung für eine fünfköpfige Familie habe ich viele Angebote mit astronomischen Preisen bekommen. Der Höhepunkt war eine Wohnung in einem so lieb- wie schmucklosen Neubau im Norden von Prenzlauer Berg, deren Kaltmiete pro Quadratmeter 18,50Euro betrug. Wer über kein hohes Einkommen verfügt, hat Pech.

Nicht zu denen zu gehören, die es sich aussuchen können, wie und wo sie leben, ist schnell passiert. Man muss nur zu der Mehrheit der Deutschen gehören, die einfache Jobs verrichten. Oder man muss im künstlerischen Bereich arbeiten und drei Kinder bekommen. Wir haben nicht zu jammern, schließlich leben wir immer noch halbwegs zentral in der deutschen Hauptstadt. Außerdem in einer hochinteressanten Gegend – das aber war ein glücklicher Zufall.

Zunächst resultierte der Weg nach Neukölln auch aus einem sozialen Abstieg. Der Umzug nach Neukölln war zwar gewollt – aber als Abstieg kann man ihn schon sehen, ganz objektiv. Nach dem Studium habe ich angefangen, bei einer großen deutschen Zeitung zu arbeiten. Dann habe ich ein Sachbuch geschrieben, das einige Monate auf der Bestsellerliste stand. Das alles ist schön, ergibt aber kein großartiges Einkommen. Der Beruf des Journalisten wird gerade langsam, aber sicher heruntergewirtschaftet. Es gibt aber auch deshalb nichts zu jammern, weil es meine eigene Entscheidung war, den Bürojob in der Redaktion eines großen Verlagshauses zu kündigen, weil ich lieber freiberuflich arbeiten und mehr bei meinen Kindern sein wollte. Meine Frau arbeitet ebenfalls freiberuflich und hat wegen der Kinder längere Erziehungszeiten gehabt. Eine große Wohnung im gentrifizierten Viertel Prenzlauer Berg hätten wir uns also nicht leisten können. Aber wir brauchten Platz, als unser drittes Kind zur Welt kam.

Es ist ja nicht so, dass alle plötzlich reich geworden wären. Manchen Freunden und Bekannten geht es genauso. Eine Familie, die wir kennen, hat mit viel Holz eine zweite Ebene in ihr Wohnzimmer eingezogen, die Kinder spielen da oben, und die Eltern sitzen etwas gedrungen auf dem Sofa darunter. Ein anderes Paar mit Kindern hatte die Idee, mit Rigips einfach noch ein weiteres winziges Zimmer zu konstruieren, nun schläft der Vater der Familie in einer seltsam zwischen Wohnzimmer und Flur gequetschten Kammer – ohne Fenster. Da ein Großteil der Elternpaare sich trennt, fällt es einigen dadurch wieder leichter: Wenn einer der Partner auszieht, und das meine ich nicht zynisch, wird wieder ein Zimmer für den frei, der als Erstes das Teenageralter erreicht. Wieder andere kaufen zusammen mit ihren Eltern eine Wohnung in einem der vielen Neubauprojekte. Doch dann sitzt einem der Kredit im Nacken, und die wenigsten können das finanziell allein, ohne die Großelterngeneration stemmen. Der Kampf um den Wohnraum tobt auf einmal überall.

All diese Möglichkeiten habe ich in der bedrängten Mittelschicht, in der ich lebe, beobachtet. Dass eine Familie unkompliziert eine größere Wohnung findet, weil Nachwuchs kommt, gibt es kaum. Wohnen ist in deutschen Städten teuer, auch in Berlin seit einiger Zeit, und das Geld ist ja leider gerade knapp, wenn Kinder kommen. Wo man einst als Student oder junger, ungebundener Angestellter hinzog, bilden sich plötzlich »Enklaven des gehobenen Wohnens«, wie der Soziologe Andrej Holm es nennt. Einige passen dort nicht mehr hin und müssen gehen. Zum Beispiel wir.

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