Keshira - Daniela Mattes - E-Book

Keshira E-Book

Daniela Mattes

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Beschreibung

Die junge Mondhexe Keshira ist mit ihrem Bruder Mischka auf einer geheimen Mission unterwegs, als dieser von den Bauern von Okep gefangengenommen und gefoltert wird. Um ihn zu befreien, löscht sie das gesamte Dorf aus - ein Sakrileg für die friedlichen Hexen. Daher wird sie auch unmittelbar nach der Tat zur Strafe verbannt und darf nie wieder nach Hause zurückkehren. Auf der Suche nach einem Unterschlupf gerät sie in die Fänge einer Bande Nekromanten, die gerade mithilfe eines uralten Relikts den mächtigsten bösen Zauberer aller Welten wiedererwecken wollen, um das Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Keshira kann jedoch mit dem Relikt fliehen - und wird von da an von den Nekromanten gejagt. Zuflucht bietet nur der dunkle Wald, in dem sie sich verstecken und verteidigen muss - bis zum Tag der Großen Schlacht, in der alle 12 weißmagischen Völker gegen die Schwarzmagier antreten müssen ...

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Seitenzahl: 325

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Das Land der Sieben Monde - Landkarte

© Martina Nowak

Inhaltsverzeichnis

Damals - Die Mission

HEUTE, 10 Jahre später …

Im Dorf Der Mondhexen

Unterwegs

Im Verwunschener Wald

Im Dorf Der Mondhexen

Damals - Keshiras Erlebnisse auf der Flucht

Die Nekromanten

Der Pechflüsterer

Zurück im verwunschenen Wald

Das Herz von Tscherp

Der rote Teufelswurm

Heute

IRGENDWO IN DEN SCHWEFELSÜMPFEN

Die Nekromanten

Im Wald

Die Nekromanten

DIE NEKROMANTEN SCHMIEDEN NEUE PLÄNE

DIE ANFÜHRER IM BERG FARO

ASH-WINNS ERLEBNISSE BEI DEN MENSCHEN

DIE NEKROMANTEN AUF DER WALZ

NACHTS AUF DEM DORFFRIEDHOF:

DIE REKRUTIERER DER ARMEE:

Die Grosse Schlacht

DAMALS …

DIE MISSION

Der Mondstein, den jede Mondhexe bei sich trägt, um Zauber zu wirken. (© Martina Nowak)

Keshira rannte keuchend durch den dunklen Wald und ihr Atem bildete in der Kälte kleine Dampfwölkchen vor ihrem Mund. Sie hörte die stampfenden Schritte und die wütenden Schreie der Dorfbewohner immer näher kommen.

Bestimmt würde sie das Tempo nicht mehr lange durchhalten. Mit letzter Kraft warf sie sich ins dichte Gebüsch und zerrte mit klammen Fingern an ihrem Lederbeutel.

Rasch holte sie das kleine Stück Mondstein hervor, das sie neben der Eulenfeder stets bei sich trug. Ihre linke Hand schloss sich eng um den Stein, der in ihrer Hand zu glühen begann, und sie murmelte rasch die notwendigen Zauberworte. Sekunden später war sie für ihre Verfolger unsichtbar.

Die Dorfbewohner stampften mit Laternen und Fackeln an ihrem Versteck vorbei, ohne sie zu entdecken. Erst als es um sie herum still geworden war, packte sie den Mondstein wieder in den Beutel und zwängte sich durch das Gebüsch auf den schmalen Waldweg zurück.

Sie taxierte die Umgebung. Auf dem Weg konnte sie nicht stehen bleiben, das wäre Selbstmord. Trotz der Kälte riss sie sich zusammen und kletterte behände auf die nächste hohe Eiche.

Kraft für eine Verwandlung hatte sie nach dem Unsichtbarkeitszauber nicht mehr. Also konnte sie nur hoffen, dass sie hoch genug im Geäst saß, um den Menschen nicht weiter aufzufallen. Sie setzte sich mit dem Rücken gegen den Stamm und schlug den gefütterten Mantel enger um sich. Ihr Blick suchte den Mond.

Trotz der 12jährigen Ausbildung, die sie und ihr Bruder seit frühester Kindheit genossen hatten, war ihre Mission, die Nachfolgerin der altehrwürdigen Mutter zum Rat der Zwölf zu geleiten, gescheitert.

Dabei waren die Eltern der beiden Mondhexen so stolz darauf gewesen, dass gleich beide Kinder dazu auserwählt worden waren, und hatten sie bei der Ausbildung in Kampfkunst, Verwandlung, Heilung und allgemeiner Zauberei stets unterstützt.

Die Geschwister waren dadurch stärker zusammengewachsen, denn nur wenn sie ein eingespieltes Team waren, konnten sie allen Gefahren trotzen und später einmal ihre Aufgabe erfolgreich erfüllen.

Während sie aufmerksam auf die Geräusche im Wald unter sich lauschte, schweiften ihre Gedanken ab, und sie erinnerte sich daran, wie alles begonnen hatte und wie stolz sie darauf gewesen war, auserwählt worden zu sein.

Die Kehrseite der Medaille hatte sie immer erfolgreich verdrängt. Oberstes Gebot war es nämlich, die Mission auf jeden Fall erfolgreich durchzuführen, auch wenn dabei der Partner auf der Strecke blieb.

Nie hätte sie damit gerechnet, dass es tatsächlich einmal so weit kommen würde. Und jetzt? Ihr Partner war immerhin nicht nur ihr Partner bei einer Mission, sondern ihr Bruder, ihr Vertrauter aus Kindertagen und ihr bester Freund. Eine tiefere Liebe zwischen zwei Geschwistern hatte es wohl noch nie zuvor gegeben. Sie hätte alles für ihren Bruder getan und er für sie.

Und jetzt? Ihr Bruder war gefangen, die Nachfolgerin verschwunden und sie saß, unfähig, sich zu verwandeln, auf einem Baum fest. Sie hätte vor Wut weinen und schreien können. Doch sie nahm sich zusammen und blieb ruhig. Sie würde einen Weg finden, alles wieder in Ordnung zu bringen. Sie musste nur erst ihre Gedanken ordnen.

Keshira schlang den Mantel enger um sich und versuchte, keine Bewegung und kein Geräusch zu machen, in der Hoffnung, dass die Dorfbewohner sie übersehen würden. Noch ging ihr Atem zu schnell, daher konzentrierte sie sich darauf, ihn tiefer und ruhiger werden zu lassen.

Sie senkte den Kopf und versuchte, nach unten, in den Kragen ihres Mantels, auszuatmen, um die kleinen Wölkchen zu verstecken, die sich beim Ausatmen bildeten. Sie zog die Beine nahe an den Körper, versuchte, das Gleichgewicht zu halten und legte dann die Stirn auf die Knie. Sie schlang den Mantel erneut um sich, sodass sie aussah wie eine große Kugel, und umklammerte mit den Armen ihre Beine.

So blieb sie unbeweglich sitzen, bis sie von einem leisen Geräusch aufgeschreckt wurde. Sie lauschte angespannt genauer in die Dunkelheit hinein.

„Schuhu“, hörte sie es von Weitem und ihr Herz machte einen freudigen Satz. Sie antwortete in der Eulen-Sprache und gab dadurch ihre Richtung bekannt. Das Flügelschlagen kam näher und dann spürte sie das Gewicht der Mond-Eule auf ihrer rechten Schulter. Durch die Berührung war es ihr möglich, sich mit ihr auf telepathische Weise zu verständigen.

Keshira war froh, dass die Gebieterin, wie der Titel der noch nicht ins Amt eingesetzten Altehrwürdigen Mutter lautete, wieder aufgetaucht war. So hatte sie schon einmal ein Problem weniger zu lösen.

„Erzähl mir, was geschehen ist!“, forderte die Mondhexe sie auf. Mit großen Augen starrte die zukünftige Herrscherin über das Volk der Mondhexen sie an.

„Mischka und ich konnten euch zunächst nicht finden, nachdem wir uns vor dem Angriff der Nachtschwärmer versteckt hatten, Gebieterin, und wir mussten versuchen, in unserer menschlichen Gestalt bei den Bewohnern des kleinen Dorfes Unterschlupf zu finden, bis wir Eure Spur aufnehmen konnten.“

Die Mondhexen-Eule plusterte sich kurz auf, um das Gefieder zu ordnen.

„Es war sehr leichtsinnig, bei den Dorfbewohnern Unterschlupf zu finden und nicht im Wald“, sagte sie kopfschüttelnd. „Als Mondhexen kennt ihr das Geheimnis, wie ihr euch in eine Eule verwandeln könnt. Ihr wärt im Wald viel sicherer gewesen!“

Die Gebieterin musste sich sehr wundern, dass die Kinder sich nicht richtig versteckt hatten, so wie sie selbst, und anscheinend vor Angst ihre gute Ausbildung völlig ausgeblendet hatten. Ja, sie waren noch jung, jünger als die Begleiter normalerweise waren, aber dennoch hätte das nicht passieren dürfen.

Und vor allem nicht, sich so ungünstig zu verstecken, dass man sich gleich noch mit Mensch und Tier anlegte. Denn die Gebieterin hatte sehr wohl vor ihrem geistigen Auge gesehen, was geschehen war. Sie wollte es aber von Keshira persönlich erfahren.

Der Vorwurf in der Stimme der Gebieterin war unüberhörbar. Keshira ließ den Kopf sinken.

„Ich weiß“, flüsterte sie leise. „Aber Mischka hat beim Kampf mit einem wilden Eber seine Feder verloren und konnte sich nicht mehr verwandeln. Also haben wir uns als Waisenkinder auf dem Weg zu Verwandten ausgegeben und konnten für kurze Zeit beim Bürgermeister unterkommen.

Als wir vorhin euer Zeichen erhalten haben, und euch treffen wollten, habe ich versucht, uns beide nur mit meiner Feder zu verwandeln, doch es ist schiefgelaufen. Mischka hatte einen Eulenkopf und ansonsten seine menschliche Gestalt behalten. Ausgerechnet in dem Moment ist die Tochter des Bürgermeisters dazu gekommen und hat das ganze Dorf zusammengeschrien ...“

Keshiras Augen füllten sich mit Tränen der Wut und Verzweiflung beim Gedanken an die Szene, die sich kurz zuvor im Dorf abgespielt hatte. Sie war zwar während der Ausbildung auf alles vorbereitet worden und wusste, dass die Mission über allem stand, aber sie vermisste ihren Bruder und es war ihr nicht leicht gefallen, ihn zurückzulassen. Lieber wäre sie bei ihm geblieben und hätte ihn in Sicherheit gebracht. Doch sie musste auch an ihr Volk denken!

Unter dem neugierigen Blick der Mondhexe erzählte sie stockend, wie es weitergegangen war.

„Als die Tochter des Bürgermeisters hysterisch losgeschrien hat, ist ihr Bruder ihr zu Hilfe gekommen und hat den halb verwandelten Mischka im Kampf aus dem Fenster gestoßen. Ich hatte mich bereits vollständig in eine Eule verwandelt und bin hinter ihm her in den Hof geflogen, wo ich wieder menschliche Gestalt angenommen habe, um Mischka helfen zu können. Doch es ist alles viel zu schnell gegangen.“

Keshira wischte sich mit dem Ärmel des Mantels die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie weiter erzählte.

„Hexen!“, hat der Sohn des Bürgermeisters geschrien. „Mondhexen!“ Doch ich war bereits zu schwach, um mich erneut verwandeln zu können. Also konnte ich nur wegrennen und hoffen, dass ihr mir folgen würdet, Gebieterin. Dabei musste ich Mischka schutzlos zurücklassen … Und jetzt sitzen wir beide hier auf dem Baum …“

Sie schluchzte kurz auf, konzentrierte sich jedoch sofort wieder darauf, ruhig zu sein. Sie wollte die Verfolger nicht auf ihre Spur locken. Sie würde damit leben müssen, dass sie ihren Bruder zurückgelassen hatte.

Obwohl sie doch ganz genau wusste, was ihm blühte. Denn einige Bewohner des Landes der sieben Monde waren immer erpicht darauf, eine Mondhexe zur Strecke zu bringen, um ihr ihre Zauberkräfte abzunehmen.

Falls möglich unter Gewaltandrohung oder Folter. Wenn nötig, wurde die Hexe einfach getötet und ihr Blut getrunken, um zumindest einen Teil der Kräfte für kurze Zeit zu erhalten.

Denn nur die freiwillige Übertragung der Kräfte gewährte dem neuen Besitzer dauerhafte und vollständige Hexenkräfte. Das Blut, als Träger der Lebenskraft und Hexenkraft, verlor seine Wirkung rasch wieder. Meist reichte es gerade mal für einen einzigen Zauber.

Keshira verdrängte den Gedanken an dieses grausige Ritual. Und noch bevor sie der Gebieterin mehr erzählen konnte, wurde es im Wald unter ihr wieder lauter. Die Meute der Bürger kam zurück und anstatt sich mit der Gebieterin weiter zu unterhalten, beobachtete Keshira aufmerksam die bewaffneten Männer und Jungen, die sich langsam wieder in Richtung des Dorfes bewegten. Ihre Augen brannten. Sie konnte einfach nicht ohne ihren Bruder zurückkehren.

„Ich gehe nicht ohne Mischka!“, teilte sie der Gebieterin telepathisch mit.

„Dafür haben wir keine Zeit!“, drängte die Gebieterin und flatterte mit den Flügeln. „Wir müssen sofort los! Die Zeit drängt und wir müssen den Rat der Zwölf erreichen, bevor die Altehrwürdige Mutter stirbt!“

Keshira wusste, dass sie keine Wahl hatte, dennoch blieb sie auf ihrem Platz sitzen. Die Dorfbewohner hatten jetzt den Baum passiert und verschwanden bereits wieder in der Dunkelheit. Keshira nahm all ihre Willenskraft zusammen und leitete die Verwandlung ein. Es dauerte länger als gewöhnlich und war auch anstrengender als sonst, doch es gelang ihr.

Gemeinsam hoben die beiden Eulen dann ab und flogen durch den dunklen Wald davon. In der Höhe des Dorfes von Okep, hoch über den Köpfen der Bewohner, überquerten sie die Waldgrenze. Sie mussten leise schweben, doch die Gefahr, im Dunkeln entdeckt zu werden, war gering. Für einen Unsichtbarkeitszauber hatte Keshira keine Kraftreserven mehr. Doch gleich würden sie in Sicherheit sein und außer Reichweite der Bewohner.

Da empfing Keshira plötzlich telepathisch einen schrillen Hilfeschrei. Mischka! Sie zögerte, flatterte unsicher im Kreis.

„Was ist los?“, fragte die Gebieterin.

„Mein Bruder, er lebt! Ich muss ihm helfen!“

„Das geht nicht!“, beschwor die Gebieterin Keshira. „Wir müssen sofort zum Rat der Ältesten. Sonst werden wir den Rat niemals rechtzeitig erreichen!“

Keshira stieß einen spitzen Schrei aus, der den Bewohnern des Dorfes durch Mark und Bein fuhr. In ihrem Kopf hörte sie Mischka schreien.

„Dort oben!“, rief der Sohn des Bürgermeisters und deutete in den Himmel. „Dort sind zwei Mondhexen! Holt die Schützen!“

Die Verbindung zu Mischka brach abrupt ab. Die Schützen rannten herbei und nahmen ihre Schießpositionen ein. Die Gebieterin hackte mit dem Schnabel nach Keshira.

„Wir müssen auf der Stelle los!“, mahnte sie und ihre Augen funkelten. Keshira wusste, dass sie gehorchen musste.

„Ich komme zurück, Mischka!“, rief sie ihrem Bruder telepathisch zu und flog dann so schnell sie konnte mit Tränen in den Augen davon. Die Gebieterin folgte ihr erleichtert.

Die Schüsse der Schützen gingen ins Leere.

„Verdammt!“, rief der Sohn des Bürgermeisters.

„Keine Sorge, mein Junge!“, beschwichtigte ihn sein Vater und legte ihm die schwere Hand auf die Schulter. „Die kleine Hexe wird zurückkommen, um ihren Bruder zu retten und dann können wir sie fangen.“

Der Sohn überlegte. „Also lassen wir den Hexer am Leben? Als Köder?“

Der Bürgermeister lachte. „Natürlich nicht. Das wäre doch überflüssig. Wir müssen uns seine Kräfte aneignen, bevor die Hexe zurückkommt, damit wir uns gegen sie wehren können. Wir werden stark sein, wenn sie kommt und noch stärker, wenn wir sie ebenfalls getötet haben.“

Dann gingen sie gemeinsam in den Stall zurück, wo Mischka angebunden war. Der Eulenkopf war inzwischen verschwunden und er hatte wieder seine menschliche Gestalt angenommen. Der Bürgermeister zückte sein Schwert und trat auf Mischka zu.

„Er tötet mich!“, schrie Mischka in Gedanken seiner Schwester zu. „Er wird mich töten! Rette die Gebieterin!“Und kurz darauf fügte er hinzu: „Bring dich in Sicherheit, Schwester. Ich liebe dich.“

Der Bürgermeister lachte beim Anblick des hilflosen Jungen. Verschnürt, wie er war, nutzten ihm die antrainierten Kampftechniken im Moment nichts und ohne seinen Stein konnte er keinen bedeutenden Angriffs-Zauber wirken. Er saß in der Falle.

„Du wirst mir deine Kräfte übertragen, dann töte ich dich schneller und gnädiger!“

Er trat näher und schwang das Schwert probeweise in Mischkas Richtung.

„Du willst nicht? Das macht nichts. Wir können auch dein Blut trinken …“

Keshiras Gedanken und Gefühle wirbelten qualvoll in ihrem Inneren durcheinander, als sie die Nachricht ihres Bruders erhielt.

„Ich liebe dich auch und ich lasse dich nicht im Stich!“, antwortete sie.

Sie wollte ihn unbedingt retten, aber sie wusste nicht, wie. Schließlich war sie dazu ausgebildet worden, die Gebieterin und neue Herrscherin rechtzeitig vor dem Tod der Altehrwürdigen Mutter vor den Rat der Zwölf zu bringen. Koste es, was es wolle. Auch wenn das Leben des Partners auf dem Spiel stand …

Was sollte sie nur tun? Sie flatterte panisch hin und her und sah, dass die Gebieterin ebenfalls nervös wurde.

„Wir müssen sofort los, Keshira. Vergiss Deinen Bruder!“

Einen Moment lang sah es so aus, als würde Keshira dem Befehl gehorchen, doch dann entschied sie sich in letzter Sekunde anders.

Als sie sich für ihren Bruder entschieden hatte, war ihr wohler und sie wurde innerlich ruhiger. Die Signale ihres Bruders waren verzerrt. Er hatte Schmerzen und auch Angst. Sie schienen ihn zu quälen. Das konnte sie keinesfalls zulassen! Sie konzentrierte sich auf all ihre Kräfte und ihre Wut und Trauer und ihre Verzweiflung und dann geschahen gleich mehrere Dinge auf einmal.

„Eiszauber. Sofort!“, schrie Keshira telepathisch und ohne zu überlegen verwandelte sich Mischka in einen großen Eisblock. Er ahnte zwar nicht, was seine Schwester damit bezweckte, doch er vertraute ihr. Wobei er sich nicht vorstellen konnte, wozu gerade diese Form ihm oder ihr nützen sollte.

Sie würde den Bauern nicht davon abhalten, ihn notfalls in kleine Stücke zu hacken und dadurch zu töten. Doch er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Stattdessen hoffte er einfach, dass er die Verwandlung lange genug aufrechterhalten konnte, bis Keshira ihren Plan, wie auch immer er lautete, durchführen konnte.

Keshira sprach den mächtigsten Zauber, den sie kannte, und bereits Sekunden später traf ein riesiger Feuerball, der einfach aus dem Nichts entstanden war, die Scheune und tötete den Bürgermeister und seinen Sohn. Wie eine Furie raste Keshira in Eulengestalt auf das Dorf zu und bündelte das Mondlicht zu einem weißem Feuer, das das komplette Dorf auslöschte.

Es ging so schnell, dass die Menschen keine Chance hatten, irgendwie zu reagieren. Sie konnten nicht einmal mehr schreien. Das weiße Mondfeuer erwischte sie und brannte schnell und kalt das Dorf nieder mit allem, was sich an Mensch und Tier darin befunden hatte.

Die Anstrengung für diesen Zauber hatte Keshira ihre gesamte Kraft gekostet. Keuchend fiel sie in ihrer menschlichen Gestalt zu Füßen des Eisblocks, der einst ihr Bruder gewesen war. Als er ihre Anwesenheit spürte, hob er aus eigener Kraft den Zauber auf und verwandelte sich ebenfalls zurück. Es ging langsam, denn er war genauso schwach wie seine Schwester und ihm war kalt.

Als er Keshira anschaute, machte er sich Sorgen. Sie war sehr blass und ihr Herzschlag raste, das konnte er dank ihrer Verbindung spüren. Ihr Atem ging flach und hastig. Die Gebieterin war nirgendwo zu sehen. Mit einer letzten Anstrengung fielen sich die Geschwister in die Arme. Doch sie wussten, dass die Freude nur kurz währen würde. Sie hatten versagt.

Da erschien den beiden Kindern plötzlich die Astralgestalt der Altehrwürdigen Mutter. Doch sie hatte nicht den gewohnt gütigen Ausdruck im Gesicht. Stattdessen wirkte sie versteinert und wütend, obwohl sie versuchte, es zu unterdrücken.

Ohne Begrüßung sprach sie sofort ihr Urteil und ihren Befehl:

„Keshira, du hast die Mission gefährdet und schutzlose Menschen einfach niedergemetzelt. Du bist nicht würdig, in das Volk der Mondhexen zurückzukehren. Mischka, geleite die Gebieterin sofort zum Rat der Zwölf. Und verabschiede dich von deiner Schwester. Du wirst sie nie wiedersehen!“

Dann löste sich ihre Gestalt sofort wieder auf. Es musste sie eine unglaubliche Anstrengung gekostet haben, sich im Sterben noch einmal zu einer solchen Astralwanderung aufzuraffen.

Aber sie hatte es gewagt, um den Kindern nochmals klarzumachen, dass es von absoluter Wichtigkeit war, die Nachfolgerin umgehend vor den Rat der Zwölf zu bringen, wo sie ihre Kräfte erhalten würde und man sie endgültig in ihr neues Amt einsetzte.

Mischka und Keshira schauten sich entsetzt an.

„Das kann sie nicht tun!“, rief Mischka verzweifelt.

„Es macht nichts“, keuchte Keshira, die noch immer außer Atem war, und umarmte ihren Bruder nur noch fester.

„Hauptsache, du bist am Leben!“

Beruhigend strich sie ihm über den Rücken. Sie war schockiert, doch sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie von der Entscheidung der Altehrwürdigen Mutter getroffen war. Obwohl sie genau gewusst hatte, was sie aufs Spiel setzte, war es hart für sie. Ihrem Bruder zuliebe versuchte sie, aufmunternd zu lächeln.

„Bring die Gebieterin zum Rat der Zwölf und rette unser Volk.“

Mischka schluckte.

„Das kann ich nicht. Was wird aus dir werden?“

Keshira zuckte die Schultern.

„Ich habe keine Ahnung. Aber das Wichtigste ist, dass du lebst! Und jetzt geh und erfüll unsere Mission. Wie würde das denn aussehen, wenn wir beide versagen?“

Mischka zögerte. Doch er wusste, dass es für sein Volk überlebenswichtig war, die Nachfolgerin zum Rat der Zwölf zu bringen. Dennoch konnte er doch nicht so einfach ohne seine Schwester aufbrechen!

„Nun geh schon Mischka, das Volk braucht eine neue Anführerin. Du darfst jetzt nicht an mich denken. Du musst die Mission zu Ende bringen!“, drängte ihn Keshira, klopfte ihm noch einmal auf den Rücken, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und stand dann auf.

Als er sich nicht bewegte, reichte sie ihm ihre rechte Hand und zog ihn ebenfalls hoch, als er die Hand endlich ergriff. Mischka schaute zum Himmel auf, wo die Gebieterin unruhig ihre Kreise zog. Sie hatte sich aus dem Geschehen herausgehalten und hätte ohnehin nicht allzu viel ausrichten können, da ihre Kräfte noch nicht aktiviert waren. Sie hoffte nur, dass sie es noch rechtzeitig schaffen würden, denn es war schon zu viel Zeit verstrichen.

Sie stieß einen spitzen Eulenschrei aus und Mischka nickte. Er würde den Auftrag zu Ende bringen.

„Ich komme wieder! Ich suche dich und komme wieder!“ versprach er seiner Schwester und umarmte sie ein letztes Mal, bevor er ihr die Feder wegnahm.

Nur so konnte er sich verwandeln und die Gebieterin zum Rat der Zwölf geleiten. Ihm war nicht wohl dabei, seine Schwester ohne die Feder alleine zu lassen. Aber ohne seine Eulengestalt hatte er gar keine Chance mehr auf einen erfolgreichen Abschluss der Mission und auf eine Rückkehr zu seinem Volk.

„Ich komme wieder“, rief er ihr in Gedanken einige Male zu, als er mit der Gebieterin am fernen Nachthimmel verschwand. Keshira blieb alleine in den rauchenden Ruinen des Dorfes zurück und starrte den beiden Eulen nach, bis nichts mehr zu sehen war.

Sie war jetzt eine Ausgestoßene! Ein Schicksal, das sie niemandem sonst gewünscht hätte. Denn das bedeutete, auf sich alleine gestellt zu sein. Ohne Freunde und Vertraute. Alleine jeder Gefahr zu trotzen und niemandem vertrauen zu können.

Eine völlig ungewohnte Situation für sie, die, seit sie als vier Jahre alte Hexe ausgewählt worden war, stets nur die Zusammenarbeit mit dem Rat der Zwölf und ihrem Bruder gewohnt war. Sie hatte sich noch nie im Leben so verlassen und einsam gefühlt. Doch trotzdem: sie würde immer wieder ganz genau so handeln! Trotzig schlang sie den Mantel enger um sich, bevor sie erneut im Wald Schutz suchte.

Keshira streifte ziellos durch den Wald und war gleichermaßen wütend, verzweifelt und fassungslos. Wie konnte die Altehrwürdige Mutter sie nur so hart bestrafen und sie aus dem Dorf ausstoßen? Natürlich war ihr klar, dass sie falsch gehandelt hatte – falsch nach Maßstäben des Rates der Zwölf, aber nicht falsch, wenn es um ihre Familie ging.

Wie hätte sie ihren Eltern in die Augen blicken können und ihnen erzählen, dass sie es zugelassen hatte, dass ihr Bruder von einem Bauern aus Okep seiner Zauberkräfte beraubt und getötet worden war?

Wie hätte sie ihnen erklären können, dass sie einfach seelenruhig die Mission zu Ende gebracht hatte, während ihr Bruder von einem Bauern zerstückelt wurde?

Doch ihre ganze Wut nützte ihr nichts, sie konnte nichts daran ändern, dass sie jetzt eine Ausgestoßene war. Sie musste damit leben, ob sie wollte oder nicht. Dank ihres Trainings war sie in vielen Dingen geschult, die ihr das Überleben erleichtern würden. Doch ihr fehlten noch die Weisheit und Gelassenheit des Alters.

Sie war erst 16 Jahre alt, denn es war ungewöhnlich, dass die Altehrwürdige Mutter so rasch nach Abschluss der Ausbildung der Auserwählten starb. Normalerweise waren diese Anführerinnen mit einem hohen Alter gesegnet. Freilich, die Dame war bereits bei ihrer Wahl schon nicht mehr die Jüngste gewesen …

Sie murmelte einen unauffälligen kleinen Zauber, der einen Schwarm Glühwürmchen anlockte, um ihr den Weg zu weisen und ein wenig Licht in den dunklen Wald zu bringen. Als Erstes würde sie sich ein Versteck suchen müssen. Zunächst nur für kurze Zeit, bis sie sich einen Plan zurechtgelegt hatte.

Möglicherweise würde es aber auch ein Versteck sein müssen, in dem sie bis zum Ende ihres Lebens ausharren musste. Natürlich hatte Mischka ihr versprochen, zurückzukommen. Sie war sicher, dass er das auch tun würde. Aber was sollte das nützen?

Nach dem Ratschluss der Altehrwürdigen Mutter durfte sie sich nie wieder im Dorf sehen lassen. Und sie wollte auf keinen Fall, dass ihr geliebter Bruder ihretwegen ebenfalls zum Ausgestoßenen wurde und sich freiwillig von allen absonderte, um ein Leben mit ihr in einem Versteck im Wald zu verbringen.

Nein, um seinetwillen musste sie verhindern, dass er sie jemals finden würde, auch wenn ihr selbst diese Entscheidung das Herz brach. Doch sie hatte sein Leben schließlich nicht gerettet, um es hinterher wieder zu zerstören.

Als sie an einen Stapel Bäume kam, die vom Wind oder Sturm übereinander geweht worden waren, als wären es nur Grashalme, blieb sie stehen. Die umgestürzten Bäume waren bleich und sahen im einfallenden Mondlicht aus wie Gerippe.

Ein idealer Platz für ein Versteck, denn der schauerliche Anblick würde sicher jeden zufällig vorbeikommenden Wanderer abschrecken. Sie lächelte und kletterte behände wie eine Katze über die Bäume.

Keshira hatte noch keinen Plan, aber sie war nicht ängstlich. Sie war stark und würde überleben. Und, wer weiß, vielleicht würde es das Schicksal so einrichten, dass sie ihren Bruder doch noch einmal wiedersehen würde …

*

Im gesamten Land der sieben Monde (in der Sprache der Mondhexen „Magosch“ genannt“) lebten zwölf alteingesessene Stämme von magischen Wesen, die sich weitgehend von den ebenfalls dort lebenden Menschen und anderen Arten von Lebewesen fernhielten.

Neben den Mondhexen gab es auch Sterndeuter, Schatzfinder, Heilzauberer, Dimensionsreisende, Astralwanderer, Unterirdische, Alchemisten, Unsichtbare, Zeitreisende, Planetenwanderer und Wetterdenker.

Jedes Volk wählte sein weisestes und magischstes Mitglied aus, das dieses Volk im Rat der Zwölf vertreten würde. Diese Ratsmitglieder wohnen für gewöhnlich auf dem Lichtberg, der sich vom tiefen Wald umgeben weit hinter der Grenze der bewohnbaren Zone befand.

Nur mit einem magischen Passwort war es möglich, den richtigen Weg zum Aufstieg zu finden. Wer von den Wesen fliegen konnte, wie die Mondhexen, konnte auch durch die Luft dorthin gelangen. Aber auch dann mussten sie den magischen Schutz überwinden, um die Bergspitze und den Wohnsitz des Rates überhaupt betreten zu können.

Sobald eines des Ratsmitglieder spürte, dass seine Zeit gekommen war, sendete es eine Nachricht an sein Volk, um die nächste Altehrwürdige Mutter zu rufen. Die für den Posten bestimmten Frauen wohnten in ihren Hütten am Rand des Dorfes und leiteten das Volk in allen spirituellen Angelegenheiten. Sie trugen den Titel „Gebieterin“, bis sie als „Altehrwürdige Mutter“ in den Rat aufgenommen wurden.

Jedes Volk musste auch von Kindesbeinen an zwei Kinder wählen, die die Gebieterin, wenn es an der Zeit war, zum Lichtberg begleiten sollten. Denn solange die Altehrwürdige Mutter noch nicht im Amt war, verfügte sie noch nicht über all ihre Kräfte. Und es gab viele böse Wesen, die versuchten, die weisen Frauen auf dem Weg zum Berg abzufangen, um ihnen ihre bis dahin schon recht umfangreichen Zauberkräfte zu stehlen.

Meist lebten die Altehrwürdigen Mütter sehr lange, doch in diesem Fall war die Ablösung schneller nötig geworden und die Gebieterin des Dorfes der Mondhexen hatte nur zwei noch junge Begleiter zur Seite. Im Idealfall wären die beiden wohl erst sehr viel später, in ihren 30ern oder 40ern auf diese Mission gesendet worden.

Wenn die Nachfolgerin auf dem Berg eintraf, mussten die Begleiter sofort umkehren. Die anderen 11 Mitglieder übertrugen dann alle Kräfte der sterbenden Altehrwürdigen Mutter auf die Nachfolgerin und gaben ihr zusätzliche Kräfte, jeder von seinen eigenen Fähigkeiten, hinzu.

Doch die jetzige Ablösung stand unter einem ungünstigen Stern. Denn bereits der plötzliche und ungeplante Tod, die beinahe gescheiterte Mission und die Verbannung einer so gut ausgebildeten Hexe wie Keshira waren noch niemals vorgekommen.

Zum Glück konnte Mischka die Gebieterin noch rechtzeitig abliefern und dann zum Dorf zurückkehren, um dem Volk von der Mission – und dem Schicksal seiner Schwester zu berichten.

*

Er und das gesamte Volk staunten nicht schlecht, als die Gebieterin als Altehrwürdige Mutter plötzlich wieder ins Dorf zurückkehrte und in ihre alte Hütte einzog. Alles, was sie erfuhren, war, dass schlimme Zeiten bevorstanden und der Rat der Zwölf sich zum Schutz ihrer Völker getrennt hatte, um ihre Dörfer zu beschützen. Ein schlechtes Omen!

Doch das Volk hinterfragte nicht, was der Rat oder die Altehrwürdige Mutter beschlossen hatten. Sie wussten, dass die 12 hochrangigen Frauen auch getrennt stets in telepathischem Kontakt standen und alles tun würden, um die magische Bevölkerung und das Land zu retten. Vor was auch immer sie gesehen hatten …

Und falls der Leser sich fragt, warum die mächtigsten Zauberwesen des Landes nicht gemeinsam das Unglück verhindern oder alles Böse auslöschen konnten oder wollten, so sei gesagt, dass ein großes Gemetzel nicht immer die Lösung ist.

Die weisen Frauen wussten, dass sie die Geschicke ihrer Völker und die Ereignisse der Zukunft besser und nachhaltiger zum Guten lenken konnten, wenn sie vor Ort den Menschen Trost und Hilfe spendeten.

Und dass sie, durch die Weitergabe ihres Wissens und mit liebevollen Hinweisen sowie einem bestimmten Auftreten viel besser dafür sorgen konnten, dass alles so kommen würde, wie es für das Land und die Beteiligten am besten war. Auch wenn das nicht ganz ohne Opfer gelingen konnte. Aber das konnte es in solchen Fällen ja nie …

*

Keshira streifte ziellos durch den Wald und war gleichermaßen wütend, verzweifelt und fassungslos. Wie konnte die Altehrwürdige Mutter sie nur so hart bestrafen und sie aus dem Dorf ausstoßen? Natürlich war ihr klar, dass sie falsch gehandelt hatte – falsch nach Maßstäben des Rates der Zwölf, aber nicht falsch wenn es um ihre Familie ging.

Wie hätte sie ihren Eltern in die Augen blicken können und ihnen erzählen, dass sie es zugelassen hatte, dass ihr Bruder von einem Bauern aus Okep getötet und seiner Zauberkräfte beraubt worden war?

Wie hätte sie ihnen erklären können, dass sie einfach seelenruhig die Mission zu Ende gebracht hatte und die Gebieterin zum Lichtberg geleitet hatte, während ihr Bruder von einem Bauern zerstückelt wurde?

Doch ihre ganze Wut nützte ihr nichts, sie konnte nichts daran ändern, dass sie jetzt eine Ausgestoßene war. Sie musste damit leben, ob sie wollte oder nicht. Dank ihres Trainings war sie in vielen Dingen geschult, die ihr das Überleben erleichtern würden. Doch ihr fehlte noch die Weisheit und Gelassenheit des Alters.

Sie war erst 16 Jahre alt, denn es war ungewöhnlich, dass die Altehrwürdige Mutter so rasch nach Abschluss der Ausbildung der Auserwählten starb. Normalerweise waren diese Anführerinnen mit einem hohen Alter gesegnet. Freilich, die Dame war bereits bei ihrer Wahl schon nicht mehr die Jüngste gewesen …

Sie murmelte einen unauffälligen kleinen Zauber, der einen Schwarm Glühwürmchen anlockte, um ihr den Weg zu weisen und ein wenig Licht in den dunklen Wald zu bringen. Als erstes würde sie sich ein Versteck suchen müssen. Zunächst nur für kurze Zeit, bis sie sich einen Plan zurechtgelegt hatte.

Möglicherweise würde es aber auch ein Versteck sein müssen, in dem sie bis zum Ende ihres Lebens ausharren musste. Natürlich hatte Mischka ihr versprochen, zurückzukommen. Sie war sicher, dass er das auch tun würde. Aber was sollte das nützen?

Nach dem Ratschluss der Altehrwürdigen Mutter durfte sie sich nie wieder im Dorf sehen lassen. Und sie wollte auf keinen Fall, dass ihr geliebter Bruder ihretwegen ebenfalls zum Ausgestoßenen wurde und sich freiwillig von allen absonderte, um ein Leben mit ihr in einem Versteck im Wald zu verbringen.

Sie wünschte ihrem starken, strahlenden Bruder stattdessen eine liebe Frau und viele Kinder und alles Glück der Welt. Nein, um seinetwillen musste sie verhindern, dass er sie jemals finden würde, auch wenn ihr selbst diese Entscheidung das Herz brach. Doch sie hatte sein Leben schließlich nicht gerettet, um es hinterher wieder zu zerstören.

Und sobald sie einen sicheren Unterschlupf gefunden hätte, würde sie sich auf die Suche nach einer Eulenfeder machen. Nur damit konnte sie sicherstellen, dass sie nach Belieben ihre Gestalt jederzeit ändern konnte. Aber ihre anderen magischen Kräfte waren ihr zum Glück geblieben, sodass sie eine der Eulen des Waldes zur Hilfe herbeirufen könnte … Doch zuerst kümmerte sie sich um einen sicheren Platz für die nächsten Tage – oder Wochen, Monate, Jahre?

Als sie an einen riesigen, schier unüberwindbaren Windbruch im Wald gelangte, blieb sie stehen. Die umgestürzten Bäume waren bleich und sahen im einfallenden Mondlicht aus wie Gerippe. Und der Stapel war eigentlich zu hoch, um auf natürliche Weisen entstanden zu sein. Aber vielleicht hatte auch jemand die Stämme beiseite geräumt und dort absichtlich gestapelt?

Nun, der Grund spielte eigentlich keine Rolle, entschied sie. Dies war ein idealer Platz für ein Versteck, denn der schauerliche Anblick würde sicher jeden zufällig vorbeikommenden Wanderer abschrecken. Sie lächelte und kletterte behände wie eine Katze über die Bäume.

HEUTE, 10 Jahre später …

Eine Eulenfeder trägt jede Mondhexe bei sich. Damit kann sie sich in eine Eule (und zurück) verwandeln. (© Martina Nowak)

IM DORF DER MONDHEXEN

„Mischka? Mischka? Was ist mit dir?“

Mischkas Frau schüttelte ihren Mann wach, der im Schlaf um sich geschlagen und sie an dabei am Kinn getroffen hatte. Sie war es bereits gewohnt, dass er oft von Albträumen heimgesucht wurde und wünschte, sie könnte ihm helfen. Doch er wollte ihr nicht einmal sagen, worum es in diesen Träumen ging.

Verschwitzt und verwirrt schlug Mischka die Augen auf. Es dauerte einige Minuten, bis er wieder ganz in der Realität verankert war. Rasch setzte er sich im Bett auf und schlug beide Hände vors Gesicht. Immer diese Träume! Wenn er sie nur loswerden könnte. Aber Nacht für Nacht verfolgten ihn sein schlechtes Gewissen und seine Verzweiflung.

Er hatte doch alles versucht. Wirklich alles! Nacht für Nacht hatte er sich heimlich davongeschlichen, um seine Schwester zu suchen, der er sein Leben verdankte und die er im Gegenzug allein und schutzlos in den Ruinen des Dorfes von Okep zurückgelassen hatte.

Seine Frau rutschte näher an ihn heran und nahm ihn vorsichtig in ihre Arme. Sie spürte, wie sein Schweiß ihr Nachthemd durchfeuchtete. Sein qualvoller Blick ging ihr durch und durch.

„Mischka“, flüsterte sie. „Mischka, du musst mir von deinen Träumen erzählen. Sonst kann ich dir nicht helfen!“

„Niemand kann mir helfen!“, herrschte er sie an, entschuldigte sich jedoch sofort wieder dafür, als er die Angst und das Erstaunen in ihren Augen sah.

„Es tut mir leid, mein Schatz, ich bin einfach verzweifelt. Ich erzähle dir ein andermal davon. Jetzt lass uns weiterschlafen. Und bitte entschuldige, dass ich dich geweckt habe.“

Vorsichtig löste er sich aus ihrer Umarmung und bewegte sie mit sanftem Druck dazu, sich auf ihrer Seite des Bettes wieder hinzulegen. Er deckte sie zu wie ein kleines Kind und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Der Versuch eines Lächelns scheiterte jedoch. Schnell zog er sich im Dunkeln auf sein Kissen zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Einschlafen konnte er nicht mehr. Er starrte an die Decke bis der Morgen graute und die ersten Lichtstrahlen durch das kleine Fenster in die Hütte eindrangen. Die tiefen, regelmäßigen Atemzüge neben ihm, zeigten ihm an, dass seine Ehefrau noch im Land der Träume weilte. Seit einem Jahr waren sie nun verheiratet und er würde bald zum ersten Mal Vater werden.

Seine Frau stammte nicht aus dem Volk der Mondhexen, sondern aus dem Volk der Sterndeuter, wohin ihn sein Weg auf der Suche nach Keshira hingeführt hatte. Er hatte niemandem erzählt, was er suchte, weil er nicht riskieren konnte, jemandem zu verraten, dass eine schutzlose Mondhexe irgendwo in den Wäldern lebte. Auf diese Weise hätte er lediglich ihr Leben in Gefahr gebracht.

Stattdessen hatte er sich als Junggeselle ausgegeben auf der Suche nach der großen Liebe. Ein Ansinnen, das von vielen belächelt worden war, denn eine Heirat aus Liebe war nur in den seltensten Fällen möglich. Es gab so viele andere Dinge zu bedenken, die wichtiger für das Überleben waren als die Liebe. Mischka hatte stets darüber hinweggesehen, wenn die Leute über ihn die Köpfe geschüttelt oder hinter seinem Rücken gespottet hatten.

Was wussten sie schon von der Liebe? Nur durch die Liebe war er noch am Leben, denn seine Schwester hatte ihn mehr geliebt als ihr eigenes Leben … Als er Belina getroffen hatte, war ihm sofort klar geworden, dass sie die einzige Frau für ihn war und hatte kurzerhand um ihre Hand angehalten.

Obwohl sie seither im Dorf der Mondhexen lebte, hatte niemand aus seinem Volk ihr jemals von Keshira erzählt. Sie war von der Altehrwürdigen Mutter ausgestoßen worden und es war bei Todesstrafe verboten, sie jemals wieder zu erwähnen. Mischka seufzte leise. Wie konnte er seiner Frau bis ans Ende seines Lebens verschweigen, warum ihn Albträume quälten?

Sicher würden die Träume aufhören, wenn er Keshira nur endlich finden würde. Aber er hatte keine Ahnung, wo er sie nach dieser Zeit noch suchen sollte. Wie war es überhaupt möglich gewesen, sie NICHT zu finden? Er hatte sich doch schon einen Tag nach der Rückkehr mit der neuen Gebieterin heimlich wieder auf den Weg in den Wald gemacht, wo sie sich immer noch hätte aufhalten müssen.

Täglich war er in Eulengestalt dorthin zurückgekehrt, doch er hatte niemals auch nur die kleinste Spur von ihr gefunden. Und sie musste in ihrer Menschengestalt zu finden sein, denn ohne die Feder konnte sie sich nicht verwandeln. Sie könnte sich höchstens unsichtbar machen, doch das hätte auf ihn keine Wirkung. Die Mondhexen konnten sich mit dem Mondstein nämlich nur vor Feinden aber nicht voreinander verbergen.

Vorsichtig drehte er den Kopf zu seiner Frau und betrachtete ihre ebenmäßigen Gesichtszüge und die blonden Haare, die sich wie kleine Schlangen um ihr Gesicht und ihren Hals wanden, dabei aber so leuchteten, dass man geblendet wurde. Seine Augen wanderten über ihre Gestalt, die halb von der Decke verborgen war, die sich jedoch über der Körpermitte wölbte.

Sein Sohn, so hoffte er, würde bald geboren werden. Beim Gedanken daran lächelte er. Er würde ihm so vieles beibringen und er wüsste ihm so viele Geschichten zu erzählen. Auch über seine tapfere Tante. Sein Gesicht verdüsterte sich augenblicklich.

Nein, er würde ihm nie erzählen können, wie Keshira ihm das Leben gerettet hatte, da er zum Schweigen verdammt war. Wie konnte er seinem Sohn stolz erzählen, dass Keshira ihn gerettet hatte und ihm dann erklären, dass er nicht dasselbe für Keshira getan hatte?

Falls sie überhaupt noch lebte, würde sie sicherlich ein einsames und trauriges Leben führen. Und das nur, weil er dabei versagt hatte, sie zu retten. Es wäre seine Pflicht gewesen, etwas für sie zu tun. Wütend mahlte er mit den Zähnen. Nein, es kam ja überhaupt nicht in Frage, seinem Sohn von seinem Versagen zu berichten. Stattdessen würde er Keshira endlich finden und sie zurückbringen.

Und falls das Volk sie nicht zurückhaben wollte, würde er mit seiner Familie von hier weggehen und mit seiner Schwester zusammen irgendwo leben. Er würde dafür sorgen, dass sie in Sicherheit war und nicht alleine sein musste. Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, war ihm klar, was er tun musste. Vorsichtig, um Belina nicht zu wecken, kletterte er aus dem Bett und zog sich an.

Er packte noch so viele Nahrungsmittel wie er finden konnte in einen Sack, dann griff er seinen geflickten Mantel und verließ leise die Hütte. Dieses Mal musste er sie einfach finden!!!

*

Kaum hatte Mischka die Hütte verlassen, schlug Belina die Augen auf. Sie hatte schon lange nicht mehr geschlafen und stattdessen genau auf die Geräusche geachtet, die ihr Mann beim Aufstehen und Packen gemacht hatte. Ihr war klar, dass er nicht vorhatte, sie zu verlassen, sondern dass seine seltsamen Träume damit zu tun haben mussten. Aber wie konnte sie ihm nur helfen?

Das Baby in ihrem Bauch strampelte. Beruhigend legte sie ihre Hand auf die Wölbung und sprach mit dem Mädchen. Sie wusste, dass es ein Mädchen werden würde und hoffte, dass Mischka nicht allzu enttäuscht wäre, denn er wünschte sich so sehr einen Sohn, dass er das Kind seit er von der Schwangerschaft erfahren hatte, stets als Jungen betrachtet und angesprochen hatte.

Vorsichtig schob Belina ihren geschwollenen Leib aus dem Bett und kleidete sich an. Sie versuchte, Ruhe zu bewahren. Doch nach dem Erledigen der notwendigsten Hausarbeit würde sie der Altehrwürdigen Mutter einen Besuch abstatten. Vielleicht würde diese ihr verraten, was es mit Mischkas seltsamem Verhalten auf sich hatte.

*

Mischka hatte Mühe, sich im Morgengrauen unauffällig von seiner Hütte wegzubewegen. Die ersten Hexen waren schon unterwegs, um Kräuter zu sammeln, die noch vom Morgentau benetzt waren. Fallensteller hatten sich schon vor Anbruch der Dämmerung auf den Weg gemacht und auch sonst konnte er hier und da bereits einigen Bekannten begegnen, denen er unliebsame Fragen zu beantworten haben würde.

Als er außer Sichtweite der letzten Hütten war, setzte er sich hinter ein Gebüsch und verwandelte sein Gepäck in ein Reiskorn und sich selbst in eine Eule. Dann pickte er das Korn auf und flog so schnell davon, wie er nur konnte, immer in Richtung des Waldes, in dem er Keshira zum letzten Mal gesehen hatte. Vielleicht wären ihm die Götter heute gewogen und würden ihm erlauben, einen Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner Schwester zu finden?

*

„Es ist also an der Zeit“, seufzte die Altehrwürdige Mutter, als sie in ihrem morgendlichen Tee rührte und die Teeblätter deutete.