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Jodie Carter ist die beste Ermittlerin des Savannah Police Departement. Und außerdem ein ziemliches Arschloch. Das denken nicht nur ihre Kollegen, sondern auch ihr neuer Partner Luke Harris. Kurz nachdem er herausfindet, dass sich unter der harten Schale ein relativ weicher Kern verbirgt, stecken die beiden in einem äußerst bizarren Fall. Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums wurden drei Frauen entführt. Sie sind jung, ausgesprochen hübsch und könnten fast Schwestern sein. Als jedoch Lösegeldforderungen ausbleiben, wird den beiden Detectives recht schnell klar, dass der Kidnapper etwas ganz Besonderes mit seinen Opfern vorhat.
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2023
J.S. Ranket
Kidnapping Alice
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Anmerkung des Autors und Danksagung
Impressum neobooks
Andächtig fuhr Ray Strickland mit dem Pinsel über die Leinwand und fügte damit seinem Bild eine weitere glitzernde Welle hinzu. Bevor die Hochzeitsgesellschaft am anderen Ufer des Sees aufgetaucht war, wirkte die Landschaft geradezu mystisch. Mit geheimnisvoll zwitschernden Vögeln und uralten Eichen, an deren knorrigen Ästen das spanische Moos fast bis auf den sumpfigen Boden hing. Wer wollte es den Großstädtern da schon verübeln, dass sie auch etwas vom Flair des alten Südens abhaben wollten.
Wenn sie nur nicht so penetrant aufdringlich wären.
Mit einer schnatternden Schar überbezahlter Geschäftsleute und ihren aufgetakelten Frauen hätte sich Strickland ja noch anfreunden können. Mit den dumpf dröhnenden Bässen jedoch nicht. Aber im Prinzip war das von Anfang an klar gewesen. Kurz nachdem er von der asphaltierten Hauptstraße abgebogen war, hatte er die beiden Transporter entdeckt, aus denen ein Dutzend uniformierte Angestellte eines Edel-Caterers emsig Tische und Stühle entluden. Der Sheriff, der an einem solchen Ort eine Party genehmigte, sollte eigentlich geteert und gefedert aus der Stadt gejagt oder am nächsten Baum aufgeknüpft werden.
Doch bevor er wütend seine Sachen zusammenpacken konnte, vernahm er hinter sich ein leises Rascheln.
„Was machst du da?“, fiepte eine Mädchenstimme.
Strickland fuhr herum. Die Kleine wirkte wie eine Statistin aus einem Südstaatendrama. Mit wallenden blonden Locken, Spitzenkleidchen und einem Samthalsband, an dem ein blutrotes Herz in der Nachmittagsonne funkelte. Außerdem war sie überhaupt nicht schüchtern. Aber das lag wahrscheinlich auch an seinem vertrauenerweckenden Äußeren. Mit dem sorgfältig gestutzten Bärtchen und den dezent gestylten Haaren, ähnelte er in verblüffender Weise einem dieser gutaussehenden Hollywood-Stars, die problemlos in die Rolle eines Pariser Malers schlüpfen konnten.
Und darauf fuhren nicht nur die kleinen Mädchen ab.
„Ich male ein Bild“, antwortete er in einem väterlichen Ton, während sie fachmännisch das Gemälde inspizierte.
„Das ist ja noch gar nicht fertig“, stellte sie nach einer ganzen Weile fest.
„Genau!“, bestätigte Strickland. „Aber nur, weil mir dafür noch ein kleines Mädchen fehlt.“ Dann kratzte er sich nachdenklich am Kinn. „Möchtest du mir vielleicht Modell stehen?“
„So wie im Fernsehen?“, wollte sie wissen, während sie verstohlen auf seine halboffene Kühlbox schielte.
„Na ja, nicht ganz, aber fast“, brummte Strickland belustigt.
„Aber nur, wenn ich eine Coke haben kann“, forderte sie mit einem schelmischen Grinsen.
Und er grinste schelmisch zurück.
Denn es gab keine Leistung ohne Gegenleistung, das hatte die Kleine bereits erkannt. Dass das allerdings auch eine Verpflichtung mit sich brachte, wahrscheinlich nicht. Strickland musste es schließlich wissen, denn er hielt nicht nur Vorlesungen an der Universität, sondern hatte auch schon mehrere Bücher geschrieben. Viel beachtete Werke über die Psyche und wie man sie mit subtilen Mitteln beeinflussen konnte.
Einer eiskalten Coke zum Beispiel.
„Einverstanden“, machte er den Deal perfekt. Dann deutete er mit dem Kopf über den See. „Bei euch gibt’s wohl nichts zu trinken?“
„Doch“, piepste sie, „aber Cola darf ich nicht.“
Strickland wühlte sich durch die schmelzenden Eiswürfel und drückte seiner neuen Freundin kurz darauf eine kalte Dose in die Hand.
„Das bleibt unser Geheimnis!“, schärfte er ihr ein, nachdem sie einen großen Schluck getrunken hatte.
„Okay“, bestätigte sie stirnrunzelnd, weil die Kohlensäure sie in der Nase kitzelte. „Wie heißt du denn?“, kicherte sie anschließend.
„Picasso“, antwortete Strickland mit einem würdevollen Gesicht.
„Das ist aber ein komischer Name“, stellte sie fest.
„Deiner ist sicher tausend mal schöner“, vermutete er.
„Ich heiße Rebecca“, gab sie stolz zurück.
„Der klingt aber wirklich toll“, musste Strickland zugeben. „Bist du denn bereit, um mir Modell zu stehen, Rebecca?“
Die Kleine nickte entschieden und stellte dann ihre halbvolle Coke vorsichtig auf die Kühlbox.
Strickland schob sie behutsam in Position und griff nach dem Pinsel. Ein niedliches Mädchen vor einer kitschigen Bilderbuchkulisse war genau das Motiv, bei dem er richtig entspannen konnte. Wenn hunderte farbige Striche zu einem Ganzen verschmolzen, dann fiel der ganze Alltagsstress von ihm ab wie ein bleierner Mantel.
Blöderweise wurde es Rebecca schon nach zehn Minuten langweilig.
„Ich habe Hunger und gehe jetzt etwas essen“, verkündete sie mit einer Entschiedenheit, die sie sich bestimmt von ihrer Mutter abgeschaut hatte.
„Aber das Bild ist doch noch gar nicht fertig“, stellte Strickland enttäuscht fest.
„Mir egal“, murmelte Rebecca schmollend, während sie trotzig ihre Arme verschränkte.
„Du hast eine Coke bekommen und wolltest mir dafür Modell stehen“, erinnerte er sie an ihr Versprechen.
Als Antwort schubste sie ihre Dose von der Box, sodass die süße Limonade mit einem leisen Glucksen in das hohe Gras lief, und stapfte davon.
Strickland seufzte tief. Offensichtlich wollte Rebecca ihre Vereinbarung aufkündigen. Und das konnte er einfach nicht zulassen.
„Moment, Süße“, hielt er sie zurück. „Dein Halsband ist ganz verrutscht und ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst.“
Prüfend zupfte Rebecca an dem roten Herz, das genau über ihrer Drosselgrube hing. Doch da war Strickland schon hinter ihr. Er griff mit beiden Händen das samtene Band und zog es unerbittlich zu. Ihr erstickender Schrei war kaum mehr als ein Zwitschern, bevor sich der Stoff in die weiche Haut ihres Halses schnitt. Im Todeskampf zuckte der zarte Körper wie der eines Lämmchens, dem der Wolf gerade seine Zähne in die Kehle schlug.
Strickland wartete noch so lange, bis auch das letzte Zittern verschwunden war, dann ließ er sein lebloses Opfer vorsichtig zu Boden gleiten. Mit einer fast fürsorglich erscheinenden Geste strich er eine Haarsträhne aus Rebeccas wächsernem Gesicht und richtete ihr Kleid. Anschließend wanderte sein Blick über den See. Wenn er diesen unbeschreiblichen Augenblick mit seinen Farben festhalten wollte, musste er sich ein wenig beeilen.
Der Tag hätte für Jodie Carter nicht beschissener beginnen können. Wenn es nach Captain Reed gegangen wäre, dann hätte sie schon seit ein paar Wochen Babysitter für einen Frischling von der Polizeiakademie spielen müssen. Doch zum Glück hielt es keiner von denen länger als einen halben Tag mit ihr aus. Und das, obwohl sich hinter ihrer düsteren Fassade eine echte Schönheit verbarg. Aber wenn sie sich bei der Verhaftung eines Dealers, der Teenagern Drogen verkaufte, nicht immer an Dienstvorschriften hielt, dann konnte das einen Jungspund schon überfordern.
Nur Reeds schützender Hand hatte sie es zu verdanken, dass sie immer noch im Dienst war. Denn mit ihrer Aufklärungsquote konnte keiner im Savannah Police Department mithalten. Auch wenn ihre Methoden nicht immer ganz legal waren.
Blöderweise hatte heute Morgen auch noch ihr Chevy seinen Geist aufgegeben. Der Anlasser kreischte, als wäre sie einem Hund auf den Schwanz getreten, und verstummte dann mit einem verdächtigen Ruckeln. Anschließend roch es irgendwie so elektrisch, dass sie keinen neuen Versuch mehr wagte.
Gott sein Dank machte sich ihre Nachbarin gerade zu ihren Kindern nach Charleston auf den Weg und bot ihr an, sie bis zum Polizei-Hauptquartier mitzunehmen. Seit Jodie nach Lamara Heights gezogen war, machten die kleinen Gangster einen Bogen um ihre Straße. Und auch die großen. Offensichtlich hatte es sich recht schnell herumgesprochen, dass man sich hier schon eine Kugel einfangen konnte, wenn ein Parkverbotsschild ignoriert wurde.
Von einer weggeschnippten Kippe ganz zu schweigen.
Natürlich störte es da die Nachbarn recht wenig, dass ihr schwarzhaariger Schutzengel mit den Tattoos und dem Nasenpiercing aussah wie die Gitarristin einer Metal Band. Im Gegenteil. Jodie war ein gern gesehener Gast bei jedem Barbecue, das veranstaltet wurde.
Gerade als sie in ihrem Büro verschwinden wollte, steckte Reed den Kopf aus seinem.
„Schwingen Sie Ihren Arsch hier rüber, Carter“, dröhnte der Bass des Captains über den Gang.
Ihr Chef hatte nur noch ein paar Monate bis zur Pensionierung und war mit seiner Wortwahl nie zimperlich gewesen. Allerdings nahm das dem leicht übergewichtigen Endfünfziger keiner weiter übel, weil er voll und ganz hinter seinen Leuten stand. Trotzdem trat Jodie vorsichtshalber gegen ihren Mülleimer, bevor sie seiner Aufforderung nachkam. Bestimmt wartete ein neues Milchgesicht in seinem Büro darauf, dass sie ihn fertigmachen konnte.
Allerdings war der recht kernige junge Mann, der neben Reeds Schreibtisch saß, nicht viel jünger als sie. Wenn überhaupt. Er trug ein Hemd mit passender Krawatte und wirkte wie der draufgängerische Quarterback einer College-Mannschaft. Oder ein FBI-Agent. Nur eben mit einem Stock im Arsch.
Aber zumindest war er einer der gutaussehendsten Kandidaten, die der Captain bisher angeschleppt hatte. Und auf die hatte sie es besonders abgesehen.
„Das ist Detective Harris“, stellte Reed den Unbekannten vor, „Ihr neuer Partner.“
Aber das hatte sich Jodie auch schon gedacht.
„Und das ist Detective Carter“, fuhr er an Harris gewandt fort, „von der Sie bestimmt schon gehört haben.“
Harris erhob sich und streckte ihr mit einem ehrlichen Lächeln seine Hand entgegen.
„Sehr erfreut!“
Jodie war für einen Moment irritiert. Die meisten waren von ihrem martialischen Äußeren so beeindruckt, dass sie keinen Ton herausbrachten. Schließlich wirkte sie nicht unbedingt wie eine Ermittlerin. Aber vielleicht hatte der Neue auch einfach nur eine masochistische Ader oder ein vermindertes Risikobewusstsein. Oder beides.
Aus diesem Grund murmelte Jodie auch lediglich etwas Unverständliches, als sie ihm widerwillig die Hand schüttelte. Der Typ sollte nicht glauben, dass sie sich von seinem Grinsegesicht um den Finger wickeln ließ. Allerdings hatte er etwas an sich, das irgendwie beruhigend wirkte.
„Harris hat den Durchlauf im Präsidium schon hinter sich und deshalb können Sie ihn auch gleich mit auf die Straße nehmen“, klärte der Captain sie auf. „Das gegenseitige Beschnüffeln schaffen Sie doch, oder?“
„Aber sicher“, brummte Jodie. Nachdem sie sich innerlich gegen seinen subtilen Charme gewappnet hatte, wandte sie sich an Harris. „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den ersten Preis gewonnen.“
„Keine Angst“, munterte der Captain Harris auf, während er ihn vorsichtig aus seinem Büro schob, „sie bellt nur, aber beißt nicht.“
„Haben Sie schon irgendwelche Polizeierfahrung?“, wollte sie wissen, als sie zum Parkplatz für die Dienstfahrzeuge gingen. „Ich habe nämlich keine Lust, mich auch noch um Sie kümmern zu müssen, wenn es hart auf hart kommt. Am Ende rennen Sie mir wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Schussfeld oder kriegen einen Herzinfarkt.“
„Ich dachte eigentlich, das hier ist Savannah, der Ort an dem Forrest Gump auf einer Bank sitzt und über sein Leben philosophiert, und nicht South Side Los Angeles“, antwortete Harris trocken.
„Ein Klugscheißer wie Sie hat mir gerade noch gefehlt“, murmelte Jodie mehr zu sich selbst, aber trotzdem so laut, dass er es hören konnte.
Kurz bevor sie an der zivilen Ford-Limousine angekommen waren, bog Harris auf den öffentlichen Teil des Parkplatzes ab und öffnete die Beifahrertür eines schweren Explorer. Dann kehrte er mit einem kleinen Pappkarton, der mit bunten Donuts bedruckt war, zurück.
„Die sind aus der Chocolate Factory in der Bull Street“, verkündete er in einem so normalen Ton, als würde sie sich nicht wie eine Idiotin benehmen. „Angeblich sollen das die besten in ganz Georgia sein.“
Obwohl Jodie beim Duft der Leckereien das Wasser im Mund zusammenlief, hatte sie für die nette Geste nur ein müdes Lächeln übrig. Wenn der Kerl dachte, dass sie auf den Bestechungsversuch hereinfiel, dann hatte er sich ganz gewaltig geschnitten. Trotzdem konnte sie der Versuchung nicht ganz widerstehen und angelte sich mit spitzen Fingern ein klebrig-süßes Teil aus der Packung.
„Danke“, murmelte sie schmatzend. Dann wischte sie sich ihre Hände an einem Kleenex ab, dass Harris, der sich ebenfalls eines Donuts bemächtigt hatte, vorsorglich in den Karton gesteckt hatte. „Wir drehen erst einmal eine Runde durch die Stadt und ich mache Sie mit den ganzen neuralgischen Punkten vertraut“, bestimmte sie die Marschrichtung, bevor sie den Fahrersitz in Beschlag nahm.
„Okay“, bestätigte er kauend, als er sich neben sie setzte.
Doch schon an der Midtown High School platzte Harris’ Traum von einer gemütlichen Patrouille. Beim Anblick des zivilen Polizeifahrzeugs, die alle irgendwie gleich aussahen, warf der verdächtig aussehende Fahrer eines klapprigen Chevrolet Impala ein paar Tütchen in einen Gully und schoss mit quietschenden Reifen davon.
Unauffällig abhauen sah eindeutig anders aus.
Jodie riss das Steuer herum, sodass die leckeren Donuts gegen die Seitenscheibe flogen, und jagte hinterher.
„Vor Schulen ist das eindeutig das Letzte“, stieß sie zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie das Heck des Impalas aufs Korn nahm.
Aber der wich immer wieder aus. Kaum hatte sie sich weit genug vorgearbeitet, um ihm einen Schubser verpassen zu können, machte er einen Schlenker und zwang so die Fußgänger zu olympiareifen Sprüngen. Nachdem er dann noch die Tische vor einem kleinen Café niedergemäht hatte, steuerte er unaufhaltsam auf den Fluss zu. Und damit zum Glück in eine Sackgasse. Mit dem Bericht zu diesem Fall, würde sie auch so den halben Nachmittag beschäftigt sein. Außerdem würde Reed sie auf Randsteingröße zusammenstauchen, denn im Historic District wurden Verfolgungsjagden nicht gerne gesehen.
Kurz vor dem Emmet Park verließen den flüchtenden Dealer die Fahrkünste und er bretterte frontal gegen einen Baum. Während der Impala daran kleben blieb wie ein sterbender Schwan, zischte aus der demolierten Motorhaube weißer Rauch, in dem sich der Blödmann einfach aus dem Staub machen wollte.
Dachte er jedenfalls.
Denn Jodie war genauso schnell draußen und raste bereits hinter ihm her. Wenn das für ihren neuen Schützling kein würdiger Einstand war, dann wusste sie auch nicht mehr weiter. Bestimmt würde er sich später eine Valium einwerfen und beten, dass der Tag so schnell wie möglich vorüber ging.
Wenn er es nicht schon vorher getan hatte. Während der kurzen Verfolgungsjagd wirkte er jedenfalls so entspannt wie ein Kampfpilot, der mit seiner Tochter Achterbahn fuhr.
Blöderweise war Jodies Zielperson gerade zwischen ein paar Büschen verschwunden. Doch nach einem kurzen Sprint, sah sie ihn wieder. Er hechtete über eine niedrige Brüstung und bog dann auf die River Street ein, auf der es um diese Zeit von Touristen nur so wimmelte. Und als sie dort ankam, lagen auch schon einige von ihnen am Boden. Der Dealer stieß sie einfach aus dem Weg wie die Kegel auf einer überdimensionalen Bowlingbahn und stürmte weiter.
Allerdings kostete ihn das wertvolle Zeit. Jodie holte schnell auf und als sie sich nah genug herangearbeitet hatte, trat sie ihm von hinten kräftig in die Fersen. Er verhakte sich in seinen eigenen Füßen und knallte nach einer kurzen Flugphase sehr unelegant auf das Pflaster.
Sofort war sie über ihm, um ihm Handschellen anzulegen, doch so leicht gab er sich nicht geschlagen. Der Typ war wieselflink und wand sich unter ihr hervor wie eine Raubkatze. Und er müffelte auch so. Leichtsinnigerweise versuchte er nicht, weiter abzuhauen, sondern ihr stattdessen einen Tritt zu verpassen. Doch Jodie wich seinem Fuß blitzschnell aus.
Die Attacke ging ins Leere und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht.
Er machte einen halben Salto rückwärts und landete erneut auf dem Pflaster. Noch bevor er seine Hände schützend vor sein Gesicht bringen konnte, krachte Jodies Faust auf seine Nase. Er brüllte auf, als würde ihn gerade Mike Tyson verprügeln und nicht eine Frau, doch Jodie konnte sich einfach nicht beruhigen. In ihren Adern kreiste Adrenalin für mindestens zwei weitere Blödmänner.
Erst als sie die Stimme von Sergeant Mercer hinter sich hörte und von ein paar starken Armen gepackt wurde, ließ sie von ihm ab.
„Hey Carter, der hat genug“, versuchte der bullige Afroamerikaner sie zu beruhigen, bevor er sie wie eine Spielzeugpuppe von ihm wegzog.
Jetzt wurde Jodie bewusst, dass bereits ein Streifenwagen hinter ihr stand und die Szene von staunenden Passanten eifrig mit Smartphones gefilmt wurde. Das gab bestimmt wieder Futter für die Medien. Hoffentlich war ihr Make-up nicht allzu sehr verwischt. Wenn ein Dealer schon eins auf die Fresse bekam, dann bitteschön von einer Beamtin die gut aussah.
Zu allem Überfluss stolperte gerade Harris keuchend um die Ecke. Eigentlich sollte er für sein Alter noch ein bisschen fitter sein und nicht schnaufen wie ein alter Schaufelraddampfer, der flussaufwärts fuhr.
„Es sah so aus, als hätte er eine Waffe bei sich!“, log er, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Ich … ich habe keine Waffe“, kreischte der Gangster, bevor er einen blutigen Nieselregen auf die Straße hustete.
Mercer hatte dem Drogendealer inzwischen Handschellen angelegt und tastete ihn mit seinen riesigen Pranken ab.
„Stimmt“, musste er zugeben, „er ist sauber.“
„Sag ich doch!“, wimmerte der Typ.
„Vielleicht hat er sie oben im Park weggeworfen“, stieß Harris atemlos hervor.
„Und Sie sind wer …?“, wollte der Sergeant logischerweise wissen.
„Ihr neuer Partner“, keuchte Harris, während er mit dem Kopf auf Jodie deutete.
„Na dann, herzliches Beileid“, grinste er. Anschließend verfrachtete er den Dealer unsanft auf den Rücksitz seines Streifenwagens. „Auf den Bericht bin ich gespannt“, fügte er immer noch grinsend hinzu. „Wir sehen uns dann auf dem Revier.“
„Ja, du mich auch!“, blaffte Jodie, nachdem Mercer eingestiegen war. Dann wandte sie sich an die filmende Menge. „Die Show ist vorbei Leute, aber in einer Viertelstunde gibt Tom Hanks oben am Chippewa Square Autogramme.“
„Sagen Sie, was stimmt mit Ihnen eigentlich nicht?“, presste Harris mit mühsam unterdrückter Wut hervor, als sie wieder in ihrem Wagen saßen.
In der Zwischenzeit war der städtische Abschleppdienst eingetroffen und hievte den ramponierten Impala des Dealers auf die Ladeplattform.
„Sie kennen mich nicht und können demzufolge nicht wissen, ob ich ein prima Kerl oder ein Vollidiot bin“, schnaufte er weiter. „Ich gebe mir Mühe, vorbehaltlos nett zu Ihnen zu sein, bringe extra die weltbesten Donuts mit, erfinde eine vermeintliche Waffe und Sie benehmen sich wie eine Irre.“
„Das geht Sie einen verdammten Scheißdreck an“, zischte Jodie zurück, während sie ein bisschen pinkfarbenen Zuckerguss von der Seitenscheibe wischte. Dass der Neue ihr einfach so die Stirn bot, war echt erstaunlich.
„Ein weniger sensibler Mensch könnte denken …“ Harris räusperte sich verlegen. Eigentlich war er kein Freund von dämlichen Machosprüchen, aber in dem Moment hatte es seine neue Kollegin nicht anders verdient.
„Na los, sagen Sie es!“, unterbrach Jodie ihn aggressiv.
„… dass bei Ihnen ein klitzekleines hormonelles Ungleichgewicht vorliegt“, milderte er die ursprüngliche Variante trotzdem ein bisschen ab.
„Sie meinen also, ich bin untervögelt?“ Sie drehte sich abrupt zu ihm herum und blitzte ihn mit ihren dunklen Augen herausfordernd an. Jodie wusste nur allzu gut, wie sie auf das andere Geschlecht wirkte. Das hieß, wenn man nicht ausschließlich auf Barbiepüppchen stand. „Wollen Sie das vielleicht übernehmen?“
„Sie haben sie ja nicht mehr alle!“, hustete Harris.
„Wieso husten Sie eigentlich ständig“, fuhr sie in einem versöhnlichen Ton fort, „haben Sie Asthma oder so?“
„Nein, aber einen Lungenschuss …“
„Einen was …?“ Jodie glaubte, sie hätte sich verhört.
„Ich war Soldat und habe mir in Afghanistan eine Kugel eingefangen“, antwortete Harris betont sachlich. „Tja, und da ich nach einer Teilresektion des linken Unterlappens nicht mehr diensttauglich war, wurde mir ein Job bei der Polizei angeboten. Also nachdem ich die Prüfung zum Detective bestanden hatte.“ Dann grinste er schief. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich in den Zeiten von Cybercrime und Drohnenüberwachung an meinem ersten Tag einen Halbmarathon hinlegen muss.“
Jodie schlug ihren Kopf theatralisch gegen das Lenkrad. Aber eigentlich wäre sie lieber im Erdboden versunken. Harris war überhaupt kein Frischling, sondern ein verdammter Kriegsheld. Und er hatte auch keinen Stock im Arsch. Dass er in Anwesenheit eines Vorgesetzten aufrecht saß, konnte er wahrscheinlich nicht so leicht abstellen.
„Tut mir leid“, war aber das Einzige, was sie zu ihrer Entschuldigung herausbrachte.
Vielleicht sollte sie einmal ernsthaft an ihrer Einstellung zu anderen Menschen arbeiten. Nur nicht unbedingt jetzt. Wenn sie an den dämlichen Bericht dachte, dann würde sie am liebsten einen dreistöckigen Bourbon in sich hineinschütten. Also kutschierte sie Harris noch ein bisschen durch die Gegend und versuchte, dabei kein weiteres Chaos anzurichten.
Glücklicherweise ging auch der blödeste Tag einmal zu Ende. Doch erst als Jodie auf dem Weg zum Parkplatz war, fiel ihr wieder ein, dass ihr Chevy seinen Geist aufgegeben hatte. Also genau der richtige Zeitpunkt, um sich ein bisschen abzureagieren. Das Dumme daran war nur, dass in der zerknautschen Frittenbox, die sie sich als Opfer ausgesucht hatte, noch fettige Pommes klebten. Welche nach dem kräftigen Tritt natürlich in alle Richtungen davonflogen.
„Wie ich sehe, haben Sie McDonalds den Krieg erklärt“, murmelte Harris plötzlich hinter ihr.
Jodie wollte schon wütend herumfahren. Doch auch wenn sie seine Arschruhe einfach nur zum Kotzen fand, überlegte sie es sich im letzten Moment anders. Denn es war ja völlig logisch, dass er sich im Griff haben musste. Ausflippen war in einem Kriegsgebiet unter feindlichem Beschuss sicher keine gute Idee. Also atmete sie tief ein und wieder aus und drehte sich mit einem übertriebenen Lächeln zu ihm um.
„Wenn man zu dämlich ist, daran zu denken, dass der eigene Wagen mit einem Motorschaden zu Hause steht, dann darf man doch kurz ausrasten, oder?“, säuselte sie. Dann zückte sie ihr Smartphone. „Ich rufe mir einfach ein Taxi oder ein Uber.“
„Wo wohnen Sie denn?“, wollte Harris wissen.
„In Lamara Heights“, gab sie widerstrebend zu. Jetzt fehlte es nur noch, dass sich das Grinsegesicht als Retter in der Not anbot.
„Ich muss nach Georgetown“, bestätigte er ihre Befürchtungen, „und da liegt Lamara Heights ja praktisch auf dem Weg.“ Dann deutete er einladend auf seinen Ford Explorer. „Na los, haben Sie sich nicht so und steigen Sie ein!“
„Ja, okay“, gab sich Jodie geschlagen.
Doch im Prinzip war es ja die selbstverständlichste Sache der Welt, dass man sich unter Kollegen gegenseitig half. Wenn sie sich weiter so anstellte, dann landete sie endgültig in der Verrückten-Schublade.
„Warum haben Sie eigentlich nicht gleich gesagt, dass Sie Soldat waren“, wollte sie wissen, als sie auf der Habersham Street Richtung Süden fuhren.
„Ich spiele nicht gern die Kriegsversehrten-Karte aus“, antwortete Harris. Dann grinste er verkniffen. „Außer bei einem ausverkauften Football Spiel.“
Jodie biss sich auf die Lippen, um nicht loslachen zu müssen. Am Ende dachte er noch, dass sie ihn nicht ganz so unsympathisch fand wie sie tat. Aber warum eigentlich? Auf Dauer war ihre unwiderstehliche Art ganz schön anstrengend und als ehemaliger Soldat hatte er natürlich eine faire Chance verdient.
„Außerdem wollten Sie das gar nicht wirklich wissen“, fuhr er fort. „Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Zicke heraushängen zu lassen.“ Dann musterte er sie mit einem kurzen Seitenblick. „Nur weil Sie aussehen wie die böse Königin aus Schneewittchen, heißt das nicht, dass Sie nicht auch mal lächeln dürfen.“
Humor hatte er also auch noch. Und außerdem eine sehr spitze Zunge. Wenn sie rhetorisch mit ihm mithalten wollte, dann musste sie ihren Adrenalinspiegel in den Griff kriegen. Sonst würde sie nur zusammenhangslosen Mist schwafeln, während er sie hoffnungslos an die Wand quatschte. Allerdings war das nach den tieffliegenden Fritten gar nicht so einfach. Also war erstmal Klappe halten angesagt. Nur noch zwei Blocks, dann konnte sie endlich hier raus.
„Da vorn können Sie rechts abbiegen“, murmelte Jodie. „Das dritte auf der linken Seite ist meins.“
Doch als ihr Haus in Sicht kam, beschloss sie aus einem Bauchgefühl heraus, mit Harris die Friedenspfeife zu rauchen. Das hieß, wenn er sie ihr nicht über den Schädel zog.
„Da es heute mit den Donuts nicht so richtig geklappt hat, versuche ich es morgen mit Bagels“, kündigte er an, nachdem er seinen Wagen gestoppt hatte.
„Nicht nötig“, wiegelte Jodie ab. Dann öffnete sie ihren Sicherheitsgurt und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Beifahrertür. „Hören Sie, ich weiß, dass ich manchmal ein ganz schönes Arschloch sein kann. Was halten Sie davon, wenn Sie auf eine Tiefkühlpizza und ein Bierchen mit reinkommen?“
„Soll das etwa so eine Art Entschuldigung sein?“, wollte Harris mit einem skeptischen Blick wissen.
„Alternativ hätte ich auch noch einen ganz passablen Bourbon zu bieten“, drückte sie sich um die Beantwortung seiner Frage.
„Einverstanden!“, willigte er ein.
Während Jodie in der Küche herumklapperte, hatte Harris ein bisschen Zeit, sich umzusehen. Die großformatigen Kunstdrucke an den Wänden erinnerten ihn irgendwie an Pop-Art von Andy Warhol oder Roy Lichtenstein. Aber auf keinen Fall an das Zuhause von Schneewittchens Stiefmutter. Eigentlich hätte ihn schon der gepflegte Vorgarten stutzig machen müssen. Seine neue Kollegin spielte in der Öffentlichkeit die unnahbare Kriegerin, die sich jedoch zwischen skandinavischen Möbeln offensichtlich am wohlsten fühlte. Allerdings wollte er sich kein vorschnelles Urteil über sie erlauben. Schließlich hatte jeder so seine Probleme.
„Ich hatte zumindest mit ein paar Totenschädeln gerechnet“, rief er in Richtung Küche, als ihm der Duft von geschmolzenem Käse in die Nase stieg.
„Was mögen Sie lieber, Boston Spezial oder Meatballs?“, wich sie erneut einer Antwort aus, bevor sie ihm ein kaltes Miller in die Hand drückte. „Cheers!“
„Cheers!“, prostete Harris zurück. „Ich bestehe nicht unbedingt auf eine eigene Pizza“, stellte er fest, nachdem beide einen Schluck getrunken hatten. „Meinetwegen können wir gerne teilen.“
„Einverstanden“, stimmte Jodie zu. Dann rümpfte sie die Nase und schnüffelte. „Ich glaube, das Essen ist gleich fertig“, vermutete sie.
Ein paar Minuten später saßen sie sich auf bequemen Stühlen am Esstisch gegenüber.
„Greifen Sie zu“, forderte Jodie ihn auf, während sie sich eine mit Fleischbällchen belegte Ecke von dem heißen Backblech angelte. Mit dem dampfenden Stück konnte sie so recht gut von ihrer Verlegenheit ablenken. „Sorry nochmal, wegen unserem vermurksten Start“, murmelte sie. „Wenn ich gewusst hätte …“
„Schon gut“, wiegelte Harris ab. „Wie schon gesagt, ich gehe nicht gern mit einer Kriegsverletzung hausieren.“
„Das würde ich genauso machen“, stimmte sie zu. „Zum Glück konnte ich immer rechtzeitig in Deckung gehen, aber ich denke, bei einem Kampfeinsatz ist das etwas anderes. Da liegt der Feind mit einem Scharfschützengewehr irgendwo hinter einem Felsen oder einer Mauer und wartet in aller Seelenruhe, bis einer den Kopf herausstreckt.“
„Genau“, bestätigte er. „Eigenartigerweise fühlte es sich gar nicht nach einem Treffer an, sondern eher wie eine Art Muskelkrampf.“ Er drehte sich zur Seite und deutete auf seinen Rippenbogen. „Blöderweise hat der Drecksack genau die Stelle erwischt, die von der Schutzweste nicht bedeckt war.“ Harris trank er einen großen Schluck und griff dann ebenfalls nach einem Stück Pizza. „Erst als es so seltsam warm wurde, habe ich gemerkt was wirklich los war und bin umgekippt.“
„Scheiße“, hauchte Jodie mit offenem Mund.
„Glücklicherweise hat heutzutage jeder Soldat ein Notfallpäckchen dabei“, klärte er sie auf. „Mit speziellen Pflastern, die unter anderem verhindern, dass die Lunge zusammenfällt, blutstillendem Granulat und einer Morphiumspritze.“
„Im Vietnamkrieg wäre das dann wahrscheinlich schief gegangen“, vermutete Jodie.
„Mit Sicherheit“, bestätigte Harris, bevor er sich umständlich eine Stelle aussuchte, von der er abbeißen wollte. Das waren eindeutig genug Kriegserinnerungen für heute. „Das schmeckt für Fertigfutter gar nicht schlecht“, schmatzte er, als er den Bissen hinuntergeschluckt hatte.
Anschließend zog er fragend die Augenbrauen nach oben. Nachdem er etwas von sich preisgegeben hatte, konnte er ihr ja auch ein bisschen auf den Zahn fühlen. Schließlich war es relativ unwahrscheinlich, dass sie bei einer Frage nach dem Offensichtlichen ausrastete.
„Warum laufen Sie eigentlich so herum, stehen Sie irgendwie auf Wave Gothic oder so?“
„Ich bin mit The Cure und Ozzy Osbourne aufgewachsen“, gab sie, überhaupt nicht verärgert, zurück. „Sagen Sie bloß, ich sehe nicht gut aus?“
„Doch, schon“, musste Harris mit einem verlegenen Lächeln zugeben. Dann trank er einen verdächtig langen Schluck. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ohne Dienstmarke könnte man glatt glauben, dass Sie ein Fetisch-Model sind. Ich frage mich gerade, wie Sie die Vorschriften in dieser Beziehung austricksen konnten?“
„Mit dem vierzehnten Verfassungszusatz“, antwortete sie mit einem schelmischen Grinsen, bevor sie sich den Rand ihres Stückes in den Mund stopfte.
„Is nicht wahr?!“, gab Harris verblüfft zurück. „Der stammt doch noch aus den Zeiten des Bürgerkrieges und war ursprünglich dafür gedacht, gegen Diskriminierungen jeglicher Art vorzugehen.“
„Eben“, antwortete sie, nachdem Sie hinuntergeschluckt hatte. Dann legten sich nachdenkliche Falten auf ihre Stirn. „Irgendwann erfahren Sie es ja doch“, fuhr sie mit belegter Stimme fort. „Ich habe meinen Partner bei einem Einsatz verloren und bin danach ein bisschen abgestürzt“, fügte sie bitter hinzu. „Als ich dann wiederkam, hat mir das einen gewissen Bonus verschafft, sodass ich beim Captain praktisch Narrenfreiheit hatte. Das was sie hier sehen ist das Ergebnis aus düsterer Musik und einem erschossenen Kollegen.“
„Oh, das tut mit leid“, murmelte Harris mitfühlend, während er verschämt mit ein paar Käsefäden kämpfte.
Natürlich war ihm jetzt mit einem Schlag klar, dass ihr arschlochiges Getue eine Art Schutzmechanismus war. Nur warum sie so einfach damit herausrückte, war ihm ein Rätsel. Wahrscheinlich genossen in ihren Augen die Angehörigen des Militärs ein besonderes Vertrauen. Noch dazu, wenn sie im Kampf verletzt worden waren.
„Ich möchte Sie ja nicht mit Gemeinplätzen beleidigen, aber als ehemaliger Soldat, kann ich das sehr gut nachfühlen“, stellte er deshalb betont sachlich fest.
Von einer Sekunde auf die andere verschwand die Melancholie aus Jodies Augen.
„Haben Sie gerade ‚Gemeinplätze‘ gesagt?“, kicherte sie.
„Na ja, ‚Nichtsagende Scheiße labern‘ fand ich in Anbetracht des ernsten Themas ein bisschen unangebracht“, gab Harris schmunzelnd zurück.
Nachdem sie die Pizzen bis auf zwei Stücke verputzt hatten, präsentierte Jodie ihrem Gast den Bourbon, indem sie die Flasche mit dem charakteristischen Siegelwachs demonstrativ auf den Couchtisch stellte.
„Kann ich Sie zu einem Marker’s Mark überreden?“, wollte sie wissen, bevor sie sich auf das Sofa setzte.
„Nein danke, ich muss ja noch fahren“, lehnte Harris ab. Dann wedelte er mit seiner leeren Flasche und ließ sich ihr gegenüber in einen Sessel plumpsen. „Aber zu einem zweiten Bier sage ich nicht nein.“
„Na kommen Sie“, gab Jodie verwundert zurück, „Sie haben doch eine Dienstmarke.“
„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“
„Jetzt machen Sie sich mal locker, wir sind hier im Süden und da ticken die Uhren ein bisschen anders“, klärte sie ihn mit einem Augenzwinkern auf.
„Trotzdem gibt es doch eine gewisse polizeiliche Ethik …“
„Also als Sie da im Büro des Captains saßen, dachte ich, Sie haben einen Stock im Arsch“, unterbrach Jodie ihn lachend. „Dann wurden Sie langsam cool und jetzt bohrt sich das Stöckchen langsam wieder hinein.“
Harris prustete los. Wenn er hier nicht unter die Räder kommen wollte, dann musste er ihre Spielchen wohl mitspielen.
„Na dann her mit dem Zeug“, forderte er, während er sich übertrieben lässig in seinem Sessel zurücklehnte.
„Warum nicht gleich so.“ Sie schenkte zwei großzügige Portionen ein und reichte Harris ein Glas. „Ich weiß auch nicht, warum ich das tue, und ich hoffe, dass ich das nicht schon morgen bereue, aber wir können uns ruhig duzen.“ Anschließend knallte sie ihr Glas kräftig gegen seins. „Ich bin Jodie.“
„Luke …“, grinste Harris.
Dann beugte er sich ein wenig vor, sodass er das Tattoo, das aus ihrem Shirt herausschaute, besser sehen konnte. Es sah aus wie die schuppige Haut eines Reptils und war ihm schon in Reeds Büro aufgefallen. Allerdings hielt er es für unangebracht, sie gleich am ersten Tag danach zu fragen. Aber bei einem Whiskey war das natürlich etwas anderes.
„Was schlängelt sich denn da eigentlich an deinem Hals entlang?“ Harris nippte vorsichtig an dem Bourbon. „Ich hoffe doch, du bist nicht ernsthaft in Gefahr“, fügte er grinsend hinzu.
Jodie war nicht so bescheiden und nahm einen ordentlichen Schluck.
„Das ist Fafnir“, klärte sie ihn mit einem hintergründigen Lächeln auf. „Und glaube mir, das Vieh hat seine Krallen einfach überall.“
Harris verschluckte sich fast an seinem Drink. Eine so offensichtliche Anspielung hatte er nach diesem Tag am allerwenigsten erwartet.
„Wer …?“, hustete er.
„Fafnir ist ein Drachen aus der nordischen Mythologie“, fuhr Jodie ungerührt fort. „Er ist unheimlich stark und aggressiv und deshalb der Hüter eines goldenen Schatzes.“
„Aha …“, krächzte Harris. Wahrscheinlich beschützte die teuflische Kreatur noch etwas ganz anderes.
Doch Jodie ließ sich nicht aufhalten.
„Weißt du eigentlich, dass sich alle, außer den Schwulen, auf dem Revier fragen, wo verdammt, das Vieh wohl seine Krallen hat?“, ereiferte sie sich. Dann kippte sie den Rest ihres Whiskeys mit einem Zug hinunter. „Sie liegen zu Hause im Bett, vögeln ihre Frauen und denken dabei: ,Hey, der Drachen da auf ihrem Körper, der wäre ich auch gern mal.‘ “
Harris fielen fast die Augen aus dem Kopf. Offensichtlich hatte er mit seiner Frage unwissentlich die Büchse der Pandora geöffnet. Und die flog ihm gerade um die Ohren!
„Oder hier …“, kreischte sie wütend. Jodie schnippte mit dem Finger gegen das Septum-Piercing in ihrer Nase. „… wenn sie da eins hat, wo hat sie denn dann noch eins?“ Dann senkte sie verschwörerisch ihre Stimme. „Nur traut sich keiner, danach zu fragen, weil sie wissen, dass ich ihnen dann die Eier abreiße.“
„Wow …!“, war aber auch das Einzige, was Harris zu ihrem emotionalen Ausbruch sagen konnte.
Allerding reichte dieses eine Wort aus, um Jodie zurück auf den Boden zu holen. Und ihren Kopf in eine feuerrote Tomate zu verwandeln.
„Ich … ähhh … muss mal ins Badezimmer“, stammelte sie, bevor sie davonstürmte. Ein paar Sekunden später presste sie ihre glühende Stirn gegen das kalte Glas des Spiegels. „Scheiße … Scheiße … Scheiße!“, stieß sie wütend hervor, während sie mit ihren Fäusten gegen die Fliesen hämmerte.
Wie hatte sie nur so die Kontrolle verlieren können? Dieser Harris strahlte irgendetwas aus, das wie ein Wahrheitsserum wirkte. Bestimmt wäre er bei der CIA besser aufgehoben. Da könnten die sich das Guantanamo für die Terroristen glatt sparen. Bereits als Reed sie einander vorgestellt hatte, fühlte sich Jodie wie nach einem doppelten Whiskey und konnte nur mit Mühe ihre aggressive Fassade aufrecht erhalten. Mit Sicherheit war ihr neuer Partner schon auf dem Weg zu seinem Wagen, wo er ihr einen imaginären Durchgedreht-Stempel auf die Stirn drückte.
Mit seinem zaghaften Klopfen hatte sie allerdings nicht gerechnet.
„Alles in Ordnung bei dir?“, hörte sie seine Stimme durch die Tür.
„Ja …“, presste sie mühsam hervor. Doch eigentlich war ihr zum Heulen zumute.
„Ist das nur so eine Vermutung oder hat schon jemand eine blöde Bemerkung gemacht?“, wollte er von draußen wissen.
„Natürlich hat noch keiner etwas gesagt“, musste sie zugeben. „Aber als Frau hat man so seine Antennen.“
„Na dann nimm es doch als Kompliment“, gab Harris zurück. „Wäre es dir lieber, wenn sie dir auf den Hintern gucken und denken: ,Boah … igitt, nie im Leben?‘ “
Jodie presste sich ihre Hand auf den Mund, um nicht loslachen zu müssen.
„Also an deiner Stelle wäre ich stolz auf meinen Hintern“, fuhr er fort. „Sieh mal, Paris Hilton und Kim Kardashian geben Tausende aus, damit ihnen die Leute hinterherglotzen, und du kriegst das praktisch umsonst. Einfach nur, weil du bist, wie du bist.“
„Hmmm …“
„Na los, hör auf mit dem Mimimi und komm raus!“, forderte er. „Hier wartet noch eine halbe Flasche Marker’s Mark auf dich.“ Dann räusperte sich Harris umständlich. „Und ein ziemlich netter Detective“, fügte er hinzu.
Jodies Gehirn schlug gerade einen Purzelbaum. Sie hatte jetzt genau zwei Möglichkeiten: Entweder, so zu tun, als wäre absolut nichts passiert. Oder ein Frontalangriff. Und bei Harris fiel ihr die Entscheidung nicht wirklich schwer.
„Du hattest recht“, stellte sie entschieden fest, nachdem sie sich lautlos aus ihren Klamotten geschält hatte.
„Und womit?“, wollte er wissen.
„Mit dem klitzekleinen hormonellen Ungleichgewicht“, raunte sie, während sie langsam die Tür öffnete.
Harris taumelte ein paar Schritte zurück und musterte überwältigt seine nackte Kollegin. Jodie hatte nicht gelogen, der blöde Drachen hatte seine Krallen wirklich überall.
„Wie sieht’s aus“, hauchte sie, „willst du herausfinden, an welcher Stelle meines Körpers sich noch ein Piercing befindet?“
Die lichtüberflutete Mall war nicht nur ein Einkaufszentrum, sondern auch ein riesiger Freizeitpark. Mit Kinos, Bowlingbahnen und Kneipen, bei denen für jeden Geschmack etwas dabei war. Viele Vergnügungssüchtige machten das Shoppen nur allzu gern zu einem Ganztageserlebnis, das sie dann bei einem Blockbuster oder einem exotischen Drink in einem garantiert original hawaiianischen Restaurant ausklingen ließen.
So wie die drei jungen Frauen, die gerade im Maui Beachcomber ein paar Margaritas schlürften. Natürlich hatten sie diese nicht selbst bezahlt, sondern sie wurden ihnen von den Jungs am Nachbartisch spendiert. In der Aussicht auf eine heiße Nacht, oder zumindest einen prickelnden Flirt, versuchten sie sich gegenseitig zu übertrumpfen. Allerdings waren die Männer nicht allzu sehr begeistert, als sich die Mädchen plötzlich zum Aufbruch rüsteten.
„Ich muss nur noch mal schnell für kleine Chauffeurinnen“, raunte Alice Lauren und Fiona zu, nachdem sie ihre Rechnung bezahlt hatten.
Sie hatte auf die letzten Drinks verzichtet, weil sie an diesem Abend ihre Freundinnen sicher nach Hause bringen musste. Sie wechselten sich regelmäßig mit dem Fahren ab, sodass keine von ihnen benachteiligt wurde. Und deshalb waren die beiden auch nicht mehr ganz nüchtern.
„Ich auch“, schloss sich Fiona lallend an.
Lauren fläzte auf ihrem Stuhl, als wollte sie in der Zwischenzeit ein Nickerchen machen. Fiona hakte sich bei Alice unter und trippelte in ihren High Heels etwas ungelenk in Richtung der Toiletten. Als sie am Tisch der jungen Männer vorbeikamen, verstellten ihnen zwei davon den Weg.
Arschloch Nummer eins war ein äußerst gut aussehender, aber arroganter, Schnösel, der es offensichtlich nicht gewohnt war, zurückgewiesen zu werden. Arschloch Nummer zwei wirkte, als würde er Arschloch Nummer eins auf dem Golfplatz die Schläger hinterhertragen. Nur Nummer drei, der sitzengeblieben war, schien seine Kumpels für total bescheuert zu halten und rollte peinlich berührt mit den Augen.
„Hey Ladies, das ist aber gar nicht nett, dass ihr jetzt schon gehen wollt“, stieß Arschloch Nummer eins übertrieben freundlich hervor. „Schließlich haben wir in euch investiert.“
„Sehen wir etwa aus wie ein verdammtes Aktiendepot“, zischte Alice zurück, während sie versuchte, Fiona auszubalancieren. „Außerdem haben wir euch nicht dazu gezwungen, uns ein paar Drinks auszugeben. So etwas gehört an einem solchen Abend ja irgendwie dazu“ Dann tat sie, als würde sie im Kopf etwas zusammenrechnen. „Wie viel waren das, fünfzig oder sechzig Dollar?“ Alice machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dafür bekommst du nicht einmal einen vernünftigen Handjob. Und von so einer wie mir schon gleich gar nicht.“ Dann atmete sie tief durch. „Ihr seht so aus, als ob ihr euch das leisten könnt“, fügte sie versöhnlich hinzu, bevor sie Fiona an ihnen vorbeischob. „Also nehmt es sportlich!“