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Als Kurt Austin von der NUMA und die Archäologin Skye Labelle in einem Gletschergebiet auf eine Leiche in Fliegermontur und einen Helm mit rätselhaften Schriftzeichen stoßen, entkommen sie kurz darauf nur knapp einem Mordanschlag. Der Fund führt sie auf die Spur der Familie Fauchard, die geheime Laboratorien betreibt und dort mit einem Wunderenzym experimentiert. Und das wird ausgerechnet dort geerntet, wo kürzlich ein U-Boot der NUMA verschollen ist. Das Forschungsteam war tief unten auf dem Grund des Atlantiks damit beschäftigt, Informationen über mysteriöse Killeralgen zu sammeln …
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Seitenzahl: 630
Veröffentlichungsjahr: 2015
Clive Cussler
Paul Kemprecos
Killeralgen
Roman
Übersetzt von Michael Kubiak
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Lost City« bei Putnam, New York.
1. Auflage
E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 2004 by Sandecker RLLLP
All rights reserved throughout the world.
By arrangement with
Peter Lampack Agency, Inc.
551 Fifth Avenue, Suite 1613
New York, NY 10176 - 0187 USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by
Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Rainer Michael Rahn
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-15215-4
www.blanvalet.de
Prolog
Französische Alpen, August 1914
Hoch über den majestätischen schneebedeckten Gipfeln kämpfte Jules Fauchard um sein Leben. Minuten zuvor war sein Flugzeug mit einer Wucht, die seine Zähne bis in die Wurzeln erzittern ließ, gegen eine unsichtbare Wand aus Luft gekracht. Jetzt warfen Auf- und Abwinde das leichte Flugzeug hin und her wie einen Drachen an einer Schnur. Fauchard kämpfte gegen die heftigen Turbulenzen, die seinen Magen Purzelbäume schlagen ließen, mit der Geschicklichkeit, die ihm seine strengen französischen Fluglehrer eingebläut hatten. Dann hatte er diesen stürmischen Abschnitt hinter sich, genoss die seidenweiche, ruhige Luft, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass diese beinahe seinen Untergang besiegelte.
Nach dem Stabilisieren seiner Maschine hatte Fauchard einem nur zu menschlichen Impuls nachgegeben. Er schloss die müden Augen. Seine Augenlider flatterten und sackten herab und schlossen sich endgültig, als wären sie mit Bleigewichten beschwert. Sein Geist driftete ab in schattige, von unendlicher Sorglosigkeit erfüllte Gefilde. Sein Kinn sackte auf die Brust. Seine schlaffen Finger lockerten ihren Griff um den Steuerknüppel. Das kleine rote Flugzeug schlingerte wie betrunken durch eine Phase, die von französischen Piloten perte de vitesse genannt wird, Steuerlosigkeit, während es über eine Tragfläche abrutschte, um jeden Moment ins Trudeln zu geraten.
Glücklicherweise nahm Fauchards Innenohr eine Störung des Gleichgewichts wahr, und Alarmsignale ertönten in seinem schlummernden Gehirn. Sein Kopf ruckte hoch, und er erwachte halb benommen und hatte Mühe, seine wirren Gedanken zu ordnen. Sein Nickerchen hatte nur einige Sekunden gedauert, aber in dieser Zeitspanne hatte das Flugzeug einige hundert Fuß an Flughöhe verloren und war im Begriff, in einen Sturzflug überzugehen. Blut pulsierte in Fauchards Schädel. Sein wie wild hämmerndes Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment seine Brust sprengen.
In den französischen Flugschulen wurde den Flugschülern beigebracht, ein Flugzeug mit der gleichen Behutsamkeit zu lenken, wie ein Pianist die Tasten seines Instruments streichelt, und Fauchards endlose Trainingsstunden erwiesen sich jetzt als in jeder Hinsicht wertvoll. Indem er geradezu zärtlich die Kontrollen bediente, achtete er darauf, nicht zu übersteuern, und holte das Flugzeug nahezu unmerklich in eine horizontale Fluglage zurück. Zufrieden, dass die Maschine stabilisiert war, stieß er zischend die angehaltene Luft aus und schickte gleich einen tiefen Atemzug hinterher. Dabei schnitt die eisig kalte Luft wie Glasscherben in seine Lunge.
Der stechende Schmerz riss ihn aus seiner Lethargie. Endlich wieder hellwach, rief Fauchard sich das Mantra ins Gedächtnis zurück, das seine Entschlossenheit während seiner verzweifelten Mission aufrechterhalten hatte. Seine gefrorenen Lippen weigerten sich, die Silben zu bilden, aber die Worte hallten durch sein Gehirn.
Wenn du versagst, müssen Millionen sterben.
Fauchard biss die Zähne erneut zusammen. Er rieb den Raureif von den Gläsern seiner Pilotenbrille und warf einen Blick über die Motorhaube. Die Hochgebirgsluft war so klar wie feiner Kristall, und sogar die entferntesten Details waren in fotografischer Deutlichkeit zu erkennen. Dicht gestaffelte Reihen gezackter Berggipfel reichten bis zum Horizont, und winzige Dörfer klammerten sich an die Abhänge saftig grüner Alpentäler. Aufgeplusterte weiße Wolken erinnerten an Haufen frisch gepflückter Baumwolle. Der Himmel erstrahlte in einem grenzenlosen satten Blau. Der Sommerschnee, der die Bergspitzen bedeckte, schimmerte im violetten Licht der untergehenden Sonne.
Fauchards vom fehlenden Schlaf gerötete Augen fingen all diese erhabene Schönheit ein, während er die Ohren spitzte und dem Auspufflärm lauschte, der vom 80 PS starken Gnome-Sternmotor erzeugt wurde, der die Morane-Saulnier N antrieb. Alles lief gut. Der Motor brummte gleichmäßig wie vor seinem fast tödlich verlaufenen Nickerchen. Fauchard war beruhigt, doch der Beinaheabsturz hatte sein Selbstvertrauen erschüttert. Er begriff zu seiner Verblüffung, dass er soeben eine völlig fremde Gefühlsregung erlebt hatte. Angst. Nicht vor dem Tod, sondern vor dem Versagen. Trotz seiner eisernen Entschlossenheit erinnerten seine schmerzenden Muskeln ihn weiterhin daran, dass er wie jeder andere ein Mensch aus Fleisch und Blut war.
Das offene Cockpit gewährte ihm nur eng begrenzte Bewegungsfreiheit, und sein Körper steckte in einem pelzgefütterten Ledermantel über einem dicken Pullover aus Shetlandwolle, einem Rollkragenpullover und warmer Unterwäsche. Ein Wollschal schützte seinen Hals. Ein Lederhelm bedeckte seinen Kopf und seine Ohren, und seine Hände waren in Lederhandschuhe gehüllt. An seinen Füßen befanden sich pelzgefütterte Bergsteigerstiefel aus allerbestem Leder. Obgleich er für arktische Wetterbedingungen gekleidet war, hatte sich die eisige Kälte bis zu seinen Knochen durchgefressen und seine Wachsamkeit beeinträchtigt. Das war eine gefährliche Entwicklung. Die Morane-Saulnier war schwierig zu lenken und erforderte vom Piloten uneingeschränkte Aufmerksamkeit.
Angesichts der quälenden Erschöpfung klammerte Fauchard sich mit jener zielstrebigen Sturheit an die Durchführung seiner Mission, die aus ihm einen der reichsten Industriellen der Welt gemacht hatte. Unbeugsame Entschlossenheit funkelte noch immer in seinen granitgrauen Augen und drückte sich in der trotzigen Haltung seines markanten Kinns aus. Mit seiner langen Raubvogelnase erinnerte Fauchards Profil an das der Adler, deren Köpfe das Familienwappen auf dem Heck des Flugzeugs zierten.
Er zwang seine Lippen, den Befehlen seines Gehirns zu gehorchen.
Wenn du versagst, müssen Millionen sterben.
Die Stentorstimme, deren Klang in den europäischen Zentren der Macht oft genug nackte Furcht ausgelöst hatte, drang als mühevolles Krächzen aus seinem Mund. Es war ein bemitleidenswerter Laut, überdeckt vom Motorenlärm und vom ohrenbetäubenden Rauschen, mit dem die Luft am Rumpf des Flugzeugs entlangglitt, aber Fauchard entschied, dass er sich eine Belohnung verdient hatte. Er griff in den Schaft eines seiner Stiefel und holte eine schlanke silberne Flasche heraus. Seine dicken Handschuhe erschwerten ihm das Aufschrauben der Flasche, und er trank einen tiefen Schluck. Der hochprozentige Schnaps war aus Trauben gebrannt, die auf seinem Gut wuchsen. Wärme breitete sich in seinem Körper aus.
So gestärkt, schob er sich in seinem Sitz zurecht, bewegte Zehen und Finger und rollte mit den Schultern. Während das Blut in seine Gliedmaßen zurückkehrte, dachte er an die heiße Schweizer Schokolade und das frisch gebackene Brot mit geschmolzenem Käse, das ihn auf der anderen Seite der Berge erwartete. Die kräftigen Lippen unter dem buschigen Schnurrbart verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. Er war einer der reichsten Männer der Welt und konnte sich nichts Köstlicheres vorstellen als eine deftige Bauernmahlzeit. Aber das war ganz recht so.
Fauchard gestattete sich den Luxus, sich selbst zu beglückwünschen. Er war ein akribischer Mensch, und sein Fluchtplan hatte funktioniert wie das Werk einer Schweizer Uhr. Die Familie hatte ihn unter strenge Bewachung gestellt, nachdem er seine unwillkommenen Ansichten vor dem Aufsichtsrat deutlich gemacht hatte. Doch während der Aufsichtsrat noch über sein Schicksal nachdachte und beriet, war er seinen Bewachern mit einer Kombination aus Ablenkungstaktik und Glück entkommen.
Er hatte so getan, als hätte er zu viel getrunken, und seinem Butler, der im Lohn seiner Familie stand, erklärt, er gehe sofort zu Bett. Als im Haus alles still geworden war, hatte er sich aus seinem Schlafzimmer geschlichen, hatte danach das Chateau verlassen und war in den Wald geeilt, wo er ein Fahrrad versteckt hatte. Mit seiner wertvollen Fracht im Rucksack war er durch den Wald zum Flugplatz geradelt. Sein Flugzeug war aufgetankt und startbereit. Im Morgengrauen war er dann gestartet und hatte zweimal an abgelegenen Orten, wo seine loyalsten Gefolgsleute Treibstoffvorräte bereitgestellt hatten, Zwischenlandungen eingelegt.
Er leerte die Flasche und warf einen Blick auf den Kompass und die Uhr. Er befand sich genau auf Kurs und hatte nur wenige Minuten Verspätung gegenüber seinem Zeitplan. Die niedrigeren Gipfel unter ihm zeigten ihm an, dass er sich dem Ende seiner langen Reise näherte. Nicht lange, und er könnte den Landeanflug auf Zürich einleiten.
Er überlegte gerade, was er dem Gesandten des Papstes mitteilen würde, als ein Schwarm aufgeschreckter Vögel von der Steuerbordtragfläche zu starten schien. Er blickte nach rechts und erkannte zu seinem Entsetzen, dass die Vögel in Wirklichkeit Stofffetzen waren, die sich von der Tragfläche abschälten und ein mehrere Zentimeter großes Loch hinterließen. Dafür konnte es nur eine einzige Erklärung geben. Die Tragfläche war von Geschossen getroffen worden, und der Motorenlärm hatte dieses Geräusch überlagert.
Fauchard reagierte instinktiv, legte das Flugzeug in eine Links- und sofort danach in eine Rechtskurve. Während seine Augen den Himmel absuchten, entdeckte er sechs Doppeldecker, die in V-Formation unter ihm flogen. Mit geradezu unheimlicher Gelassenheit schaltete Fauchard den Motor aus, als ob er die Absicht hätte, die Maschine in einem Gleitflug zum Erdboden herunterzubringen.
Die Morane-Saulnier sackte ab wie ein Stein.
Unter normalen Umständen wäre dieses Manöver einem Selbstmord gleichgekommen, da er damit ins Visier seiner Gegner geriet. Aber Fauchard hatte die angreifenden Flugzeuge als Aviatiks identifiziert. Das nach französischen Entwürfen in Deutschland gebaute Flugzeug wurde von einem Mercedes-Reihenmotor angetrieben und war eigentlich für Aufklärungszwecke vorgesehen gewesen. Entscheidend war jedoch, dass das Maschinengewehr, das vor dem Schützen montiert war, nur nach oben schießen konnte.
Nach einem Sturz von ein paar hundert Fuß betätigte er behutsam das Höhenruder, sodass seine Maschine sich von hinten der Aviatik-Staffel näherte.
Er richtete die Nase seiner Maschine auf die nächste Aviatik aus und betätigte den Abzug. Das Hotchkiss-Gewehr ratterte los, und Rauchspurgeschosse bohrten sich in den Schwanz des anvisierten Ziels. Qualm wallte aus dem Flugzeug, und dann hüllte ein Flammenmeer den Rumpf ein.
Die Aviatik ging in einen langen korkenzieherartigen Sturzflug Richtung Erde über. Einige gut gezielte Salven brachten eine weitere Aviatik ebenso leicht zur Strecke wie ein Jäger einen zahmen Fasan erlegte.
Fauchard landete seine Treffer so schnell, dass die anderen Piloten überhaupt nicht bemerkten, dass sie angegriffen wurden, bis sie den fettigen schwarzen Qualm aus den abstürzenden Maschinen ihrer Kameraden aufsteigen sahen. Sofort löste sich die geordnete Formation total auf.
Fauchard brach seinen Angriff ab. Seine Ziele waren jetzt am Himmel verstreut, und das Überraschungsmoment war nicht mehr auf seiner Seite. Stattdessen lenkte er die Morane-Saulnier in einen steilen Steigflug und tauchte nach etwa tausend Fuß gewonnener Höhe in den Bauch einer Quellwolke ein.
Während die grauen Nebelschwaden seine Maschine vor den Blicken seiner Feinde verbargen, ging Fauchard in den Geradeausflug über und prüfte schnell die Schäden. Es war so viel Tragflächenbespannung weggerissen worden, dass die Holzkonstruktion darunter zu sehen war. Fauchard stieß einen halblauten Fluch aus. Er hatte gehofft, aus der Wolke herauszubrechen und die Aviatiks dank der überlegenen Geschwindigkeit seiner Maschine hinter sich zu lassen, doch die beschädigte Tragfläche bremste ihn erheblich.
Da er nicht würde fliehen können, müsste er bleiben und kämpfen.
Waffen- und zahlenmäßig war Fauchard hoffnungslos unterlegen, doch er steuerte eines der bemerkenswertesten Flugzeuge seiner Zeit. Aus einem Rennflugzeug entwickelt, war die Morane-Saulnier, obgleich schwierig zu fliegen, unglaublich empfindlich und reagierte schon auf die geringsten Steuerbefehle. In einer Zeit, in der die meisten Flugzeuge mindestens zwei Tragflügelpaare besaßen, war die Morane-Saulnier ein Mitteldecker. Von der patronenförmigen Propellerkappe bis zu ihrer dreieckigen Schwanzflosse war sie nur knapp sieben Meter fünfzig lang und trotzdem in jeder Hinsicht ein tödliches Insekt, dank einer Einrichtung, die den Luftkrieg revolutionieren sollte.
Saulnier hatte einen Synchronisationsmechanismus entwickelt, der es dem Maschinengewehr erlaubte, durch den Propeller zu feuern. Das System hatte die neumodischen Gewehre überholt, die manchmal unregelmäßig schossen; stählerne Abweiser schützten die Propellerflügel vor Querschlägern.
Sich für den bevorstehenden Kampf wappnend, griff Fauchard unter seinen Sitz, und seine Finger berührten das kalte Metall einer Stahlkassette. Neben der Kassette befand sich ein violetter Samtbeutel, den er hochhob und auf seinen Schoß legte. Während er das Flugzeug mit den Knien lenkte, holte er einen altertümlich wirkenden Stahlhelm aus dem Beutel und strich mit den Fingern über seine mit Gravuren verzierte Oberfläche. Das Metall war eisig kalt, dennoch schien Wärme davon auszustrahlen, die sich in seinem gesamten Körper ausbreitete.
Er setzte den Helm auf. Dieser schmiegte sich wie angegossen um die Lederkappe und war absolut harmonisch gestaltet. Der Helm war von ungewöhnlicher Machart, und zwar dergestalt, dass sein Visier wie ein menschliches Gesicht geformt war, das genau Fauchards Gesicht entsprach. Das Visier engte sein Gesichtsfeld ein, und er schob es über die Stirn nach oben.
Sonnenstrahlen drangen in das Wolkenversteck, dessen Wände nun merklich dünner wurden. Er flog durch die rauchschwadenartigen Fetzen, die die Ränder der Wolke markierten, und gelangte ins helle Tageslicht.
Die Aviatiks kreisten unter ihm wie ein Schwarm hungriger Haifische um ein sinkendes Schiff. Sie machten die Morane aus und begannen zu steigen.
Die führende Aviatik schob sich unter Fauchards Maschine und gelangte in Schussposition. Fauchard zerrte ruckartig an seinem Sitzgurt, um sich zu versichern, dass dieser fest angezogen war und hielt, dann zog er die Nase seiner Maschine hoch und gewann an Höhe, indem er zu einem Rückwärtslooping ansetzte.
Er hing kopfüber im Cockpit und dankte dem französischen Fluglehrer, der ihm dieses Fluchtmanöver beigebracht hatte. Er beendete den Looping, balancierte die Maschine aus und setzte sich hinter die Aviatiks. Sofort eröffnete er das Feuer auf das nächste Flugzeug, doch das schwenkte aus der Formation aus und tauchte steil ab.
Fauchard hängte sich an die Maschine und kostete in vollen Zügen aus, der Jäger und nicht die Beute zu sein. Die Aviatik ging in den Horizontalflug über und beschrieb eine enge Kurve in dem Versuch, sich hinter Fauchard zu setzen. Das kleinere Flugzeug konnte es durchaus mit ihm aufnehmen.
Durch ihr Manöver war die Aviatik in die Öffnung eines breiten Tals geraten. Da Fauchard der Maschine kaum genügend Raum zum Manövrieren ließ, flog sie auf direktem Kurs in das Tal hinein.
Fauchard geizte mit seiner Munition und beschränkte sich auf kurze Feuerstöße aus seinem Hotchkiss-Maschinengewehr. Die Aviatik pendelte nach links und nach rechts, und die Rauchspurgeschosse zischten auf beiden Seiten an der Maschine vorbei. Sie ging in einen kontrollierten Sturzflug und versuchte, unterhalb von Fauchard und seinem tödlichen Maschinengewehr zu bleiben. Abermals konterte Fauchard das Manöver und suchte eine geeignete Schussposition. Und auch diesmal wich die Aviatik nach unten aus.
Die Flugzeuge rasten mit einer Geschwindigkeit von hundert Meilen pro Stunde über die Felder dahin. Ihre Flughöhe betrug kaum fünfzig Fuß über Grund. Herden verängstigter Rinder wurden umhergescheucht wie trockenes Herbstlaub. Die fliehende Aviatik schaffte es, sich außerhalb Fauchards Schussfeld zu halten. Die wellige Beschaffenheit des Geländes unter ihnen erhöhte die Schwierigkeit, einen gezielten Schuss anzubringen.
Die Landschaft erschien wie ein verschwommener Reigen aus wogenden Weiden und adretten Bauernhäusern. Die Bauernhöfe rückten näher zusammen. Fauchard konnte in einiger Entfernung, dort wo das Tal sich zu schließen schien, die Dächer einer Stadt erkennen.
Die Aviatik folgte den Windungen eines Flusses, der sich auf der Talsohle zur Stadt schlängelte. Dabei flog der Pilot so niedrig, dass die Räder seiner Maschine beinahe die Wasseroberfläche berührten. Direkt auf seinem Kurs spannte sich eine alte Steinbrücke über den Fluss.
Fauchards Finger legte sich um den Abzugsbügel, als ein Schatten über ihm seine Konzentration störte. Er blickte nach oben und sah das Fahrwerk und den Rumpf einer anderen Aviatik weniger als fünfzig Fuß über sich. Sie kam weiter herunter und versuchte, ihn nach unten zu drücken. Er schaute zur führenden Aviatik. Diese war bereits in den Steigflug übergangen, um nicht gegen die Brücke zu prallen.
Fußgänger, die die Brücke überquerten, hatten das Trio der heranrasenden Flugzeuge längst bemerkt und rannten um ihr Leben. Der träge alte Ackergaul, der einen Wagen über die Brücke zog, bäumte sich zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder auf, während die Aviatik nur wenige Meter über dem Kopf des Kutschers vorbeischoss.
Das obere Flugzeug sackte ein Stück weiter ab, um Fauchard gegen die Brücke zu drücken, doch in der letzten Sekunde zog dieser den Steuerknüppel nach hinten und gab Vollgas. Die Morane-Saulnier sprang regelrecht hoch und trug ihn durch die schmale Lücke zwischen Brücke und feindlicher Aviatik. Heu wurde explosionsartig in einer Wolke hochgewirbelt, als die Räder seiner Maschine die Wagenladung touchierten, doch Fauchard behielt die Maschine unter Kontrolle und lenkte sie sicher über die Dächer der Stadt hinweg.
Das Flugzeug, das an Fauchards Heckleitwerk hing, zog eine Sekunde später hoch.
Zu spät.
Weitaus weniger wendig als der Eindecker, krachte die Aviatik gegen die Brücke und verwandelte sich in einen Feuerball. Ebenso schwerfällig touchierte die führende Aviatik einen Kirchturm, dessen scharfe Spitze ihr den Bauch aufschlitzte. Das Flugzeug zerbrach in unzählige Teile.
»Geht mit Gott!«, brüllte Fauchard heiser, während er sein Flugzeug in einem engen Bogen herumzog und den Talausgang ansteuerte.
Zwei winzige Punkte tauchten in der Ferne auf. Sie kamen schnell auf ihn zu. Es waren die letzten beiden Maschinen der Aviatik-Staffel.
Fauchard lenkte seine Maschine mitten in die Lücke zwischen den sich nähernden Flugzeugen. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Er wollte seiner Familie unmissverständlich klarmachen, was er von ihrem Versuch hielt, ihn an seinem Vorhaben zu hindern.
Er kam ihnen nahe genug, um die Beobachter in den Vordersitzen erkennen zu können. Der linke hatte etwas wie einen Stock in der Hand und zielte damit auf ihn. Gleichzeitig beobachtete Fauchard einen Lichtblitz.
Er hörte einen leisen, dumpfen Laut und hatte plötzlich das Gefühl, als würde sein Brustkorb von einem glühenden Schüreisen durchbohrt. Erschrocken begriff er, dass der Beobachter in der Aviatik Zuflucht zu einer simpleren, aber zuverlässigeren Technologie genommen hatte – er hatte mit einem Karabiner auf Fauchard geschossen.
Unwillkürlich zerrte er am Steuerknüppel, und seine Beine streckten sich in einem plötzlichen Krampf. Die gegnerischen Maschinen rasten zu beiden Seiten an ihm vorbei. Seine Hand am Steuerknüppel wurde kraftlos, und das Flugzeug begann zu taumeln. Warmes Blut pulsierte aus seiner Wunde und sammelte sich unter seinem Sitz zu einer Pfütze. Er hatte plötzlich einen Geschmack von Kupfer im Mund, und es fiel ihm zunehmend schwer, seine Umgebung wahrzunehmen.
Er riss sich die Pilotenbrille herunter, löste den Sitzgurt und griff unter den Sitz. Seine erlahmenden Finger fanden den Griff der stählernen Kassette. Er legte sie sich auf den Schoß, nahm das Band, das in den Griff eingefädelt war, und befestigte es an seinem Handgelenk.
Indem er seine letzten Kraftreserven mobilisierte, stemmte er sich hoch und beugte sich aus dem Cockpit. Er wälzte sich über den Rand, sein Körper prallte auf die Tragfläche und wurde weggeschleudert.
Seine Finger zogen automatisch an der Reißleine, das Kissen, auf dem er gesessen hatte, platzte auf, und ein seidener Fallschirm entfaltete sich.
Ein schwarzer Vorhang senkte sich über seine Augen. Schemenhaft nahm er einen eisblauen See und einen Gletscher wahr.
Ich habe versagt.
Er stand zu sehr unter Schock, als dass er den Schmerz wahrnehmen konnte, und empfand eine tiefe und zornige Traurigkeit.
Millionen werden sterben.
Er hustete heftig, als sein Mund sich mit blutigem Schaum füllte, und dann dachte er nichts mehr. Reglos hing er in den Gurten seines Fallschirms, ein leichtes Ziel für eine der Aviatiks, die soeben zu einem weiteren Zielanflug ansetzte.
Die Kugel, die sich durch seinen Helm bohrte und in sein Gehirn drang, spürte er nicht mehr.
Während die Sonnenstrahlen sich funkelnd an seinem Helm brachen, sank er tiefer und tiefer, bis die Berge ihn gnädig in ihren Schoß aufnahmen.
1
Schottland, Orkneyinseln, Gegenwart
Jodie Michaelson schäumte vor Wut.
Kurz zuvor, am Spätnachmittag, hatten sie und die übrig gebliebenen Konkurrenten der TV-Reality-Show Outcasts in ihren schweren Schuhen über ein dickes Seil balancieren müssen, das über einen ein Meter hohen Wall aus Felsbrocken gespannt worden war. Diese Nummer hatte man »Feuerlauf der Wikinger« getauft. Reihenweise Fackeln loderten zu beiden Seiten des Seils und verliehen dem Ganzen eine Atmosphäre von Dramatik und höchstem Risiko, obgleich die Flammen in Wirklichkeit gut zwei Meter von den Feuerläufern entfernt waren. Die Kameras nahmen das Geschehen von der Seite und aus der Froschperspektive auf und ließen den Marsch über das Seil weitaus gefährlicher erscheinen, als er es tatsächlich war.
Kein fauler Zauber war die Art und Weise, wie die Produzenten geplant hatten, die Konkurrenten fast bis zu Gewalttätigkeiten gegeneinander aufzustacheln.
Outcasts war das jüngste Angebot an »Reality«-Shows, die seit dem Erfolg von Survivor und Fear Factor wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Es war eine aufgemotzte Kombination aus beiden Formaten, abgerundet mit einer kräftigen Prise lauthals gebrüllter Unflätigkeiten à la Jerry Springer.
Das Format war herzlich einfach. Zehn Teilnehmer mussten sich in einem Zeitraum von drei Wochen einer Vielzahl von Prüfungen unterziehen. Diejenigen, die dabei versagten oder von ihren Gefährten abgewählt wurden, mussten die Insel verlassen.
Der Sieger gewann am Ende eine Million Dollar und zusätzliche Bonuspunkte, deren Vergabe sich offenbar danach richtete, wie gemein und hinterhältig die Konkurrenten miteinander umgingen.
Die Show wurde als noch mörderischer als ihre Vorgänger beurteilt, und die Produzenten scheuten keine Tricks, um die Spannung noch zu steigern. Während andere Shows von heftigen Konkurrenzkämpfen bestimmt wurden, fanden in Outcasts regelrechte Schlachten statt.
Das Format der Show basierte zum Teil auf dem Outward-Bound-Überlebenstraining, in dessen Verlauf ein Teilnehmer von dem leben muss, was die Natur bereithält. Im Gegensatz zu anderen ähnlichen Serien, als deren Schauplätze vorwiegend tropische Inseln mit türkisblauem Wasser und wogenden Palmen dienten, wurde Outcasts auf den Orkneyinseln vor der schottischen Küste gefilmt. Die Konkurrenten waren dort in der billigen Kopie eines Wikingerschiffs gelandet, begleitet vom Lärm aufgescheuchter Seevögel.
Die Insel war gut dreieinhalb Kilometer lang und knapp zwei Kilometer breit. Sie bestand vorwiegend aus Felsgestein, das vor Ewigkeiten von irgendeiner kosmischen Katastrophe zu bizarren Erhebungen und Schluchten geformt worden war. Hier und da lockerte eine verkrüppelte Baumgruppe das trostlose Bild auf, und es gab einen Strand mit grobem Sand, wo die meisten Filmaufnahmen stattfanden. Das Wetter war einigermaßen milde, außer in den Nächten, und die mit Tierfellen bedeckten Hütten waren als Behausungen erträglich.
Die kleine Felseninsel war derart unbedeutend, dass Einheimische sie nur als »Wee Island« bezeichneten. Dies hatte eine spaßige Diskussion zwischen dem Produzenten, Sy Paris, und seinem Assistenten, Randy Andleman, ausgelöst.
Paris hatte gerade mal wieder einen seiner typischen Wutanfälle. »Wir können wohl kaum eine Abenteuershow auf einem Flecken namens ›Wee Island‹ filmen, um Gottes willen. Wir müssen dem Ding einen anderen Namen verpassen.« Seine Miene hellte sich auf. »Wir nennen sie ›Skull Island.‹«
»Sie sieht aber nicht aus wie ein Schädel«, protestierte Andleman. »Eher wie ein von beiden Seiten gebratenes Spiegelei.«
»Das ist ähnlich genug«, hatte Paris gemeint, ehe er davonrauschte.
Jodie, die das Wortgeplänkel verfolgt hatte, animierte Andleman zu einem freundlichen Lächeln, als sie halblaut meinte: »Ich finde, sie ähnelt eher dem Schädel eines dämlichen Fernsehproduzenten.«
Die Prüfungen bestanden im Wesentlichen aus Ekelnummern wie dem Aufbrechen lebendiger Krabben und ihrem Verzehr im Rohzustand oder dem Sprung in ein Wasserbecken voller Aale, die bei den Zuschauern einen Brechreiz garantierten und sie auf jeden Fall für die nächste Folge wieder vor den Fernseher holten, um sich anzusehen, wie schlimm es noch würde. Einige der Konkurrenten schienen wegen ihrer ausgeprägten Aggressivität und allgemeinen Bösartigkeit ausgewählt worden zu sein.
Der Höhepunkt käme, wenn die letzten beiden Konkurrenten die Nacht damit verbrachten, sich gegenseitig zu jagen, wobei sie Nachtsichtgeräte und Farbkugelpistolen zur Verfügung hatten. Es war eine Nummer, die auf der Kurzgeschichte »Graf Zaroff – Genie des Bösen« basierte. Dem »Überlebenden« winkte eine weitere Million Dollar.
Jodie war eine Fitnesstrainerin aus Orange County in Kalifornien. In einem Bikini hatte sie einen atemberaubenden Körper, obgleich ihre Kurven unter ihrer Daunenkleidung ganz und gar nicht zur Geltung kamen. Hinzu kamen lange blonde Haare und eine wache Intelligenz, die sie hatte kaschieren müssen, um für die Show engagiert zu werden. Jeder Konkurrent stellte einen bestimmten Persönlichkeitstyp dar, doch Jodie wehrte sich dagegen, die Rolle des dämlichen Blondchens zu spielen, für die die Produzenten sie ausgesucht hatten.
In dem letzten Quiz um Plus- und Minuspunkte waren sie und die anderen gefragt worden, ob ein Poncho ein Bekleidungsstück, eine Frucht oder ein Autotyp sei. Als beschränkte Quotenblondine der Show hätte sie mit »Autotyp« antworten müssen.
Du liebe Güte, so etwas würde sie niemals wieder gutmachen können, wenn sie in die Zivilisation zurückkehrte.
Seit dem Quizdebakel hatten die Produzenten unmissverständliche Andeutungen gemacht, dass sie aus der Show aussteigen sollte. Sie hatte ihnen die Chance gegeben, sie hinauswählen zu lassen, als ihr ein Funke ins Auge flog und sie den Feuerlauf nicht geschafft hatte. Die übrigen Angehörigen des Stammes hatten sich mit ernsten Mienen um das Lagerfeuer versammelt, und Sy Paris hatte mit trauerumflorter Stimme den Befehl ausgegeben, sie solle den Clan verlassen und nach Walhalla umziehen. Was für ein hirnverbrannter Blödsinn.
Während sie sich vom Lagerfeuer entfernte, verfluchte sie sich selbst, weil sie die Prüfung nicht geschafft hatte. Aber ihr Gang war noch immer kraftvoll und energisch. Nach ein paar Wochen in Gesellschaft dieser Verrückten war sie froh, die Insel verlassen zu können. Die Gegend war zwar eine wildromantische, eigentlich wunderschöne Kulisse, doch Jodie war die Boshaftigkeiten, die Manipulation und die Hinterhältigkeit leid, die die Konkurrenten an den Tag legen mussten, um der zweifelhaften Ehre willen, gejagt zu werden wie ein tollwütiger Hund.
Hinter dem »Tor nach Walhalla«, einer Art Laubengang aus Plastikwalknochen, stand ein großer Wohnwagen, in dem das Fernsehteam untergebracht war. Während die Angehörigen des Wikingerclans in Lederzelten hausten und sich von Käfern und anderem Kleingetier ernährten, erfreute das Aufnahmeteam sich angenehmer Wärme, bequemer Schlafkojen und üppiger Feinschmeckermenüs. Sobald ein Konkurrent aus dem Spiel ausschied, verbrachte er oder sie eine Nacht im Wohnwagen, bis ein Hubschrauber ihn oder sie am nächsten Tag abholte.
»Das war Pech«, sagte Andleman, der sie an der Tür erwartete. Andleman war ein Schatz und das krasse Gegenteil seines erfolgshungrigen Chefs.
»Ja, und was für ein Pech. Heiße Duschen, warme Mahlzeiten, Mobiltelefone.«
»Verdammt, das alles gibt es hier.«
Sie sah sich in der komfortablen Behausung um. »Das merke ich.«
»Da drüben ist Ihre Koje«, sagte er. »Mixen Sie sich an der Bar einen Drink, und im Kühlschrank steht eine köstliche Pastete, die Ihnen über die Enttäuschung hinweghelfen sollte. Ich muss raus und Sy assistieren. Machen Sie es sich bequem.«
»Danke, das werde ich tun.«
Sie ging zur Bar und genehmigte sich einen großzügigen Beefeater-Martini. Die Pastete war wirklich köstlich. Sie freute sich darauf, nach Hause zurückzukehren. Die Ex-Teilnehmer wurden gewöhnlich von Talkshow zu Talkshow weitergereicht, um sich über die Leute auszulassen, die sie zurückgelassen hatten. Das wäre leicht verdientes Geld. Sie streckte sich in einem bequemen Sessel aus. Schon nach wenigen Minuten sorgte der Alkohol dafür, dass sie einschlief.
Schlagartig wurde sie wach. Im Schlaf hatte sie schrille Schreie wie von Seevögeln oder spielenden Kindern gehört, dazu wildes Gebrüll und aufgeregte Rufe.
Seltsam.
Sie stand auf, ging zur Tür und lauschte.
Sie fragte sich, ob Sy sich wieder eine neue Form der Erniedrigung hatte einfallen lassen. Vielleicht ließ er die anderen einen wilden Beschwörungstanz ums Lagerfeuer veranstalten.
Sie ging eilig über den Pfad, der zum Strand führte. Der Lärm wurde lauter, aufgeregter, verzweifelter. Irgendetwas Schreckliches war im Gange. Das waren Schreie der Angst und des Schmerzes. Das klang nicht nach telegener Ausgelassenheit. Sie beschleunigte ihre Schritte und rannte durch das Walhalla-Tor. Was sie dann erblickte, sah aus wie eine Höllenszene von Hieronymus Bosch.
Die Darsteller und das Fernsehteam wurden von entsetzlichen Kreaturen attackiert, die halb Mensch, halb Tier zu sein schienen. Die wilden Angreifer knurrten und schnaubten, rissen ihre Opfer zu Boden und bearbeiteten sie mit Klauen und Zähnen.
Sie sah Sy stürzen, dann Randy. Sie erkannte mehrere Körper, die blutüberströmt und zerfleischt am Strand lagen.
Im flackernden Feuerschein sah Jodie, dass die Angreifer langes, verfilztes Haar hatten, das ihnen bis auf die Schultern reichte. So etwas wie diese Gesichter hatte sie noch nie erblickt. Es waren entsetzliche, verzerrte Fratzen.
Eine Bestie umklammerte einen abgetrennten Arm, den sie gerade zum Mund führte. Jodie konnte nicht anders, sie musste schreien … und die anderen Kreaturen unterbrachen ihre grässliche Mahlzeit und drehten sich mit rot glühenden Augen zu ihr um.
Sie wollte sich übergeben, doch die Wesen kamen jetzt in einem seltsam gebückten, hüpfenden Lauf auf sie zu.
Sie rannte um ihr Leben.
Ihr erster Gedanke war der Wohnwagen, doch sie war geistesgegenwärtig genug, um zu begreifen, dass sie dort in der Falle sitzen würde.
Sie rannte auf höheres felsiges Gelände, wohin die Kreaturen ihr wie hungrige Bluthunde folgten. Sie stolperte und stürzte in eine Erdspalte, doch ohne dass es ihr in diesem Moment klar wurde, rettete dieser Fehltritt ihr das Leben. Ihre Verfolger verloren ihre Witterung.
Jodie hatte sich bei dem Sturz heftig den Kopf gestoßen. Noch einmal kehrte kurz ihr Bewusstsein zurück, und sie glaubte heisere Stimmen und Gewehrschüsse hören zu können. Dann wurde sie wieder ohnmächtig.
Sie lag noch immer bewusstlos in der Erdspalte, als am nächsten Morgen der Hubschrauber eintraf. Nachdem die Mannschaft die Insel abgesucht und schließlich Jodie gefunden hatte, war sie zu einer erschreckenden Gewissheit gelangt.
Alle anderen waren verschwunden.
2
Monemvassia, Peloponnes, Griechenland
In seinem immer wiederkehrenden Alptraum war Angus MacLean eine festgebundene Ziege, die von einem hungrigen Tiger belauert wurde, dessen gelbe Augen ihn aus dem düsteren Dschungel anstarrten. Das leise Knurren wurde lauter und lauter, bis es seine Ohren ausfüllte und er nichts anderes hören konnte. Dann sprang der Tiger ihn an. Er roch seinen stinkenden Atem, spürte, wie die scharfen Reißzähne sich in seinen Hals bohrten. Er stemmte sich gegen den Strick um seinen Hals in einem vergeblichen Versuch zu flüchten. Sein Mitleid erregendes, entsetztes Blöken verwandelte sich in ein verzweifeltes Stöhnen … und er erwachte in kalten Schweiß gebadet, seine Brust hob und senkte sich mühsam, und die zerknautschten Laken waren feucht.
MacLean wälzte sich aus seinem schmalen Bett, taumelte zum Fenster und stieß die Läden auf. Die griechische Sonne flutete gegen die weiß getünchten Wände einer ehemaligen Mönchszelle. Er zog Shorts und ein T-Shirt an, schlüpfte in seine Wandersandalen und trat hinaus. Das Funkeln der Sonnenstrahlen auf dem saphirblauen Meer ließ ihn krampfhaft blinzeln. Nur zögernd beruhigte sich sein hämmernder Herzschlag.
Er machte einen tiefen Atemzug und inhalierte dabei den parfümgleichen Duft der Wildblumen, die um das zweistöckige Kloster herum in voller Blütenpracht standen. Er wartete, bis das Zittern seiner Hände nachließ, dann brach er auf zu seinem allmorgendlichen Spaziergang, der sich als bestes Heilmittel für sein angegriffenes Nervenkostüm erwiesen hatte.
Das Kloster war im Schatten eines mächtigen Felsens erbaut worden, der mehrere hundert Meter hoch war und in den Reiseführern gerne als das »Gibraltar Griechenlands« bezeichnet wurde. Um den höchsten Punkt zu erreichen, nahm er einen Pfad, der auf der Krone einer uralten Mauer verlief. Jahrhunderte zuvor pflegten die Bewohner der tiefer gelegenen Stadt sich in die Befestigungen zurückzuziehen, um sich gegen Eindringlinge zu verteidigen. Nur noch Ruinen waren von dem Wehrdorf übrig, das in Zeiten der Belagerung der gesamten Bevölkerung Schutz geboten hatte.
Von dem hoch gelegenen Aussichtspunkt aus – das vom Verfall gezeichnete Fundament einer alten byzantinischen Kirche – konnte MacLean kilometerweit blicken. Ein paar bunte Fischerboote trieben auf dem Meer und die Fischer verrichteten ihre Arbeit. Alles schien friedlich und ruhig zu sein. MacLean wusste, dass sein morgendliches Ritual ihm ein unechtes Gefühl der Sicherheit vorgaukelte. Die Leute, die Jagd auf ihn machten, würden sich erst zu erkennen geben, wenn sie ihn töteten.
Er wanderte in den Ruinen umher wie ein heimatloser Geist, dann stieg er auf der Mauer wieder herab und kehrte in den im zweiten Stock gelegenen Speisesaal des Klosters zurück. Das im fünfzehnten Jahrhundert erbaute Kloster war eines der alten Bauwerke, die die griechische Regierung überall im Land als Gästehäuser betrieb. MacLean achtete darauf, stets erst dann frühstücken zu gehen, wenn alle anderen Gäste zu ihren Besichtigungsfahrten aufgebrochen waren.
Der junge Mann, der in der Küche Geschirr spülte und aufräumte, begrüßte ihn lächelnd. »Kali mera, Dr. MacLean.«
»Kali mera, Angelo«, erwiderte MacLean. Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen den Kopf. »Haben Sie es schon vergessen?«
Ein Ausdruck des Begreifens ließ Angelos Augen kurz aufleuchten. »Ja. Entschuldigen Sie, Mr. MacLean.«
»Das ist schon in Ordnung. Es tut mir Leid, wenn ich Sie mit meinen seltsamen Bitten belästige«, meinte MacLean mit seinem weichen schottischen Akzent. »Aber wie ich schon angedeutet habe, ich möchte nicht, dass die Leute glauben, ich könnte ihre verdorbenen Mägen kurieren.«
»Ne. Ja, natürlich, Mr. MacLean. Ich verstehe.«
Angelo brachte eine Schüssel frischer Erdbeeren, Honigmelone und cremigen griechischen Joghurt mit einheimischem Honig und Walnüssen sowie eine Tasse starken schwarzen Kaffees. Angelo war der junge Mönch, der für die Versorgung der Gäste zuständig war. Er war Anfang dreißig, hatte dunkles, lockiges Haar und ein hübsches Gesicht, auf dem gewöhnlich ein engelhaftes Lächeln lag. Er war eine Mischung aus Concierge, Hausmeister, Koch und Wirt. Er trug gewöhnliche Arbeitskleidung, und der einzige Hinweis auf sein Mönchsgelübde war der Strick, der lose um seine Taille geknotet war.
Zwischen den beiden hatte sich in den Wochen, die Mac-Lean als Gast in dem Kloster zubrachte, eine tiefe Freundschaft entwickelt. Jeden Tag, nachdem Angelo seinen Frühstücksdienst beendet hatte, unterhielten sie sich über ihr gemeinsames Hobby, die byzantinische Kultur.
Als Kontrapunkt zu seiner intensiven Arbeit in der chemischen Forschung beschäftigte MacLean sich mit historischen Studien. Vor Jahren hatten diese Studien ihn nach Mystra geführt, einst der Mittelpunkt der byzantinischen Welt. Er hatte den Peloponnes bereist und war dabei auf Monemvassia gestoßen. Ein schmaler Damm, auf beiden Seiten vom Meer umgeben, stellte den einzigen Zugang zu dem Dorf dar, einem Labyrinth aus engen Straßen und Alleen auf der anderen Seite der Mauer, deren »einziges Tor« Monemvassia seinen Namen gab. MacLean war auf Anhieb dem Zauber dieses wunderschönen Ortes verfallen. Er hatte geschworen, eines Tages dorthin zurückzukehren, und hätte niemals geglaubt, dass er, wenn er den Ort wiedersehen würde, auf der Flucht wäre und um sein Leben fürchten müsste.
Anfangs hatte sich das Projekt so unschuldig angelassen. MacLean hatte an der Universität von Edinburgh Chemie für Fortgeschrittene gelehrt, als ihm ein Traumjob in der Forschung, die er so sehr liebte, angeboten wurde. Er hatte die Stelle sofort angenommen und sich beurlauben lassen. Er stürzte sich in die Arbeit und war gewillt, die langen Arbeitszeiten und die extreme Geheimhaltung zu ertragen. Er führte eins von mehreren Forschungsteams, die sich mit Enzymen, jenen komplexen Proteinen, die biochemische Reaktionen auslösen, beschäftigten.
Die Wissenschaftler des Projekts lebten unter angenehmsten Bedingungen in einer ländlichen Gegend Frankreichs und hatten nur wenig Kontakt mit der Außenwelt. Ein Kollege hatte ihre Forschung scherzhaft als »Manhattan Project« bezeichnet. Die Isolation stellte für MacLean, der Junggeselle war und keine nahen Verwandten mehr hatte, kein Problem dar. Nur wenige seiner Kollegen beklagten sich. Die großartige Bezahlung und die hervorragenden Arbeitsbedingungen waren ein hinreichender Ausgleich.
Dann nahm das Projekt eine beunruhigende Wende. Als MacLean und die anderen Fragen stellten, wurde ihnen erklärt, sie sollten sich keine Sorgen machen. Stattdessen wurden sie nach Hause geschickt und aufgefordert abzuwarten, bis die Ergebnisse ihrer Arbeit analysiert worden seien.
MacLean war stattdessen in die Türkei gereist, um Ruinen zu untersuchen. Als er mehrere Wochen später nach Schottland zurückkehrte, verzeichnete sein Anrufbeantworter mehrere abgebrochene Gespräche ohne Namensnennung und eine seltsame Nachricht von einem ehemaligen Kollegen. Der Wissenschaftler wollte wissen, ob MacLean die Zeitung gelesen habe, und drängte ihn, umgehend zurückzurufen. MacLean versuchte auch, den Mann zu erreichen, und erfuhr, dass er wenige Tage vorher bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen war.
Später, als MacLean seine zu einem beträchtlichen Stapel angewachsene Post durchging, fand er ein Päckchen, das der Wissenschaftler kurz vor seinem Tod an ihn abgeschickt hatte. Der dicke Briefumschlag war voll gestopft mit Zeitungsausschnitten, die eine Reihe von tödlichen Unfällen behandelten. Während MacLean diese Ausschnitte las, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Die Opfer waren allesamt Wissenschaftler, die mit ihm im Projekt gearbeitet hatten.
Auf einer Zeitungsnotiz stand die handschriftliche Warnung: »Fliehen Sie, sonst müssen auch Sie sterben!«
MacLean wollte zunächst glauben, dass diese Unfälle auf reinen Zufällen beruhten. Dann, ein paar Tage nachdem er die Zeitungsausschnitte gelesen hatte, versuchte ein Lastwagen, seinen Mini Cooper von der Straße zu drängen. Wie durch ein Wunder entkam er dem Anschlag mit einigen harmlosen Kratzern. Jedoch erkannte er in dem Lastwagenfahrer einen der stummen Wächter, die die Wissenschaftler im Labor beaufsichtigt hatten.
Was für ein Narr er doch gewesen war.
MacLean wusste, dass er fliehen musste. Aber wohin? Monemvassia war ihm in den Sinn gekommen. Es war ein beliebter Urlaubsort für Griechen. Die meisten Fremden, die den Felsen besuchten, kamen nur für einen einzigen Tag dorthin. Und jetzt war er hier.
Während MacLean über die Ereignisse nachdachte, die ihn hierher geführt hatten, kam Angelo mit einer Ausgabe des International Herald Tribune zu ihm. Der Mönch sagte, er müsse einige Besorgungen machen, wäre jedoch in einer Stunde wieder zurück. MacLean nickte, trank seinen Kaffee und genoss den würzigen Geschmack des dunklen Gebräus. Er überflog die Meldungen über die üblichen wirtschaftlichen und politischen Krisen. Und dann blieb sein Blick an einer Schlagzeile auf der Seite der internationalen Meldungen hängen:
ÜBERLEBENDE BERICHTET, DASS MONSTER
FERNSEHTEAM UND DARSTELLER UMGEBRACHT
HABEN
Als Schauplatz des Geschehens wurden die schottischen Orkneyinseln genannt. Neugierig geworden, las er den Bericht. Er war nur ein paar Absätze lang, doch als er die Lektüre beendet hatte, zitterten seine Hände. Er las den Artikel immer wieder, bis die Worte vor seinen Augen verschwammen.
Allmächtiger Gott, dachte er. Etwas Furchtbares ist geschehen.
Er faltete die Zeitung zusammen, ging hinaus, blieb einen Moment lang im wohltuend warmen Sonnenschein stehen und fasste einen Entschluss. Er würde nach Hause zurückkehren und versuchen, jemanden zu finden, der ihm seine Geschichte glaubte.
MacLean spazierte zum Stadttor und fuhr mit einem Taxi zum Fährdienst, dessen Büro sich auf dem Damm befand, und löste ein Ticket für das Luftkissenboot nach Athen am nächsten Tag. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück und packte seine wenigen Habseligkeiten zusammen. Was nun? Er beschloss, für den letzten Tag an seinen üblichen Gewohnheiten festzuhalten, suchte ein Straßencafé auf und bestellte sich ein großes Glas eisgekühlter Limonade. Er war in seine Zeitung vertieft, als ihm bewusst wurde, dass jemand mit ihm sprach.
Er schaute hoch und erblickte eine grauhaarige Frau in einem geblümten Hosenanzug aus Polyester, die an seinem Tisch stand und einen Fotoapparat in der Hand hielt.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Könnten Sie mal so freundlich sein? Meinen Mann und mich …?«
Es kam oft vor, dass Touristen MacLean darum baten, sie auf einem Foto zu verewigen. Er war hoch gewachsen und schlaksig und hob sich mit seinen blauen Augen und seinem grau melierten Haar deutlich von den kleineren und dunkelhaarigen Griechen ab.
Ein Mann saß an einem Tisch in der Nähe und zeigte Mac-Lean ein Grinsen. Er hatte vorstehende Schneidezähne, und sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht war puterrot von zu viel Sonne. MacLean nickte und nahm der Frau die Kamera aus der Hand. Er machte ein paar Fotos von dem Ehepaar und gab die Kamera zurück.
»Vielen herzlichen Dank!«, sagte die Frau überschwänglich. »Sie haben keine Ahnung, wie wichtig diese Bilder für unser Fotoalbum sind.«
»Amerikaner?«, fragte MacLean. Sein Drang, wieder einmal Englisch sprechen zu können, siegte über sein inneres Widerstreben, sich überhaupt mit irgendjemandem zu unterhalten. Angelos Englischkenntnisse waren doch sehr begrenzt.
Die Frau strahlte. »Ist das so offensichtlich? Wir bemühen uns so sehr, nicht aufzufallen.«
Rosafarbene Hosenanzüge entsprachen ganz entschieden nicht den griechischen Modevorstellungen, dachte Mac-Lean. Der Ehemann der Frau trug ein kragenloses weißes Baumwollhemd und eine schwarze Kapitänsmütze, wie man sie vorwiegend im Souvenirhandel finden konnte.
»Wir sind mit dem Luftkissenboot hergekommen«, sagte der Mann mit gedehntem Akzent und erhob sich von seinem Stuhl. Er wechselte mit MacLean einen aufdringlichen schweißfeuchten Händedruck. »Das war vielleicht eine Höllenfahrt. Sind Sie Engländer?«
MacLean reagierte auf die Frage mit einem entsetzten Gesichtsausdruck.
»Himmel, nein, ich bin Schotte!«
»Eine Hälfte Scotch und die andere Hälfte Soda«, sagte der Mann mit seinem Pferdegrinsen. »Entschuldigen Sie diesen Kalauer und den Irrtum. Ich komme aus Texas. Ich wäre wahrscheinlich genauso entsetzt, wenn Sie annähmen, wir kämen aus Oklahoma.«
MacLean fragte sich, weshalb alle Texaner, denen er begegnete, redeten, als litte jeder unter Schwerhörigkeit. »Ich hätte niemals auch nur im Traum angenommen, dass Sie aus Oklahoma kommen könnten«, sagte MacLean. »Ich wünsche Ihnen noch viel Spaß bei Ihrem Ausflug.«
Er machte Anstalten, sich zu entfernen, und blieb stehen, als die Frau ihn fragte, ob ihr Mann sie beide fotografieren dürfe, weil er so nett gewesen sei. Daraufhin posierte Mac-Lean zuerst mit der Frau und dann mit dem Mann.
»Vielen Dank«, sagte die Frau. Sie hatte eine weitaus gepflegtere Ausdrucksweise als ihr Mann. Sofort erfuhr Mac-Lean, dass Gus und Emma Harris aus Houston kamen, dass Gus im Ölgeschäft gearbeitet hatte und dass sie Geschichtslehrerin gewesen war und sich ihren Lebenstraum erfüllte, indem sie die Wiege der Menschheit besuchte.
Er schüttelte ihnen die Hände, nahm ihre überschwänglichen Dankesbezeigungen entgegen und suchte in der engen Straße das Weite. Er ging sehr schnell, hoffte dabei, dass sie ihm nicht folgten, und kehrte auf einem Umweg zum Kloster zurück.
MacLean schloss die Fensterläden, damit es in seinem Zimmer dunkel und kühl blieb. Er verschlief die Periode der schlimmsten Nachmittagshitze, dann stand er auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen, und stellte zu seiner Überraschung fest, dass die Harrises unweit der alten weiß getünchten Kapelle im Hof des Klosters standen.
Gus und seine Frau fotografierten das Kloster. Sie winkten und lächelten, als sie ihn entdeckten, und MacLean ging zu ihnen hinunter und bot ihnen an, ihnen sein Zimmer zu zeigen. Sie waren beeindruckt von der Schönheit der dunklen Holztäfelung. Wieder draußen, galt ihre Aufmerksamkeit nun den steilen Felsabhängen hinter dem Gebäude.
»Von dort oben muss man einen wundervollen Ausblick haben«, sagte Emma.
»Es ist ein ziemlich anstrengender Weg bis zur Spitze.«
»Ich vertreibe mir die Zeit zu Hause damit, Vögel zu beobachten, daher bin ich ganz gut in Form. Und Gus ist sportlicher, als man auf den ersten Blick glauben mag.« Sie lächelte. »Er war früher mal Footballspieler, obgleich man das heute kaum glauben möchte.«
»Ich bin ein alter ›Aggie‹«, sagte Mr. Harris. »Texas Agricultural and Mechanical University. Seit damals habe ich zwar gewichtsmäßig erheblich zugelegt. Aber ich sage Ihnen etwas, ich versuche es trotzdem.«
»Meinen Sie, Sie könnten uns den Weg zeigen?«, wollte Emma von MacLean wissen.
»Tut mir Leid, ich reise morgen in aller Herrgottsfrühe mit dem Luftkissenboot ab.« MacLean erklärte ihnen weiter, dass sie den Aufstieg durchaus alleine schaffen würden, wenn sie früh genug aufbrächen, um der größten Sonnenhitze zu entgehen.
»Sie sind ein Schatz.« Emma tätschelte mit mütterlicher Geste MacLeans Wange.
Er quittierte das mit einem Grinsen, bewunderte ihren Mut, während sie sich auf dem Weg entfernten, der vor dem Kloster entlang der Kaimauer verlief. Sie kamen an Angelo vorbei, der soeben aus der Stadt zurückkehrte.
Der Mönch begrüßte MacLean, dann drehte er sich zu dem Ehepaar um. »Haben Sie die Amerikaner aus Texas kennen gelernt?«
MacLeans Lächeln verwandelte sich in ein verwirrtes Stirnrunzeln. »Woher wissen Sie, wer sie sind?«
»Sie sind gestern früh vorbeigekommen. Sie unternahmen gerade Ihren Spaziergang.« Er deutete auf die alte Stadt.
»Das ist seltsam. Sie taten so, als sei das heute ihr erster Tag hier.«
Angelo zuckte die Achseln. »Vielleicht vergisst man das ein oder andere, wenn man älter wird.«
Plötzlich kam MacLean sich wie die angebundene Ziege in seinem Traum vor. Ein eisiges Gefühl machte sich in seiner Magengrube breit. Er entschuldigte sich und ging zurück auf sein Zimmer, wo er sich einen großzügigen doppelten Ouzo einschenkte.
Wie einfach wäre es gewesen. Sie wären auf den höchsten Punkt des Felsens gestiegen und hätten ihn gebeten, sich dicht am Rand zu einem Foto aufzustellen. Ein heftiger Schubser, und schon hätte er sich auf direktem Weg abwärts befunden.
Ein weiterer Unfall. Ein weiterer toter Wissenschaftler.
Kein schwieriges Unterfangen. Nicht einmal für eine ausgesprochen nette alte Geschichtslehrerin.
Er griff in den Sack, den er für seine getragene Wäsche benutzte. Auf seinem Boden befand sich der Umschlag voller allmählich vergilbender Zeitungsausschnitte, die er jetzt auf dem Tisch ausbreitete.
Die Schlagzeilen waren anders, aber das Thema jeder Meldung war das gleiche.
WISSENSCHAFTLER STIRBT BEI AUTOUNFALL. WISSENSCHAFTLER KOMMT BEI UNFALL MIT FAHRERFLUCHT UMS LEBEN. WISSENSCHAFTLER TÖTET EIGENE EHEFRAU UND BEGEHT ANSCHLIESSEND SELBSTMORD. WISSENSCHAFTLER ERLEIDET TÖDLICHEN SKIUNFALL.
Jedes der Opfer hatte innerhalb des Projekts gearbeitet. Er las erneut den Brief mit der Aufforderung: »Fliehen Sie, sonst müssen Sie sterben!« Dann legte er den Ausschnitt aus der Herald Tribune zu den anderen und begab sich zum Empfangstisch des Klosters. Angelo blätterte gerade einen Stapel Reservierungen durch.
»Ich muss abreisen«, erklärte MacLean.
Angelo war sichtlich geknickt. »Das tut mir Leid. Und wann?«
»Heute noch.«
»Unmöglich. Vor morgen geht kein Luftkissenboot oder Bus.«
»Trotzdem, ich muss weg, und ich bitte Sie, mir zu helfen. Ich bezahle Sie auch angemessen dafür.«
Ein trauriger Ausdruck trat in die Augen des Mönchs. »Ich würde es aus Freundschaft tun und nicht für Geld.«
»Tut mir Leid«, entschuldigte MacLean sich. »Ich bin ein wenig nervös.«
Angelo war nicht dumm.
»Sind daran diese Amerikaner schuld?«
»Ein paar schlimme Leute sind hinter mir her. Möglicherweise wurden diese Amerikaner losgeschickt, um mich zu suchen. Ich war so dumm und habe ihnen erzählt, ich hätte eine Überfahrt auf dem Luftkissenboot gebucht. Ich bin nicht sicher, ob sie alleine hier sind. Vielleicht ist jemand mitgekommen, der am Tor Wache hält.«
Angelo nickte. »Ich kann Sie mit einem Boot zum Festland bringen. Und Sie werden ein Auto brauchen.«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten eins für mich mieten«, sagte MacLean. Er reichte Angelo seine Kreditkarte, die er bisher nicht benutzt hatte, weil er wusste, dass sie zurückverfolgt werden konnte.
Angelo rief die Autovermietung auf dem Festland an. Er redete einige Minuten lang, dann legte er auf. »Es ist alles arrangiert. Sie legen die Schlüssel in den Wagen.«
»Angelo, ich weiß nicht, wie ich das wieder gutmachen kann.«
»Keine Wiedergutmachung. Spenden Sie das nächste Mal, wenn Sie wieder in eine Kirche kommen, reichlich.«
MacLean nahm in einem kleinen, unscheinbaren Café ein leichtes Abendessen ein. Dabei ertappte er sich, wie er wachsam die anderen Tische beobachtete. Der Abend verstrich ohne besondere Vorkommnisse. Auf dem Rückweg zum Kloster blickte er mehrmals über die Schulter.
Das Warten war eine Qual. Er kam sich in seinem Zimmer vor wie eingesperrt, aber er sagte sich, dass die Wände mindestens dreißig Zentimeter dick waren und die Tür wenigstens für einige Zeit einem Rammbock standhalten würde. Ein paar Minuten nach Mitternacht vernahm er ein leises Klopfen an der Tür.
Angelo nahm seine Reisetasche und ging voraus an der Kaimauer entlang zu einer Treppe, die zu einer aus dem Uferfelsen herausgehauenen Plattform hinunterführte. Sie wurde gerne von Schwimmern benutzt, die mit besonderer Vorliebe von dort mit einem Kopfsprung ins Meer tauchten. Im Licht einer Taschenlampe konnte MacLean ein kleines Motorboot erkennen, das an der Plattform vertäut war. Sie stiegen in dieses Boot. Angelo griff gerade nach der Bootsleine, als auf der Treppe leise Schritte erklangen.
»Wollen Sie eine kleine Nachtfahrt unternehmen?«, fragte die liebenswürdige Stimme von Emma Harris.
»Du glaubst doch nicht etwa, dass Dr. MacLean abreisen wollte, ohne sich zu verabschieden«, sagte ihr Mann.
Nach seiner ersten Überraschung fand MacLean die Sprache wieder. »Wo ist Ihr texanischer Akzent geblieben, Mr. Harris?«
»Ach, der. Nicht besonders authentisch, das muss ich zugeben.«
»Ärgere dich nicht, Liebes. Er war gut genug, um Dr. Mac-Lean zu täuschen. Allerdings muss ich auch zugeben, dass wir ziemlich viel Glück bei unserem Auftrag hatten. Wir saßen gerade in diesem hübschen kleinen Café, als Sie zufälligerweise vorbeikamen. Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie uns gestatteten, Sie zu fotografieren, damit wir Ihr Bild mit dem Foto in unseren Akten vergleichen konnten. Wir machen nur sehr ungern Fehler.«
Ihr Ehemann kicherte onkelhaft. »Das erinnert mich an das Sprichwort, ›Komm doch in mein Haus …‹«
»›… sagte die Spinne zur Fliege.‹«
Sie brachen in schallendes Gelächter aus.
»Sie sind von der Firma hierher geschickt worden«, stellte MacLean fest.
»Es sind sehr gescheite Leute«, meinte Gus. »Sie wussten, dass Sie nach jemandem Ausschau halten würden, der aussieht wie ein Gangster.«
»Diesen Fehler haben schon viele Leute gemacht«, sagte Emma, und ihre Stimme hatte einen traurigen Klang. »Aber dadurch bleiben wir ganz gut im Geschäft, nicht wahr, Gus? Nun, der Abstecher nach Griechenland hat sich wirklich gelohnt. Es war sehr schön, aber alle guten Dinge haben irgendwann ein Ende.«
Angelo hatte die Unterhaltung mit verwirrter Miene verfolgt. Er war sich der Gefahr, in der sie schwebten, nicht im Geringsten bewusst. Ehe MacLean ihn daran hindern konnte, streckte er den Arm aus, um das Boot loszubinden.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Wir müssen aufbrechen.«
Das waren die letzten Worte, die er sprach.
Das gedämpfte Plopp einer mit Schalldämpfer versehenen Pistole erklang, und eine rote Feuerzunge leckte in die Dunkelheit. Angelo presste eine Hand an seine Brust und gab einen gurgelnden Laut von sich. Dann kippte er vom Boot ins Wasser.
»Einen Mönch zu erschießen, bringt Unglück, meine Liebe«, sagte Gus zu seiner Frau.
»Er trug keine Kutte«, wehrte sie sich mit vorwurfsvollem Unterton. »Wie hätte ich es also wissen sollen?«
Ihre Stimmen klangen hart und spöttisch.
»Kommen Sie, Dr. MacLean«, sagte Gus. »Auf uns wartet ein Automobil, um uns zum Firmenflugzeug zu bringen.«
»Sie wollen mich nicht töten?«
»Oh nein«, sagte Emma, nun wieder die völlig harmlose Touristin. »Mit Ihnen hat man andere Pläne.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das werden Sie schon, mein Lieber. Das werden Sie schon.«
3
Frankreich, Alpen
Vor der Kulisse aus zerklüfteten Berggipfeln erschien der leichte Aerospatiale-Alouette-Hubschrauber so unbedeutend wie eine Mücke. Während der Helikopter sich einem Berg näherte, dessen Gipfel von drei unterschiedlich großen Kuppeln gekrönt war, tippte Hank Thurston, der auf dem vorderen Passagiersitz saß, dem Mann neben ihm auf die Schulter und deutete durch die Plexiglaswölbung der Führerkanzel nach unten.
»Das ist ›Le Dormeur‹«, sagte Thurston, wobei er die Stimme hob, damit er beim Lärm der kreisenden Rotorblätter zu verstehen war. »›Der Schläfer.‹ Sein Profil soll angeblich dem Gesicht eines auf dem Rücken liegenden schlafenden Mannes ähnlich sehen.«
Thurston war Ordinarius für Glaziologie an der Iowa State University. Obgleich der Wissenschaftler schon weit in den Vierzigern war, strahlte sein Gesicht eine jungenhafte Begeisterung aus. Daheim in Iowa sorgte Thurston dafür, dass er stets glatt rasiert und sein Haar ordentlich geschnitten war, doch schon nach wenigen Tagen vor Ort glich er mehr und mehr einem Buschpiloten. Er unterstützte diesen Eindruck, indem er eine Pilotensonnenbrille trug und sein dunkelbraunes Haar so lang wachsen ließ, dass sich erste graue Strähnen zeigten, und indem er sich nur ab und zu rasierte, sodass sein Kinn gewöhnlich mit Stoppeln bedeckt war.
»Künstlerische Freiheit«, sagte der Passagier, Derek Rawlins. »Ich kann die Stirn, die Nase und das Kinn erkennen. Der Anblick erinnert mich an den Old Man of the Mountain in New Hampshire, ehe er auseinanderbrach, nur mit dem Unterschied, dass das Profil hier eine horizontale und keine vertikale Position einnimmt.«
Rawlins war Journalist und schrieb für das Outside-Magazin. Zwar war er erst Ende zwanzig, doch mit seiner ernsthaften optimistischen Ausstrahlung und den adrett gestutzten blonden Haaren und einem genauso sorgfältig gepflegten Bart ähnelte er viel eher als Thurston einem Universitätsprofessor.
Die kristallene Klarheit der Luft schuf eine Illusion von Nähe und erweckte den Anschein, als sei der Berg nur eine Armeslänge weit weg. Nachdem er einige Male über den Felsnadeln gekreist war, legte der Helikopter sich leicht auf die Seite, schwang sich über einen zerklüfteten Felsgrat und tauchte in eine Senke von mehreren Kilometern Durchmesser hinunter. Der Boden der Senke war mit einem nahezu perfekt kreisrunden See bedeckt. Trotz der sommerlichen Jahreszeit trieben auf der spiegelglatten Oberfläche Eisbrocken so groß wie VW Beetles.
»Lac du Dormeur«, sagte der Professor. »In der letzten Eiszeit von einem zurückweichenden Gletscher geschaffen und jetzt mit Gletscherwasser gespeist.«
»Das ist der größte Martini on the Rocks, den ich je gesehen habe«, verkündete Rawlins.
Thurston lachte. »Er ist so klar wie bester Gin, aber man findet auf dem Grund ganz bestimmt keine Olive. Dieses große rechteckige Gebilde, das auf der dem Gletscher abgewandten Seite in den Felsen hineingesprengt und -gebaut wurde, ist das Kraftwerk. Die nächste Stadt liegt auf der anderen Seite des Bergzugs.«
Der Helikopter flog über ein breites, stabil aussehendes Schiff hinweg, das unweit des Seeufers ankerte. Kräne und Ladebäume ragten vom Deck des Schiffs in die Höhe.
»Was ist da unten im Gange?«, wollte Rawlins wissen.
»Irgendeine archäologische Untersuchung«, antwortete Thurston. »Das Schiff muss auf dem Fluss heraufgekommen sein, der das überflüssige Wasser aus dem See ableitet.«
»Ich prüfe das später nach«, sagte Rawlins. »Vielleicht kann ich meinem Redakteur eine Gehaltserhöhung aus dem Kreuz leiern, wenn ich mit zwei Storys zum Preis von einer zurückkomme.« Er betrachtete einen breiten Eisstrom, der die Lücke zwischen zwei Bergen ausfüllte. »Donnerwetter! Das muss unser Gletscher sein.«
»Jawohl. La Langue du Dormeur. ›Die Zunge des Schläfers.‹«
Der Hubschrauber überquerte den Strom aus Eis, der durch ein breites Tal zum See floss. Zerklüftete, mit Schnee überzuckerte Wälle aus schwarzem Gestein engten den Gletscher von beiden Seiten ein und verhalfen ihm so zu einer gerundeten Spitze. Die Ränder des Eisfeldes waren dort ausgefranst, wo der Strom auf Vorsprünge und Spalten traf. Das Eis selbst hatte einen bläulichen Farbton, und seine Oberfläche war so rissig wie die vom Durst ausgedörrte Zunge eines in der Wildnis verschollenen Goldsuchers.
Rawlins beugte sich vor, um mehr erkennen zu können. »Der Schläfer sollte mal einen Arzt aufsuchen. Er leidet offensichtlich unter Angina.«
»Wie Sie schon meinten, künstlerische Freiheit«, sagte Thurston. »Halten Sie sich fest. Wir landen gleich.«
Der Helikopter schoss über die vordere Kante des Gletschers, und der Pilot legte die Maschine in eine langsame Kurve. Sekunden später berührten die Kufen einen braunen Grasstreifen ungefähr sechzig Meter vom Seeufer entfernt.
Thurston half dem Piloten, eine Reihe Kartons aus dem Helikopter auszuladen, und empfahl Rawlins, sich so lange die Füße zu vertreten und sich ein wenig umzuschauen. Der Reporter ging hinunter zum Wasser. Der See wirkte in seiner totalen Ruhe geradezu magisch. Kein Lufthauch kräuselte die Wasseroberfläche, die aussah, als wäre sie fest genug, dass man sie zu Fuß überqueren konnte. Er warf einen Stein, um sich zu überzeugen, dass der See nicht zugefroren war.
Rawlins Blick wanderte von den sich ausbreitenden Kreisen zu dem Schiff, das etwa eine Viertelmeile vom Ufer entfernt ankerte. Er erkannte die typische blaugrüne Farbe des Rumpfs sofort. Im Zuge seiner jeweiligen Reportagen war er des Öfteren Schiffen in der gleichen Farbe begegnet. Auch ohne die Initialen NUMA, die in balkengroßen Lettern auf dem Rumpf zu lesen waren, hätte er gewusst, dass das Schiff der National Underwater and Marine Agency gehörte. Er fragte sich, was ein NUMA-Schiff an diesem abgelegenen Ort so weit vom nächsten Ozean entfernt zu suchen hatte.
Hier gab es sicherlich eine unerwartete Story, doch die würde warten müssen. Thurston rief seinen Namen. Ein ramponierter Citroën 2CV schaukelte in einer dichten Staubwolke auf den gelandeten Hubschrauber zu. Das winzige Automobil kam dicht neben dem Helikopter schlingernd zum Stehen, und ein Mann, der eher einem Berggeist ähnelte, wand sich aus dem Fahrersitz wie ein Wesen, das aus einem deformierten Ei schlüpft. Er war ziemlich klein, hatte einen dunklen Teint, einen schwarzen Bart und lange Haare.
Der Mann ergriff Thurstons Hand und bearbeitete seinen Arm wie einen Pumpenschwengel. »Es ist wunderbar, dass Sie wieder zurück sind, Monsieur le professeur. Und Sie müssen dieser Journalist, Monsieur Rawlins, sein. Ich bin Bernard LeBlanc. Herzlich willkommen.«
»Danke, Dr. LeBlanc«, erwiderte Rawlins. »Ich habe mich sehr auf meinen Besuch gefreut. Ich kann es kaum erwarten, mich über Ihre Arbeit hier zu informieren.«
»Dann kommen Sie mit.« LeBlanc bemächtigte sich der Reisetasche des Reporters. »Fifi wartet schon.«
»Fifi?« Rawlins schaute sich suchend um, als erwartete er, eine Tänzerin aus den Folies-Bergère auftauchen zu sehen.
Thurston deutete respektlos mit dem Daumen auf den Citroën. »Fifi ist der Name von Bernies Rostlaube.«
»Und warum sollte ich meinem Wagen nicht den Namen einer Frau geben?«, fragte LeBlanc und spielte den Beleidigten. »Sie ist treu und fleißig. Und auf ihre eigene spezielle Art und Weise bildschön.«
»Das reicht mir völlig«, sagte Rawlins. Er folgte LeBlanc zum Citroën und setzte sich auf den Rücksitz. Die Kisten mit dem Nachschub wurden auf dem Dachgepäckträger befestigt. Die anderen Männer stiegen vorne ein, und LeBlanc lenkte Fifi zum Fuß des Berges, der die rechte Seite des Gletschers flankierte. Während der Wagen seinen Aufstieg auf einer Schotterstraße in Angriff nahm, hob der Helikopter ab, gewann über dem See schnell an Höhe und verschwand hinter dem nächsten Felsgrat.
»Wissen Sie, welche Untersuchungen wir in unserem subglazialen Labor durchführen, Monsieur Rawlins?« LeBlanc drehte den Kopf und blickte über die Schulter nach hinten.
»Nennen Sie mich Deke. Ich habe das Infomaterial gelesen und weiß, dass Ihre Einrichtung in etwa dem Labor im Svartisengletscher in Norwegen ähnelt.«
»Richtig«, meldete Thurston sich zu Wort. »Das Svartisen-Labor befindet sich zweihundert Meter unter dem Eis. Wir hingegen sind bei gut zweihundertfünfzig Meter. Bei beiden Labors wird das Schmelzwasser des Gletschers in eine Turbine geleitet, die Strom erzeugt. Als die Techniker die Wasserleitungen bohrten, haben sie unter dem Gletscher einen zusätzlichen Tunnel geschaffen, in dem unser Observatorium untergebracht ist.«
Der Wagen fuhr jetzt durch einen Wald verkrüppelter Fichten. LeBlanc lenkte das Fahrzeug scheinbar sorglos über den schmalen Fahrweg. Manchmal trennten nur wenige Zentimeter die Räder vom Absturz ins Bodenlose. Im gleichen Maße, wie der Straßenverlauf steiler wurde, begann der kleine Motor des Citroën angestrengter zu keuchen und zu pfeifen.
»Das klingt, als würde Fifi allmählich zu alt für solche Abenteuer«, stellte Thurston fest.
»Es kommt nur auf ihr Herz an«, erwiderte LeBlanc. Trotzdem krochen sie kaum schneller als eine Schildkröte hinauf. Als die Straße endete, stiegen sie aus dem Wagen, und LeBlanc reichte jedem von ihnen eine Rückentrage mit Schultergurten. Auf jede Trage wurde eine Kiste mit Vorräten geschnallt.
Thurston entschuldigte sich. »Tut mir Leid, Sie als Sherpa zu missbrauchen. Wir hatten Vorräte für die gesamten drei Wochen eingeflogen, die wir hier sind, aber wir haben unseren fromage und den vin schneller als erwartet verputzt und daher die Gelegenheit Ihres Besuchs dazu benutzt, Nachschub herzubringen.«
»Kein Problem«, sagte Rawlins und grinste nachsichtig. Dabei schob er seine Trage gekonnt hin und her, damit ihr Gewicht sich gleichmäßig auf seine Schultern verteilte. »Ich habe früher die Hütten in den White Mountains in New Hampshire mit Lebensmitteln versorgt, ehe ich in die Zunft der Lohnschreiber eintrat.«
LeBlanc ging auf einem schmalen Weg voraus, der etwa hundert Meter durch eine Ansammlung mickriger Fichten anstieg. Oberhalb der Baumgrenze bestand der Untergrund zunehmend aus flachen Gesteinsplatten. Auf dem Fels waren gelbe Farbflecken angebracht, um den Weg zu markieren. Nicht lange, und der Weg wurde steiler und glatter, wo das Gestein von tausenden von Jahren glazialen Bewegungsdrangs abgeschliffen worden war. Schmelzwasser machte den glatten Untergrund glitschig und schwer begehbar. Von Zeit zu Zeit überquerten sie Spalten, die mit nassem Schnee gefüllt waren.
Der Reporter keuchte und ächzte vor Anstrengung und aufgrund des in dieser Höhe spürbaren Sauerstoffmangels. Er seufzte erleichtert, als sie auf einer fast waagerechten Platte vor einer schwarzen, nahezu senkrecht aufsteigenden Felswand Halt machten. Sie befanden sich knapp siebenhundert Meter oberhalb des Sees, der im Licht der Mittagssonne matt zu ihnen heraufschimmerte. Der Gletscher selbst war durch einen Felsvorsprung vor ihren Blicken verborgen, aber Rawlins konnte die eisige Kälte spüren, die er ausstrahlte, als ob jemand die Tür eines riesigen Kühlschranks offen gelassen hätte.
Thurston deutete auf eine in Beton eingelassene runde Öffnung am Fuß der senkrechten Felswand. »Willkommen im Eispalast.«
»Das sieht eher aus wie ein Abzugskanal«, sagte Rawlins.
Thurston lachte und ging ein wenig in die Knie. Er zog den Kopf ein, während er den Wellblechtunnel betrat, der einen Durchmesser von etwa anderthalb Metern hatte. Die anderen folgten ihm in geduckter Haltung, zu der sie durch ihre Traglasten gezwungen wurden. Dieser mühsame Abschnitt endete nach gut dreißig Metern, und sie gelangten in einen großzügigen, matt erleuchteten Tunnel. Die vor Nässe glänzenden orangefarbenen Wände aus metamorphem Gestein waren von schwarzen Streifen dunklerer Minerale durchzogen.
Rawlins sah sich staunend um. »Hier könnte man sogar mit einem Lastwagen durchfahren.«
Und hätte nach allen Seiten noch eine Menge Platz. »Der Tunnel ist zehn Meter hoch und zehn Meter breit«, bestätigte Thurston seine Einschätzung.
»Zu schade, dass man Fifi nicht durch die Röhre bugsieren kann«, meinte Rawlins.
»Daran haben wir auch schon gedacht. Unweit des Kraftwerks befindet sich ein Eingang, der groß genug ist für ein Automobil, aber Bernie hat Angst, dass Fifi sich bei der Fahrt durch diesen Tunnel Beulen holt.«
»Fifi hat eine sehr empfindliche Konstitution«, kommentierte LeBlanc indigniert diese Bemerkung.
Der Franzose öffnete einen Plastikschrank, der vor der Tunnelwand stand. Er verteilte Gummistiefel und Schutzhelme mit Lampen auf den Schirmen.