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Ob Eltern oder Pädagog/in: Alle möchten, dass das Kind sich zu einem selbständigen, selbstbewussten und kreativen Menschen entwickelt. Es soll empathisch sein, sich eine eigene Meinung bilden und diese sachlich und friedvoll vertreten. Pädagog/innen wie Eltern haben oft das Gefühl, diesem Anspruch in der Begleitung der Kinder nicht gerecht werden können: zu viele andere Aufgaben, zu wenig Zeit. Doch es gibt einen einfachen Weg, trotz vieler Arbeit dem Kind zu Größe, innerer Stärke und freier Entfaltung zu helfen: Bei sich selbst anfangen statt beim Kind. Veronika Seiler hat 1997 eine Kita gegründet. Das Buch beschreibt die Art, Kinder entfaltend zu begleiten statt zu erziehen. In diesem Buch werden Methoden beschrieben, Kinder auf eine Art zu begleiten, die der begleitenden Erwachsenen selbst Power und Entspannung ermöglicht. Das Buch erzählt einerseits Beispiele aus dem reichhaltigen Kita-Alltag der Autorin, als auch aus ihrem Familienleben mit vier Kindern. Daneben wird die Methode der Telos-Entfaltung (Grundlage Individualpsychologie Alfred Adlers) anschaulich erklärt. Ergänzende Impulsfragen und konkrete Übungen dienen dazu, die neuen Erkenntnisse sofort in die eigene Begleitung von Kindern zu integrieren. Top-Erkenntnisse aus dem Buch: * Kinder begleiten statt erziehen: Welche innere Grundhaltung ermöglicht dies, ohne den eigenen Wert zu verlieren? Und wie kann man dies erlernen? * Groß werden: Was zeichnet das Kind aus? Was zeichnet den/die begleitende/n Erwachsene/n aus? Welche Möglichkeiten gibt es, das Leben gemeinsam zu gestalten, so dass beide, Kind und Erwachsene/r, ihre Bedürfnisse und Stärken lebendig werden lassen können? * Halt geben: Welche Grenzen sind nötig, um dem Kind sicheren Halt zu geben? Wie werden diese vermittelt, sodass das Kind frei-willig mitwirkt? * Harmonie: Wie vermittelt man Kindern lebendigen Frieden? Wie gelingt es, Kinder-/Geschwister-Streit in harmonische Bahnen zu lenken? * Ermutigung: Wie formuliert man 'lobende' Worte, ohne dass das Kind danach süchtig wird? Wie schafft man Möglichkeiten, in denen das Kind sich beweisen kann? * Den inneren Raum gestalten: Warum ist es wichtig, sich vorab zu entscheiden? Wie konkret plant der/die Kinderbegleiter/in den Kinder-Alltag? * Entfaltung leben: Die 'Telos-Blume der Freien Entfaltung. Freies Schöpfen!' als Hilfe zur Erkenntnis; welcher Bereich braucht eine Weitung, damit Kind/Erwachsener/Situation sich entfalten kann? Das Buch ist für alle Menschen, die Kinder begleiten.
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Seitenzahl: 314
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Erziehen war gestern, Kinder begleiten ist heute.
Kinder begleiten ist das: Weil der Koch in der Kita krank geworden ist, kochen die Kinder heute das Mittagessen mit den Pädagog*innen selbständig. Ein 4-jähriges Kind bemerkt die vergessenen Gurken: „Ach den Gurkensalat müssen wir ja auch noch machen!“, macht sich ans Werk, bereitet den Gurkensalat absolut selbständig zu. Er schmeckt sehr gut! Kinder begleiten ist auch das: Das 3-jährige Kind zieht sich selbständig für draußen an, übersieht aber, dass es heute trotz Sonne sehr kalt ist. Nach wenigen Minuten geht es, Dank des Finger-Nasen-Testes, freiwillig ins Haus und zieht sich eine Jacke über. Kinder begleiten ist auch das: Kinder streiten sich! Es geht verbal hoch her. Eines der Kinder holt das 5-jährige „Friedensbegleiter-Kind“ zur Hilfe. Dieses bringt die Kinder erst mal in eine Verhandlungs-Basis, hört zu, macht wenige verständnisvolle Worte, sodass die beteiligten Kinder ihren Streit nun alleine lösen können. - Das ist Telos-Entfaltung. Beherzt Halt geben an der richtigen Stelle und Entfaltung leben.
Ich beschreibe die Atmosphäre der Ermutigung anhand praktischer Beispiele aus dem Alltag des Telos-Kinderhauses, wie ich sie tagtäglich in meiner Arbeit erlebe – gleichzeitig erzähle ich die Geschichte meiner von mir gegründeten Kita, wie sie als kleine Kindereinrichtung zur Kita mit 60 Kindern im offenen Konzept wurde. Situationen aus meinem eigenen Familienleben als Mutter von vier Kindern, dem Alltag von Familien aus meiner Kita und meinen Coachings zeigen, dass diese Art Kinder zu begleiten, ebenso das Familienleben bereichern: Weniger Stress, mehr Mithilfe, mehr Einzigartigkeit, viel Entfaltung.
Das Buch ist für Mutige: Praktische Anregungen, Tipps und Übungen laden zum Überdenken des eigenen Verhaltens ein.
Ich wende mich in diesem Buch bewusst gleichzeitig sowohl an Pädagog*innen wie an Eltern. Es ist doch wundervoll, dass wir durch die Kinder jeden Tag die Möglichkeit erhalten, uns selbst besser kennenzulernen und unser Verhalten zu entfalten! Jemand sagte, das Buch sei spannend, wie ein Roman…
Mit einem Vorwort von Anna Berndl, Fachberatung Kindertageseinrichtungen im Paritätischen Bezirksverband Oberbayern. Von Herzen Danke dafür!
Kinder sollen sich großartig fühlen dürfen! Denn sie sind es.
Inhalt
Vorwort (Anna Berndl)
Das Leben gestalten
Ich bin wer geworden
So wen wie dich gibt es hier schon
Das Leben klingt in mir
„Schwierigkeiten willkommen heißen“ – die Kunst der Entscheidung
Recht zeitig das Fundament bauen
Warte Kind, ich muss mich nur noch schnell gesundmachen
Du gibst mir Schönheit, weil du schön bist
Bewusst handeln - vorher!
Du kannst, du darfst – tue es in deiner Art
Ich will auf meine eigene Nase fallen!
Ich entfalte mich! Du auch?
Lass mich doch in Ruhe mit den engen Grenzen!..........
Blumengleich entfalten wir uns
In meiner Tätigkeit als Fachberaterin begleite ich viele Träger und Leitungen von Kindertageseinrichtungen. Dabei erlebe ich häufig, wie sehr die tägliche Arbeit in den Kitas von Herausforderungen geprägt ist: der Alltagsstress, personelle Engpässe, Sorgen um die Finanzierung und organisatorische Zwänge – all das lässt die eigentliche Essenz dieser wundervollen Tätigkeit manchmal in den Hintergrund rücken. Umso bewundernswerter ist es, wie es diesem Buch gelingt, den Fokus konsequent auf das Wesentliche zurückzuholen: die Begleitung von Kindern ins Leben. Daher ist es mir eine große Freude und Ehre, ein Vorwort für dieses Buch meiner geschätzten Kollegin Veronika Seiler, die Gründerin, Trägerin und Leiterin des Telos-Kinderhauses und des Kindergartens im Naturhaus zu schreiben.
In einer Welt, die sich ständig verändert, sind auch die Anforderungen an Eltern und Pädagog*innen einem stetigen Wandel unterworfen. Früher mag die Erziehung als ein eher autoritärer Prozess verstanden worden sein – eine Aufgabe, bei der Erwachsene Wissen und Werte an die Jüngeren weitergaben, während diese sich passiv anpassten. Doch die heutigen Zeiten fordern eine andere Herangehensweise. Die heutige Zeit, geprägt von beständiger Transformation, zunehmender Komplexität, von technologischen Fortschritten, aber auch immer knapper werdenden Ressourcen, beeinflusst nicht nur die Erwachsenenwelt, sondern hat auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Lebensrealität von Kindern. Die Welt bietet ihnen einerseits unzählige Möglichkeiten, andererseits aber auch hohe Anforderungen an ihre Anpassungsfähigkeit, Resilienz und Entwicklung.
Dieses Buch erzählt die beeindruckende Geschichte des Telos-Kinderhauses und des Kindergartens im Naturhaus, geprägt von einer stetigen Weiterentwicklung über Jahrzehnte hinweg. Es ist ein Buch über eine neue Art der Begleitung von Kindern, die Telos-Entfaltung. Und es ist eine Einladung, über die traditionelle Vorstellung von Bildung, Erziehung und Betreuung nachzudenken und eine neue Perspektive zu entdecken – eine Perspektive der Ermutigung, des Vertrauens, des Zutrauens und Einzigartigkeit der Gemeinschaft. Ein besonderer Schwerpunkt dieses Buches liegt auf der Stärkung der Kinder in ihrem „Sein“ als eine zentrale Aufgabe von Pädagog*innen – oder Kinder-Begleiter*innen, wie sie in der Telos-Entfaltung genannt werden. Es geht nicht darum, Kinder zu formen oder in vorgefertigte Modelle zu pressen, sondern sie in ihrer einzigartigen Identität zu unterstützen. Dieses Buch zeigt uns, wie wir Räume schaffen können, in denen Kinder Halt finden und zugleich die Freiheit spüren, sie selbst zu sein. Denn stark werden Kinder dann, wenn sie sowohl Geborgenheit als auch die Möglichkeit zur Entfaltung erleben dürfen. Die Lebensbegleitung von Kindern ist eine verantwortungsvolle und zugleich wunderschöne Aufgabe. Sie fordert von uns, aufmerksam hinzusehen, zuzuhören und an der Seite des Kindes zu stehen – manchmal als Anker, manchmal als Wind in seinen Segeln – und immer mit der Überzeugung, dass jedes Kind bereits alles mitbringt, was es braucht, um seinen Weg zu gehen.
Die Kapitel, die vor Ihnen liegen, sind ein Plädoyer für eine Pädagogik, die Kinder nicht formt, sondern ihre individuellen Stärken erkennt und wachsen lässt. Es zeigt, wie es gelingen kann, auch inmitten zahlreicher Herausforderungen die Balance zwischen strukturellen Anforderungen und der individuellen Begleitung von Kindern und Familien zu wahren. Die Pädagogik, die Telos-Entfaltung, wird anhand von tiefgreifenden Überlegungen und alltagsnahen Fallbeispielen erläutert. Aufgezeigt werden neue Wege, die uns dazu anregen, unser pädagogisches Handeln und die Kraft der Entscheidungen immer wieder zu hinterfragen. Durch die Fülle an praktischen Beispielen, wird der Transfer des Konzepts der Telos-Entfaltung in die Praxis greifbar und nachvollziehbar – für Pädagog*innen genauso wie für Eltern. Seien Sie gespannt auf die „Blume der freien Entfaltung“, den „Finger-Nasen-Test“, die „Meisterbrief-Kinder“ und vieles mehr! Zusätzlich laden zahlreiche Reflexionsfragen dazu ein, die eigenen Gedanken, Glaubenssätze sowie Verhaltens- und Handlungsmuster weiterzuentwickeln. Diese persönliche Auseinandersetzung schafft die Basis für eine nachhaltige Veränderung im Umgang mit Kindern und in der eigenen pädagogischen Haltung.
Ich bin überzeugt, dass dieses Buch eine wertvolle Bereicherung für Pädagog*innen und Eltern ist, die einen Beitrag dazu leisten möchten, starke, selbstbewusste und empathische Persönlichkeiten heranwachsen zu sehen. Lassen Sie sich von diesem Buch inspirieren, Ihre Haltung zu überdenken, zu hinterfragen und zu erweitern. Die Reise von der Erziehung zur Begleitung ist nicht nur ein Wandel im Umgang mit Kindern, sondern auch ein Wachstum für uns selbst als Erwachsene. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und Entdecken. Und am Ende stellen vielleicht auch Sie sich die entscheidende Frage – formuliert in den Worten von Veronika Seiler: Erziehst du noch oder begleitest du schon?
Mit herzlichem Dank und großer Wertschätzung,
Anna Berndl
(Fachberatung Kindertageseinrichtungen und Ganztag im Paritätischen Bezirksverband Oberbayern)
Es war so ein heißer, stiller Sommertag, wie er in Gedichten beschrieben wird: Die Libellen summen über dem Gartenteich, die Grillen zirpen, die Luft steht still. Ich stand an der großen Brombeerhecke im Eingangsbereich der Gärtnerei. Man hatte mir, die ich körperlich untrainiert war wegen des vielen Abitur-Lernens der Monate zuvor, die leichte Tätigkeit des Brombeer-Erntens zugedacht. Von hier aus beobachtete ich durch die Hecke ein vielleicht 7-jähriges Kind. Es spielte an der altmodischen Gemüse-Wasch-Anlage. Behutsam drehte es das runde Gitter und kühlte nebenher seine Hände im zart plätschernden Wasser. Vielleicht sang es sogar vor sich hin… ja, das könnte sein. In diesem Moment fiel mir wieder ein, was ich ungefähr 11 Jahre vorher im Brustton der Überzeugung allen, die es wissen wollten, erzählt hatte: Ich gründe mal einen Kindergarten!
Das Kind stellt sich vor
„Ich bin ein Schöpfer-Kind.
Ich bin aufgewachsen in einer Atmosphäre der Großartigkeit.
Ich bin großartig.
Nun bin ich fünfundzwanzig oder ein bisschen mehr Jahre alt. Das, was man „Kindheit“ nennt, habe ich hinter mir. Ich bin der Kindheit nicht entwachsen – ich habe sie mitgenommen in jeden Tag meines Lebens.
Denn die Kindheit, die mir Raum und Zeit gab, ist nicht anders als jeder jetzige Tag meines Lebens.
Das, was man „Kindheit“ nennt, habe ich hinter mir – und vor mir – und in mir.
Ich bin Schöpfer meines Lebens. Jeden Tag und jeden Augenblick aufs Neue.“
Der Mensch hat die Möglichkeit, sich zu entscheiden - Vorwort
Es gibt einige Sätze, die mich schon eine lange Zeit meines Lebens begleiten. „Der Mensch ist ein Entscheidungen treffendes Wesen“ (Theo Schoenaker) ist einer dieser Sätze. Ebenso der Satz „Wer die Menschen für gut hält, macht sie besser“ (Alfred Adler). Oder dieser: „Wenn du wissen willst, was du willst, musst du schauen, was du tust“ (Rudolf Dreikurs). Und auch der von Theo Schoenaker „Mut zur Unvollkommenheit“. Diese Sätze sind aus dem Gedankengut der Individualpsychologie von Alfred Adler, der vor über 100 Jahren ein sehr wertschätzendes Menschenbild entwickelt hat.
Ich begleite seit vielen Jahren Kinder – mein Mann und ich haben vier erwachsene Kinder und als Gründerin, Leiterin und Trägerin von zwei Kitas habe ich bisher geschätzt 450 Kinder betreut. Alle diese Menschen, die jungen ebenso, wie die älteren, betrachte ich durch diese wertschätzenden Augen, denn ein Menschenbild ist nicht nur gemacht für „Kinder“ oder nur für „Erwachsene“ oder nur für „Senioren“, sondern eben für alle Menschen.
Immer wieder sprechen uns Besucher*innen in unseren Kitas an, weil ihnen auffällt, dass die Atmosphäre besonders friedlich ist. Laut sind die Kinder schon ab und zu, das gehört zum Wesen von fröhlichen Kindern dazu – jedoch sind sie oft konzentriert und fokussiert auf ihr Spielen und Arbeiten. Ohne sich wichtigmachen zu müssen. Sie müssen sich nicht wichtigmachen und besonders auffallen, weil wir sie wichtig nehmen – jedes Einzelne von ihnen. Das gelingt uns mal mehr und mal weniger. Grundlage ist die Individualpsychologie, die wir, mein Team und ich, über die Jahre noch mehr ins Potential gebracht haben. Diese Art, Kinder zu begleiten, heißt „Telos-Entfaltung“.
Mit diesem Buch möchte ich sowohl Menschen, die beruflich ein Stück Weg des Kindes mitgehen, als auch Menschen mit eigenen Kindern, einen Einblick geben in unsere Art, Kinder wertschätzend zu begleiten, sodass sie „groß und stark“ werden. Damit meine ich Kinder, die eigenständig ihre Einzigartigkeit lebendig werden lassen, die sozusagen aus dem Vollen schöpfen, die kreativ sind, die sich trauen, ihre Meinung sachlich zu vertreten, die die menschlichen Regeln einhalten, die für ein friedliches Zusammenleben stehen, die selber nachdenken und nach eigenen Lösungen suchen, die experimentieren und nicht gleich aufgeben, wenn es schwierig wird – kurz: die die Welt zu einer wunderschönen Welt machen!
Am Anfang jedes Kapitels lasse ich einen jungen Erwachsenen sprechen, der im Sinne der wertschätzenden Entfaltung begleitet wurde. Der junge Mensch blickt auf seine Kindheit zurück und bedankt sich bei den Menschen, die ihm dies ermöglicht haben. Wenn wir uns vorstellen, wir seien dieser Mensch gewesen, der dieses Kind begleitet hat, gestalten wir dadurch bereits die Art und Weise, wie wir in Zukunft Kinder begleiten. Wir erlauben uns, uns selbst zu entfalten. Das ist prinzipiell ein Wesenszug der Telos-Entfaltung: Wir fangen bei uns selbst an, dann erst kommt das Kind dran – egal, ob wir Kinder beruflich begleiten oder die Eltern des Kindes sind.
Die Worte des erwachsenen Kindes könnten auch die Worte meiner eigenen, der von mir gegründeten Kita, dem Telos-Kinderhaus in Utting, sein. Dieses ist mittlerweile fast 28 Jahre alt. Ein Kindergarten und eine Krippe bleiben gefühlt ewig jung. Die Kinder, die ein und aus gehen, werden nie älter: Sie kommen mit zwei oder drei Jahren und gehen mit spätestens 7 Jahren. Eine Kita hat das, was man Kindheit nennt, hinter sich, vor sich und in sich, jeden Tag. Das ist offensichtlich an den Kindern, die die Kita besuchen. Auch wenn es nun andere sind, als in den Vorjahren, sind es eben Kinder.
Uns Menschen geht es nicht anders, nur dass wir die Kindheit in uns nicht so offensichtlich sehen. Wir tragen das, was wir sind, was wir denken, was wir glauben, was wir als Kind gefühlt haben, in uns und handeln oft noch entsprechend diesen alten Gedanken, Glaubenssätzen und Gefühlen.
Wie schön ist es, wenn diese Gedanken, Gefühle und Glaubenssätze derart sind, dass sie einen Menschen durchs Leben tragen, über Schwierigkeiten hinwegfliegen lassen in dem Bewusstsein, dass der Mensch alles hat, um diese Notlagen bewältigen zu können: Eigene Stärken und Fähigkeiten, die Möglichkeit, sich bei anderen Hilfe zu holen, nachdenken und entscheiden, welche der Möglichkeiten wann sinnvoll und angebracht ist. Ja dass der Mensch auch alles hat, um eigene Ideen ins Leben bringen zu können, kreativ zu sein, andere Menschen mit seinen Ideen zu bereichern, geniale Erfindungen zu gestalten. Das ist das Ziel der Telos-Entfaltung: Sie möchte Kinder ins Leben begleiten, die selbst nachdenken und entscheiden können; die sich einfühlen können in alles, was lebendig ist und lebendig erscheint, die sich eine eigene Meinung bilden können und entsprechend ihrem Einfühlungsvermögen so handeln, dass es für alle und alles gut und hilfreich ist. Die Telos-Entfaltung möchte keine Kinder „erziehen“, die folgsam nicken und unüberlegt mitmachen, weil jemand ihnen sagt, dass dies nun so zu tun ist. Kinder sollen nicht automatisch Regeln befolgen.
Kinder sollen sich großartig fühlen dürfen! Denn sie sind es. Wir alle sind großartig! Wir alle haben unsere Geschichten, schöne und traurige, mutige und verletzende, geniale und normale. Und wir haben die Wahl der Entscheidungsfreiheit: Welchem Teil meiner Geschichte mag ich wie viel Gewicht geben? Welches Kapitel meines Lebensweges mag ich heilsam betrachten und Lösungen finden, wo dies möglich ist? Welche meiner, vielleicht aus der Kindheit stammenden, „immer, wenn… dann ich so…“Sätze mag ich liebevoll als zu mir gehörig anerkennen und aktiv das Beste draus machen? Dies gilt für alle Erwachsene und besonders für jene, die Kinder ins Leben begleiten: Eltern ebenso wie Menschen, die dies beruflich tun, Pädagog*innen, Lehrer*innen und so weiter.
Ich erzähle die Geschichte des Telos-Kinderhauses; von Kindern und Familien, von Pädagogen und Pädagoginnen, ich erzähle auch von Beispielen, die mir Eltern in Elterngesprächen oder in meinen Coachings erzählt haben – und immer geht es darum, aus Fehlern zu lernen, das Wundervolle zu erkennen und sich selbst zu entfalten. Die meisten Werkzeuge der Telos-Entfaltung sind im Kita-Alltag entstanden. Alle diese Tools geben wir als Anregungen in unseren Elterngesprächen in der Kita an die Eltern weiter – und immer wieder bekommen wir Rückmeldung, dass sie zuhause ebenso „Erfolg“ haben. Was bedeutet Erfolg in diesem Fall? Die Begleitung der Kinder wird entspannt; mit Kindern diskutieren bereitet Freude (weil es um die Sache geht und nicht um die Verletzungen); Kinder helfen von sich aus gerne mit; die Erwachsenen haben auch Zeit für sich und ihre eigenen Interessen; die Familienmitglieder wenden sich von der „Kultur der Fehler“ ab; die Eltern erkennen ihre eigenen Themen und klären diese – kurz: Kinderbegleiten wird als die wundervolle und absolut bereichernde Aufgabe erkannt und gelebt, die sie ist.
In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern den Mut, die eigene Entscheidung zu treffen und den Unterschied zwischen „Kinder erziehen“ und „Kinder begleiten“ ganz wahrzunehmen – und zu leben, wenn es für sie passt.
Veronika Seiler, November 2024
Freie Entscheidung
Ich habe die Wahl!
Habe ich die Wahl? Wo habe ich die Wahl, wo nicht?
Will ich mich als Opfer der Kinder/der Umstände in der Kita/ der Umstände in der Familie fühlen?
Welchen kleinen Umstand kann ich jetzt und heute anders machen?
Die Geschichte des Telos-Kinderhauses beginnt
… im Jahr 1997. Mein Mann und ich planten den Umzug in die kleine Gemeinde Utting. Seit dem Erlebnis in der Gärtnerei fünf Jahre zuvor hatte ich ein Jahr Praktikum in „meinem alten Kindergarten“, den ich als Kind besucht hatte, gemacht und anschließend Sozialpädagogik studiert, da es damals noch kein Studienfach „Kindheitspädagogik“ oder ähnliches gab. Es gab in meinem Jahrgang auch kein entsprechendes Hauptfach, insofern hatte ich als Schwerpunkt „Inklusion“ gewählt. „Kein Bedarf an neuen Kitas. Utting hat einen Kindergarten, das ist ausreichend.“, so war die Auskunft des damals zuständigen Bezirks von Oberbayern. Ich war nahe dran, meinen Kinderwunsch wieder einmal zu vergessen.
Eines Tages, wir wohnten nun ungefähr schon ein halbes Jahr in Utting, läutete unsere Nachbarin an der Tür. „Magst du nicht eine Kindergruppe eröffnen? Ich habe vor ein paar Jahren eine gehabt und werde nun immer wieder danach gefragt. Aber meine Kinder sind aus dem Alter raus.“ Eine Kindergruppe?! Ich? In Utting? Wo doch kein Bedarf ist?? Es begannen Wochen des Grübelns, Überlegens und schließlich des Planens. Doch, eine Kindergruppe wollte ich gründen!
Im Januar 1997, gleich nach den Weihnachtsferien, begann ich mit ungefähr acht Kindern an fünf Vormittagen in der unteren Wohnung unseres Hauses.
Die vielen guten Fügungen und die Zugeständnisse des netten Herrn der Regierung von Oberbayern und der aktiven zuständigen Sozialpädagogin unseres Dachverbandes, dem Paritätischen, taten neben meiner wohl guten Arbeit ihr übriges: Schon im September hatte ich Anmeldungen für 15 Kinder und stellte eine Kollegin ein.
Es gibt Dinge, von denen wir ganz tief in uns drin wissen, dass wir sie unbedingt leben wollen. Bei mir war das die Gründung eines Kindergartens. Andere Menschen haben andere „Lebensziele“. Manchmal träumen sie im Stillen davon… „Ach, wenn die Kinder endlich groß sind, dann…“. Natürlich gibt es Zeiten im Leben als Eltern, wo für die Umsetzung solcher „Träume“ wirklich keine Zeit ist. Nur: Diese Zeit ist echt kurz! Wenn wir es geschickt anfangen, dann bleibt für die ersten Schritte der Verwirklichung unserer Vision auch Zeit, wenn die Kinder sehr jung sind. Wichtig dafür ist es, sich unter anderem klar zu machen, wer mich dabei unterstützen kann, wenigstens für eine Stunde. Wer zum Beispiel den Haushalt machen kann, wenn das Baby schläft, während ich anfange, meinen Traum in die Tat umzusetzen. Manchmal reichen ein paar erste Notizen, um „echt“ zu beginnen. Wir dürfen Vertrauen haben, dass viele Kinder uns in ihrem Verhalten entgegenkommen, wenn wir beginnen, unseren Lebenstraum zu verwirklichen: Sie spüren intuitiv die Wichtigkeit des Projektes und tragen auf ihre Weise hilfreich bei – zum Beispiel, indem sie eine Stunde tief und fest schlafen. Wenn es uns dann gelingt, den Haushalt nicht überzubewerten, sondern einmal am Tag für das eigene Lebensziel zu verwenden, dann kann auch in der Zeit, in der die Kinder sehr jung sind, viel an Vorbereitung geschehen!
Ermutigung ist die Grundlage
Ermutigung ist mittlerweile in aller Munde, sogar die Politik sprach eine Zeitlang von ihrer Wichtigkeit. „Ermutigung“ ist auch der Fachbegriff der Individualpsychologie, die Alfred Adler (ein Zeitgenosse Siegmund Freuds) begründet hat. Sie war, mit all ihren praktischen und theoretischen Finessen auf der Basis der Individualpsychologie, unser Handwerkszeug von Anfang an.
„Ermutigung“ im Sinne der Individualpsychologie ist nicht Lob. Sie sieht das Kind, wie es ist, mit und ohne Fehler, mit und ohne körperliche oder seelische oder verhaltensmäßige Andersartigkeiten, mit geputzten Zähnen oder mit vor Wut und Trotz geröteten Augen, weil es die Zähne nicht putzen mag. „Ermutigung“ spricht nicht davon, dass das Kind „so toll die Zähne geputzt hat“. Das macht das Lob. Lob benennt eine Leistung, die das Kind „richtig“ gemacht hat. Etwas Falsches oder Nicht-Getanes wird nämlich nicht gelobt. Ein Kind, dass die Zähne nicht ordentlich oder gar nicht geputzt hat bekommt kein Lob.
„Ermutigung“ bekommt das Kind immer. Sie ist eher eine Lebenseinstellung, eine „bewegliche Haltung“ als ein Satz oder ein Belohnungsgummibärle. Es gibt sie immer, mit oder ohne geputzte Zähne. „Ermutigung“ geht davon aus, dass das Kind „es richtig machen will und zu gegebener Zeit richtig machen wird“. Das hat dann was mit dem eigenen Vertrauen in das Kind zu tun…
Er-Mut-igung bedeutet, selbst den Mut zu haben, eine Handlung ehrlich zu betrachten und dies klar zu kommunizieren; sich in jedem Moment zu erinnern, dass der, der etwas getan hat (das Kind zum Beispiel) immer und immer und in jedem Fall absolut liebenswert ist; niemals das Projekt, die „fertige Tat“, mit einer anderen zu vergleichen. Ermutigung bedeutet deshalb auch, mehr auf das „Wie“ zu schauen: Wie, auf welche Weise, in welcher Einstellung und inneren Haltung, wurde gehandelt? An einem Beispiel: Viele Kinder malen gerne und viel. Immer wieder bekomme ich Bilder geschenkt. Am „fertigen“ Bild sehe ich, auf welche Weise das Kind das Bild gemalt hat. Es gibt Bilder – egal, wie alt das Kind ist und auch egal, wie viel darauf gemalt ist – bei dem strahlt mir die Kraft und Intensität aus jedem Strich entgegen. Und es gibt andere Bilder, die sozusagen „gelangweilt“ bis hin zu „lieblos“ gemalt wurden. Und genau das spreche ich an: „Du warst ganz bei der Sache, als du maltest, ja?“, oder: „Wow, da leuchten mir die Farben ja nur so entgegen. Du magst bunte Farben, gell?“ – dann nickt das Kind innerlich bewegt. Oder: „Ich glaube, du hast dich beim Malen gerne mit deinen Freunden unterhalten, nicht wahr? Für das Bild war dann nicht mehr so viel Kraft da.“ Und auch in diesem Fall schaut mich das Kind mit großen Augen an. Manchmal sage ich auch: „Mal doch das Bild morgen noch weiter, wenn du magst“ und gebe es ihm ruhig zurück. In jedem Fall ist es also egal, ob das Kind ein „Kunstwerk“ gemacht hat oder nicht – ich gehe weniger auf das Bild selbst ein als auf die Art und Weise, wie es entstanden ist. Erst einen Moment später kann ich mir erklären lassen, was das Kind gemalt hat und so fort. Und es ist ja wundervoll, wenn sich Kinder beim Malen miteinander unterhalten… oder träumend aus dem Fenster schauen… oder statt des Malens die Stifte spitzen …oder einen Konflikt anzetteln und die Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, diesen Konflikt heute zu lösen…und so weiter.
Ermutigung ist nicht Lob
Mag ich loben (die Leistung hervorheben) oder ermutigen (die Schönheit des Wesens des Kindes benennen)?
Habe ich die Wahl?
Vertrauen
Vertrauen ist ein Wort, das sich so leicht dahinsagt. „Vertrauen“ begleitet mich schon fast mein ganzes Leben lang. Ich war vielleicht 17 Jahre alt, als ich nachts aufwachte, mein Tagebuch aufschlug, das Wort „Vertrauen“ hineinschrieb und sofort wieder weiterschlief. Vertrauen sollte wohl mein Motto werden. Unser Trägermotto wurde später eine Zeit lang „Vertrauen in die Entwicklungsmöglichkeiten des Lebens“. Noch später ließen wir die einschränkenden „… möglichkeiten“ weg. Vertrauen ins Leben.
Ich habe schon ziemlich verrückte Dinge angestellt, weil ich vertraute. Im Rückblick könnte ich auch sagen: „Mann, war ich leichtsinnig!“ Das herausragendste Ereignis war drei Jahre nach der Gründung des Telos-Kinderhauses, das übrigens in den Anfangsjahren „Telos-Kindergarten-Gruppen“ hieß, da es kein offizieller Kindergarten war: Es lief alles super, wir waren mittlerweile vier Pädagoginnen in Teilzeit. Es nahte der Sommer und damit wieder ein nächstes Kita-Jahr. Die Anmeldungen schwappten in diesem Jahr nur so herein… 15 Plätze hatten wir, über 30 Eltern meldeten ihr Kind an – und ich sagte allen zu!! Obwohl ich wusste, dass die kleine Wohnung bei uns im Haus viel zu klein war. Und obwohl ich wusste, dass wir diese untere Wohnung nun für die eigene Familie brauchen, weil Kind Nummer 3 in meinem Bauch heranwuchs. Es waren Wochen des Suchens in Uttings Immobilienmarkt. Ein sehr aktiver und geduldiger Papa aus dem Elternbeirat begleitete mich bei den Besichtigungs-Terminen. „Zu klein“, „kein geeigneter Garten“, „einen Kindergarten wollt ihr da reintun?? Auf keinen Fall!!“ Die Zeit drängte… ich hatte ja bereits die Unterschrift unter die Verträge gesetzt. Letztendlich bat ich die Gemeinde um Unterstützung. Und es klappte: Wir konnten übergangsweise ein paar Zimmer eines damals leerstehenden großen Gebäudes sehr günstig mieten. Irgendwie hatte ich immer gewusst, dass es schon klappen wird…
Vertrauen ist aber kein Wunschkonzert. Im Umgang mit Kindern will und muss schon immer abgewogen werden, ob Gefahr an Leib und Leben drohen könnte oder sonst ein Schaden für jemanden oder etwas entstehen könnte. Ich kann mir noch so sehr wünschen, dass das Kind nicht in den See fällt…, wenn ich hinschaue und beobachte, dass das Kind ganz hippelig herumhüpft, wird dies vermutlich nichts nützen.
Ich kann aber (wenn ich das Kind kenne und einschätzen kann) voller Vertrauen davon ausgehen, dass das Kind eigentlich nicht in den See fallen will!
Dann kann ich zum Kind hingehen, es sanft und bestimmt an der Hand nehmen: „Hör mir mal gut zu.“, sage ich in wichtigem, leisem Ton. „Es sieht so aus, als ob du in den See fallen willst. Der ist ganz schön kalt. Kannst du schwimmen? Hier kannst du nicht mehr stehen. Du würdest untergehen – und könntest ertrinken.“ Ich werde merken, ob das Kind meine liebevollen und sachlichen Ausführungen hören und verstehen will. Nur dann lohnt es sich, weiterzusprechen: „Magst du sehen, wie du am See spielen kannst?“ Und wenn das Kind nickt, werde ich sagen: „Schau, hier ist das Geländer. Hier unten am Boden kannst du deine Füße hinstellen. Jetzt kannst du dich ans Geländer anlehnen und den Fischen zuschauen.“ Und wenn es Steinchen werfen mag, kann ich ihm zeigen, bis wohin es mit den Füßen gehen kann, um dann schwungvoll den Steinen beim Flug ins Wasser zuzusehen, ohne selbst im Schwung mit ins Wasser zu stürzen. Wenn es aber heute nicht bereit ist, mir und meinen Ausführungen zu folgen, dann werde ich es liebevoll und bestimmt an die Hand nehmen und mit ihm zu einem anderen, für heute geeigneteren Ort gehen.
Von Vertrauen und Zutrauen wird hier noch viel zu lesen sein. Grundsätzlich geht es auch beim Vertrauen darum, die eigene Entscheidung bewusst zu treffen: Will ich allen meinen bisherigen Widrigkeiten zum Trotz grundsätzlich Vertrauen ins Leben haben? Diese Frage kann, darf und muss jeder für sich selbst beantworten.
Vertrauen erforschen
Was bedeutet Vertrauen für mich? Habe ich schon einmal vertraut, hat schon mal jemand Vertrauen in mich gesetzt? Wie fühlt sich Vertrauen an? – Habe ich die Wahl, Vertrauen
ganz neu und unbefangen zu betrachten? Was muss ich ändern an meinem Leben, damit ich diese Wahl habe?
Entscheide dich.
Einzigartigkeit in der Gemeinschaft
Einmal am Tag treffen sich die Kindergartenkinder nach gelebtem freien Spiel. Wie eine Perlenkette, bei der lose Fäden von einer Perle zusammengefasst werden, fasst die „Versammlung“ die Menschen unserer Kita an einem Ort und zu einer bestimmten Tageszeit zusammen und gibt Zeit und Raum für Gemeinschaft. Belebende Stille breitet sich nahezu von selbst aus, gesungene Lieder erheitern die Seele, Informationen und Planungen bereichern den Geist und das Miteinander. Anschließend wählen die Kinder aus Angeboten aus. Eines davon ist sehr oft „die Telos-Blume“: Sie ist als Angebot freiwillig (die anderen Kinder beschäftigen sich in dieser Zeit mit anderen Angeboten), sodass nur die Kinder dabei sind, die das heute wollen. Die Kinder leiten abwechselnd selbst diese „Telos-Blume“, übergeben die Erzählkugel und machen kleine Kommentare zu dem, was das Erzählkind zu sagen hat. Alle Kinder sind im Laufe der Tage immer mal wieder dabei. Denn Kinder lieben diese Art, Gemeinschaft zu feiern: Versammlung und Telos-Blume. Und sie lieben es, in ihrer Einzigartigkeit, in ihrem Bedürfnis, nicht in der Masse zu verschwinden wie in einem Einheitsbrei, gesehen zu werden.
Kinder spüren recht gut, was ihnen guttut, was sie jetzt hier und heute brauchen. Es war ein langer Weg für uns Pädagog*innen, bis wir dahinterkamen, dass die Unruhe in den „Telos-Blumen“, die eine Zeit lang entstanden war, die zeitweilige Unlust der Kinder zeigte. Und dass es uns erlaubt ist, Kindern ihre freie Wahl zu erlauben und zuzugestehen. Anfangs dachten wir, dass wir ihnen etwas vorenthalten, wenn wir sie nicht „zu ihrem Glück zwingen“. Wir glaubten, dass sie nicht richtig lernen, ruhig zu sitzen und anderen zuzuhören, wenn wir (letztendlich) nicht bestimmen, dass sie mitmachen müssen. Anfangs mussten alle Kinder bei der „Telos-Blume“ mitmachen, wir saßen ordentlich auf Bänken, die im Kreis aufgestellt waren. Eine Zeitlang verteilten wir dann Bürsten und Kämme, damit sich die Kinder selbst damit streicheln und beruhigen können, um ruhig sitzen zu können … im Nachhinein finden wir das seltsam. Seit die Telos-Blume freiwillig ist und nicht mehr täglich stattfindet, ist sie wieder schön. Auch die Erwachsenen wechseln sich ab, sodass immer mal wieder ein „anderer Ton“ angeschlagen wird. Jede Telos-Blume ist einzigartig und individuell, weil sie durch andere Menschen, Kinder wie Erwachsene, gestaltet wird – in jeder Telos-Blume wird die gelebte Gemeinschaft sichtbar.
Zur Versammlung einmal am Tag kommen alle Kindergartenkinder in einem Zimmer, die Krippenkinder im anderen Zimmer zusammen. Einmal in der Woche gibt es eine große Versammlung, bei der alle Menschen, die gerade im Haus sind, mitmachen… die, die wollen, und das sind fast immer alle. Das ist das Schöne an den Versammlungen: Obwohl niemand mitmachen muss, machen alle mit. Wir planen dafür wenig vor, nur kurz das Thema, über das wir die Kinder informieren wollen oder sie miteinbeziehen möchten. Die Versammlungen entstehen im Augenblick. Sie greifen das auf, was in der Gruppe der versammelten Menschen „drin“ ist und sich zum Ausdruck bringen möchte. Gleichzeitig bringen diejenigen Menschen, die gerade „Ruhe“ und „Gelassenheit“ und andere schöne Dinge übrighaben, diese bewusst in die Versammlungen mit ein… So ist jede Versammlung ein einzigartiger Moment der Gemeinschaft. Manchmal erinnern wir uns dann an den Lindenbaum vor unserem Kita-Haus, und daran, dass die Menschen früher um die Dorflinde getanzt und unter der sie gefeiert haben…
Die Möglichkeiten für lebendige Gemeinschaften finden sich auch zuhause – ohne, dass die Eltern dies mit Zwang ausrufen müssen (weil durch Zwang oft die Lebendigkeit verloren geht): Das Sonntags-Mittagessen (wenn dann die Langschäfer auch aus dem Bett gestiegen sind). Oder das gemeinsame Abendessen am Samstag, gemeinsam mit den Freunden der jugendlichen Kinder. Oder das gemeinsame Kuscheln am Sofa während der Dämmerung.
Wenn wir uns bewusst dafür entscheiden, lebendige Gemeinschaft ohne Zwang in unserem Familienalltag leben zu wollen, dann wird dies stattfinden können.
In einem Bild: Die Gemeinschaft freut sich dann wie ein junges Kind, in diese Familie eingeladen worden zu sein und schaut immer mal wieder neugierig durch den Türschlitz, ob jetzt der Moment gekommen ist, an dem sie willkommen ist, eintreten und sich breitmachen kann. Und schon ist sie selbst Mitgestalterin des Festes des Lebens.
Die Einfachheit des Einzigartigen
Einzigartigkeit in meinem Leben, Einzigartigkeit um mich herum: Wo finde ich Einzigartiges? Wie außerordentlich muss Einzigartiges sein?
Mag ich mich entscheiden, das „normale“ Einzigartige in seiner individuellen Einzigartigkeit zu bemerken und anzuerkennen? Zum Beispiel, um Gemeinschaft zu feiern?
Du bist – und das ist schön so
Ich liebe Buchenwälder!
Seit Anbeginn nehme ich das Bild der Buche, um Eltern und Pädagog*innen in Elternabenden, Elterngesprächen, Coachings und Seminaren die Vision von der Vollkommenheit nahezubringen: In der winzigen Buchegger ist alles enthalten, damit später daraus ein riesiger Buchenbaum wird. Beim Menschenkind ist es genauso…
Jedes Jahr beginnen bei uns ein paar junge Kinder ihre Kita-Zeit. Die meisten sind so um die 2 Jahre alt, manche ein bisschen jünger, manche ein bisschen älter. Es sind doch wundervolle Persönlichkeiten, die da bei uns zur Türe hereinkommen! So jung sie auch sind – sie wissen genau (!), was sie wollen, wer sie sind und wohin es gehen soll!
Das vergessen wir niemals! Diese Tatsache ist uns immer bewusst – das Kind ist eine wundervolle Persönlichkeit: Auch, wenn das Kind vor Kummer und Wut nach der Mama schreit, sodass uns die Ohren abfallen; auch, wenn das Kind vor lauter Ohrenschmerzen klagt und weint; auch, wenn das Kind, etwas älter geworden, sich voller Eigensinn weigert, die nass-gepieselte Hose zu wechseln; auch, wenn das Kind nicht den vorher von ihm selbst gewählten Mittag-Essens-Platz einnehmen will, sondern jetzt bei der geliebten Freundin essen mag; auch, wenn das Kind im Streit einem anderen einen Holzklotz auf den Kopf gedonnert hat; auch, wenn das Kind immer noch nicht ordentlich spricht; auch, wenn das Kind sich einfach nicht gescheit konzentrieren kann; auch, wenn das Kind wie eine wildgewordene Herde Stiere über andere Kinder herfällt…
Jedes Kind ist zu jeder Zeit es selbst – ein Wunder.
Es ist gut, dass wir ein Team sind: Wir können abgeben. Wenn eines dieser Wunder einer Pädagogin gar zu mächtig, gefährlich oder traurig erscheint, wenn das Wunder sich gar nicht mehr bändigen lässt, ist Abgeben gut. Abgeben, zur Ruhe kommen, das eigene Wundervolle in sich selbst (!) wieder zu erkennen.
Eltern haben es da nicht ganz so leicht. Wenn der Eltern-Partner nicht da ist, könnten sie die Freundin anrufen, die Nachbarin um Hilfe bitten, auf die Toilette gehen, Musik anmachen… um sich selbst wieder als Wunder zu erfassen! Und genau darum geht es: Diese Entscheidung will einmal und dann noch weitere viele Male bewusst getroffen sein!
Nehme ich das Kind als Wunder an, als wundervolles Wesen, egal wie anstrengend oder emotional aufwühlend die Situation sich mir gerade darstellt? Nehme ich mich ebenso als wundervollen Menschen an, egal wie genervt, ärgerlich, erschöpft, entsetzt, gelähmt, traurig und verletzt ich mich gerade fühle – meist getriggert durch irgendetwas, was das Kind getan hat?
Es wirkt wie ein kleiner Trick: Sich von der anstrengenden Situation mit dem Kind abwenden und sich stattdessen dem eigenen, inne liegenden Schönen zu öffnen. Energiearbeiter sprechen hier davon, die Energie bewusst zu leiten. Eigentlich ist es egal, wie es heißt oder ob es ein Trick ist – es funktioniert! Und zwar deshalb, weil jedes Kind fühlt, was mit den Kinderbegleitern los ist. Ohne es mit Worten benennen zu können, spüren sie: „Mama oder Papa ist jetzt gar nicht mehr ärgerlich… sie fühlt sich so heiter an!“ Kein Wunder, wenn sie gerade dabei ist, sich auf das Positive in sich zu konzentrieren. Ja, ich kenne die Argumente, die dagegensprechen: „Wie soll man das denn mitten in dem Ärger mit dem Kind schaffen?!!“ In diesem Fall zitiere ich gerne das Zitat von Rudolf Dreikurs: „Wenn du wissen willst, was du willst, musst du schauen, was du tust“. Du hast die Wahl.
Dafür sind wir hier auf der Erde: Um uns bewusst zu entscheiden; um zu lernen; um diese Hürde als Challenge anzunehmen; um uns zu entfalten – und dadurch dem Kind den Weg zu bahnen für dessen eigene Entscheidung und Entfaltung; um zu erkennen, was für wundervolle Wesen wir alle sind, das Kind und ich!
Ich bin ein Wunder
Habe ich die Wahl – nehme ich mir die Wahlfreiheit – diesen Satz für mich gelten zu lassen? Entscheide dich!
„Ich bin ein Wunder!“
Lust auf Entfaltung
Gestartet hat das Telos-Kinderhaus als kleine private Einrichtung mit acht Kindern – mittlerweile sind es 60 Kinder (davon etliche Einzel-Integrations-Plätze) im Haus und es gibt den Kindergarten im Naturhaus mit 18 Kindern, zwei Kilometer entfernt vom Haus. Es war sozusagen wie eine kleine Familie, die sich nach und nach zur Groß- und Riesenfamilie vergrößerte. Das erste halbe Jahr arbeitete ich allein, mittlerweile sind wir im Haus ein Team von ungefähr 13 Pädagog*innen, dazu kommt das Team aus dem Kindergarten im Naturhaus mit drei Pädagog*innen. Es lief nicht immer alles rund, wie auch in einer Familie meist nicht alles rund läuft – doch immer dienten uns die „Fehler“, die wir machten, als „Helfer“. Immer entschieden wir uns bewusst dafür, uns weiterzuentwickeln. Wir! Uns! Ich. Mich.
Es ist erstaunlich, wie viel pädagogische Ideen man in über 25 Jahren leben kann! Und alle diese Ideen fanden wir eine Zeitlang richtig gut. Was wir auch gelernt haben: Den Mut, eine altgewordene Idee, die nicht mehr funktioniert, wieder zu verwerfen; um Platz zu machen für etwas Neues. Wie viel Neues entstehen kann, wenn man mal ordentlich ausgemistet hat – sowohl in unseren „Schatzkammern“ (die Zimmer, in denen wir unsere momentan nicht gebrauchten Mal-, Bastel- und Spiel-Utensilien aufbewahren) als auch in unseren Vorstellungen, Glaubenssätzen und Meinungen… Richtig ins Sprudeln kann es plötzlich kommen, wenn wir nicht starr fest halten an etwas, „dass wir schon immer so gemacht haben!“ Klar: Sicherheit kann uns das Altvertraute, die Routine, schon geben – aber wie trügerisch ist diese manchmal. Und – ehrlich – wie fad kann sie sein!
Dies gilt auch für Eltern von mehreren Kindern: Nur, weil wir ein oder zwei Kinder ins Leben begleitet haben, müssen wir nicht glauben, dass wir diese Art nun auch bei den weiteren Kindern so leben müssen. Zum einen ist jedes Kind einzigartig und fordert seine „Spezial-Art“ von den Eltern ein, die Art, wie genau es selbst begleitet sein möchte. Zum anderen sind ja auch die Eltern in keinem Fall mehr die gleichen, wie noch beim ersten oder zweiten Kind. Routine: gut und schön! Lust auf Neues: Her damit!
Mein Ort, mein Jetzt, ich bin
„Ich bin erfüllt.
Ich bin Fülle.
Ich bin.
Ihr habt eurer Quelle gelauscht und euch daraus gespeist – ich habe es euch gleichgetan: Ich habe meiner Quelle gelauscht und mich daraus gespeist.
Das ist es, was ihr mir als mein Vorbild gelernt habt.
So bin ich in meinem Sein.
Ich höre sein Rauschen und Plätschern, ich sehe sein Glitzern und seine Farbenpracht. Ich greife hinein und schöpfe mit meinem Kristallgefäß heraus. Ich werfe das Glitzern und die Farbenpracht über mich und lache. Ich sehe, wie ein paar Tropfen über ein anderes Kristallgefäß fallen – werden sich die Farben mischen?
Ich gluckse voller Freude über das Wunder, das sich jetzt eröffnet.“
Wie geht eigentlich sich-entfalten?
In unserem Kindergarten im Naturhaus (eine Art Waldkindergarten, der 2021 als Ergänzung zum Entfaltungs-Haus dazu kam) gibt es sehr viele Farnkräuter – und natürlich Buchen. Die Farnkräuter entfalten im Frühling ihre Blätter, sie rollen sich auf. Es scheint so, als ob die Blätter schon immer da gewesen wären, sich eben nur noch ausrollen müssen. Im Ausrollen werden sie größer und stabiler. Vermutlich denkt das Farnkraut nicht darüber nach, wie genau es diese Entfaltung anstellen muss. Es macht einfach.
Das ist für mich Sinnbild für gelebte Entfaltung: Es ist alles da. Es sprudelt heraus, wie aus einer Quelle. Und gleichzeitig, im Sprudeln, kommt immer mehr Neues nach, als ob es schon immer dagewesen wäre, und doch war es nicht sichtbar. Jetzt, wo es da und deutlich bemerkbar ist, ist es wie selbstverständlich. Und entfaltet sich immer weiter!
Ich liebe es, Kinder auf diese Art und Weise zu betrachten.