Kinder psychisch kranker Eltern - Albert Lenz - E-Book

Kinder psychisch kranker Eltern E-Book

Albert Lenz

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Beschreibung

Das Zusammenleben mit psychisch kranken Eltern erhöht das Risiko, dass die Entwicklung der Kinder einen ungünstigen Verlauf nimmt. Die Kinder stellen daher eine besondere psychiatrische Risikogruppe dar. Der Leitfaden beschreibt die Schwerpunkte und Besonderheiten des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens bei Kindern psychisch erkrankter Eltern. Die Leitlinien zur Diagnostik umfassen die Exploration der Belastungen und Ressourcen in der Familie sowie der Gefährdungen für die Kinder. In den Leitlinien zur Indikationsstellung und Interventionsplanung werden die Besonderheiten bei der Betreuung von Kindern im Säuglings- und Kleinkindalter beschrieben und es wird die Bedeutung kombinierter und aufeinander abgestimmter Interventionen hervorgehoben. Die Interventionsleitlinien erläutern das multimodale Vorgehen auf der Bindungs- und Familienebene sowie bei der Psychoedukation der Kinder. Diagnostische und therapeutische Materialien sowie ein ausführliches Fallbeispiel erleichtern die Umsetzung der Leitlinien in den Praxisalltag.

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Albert Lenz

Silke Wiegand-Grefe

Kinder psychisch kranker Eltern

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 23

Kinder psychisch kranker Eltern

Prof. Dr. Albert Lenz, Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

Prof. Dr. Albert Lenz, geb. 1951. Seit 1994 Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen, Leiter des Instituts für Gesundheitsforschung und Soziale Psychiatrie.

Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe, geb. 1964. Seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik und seit 2011 Inhaberin der Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der MSH Medical School Hamburg.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Deutschland

Tel. +49 551 99950 0

Fax +49 551 99950 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Format: EPUB

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

1. Auflage 2017

© 2017 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2589-4; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2589-5)

ISBN 978-3-8017-2589-1

http://doi.org/10.1026/02589-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Psychische Erkrankungen sind keine Seltenheit, sondern kommen in der Gesamtbevölkerung häufig vor. Sie gehören nach dem Bundesgesundheitssurvey (BGS) zu den häufigsten Erkrankungen insgesamt. Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland 31 % der Erwachsenen im Laufe eines Jahres unter einer psychischen Störung leiden (Jacobi, 2009). Die Häufigkeitsraten unter den Frauen betragen 37 % und fallen damit wesentlich höher aus als unter den Männern mit 25 %. Diese Raten entsprechen denen in vergleichbaren internationalen Studien. Es ist also davon auszugehen, dass ein Viertel bis ein Drittel der Erwachsenen im Verlaufe eines Jahres die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer psychischen Störung erfüllen. Zudem weisen etwa 39 % der Personen, bei denen eine psychische Störung diagnostiziert wurde, mehr als eine psychische Störung auf.

Die häufigsten Störungen sind Angststörungen (14,5 %), affektive Störungen, vor allem Depressionen (11,9 %), somatoforme Störungen, also körperliche Beschwerden, für die keine hinreichenden organischen Ursachen gefunden werden (11 %), Störungen durch psychotrope Substanzen, vor allem Alkoholmissbrauch bzw. -abhängigkeit (4,5 %) und psychotische Störungen (2,6 %). Persönlichkeitsstörungen treten häufig komorbid mit anderen Störungen, wie z. B. Depressionen, Angststörungen, substanzinduzierten Störungen, Essstörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen auf, die in aller Regel den Anlass für eine Behandlung darstellen. In der Allgemeinbevölkerung kann von einer Prävalenzrate (unbehandelte Prävalenz) von ca. 10 % und in klinischen Populationen sogar von bis zu 40 % (behandelte Prävalenz) ausgegangen werden.

Aus angloamerikanischen Studien wissen wir, dass psychisch kranke Menschen im Durchschnitt genauso häufig Kinder haben wie psychisch Gesunde (Lenz, 2014). Bezogen auf den stationären psychiatrischen Versorgungsbereich kommen im deutschsprachigen Raum mehrere Studien übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass ca. 30 % der mit schweren psychischen Erkrankungen behandelten Patientinnen und Patienten Eltern von minderjährigen Kindern sind (Mattejat, 2014). Der überwiegende Teil der Erkrankten lebt zudem mit ihren minderjährigen Kindern zusammen. Hierbei kann ein signifikanter geschlechtsspezifischer Unterschied festgestellt werden. So zeigte sich in einer Studie von Lenz (2005, 2014), dass 60 % der erkrankten Väter und ca. 77 % der erkrankten Mütter mit ihren minderjährigen Kindern im selben Haushalt wohnten. Betrachtet man die Diagnosen, so wird deutlich, dass unter den erkrankten Eltern mit Kindern unter 18 Jahren alle großen Diagnosegruppen vertreten sind. Am häufigsten kamen depressive und affektive Störungen (ca. 36 %), Persönlichkeitsstörungen (ca. 26 %) und psychotische Erkrankungen (ca. 23 %) vor. Menschen mit einer emotional instabilen oder einer anderen Persönlichkeitsstörung sind also in etwa genauso häufig Eltern wie depressiv und affektiv erkrankte oder psychoseerkrankte Menschen. Diese Ergebnisse konnten auch in Stichtagserhebungen an vier psychiatrischen Kliniken bestätigt werden (Kölch & Schmid, 2008).

Beschränkt man sich nicht auf die stationäre Psychiatrie, sondern bezieht zusätzlich den gesamten psychosomatischen und psychotherapeutischen Versorgungsbereich |VI|ein, so dürfte die Elternschaftsrate bei psychisch erkrankten Menschen vermutlich wesentlich höher liegen. Erste empirisch fundierte Hinweise dafür liefert die Auswertung von Basisdokumentationsdaten dreier großer Fachkliniken für Psychotherapie und Psychosomatik mit einem Akut- und Reha-Bereich im Zeitraum von 2008 bis Mitte 2012 (Christiansen, unveröffentlicht). Es zeigte sich, dass in allen drei Kliniken zwischen 60 bis 70 % der Patienten Kinder hatten. Die Mehrzahl der Patienten hatte ein bis zwei Kinder, 20 bis 30 % aber auch drei Kinder und mehr. 50 bis 97 % der Kinder lebten mit den Eltern in einem gemeinsamen Haushalt. Angststörungen und Depression waren die häufigsten Störungen, unter denen diese Eltern litten. Lediglich bei den Patienten mit Essstörungen hatte die überwiegende Mehrzahl (80 %) keine Kinder.

Verlässliche Daten, die Aufschluss über die tatsächliche Zahl der Kinder geben, die bei psychisch erkrankten Eltern aufwachsen, liegen bislang nicht vor. Wir sind daher auf Schätzungen angewiesen. Eine plausible Schätzung hat Fritz Mattejat (2014) vorgenommen. Mattejat geht in seiner Hochrechnung von den epidemiologischen Daten aus der Allgemeinbevölkerung aus und nimmt in seiner Abschätzung konservativ an, dass im Verlauf eines Jahres 15 % (also der halbierte Prozentsatz) der Bevölkerung unter einer psychischen Störung leidet. Geht man weiter davon aus, dass psychisch kranke Menschen im Durchschnitt etwa genauso häufig Kinder haben wie psychisch gesunde Menschen, kommt Mattejat auf etwa drei Millionen Kinder, die im Verlauf eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung erleben. Bei Berücksichtigung der stationären Versorgungsdaten – in Deutschland gibt es etwa 56.000 Betten in psychiatrischen Kliniken und psychiatrischen Abteilungen – kann nach Mattejat von ca. 175.000 Kindern ausgegangen werden, die im Verlauf eines Jahres die Erfahrung machen, dass ein Elternteil stationär psychiatrisch behandelt wird.

Das erhöhte Risiko der Kinder, selbst eine psychische Störung zu entwickeln, sowie die Belastungen, die sich für die Kinder durch das Zusammenleben mit einem psychisch erkrankten Elternteil ergeben, konnten in zahlreichen Studien aufgezeigt werden (vgl. z. B. die Übersicht in Wiegand-Grefe, Mattejat & Lenz, 2011). Dabei zeigte sich, dass ein sehr junges Alter von Kindern bei der Erstmanifestation der elterlichen Erkrankung ein wesentlicher Risikofaktor ist, da die elterliche Erkrankung einen maßgeblichen Einfluss auf die Beziehungs- und Erziehungskompetenzen hat. Die Zahlen und Forschungsergebnisse machen die Relevanz des Themas Kinder psychisch kranker Eltern für die Kinder- und Jugendpsychotherapie deutlich.

Der Leitfaden unterteilt sich in insgesamt fünf Kapitel:

1 Im ersten Kapitel des Buches wird der Stand der Forschung hinsichtlich Epidemiologie und Prävalenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern, Belastungen, Risikofaktoren und der elterlichen psychiatrischen Erkrankungen und deren Folgen für die Kinder zusammenfassend dargestellt. Die sich in der Darstellung anschließenden Befunde der Resilienz- und Copingforschung sind von besonderer Relevanz für die Formulierung von Leitlinien.

2 Im zweiten Kapitel, dem Kernstück des Leitfadens, werden die Leitlinien zur Diagnostik, zur Indikationsstellung und zu den Interventionen dargestellt.

3|VII| Empfehlenswerte deutschsprachige diagnostische Verfahren und Interventionsprogramme werden im dritten Kapitel ausführlich vorgestellt.

4 Das vierte Kapitel enthält hilfreiche Materialien für den Praxisalltag.

5 Im fünften Kapitel wird die Umsetzung der Leitlinien in die therapeutische Praxis anhand eines ausführlichen Fallbeispiels illustriert.

Dieser Band wird durch den Ratgeber Kinder psychisch kranker Eltern ergänzt (Lenz & Wiegand-Grefe, 2016). Dieser Ratgeber enthält hilfreiche Informationen für Eltern, Erzieher und Lehrer, stellt Unterstützungs- und Therapiemöglichkeiten dar und gibt Anregungen zur Selbsthilfe.

Paderborn und Hamburg, Dezember 2016

Albert Lenz und

Silke Wiegand-Grefe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

1 Stand der Forschung

1.1 Epidemiologie und Prävalenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern

1.2 Die subjektiven Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern

1.3 Risikofaktoren

1.3.1 Risikofaktoren der Eltern

1.3.2 Risikofaktoren der Familie

1.3.3 Allgemeine psychosoziale Risikofaktoren

1.4 Gefährdungen des Kindeswohls

1.4.1 Formen und Folgen von Kindesmisshandlung

1.4.2 Psychisch erkrankte Eltern – eine Risikogruppe für Kindeswohlgefährdung

1.4.3 Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdung

1.5 Allgemeine und spezifische psychische Erkrankungen und ihre Folgen für die Kinder

1.5.1 Schizophrene Erkrankungen der Eltern

1.5.2 Affektive Erkrankungen der Eltern

1.5.3 Angst- und Zwangserkrankungen der Eltern

1.5.4 Elterliche Persönlichkeitsstörungen

1.5.5 Alters- und geschlechtsspezifische Aspekte

1.6 Resilienz – psychische Robustheit und Widerstandsfähigkeit

1.6.1 Resilienz und protektive Faktoren bei Kindern psychisch kranker Eltern

1.6.2 Familiäre Resilienz – ein Exkurs

1.7 Coping – von protektiven Faktoren zu Bewältigungsprozessen

1.7.1 Copingverhalten von Kindern psychisch kranker Eltern

1.7.2 Familiäres Coping in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil

1.8 Interventionen

1.8.1 Übersicht zu multimodalen Interventionsprogrammen

1.8.2 Präventionsgruppen für Kinder

1.8.3 Familienintervention

1.8.4 Befunde zur Wirksamkeit der Interventionsprogramme

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zur Diagnostik

2.1.1 Exploration psychischer Störungen von Eltern und ihrer Auswirkungen auf die Familie

2.1.2 Exploration der Auffälligkeiten jedes Kindes

2.1.3 Exploration der Belastungen in der Familie

2.1.4 Exploration der Gefährdungen für Kinder

2.1.5 Umgang mit Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung

2.1.6 Exploration der Ressourcen des Kindes und der Familie

2.2 Leitlinien zur Indikationsstellung und Interventionsplanung

2.2.1 Indikationsstellung und Interventionsplanung

2.2.2 Besonderheiten bei Kindern im Säuglings- und Kleinkindalter: Mutter-Kind-Behandlung

2.2.3 Indikation für kombinierte und aufeinander abgestimmte Interventionen

2.3 Leitlinien zu den Interventionen

2.3.1 Psychoedukation für Kinder

2.3.2 Begleitende Familientherapie

2.3.3 Bindungsbezogene Interventionen

2.3.4 Präventive familienorientierte Interventionen

3 Verfahren zur Diagnostik und Interventionsprogramme

3.1 Verfahren zur Diagnostik

3.1.1 Verfahren zur Familiendiagnostik und klinischen Diagnostik

3.1.2 Diagnostische Verfahren zu Erfassung familiärer Belastungen und Gefährdungen der Kinder

3.2 Interventionsprogramme

3.2.1 Multimodale Interventionsprogramme

3.2.2 Gruppeninterventionen für Kinder

4 Materialien

5 Fallbeispiel

Die Erstgespräche

Psychischer Befund zum Zeitpunkt der Erstgespräche

Indikationserstellung und weiteres Vorgehen

Der Beratungsverlauf

Überlegungen zur Paar- und Familiendynamik und zum praktischen Vorgehen

Reflexion der Beratung

Nachbemerkung

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

1.1 Epidemiologie und Prävalenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern

Epidemiologie. Die psychische Erkrankung von Eltern ist ein bis heute oftmals tabuisierter Hochrisikofaktor für die kindliche Entwicklung. Die Risikokonstellation von Kindern psychisch kranker Eltern weist die Besonderheit auf, dass sie nicht allein durch die Symptomatik der betroffenen Kinder charakterisiert wird, sondern per Definition die gesamte familiäre Situation mit einbezieht. Im Unterschied zu kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitsbildern, die zumeist ausgehend von einer individuellen Symptomkonstellation des Kindes definiert werden, hat die Risikokonstellation von den Kindern psychisch kranker Eltern von Anfang an eine hohe Komplexität der Problemstellung zur Folge. Die Berücksichtigung der elterlichen Erkrankung als zentrales Kriterium erfordert eine familiäre, häufig über die Elterngeneration hinausgehende, transgenerationale Betrachtungsweise. Diese hat oftmals ein komplexes, von vielen psychischen Erkrankungen und Traumatisierungen über mehrere Generationen geprägtes Beziehungsgefüge zum Gegenstand (vgl. Plass & Wiegand-Grefe, 2012).

Eine Abschätzung epidemiologischer Kennwerte muss deshalb aus verschiedenen Blickrichtungen erfolgen, dazu zählen: (a) die Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Erwachsenen, (b) wie häufig Psychiatrie-Patienten Kinder haben und schließlich (c) über Angaben zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern, die sich bereits in Behandlung befinden.

a)

Etwa 30 % der deutschen Bevölkerung erleiden im Laufe ihres Lebens eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung, wenn man die Ergebnisse des aktuellen bundesdeutschen Gesundheitssurveys zugrunde legt. Nimmt man an, dass bei etwa 25 % der oben angeführten Betroffenen eine unbedingte Behandlungsnotwendigkeit vorliegt, benötigen im Jahr etwa 4,5 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland professionelle psychiatrische und/oder psychotherapeutische Hilfe.

b)

Wie viele dieser Patienten Eltern sind, ist nur schwer abschätzbar, da sich über die Prävalenz psychisch kranker Eltern bislang keine verlässlichen Angaben machen lässt (Jungbauer & Lenz, 2008; Schneider, 2009). Dies liegt vor allem darin begründet, dass unterschiedliche Populationen untersucht wurden (Plass & Wiegand-Grefe, 2012). Einige Studien haben den Anteil psychisch kranker Eltern bei stationär aufgenommenen Psychiatrie-Patienten erfasst. Diesen Arbeiten zufolge sind zwischen 17 und 45 %, also rund ein Drittel aller stationären psychiatrischen Patienten, Eltern minderjähriger Kinder (Grube & Dorn, 2007). Von den 964 stationär behandelten Patienten der psy|2|chiatrischen Universitätsklinik Hamburg Eppendorf, die in der Studie über neun Monate erfasst wurden, waren insgesamt 271 Eltern (28 %), davon waren 167 (17 %) Eltern minderjähriger Kinder und 104 (11 %) hatten Kinder über 18 Jahre (Wiegand-Grefe et al., 2009). Diese Ergebnisse konnten auch in anderen Studien bestätigt werden (Kölch & Schmid, 2008; Lenz, 2005). Etwa 70 % der Eltern lebten mit den Kindern zusammen oder hatten regelmäßigen Kontakt zu ihnen (Lenz, 2005). Es zeigte sich allerdings, dass schizophren erkrankte Eltern häufiger von ihren Kindern getrennt leben. Im Rahmen der multizentrischen Studie „Schizophrenie und Elternschaft“ (Lenz et al., 2011) wurden die Daten von n = 370 stationär behandelten Patienten ausgewertet. Es zeigte sich, dass 41 % der Patienten zusammen mit ihren Kindern in einem Haushalt lebten und 59 % getrennt von ihnen. Sichtbar wurde darüber hinaus ein signifikanter geschlechtsspezifischer Unterschied. So betrug der Anteil der schizophrenieerkrankten Väter, die mit ihrem Kind zusammenlebten, lediglich 29 %, während immerhin rund 47 % der schizophrenieerkrankten Mütter ihre Kinder zu Hause versorgten.

Beschränkt man sich nicht auf die stationäre Psychiatrie, sondern bezieht noch zusätzlich den gesamten psychosomatischen und psychotherapeutischen Versorgungsbereich mit ein, so dürfte die Elternschaftsrate bei psychisch erkrankten Menschen vermutlich wesentlich höher liegen. Erste empirisch fundierte Hinweise dafür liefert die Auswertung von Basisdokumentationsdaten dreier großer Fachkliniken für Psychotherapie und Psychosomatik, die Akut- und Reha-Bereiche vorhalten und deren Daten des Zeitraums 2008 bis Mitte 2012 betrachtet wurden (Christiansen, unveröffentlicht). Es zeigte sich, dass in allen drei Kliniken zwischen 60 bis 70 % der Patienten Kinder hatten.

Die Rate der Elternschaft bei psychisch Kranken variiert auch in Abhängigkeit vom psychiatrischen Krankheitsbild und elterlichen Geschlecht. Die höchste Elternschaftsrate weisen mit knapp 70 % affektiv Erkrankte auf (35 % Mütter, 23,5 % Väter). Schizophrene Erkrankungen weisen eine Elternschaftsrate von knapp 47 % auf (32 % Mütter, 15 % Väter) und bei den Persönlichkeitsstörungen sowie neurotischen Störungen lässt sich eine Elternschaftsrate von 44 % ermitteln (33 % Mütter, 11 % Väter) (Grube & Dorn, 2007). Die Elternschaftsrate psychisch Kranker allgemein ist aufgrund verschiedenster Faktoren, wie geringerer Fertilität und stärkerer psychosozialer Belastungen, geringer als in der Gesamtbevölkerung. Aufgrund verbesserter psychiatrischer Behandlung jedoch steigt die Rate psychisch Kranker, die Kinder haben, an (Leverton, 2003).

c)

Die in einem systematischen Literaturüberblick ermittelte mittlere Prävalenzrate psychischer Auffälligkeiten bei Kindern in Deutschland liegt bei etwa 17 % (Barkmann & Schulte-Markwort, 2004). Etwa jedes fünfte bis zehnte Kind leidet zu einem gegebenen Zeitpunkt unter einer psychischen Störung (Petermann, 2005). In der aktuellen Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS |3|Welle 1) zeigten sich bei jedem fünften Kind (20,2 %) zwischen 3 und 17 Jahren Hinweise auf psychische Störungen. Jungen (23,4 %) sind dabei häufiger betroffen als Mädchen (16,9 %). Bei 12,4 % der Kinder und Jugendlichen sind zusätzlich deutliche Beeinträchtigungen im familiären und sozialen Umfeld festzustellen (Hölling et al., 2014). Kinder im Vorschulalter sind dabei genauso häufig von psychischen Auffälligkeiten betroffen wie ältere Kinder und weisen außerdem auch ähnliche Komorbiditätsmuster auf (Egger & Angold, 2006).

Prävalenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern. Eine psychische Erkrankung der Eltern erhöht das Risiko für die Kinder signifikant, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Vostanis et al. (2006) fanden, dass bei den Kindern psychisch kranker Eltern ein viermal höheres Erkrankungsrisiko im Vergleich zu Kindern psychisch gesunder Eltern besteht. Das Erkrankungsrisiko der Kinder steigt außerdem mit der empfundenen psychischen Belastung der Eltern an. Studien zeigten, dass je psychisch belasteter sich die erkrankten Eltern selbst erlebten, desto höher das Risiko war, dass auch die Kinder Symptome psychischer Störungen aufwiesen (Vostanis et al., 2006; Wiegand-Grefe et al., 2009; Wille et al., 2008).

Verlässliche Daten, die Aufschluss über die tatsächliche Zahl der betroffenen Kinder geben, die bei psychisch erkrankten Eltern aufwachsen, liegen bislang nicht vor. Wir sind daher auf Schätzungen angewiesen. Eine plausible Schätzung hat Fritz Mattejat (2014) vorgenommen. Mattejat geht in seiner Hochrechnung von den epidemiologischen Daten aus der Allgemeinbevölkerung aus und nimmt in seiner Abschätzung konservativ an, dass im Verlauf eines Jahres 15 % (also der halbierte Prozentsatz) der Bevölkerung unter einer psychischen Störung leidet. Geht man weiter davon aus, dass psychisch kranke Menschen im Durchschnitt etwa genauso häufig Kinder haben wie psychisch gesunde Menschen, kommt Mattejat auf etwa drei Millionen Kinder, die im Verlauf eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung erleben. Bei Berücksichtigung der stationären Versorgungsdaten – in Deutschland gibt es etwa 56.000 Betten in psychiatrischen Kliniken und psychiatrischen Abteilungen – kann nach Mattejat von ca. 175.000 Kindern ausgegangen werden, die im Verlauf eines Jahres die Erfahrung machen, dass ein Elternteil stationär psychiatrisch behandelt wird.

1.2 Die subjektiven Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern

Die subjektive Sichtweise auf die Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern bietet einen Einblick in ihre unmittelbaren Erlebnisweisen, ihre Gefühle und ihren Umgang mit den Alltagsanforderungen. Eine genaue Kenntnis der subjektiven Perspektive ermöglicht ein differenzier|4|tes Verständnis dafür, auf welche Weise sich die weiter unten beschriebenen Belastungsfaktoren auf die Kinder auswirken und zu psychischen Beeinträchtigungen führen. Diese Erkenntnisse eröffnen einen Zugang zu den Mechanismen der Weitergabe psychischer Belastungen innerhalb der Familie (Jungbauer & Lenz, 2008; Wiegand-Grefe et al., 2009).

In mehreren Interviewstudien wurde das subjektive Erleben der Kinder qualitativ analysiert (Dunn, 1993; Lenz, 2005; Müller, 2008). Die Interviews wurden teilweise auch mit Erwachsenen geführt, die als Kind selbst bei einem psychisch kranken Elternteil aufgewachsen waren. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kinder häufig Schuldgefühle und Angst hatten, Wut empfanden und unter Loyalitätskonflikten litten. Starke emotionale Belastungen, wie beispielsweise schmerzliche Verlusterfahrungen durch eine Klinikeinweisung des psychisch erkrankten Elternteils, wurden in den Schilderungen deutlich. Auch zeigt sich, dass diese Kinder ihre Eltern sensibel beobachteten und schnell lernten, Frühwarnzeichen für eine Verschlechterung des elterlichen Zustandes zu erkennen und ihr Verhalten gegebenenfalls darauf abzustimmen. Auf der Gefühlsebene wiesen die Kinder häufig Trennungsängste und massive Sorgen auf. Diese bezogen sich zum Beispiel auf eine weitere Verschlimmerung der elterlichen Krankheit. Jugendliche sorgten sich zudem häufig um die Möglichkeit der Entwicklung einer eigenen psychischen Erkrankung. Auch empfanden sie Schuldgefühle bei getätigten Abgrenzungs- und Distanzierungsschritten. Ferner war das Wissen der Kinder über die psychische Erkrankung ihrer Eltern oft sehr ungenau. In den Interviews wird deutlich, dass sich die Kinder genauere Informationen über die Erkrankung ihrer Eltern gewünscht hätten. Zudem zeigt sich, dass eine elterliche psychische Erkrankung das gesamte Familiensystem destabilisiert, indem beispielsweise die Grenzziehung zwischen den Generationen undeutlich wird und die Kinder wichtige Verantwortlichkeiten in der Familie übernehmen, also parentifiziert werden.

Die vorliegenden Studien zeichnen ein vielschichtiges Bild der individuellen und familiären Problemkonstellation und Belastungsanforderungen dieser Familien. Diese subjektive Perspektive bietet wertvolle Ansatzpunkte, um die Bedürfnisse und den individuellen Unterstützungsbedarf der betroffenen Kinder und Jugendlichen bei der Entwicklung und Durchführung von präventiven und therapeutischen Hilfs- und Unterstützungsangeboten zu berücksichtigen. Die Ergebnisse der vorliegenden Studien lassen sich in folgende Bereiche subjektiver Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern unterteilen:

elterliche Erkrankung;

Tabuisierung, Isolierung und Kommunikationsverbot;

soziale Unterstützung;

familiärer Alltag;

Parentifizierung und

Gefühlslagen der Kinder.

|5|Elterliche Erkrankung. Krankheitsbedingte Veränderungen der Eltern werden von ihren Kindern meist sehr früh und genau wahrgenommen, da die Kinder mit ihren Eltern emotional eng verbunden sind und die Eltern genau wahrnehmen und beobachten. Ihr Belastungserleben scheint wesentlich durch die akuten Symptome sowie durch die Dauer, den Krankheitsverlauf und die damit verbundenen Persönlichkeitsveränderungen beeinflusst zu werden. Bei einer depressiven elterlichen Erkrankung beispielsweise sind Kinder häufig mit einem Rückzugsverhalten des erkrankten Elternteils konfrontiert, das mit Antriebslosigkeit, Interessenverlust, Hoffnungslosigkeit, Ermüdung und Grübeln sowie einer Vernachlässigung der Alltagsaufgaben einhergeht (Lenz, 2008; Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011). Eine besonders belastende Situation entsteht, wenn ein Elternteil im Zuge seiner Depression suizidal wird. Bei psychotischen Störungen erleben die Kinder, wie der erkrankte Elternteil sich plötzlich verwirrt und unverständlich verhält, misstrauischer wird, nicht mehr ansprechbar ist oder sich zeitlich und räumlich nicht mehr orientieren kann. Der erkrankte Elternteil erscheint in seinem Wesen stark verändert, er wird von den Kindern als fremd, bisweilen sogar als unheimlich erlebt (Sollberger, 2012). Wird ein Kind in das Wahnerleben eines Elternteils einbezogen, kann dies als besonders beeinträchtigend erlebt werden. Kinder von Eltern, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, sind mit deren Impulsivität und Instabilität in allen Lebens- und Beziehungsbereichen konfrontiert und müssen beispielsweise häufige Umzüge und damit verbundene Beziehungsabbrüche und Trennungen etc. verarbeiten (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011). Als besonders belastend schildern Kinder zumeist die Klinikeinweisung der psychisch kranken Eltern und die damit verbundenen häufig dramatischen Umstände. Die Klinikeinweisung stellt für viele Kinder ein traumatisches Ereignis dar, mit dem sie zusätzlich das Gefühl verbinden, allein gelassen zu werden (Lenz, 2014). Hinzu kommt die Erfahrung des Verlustes von Autonomie und Autorität des erkrankten Elternteils, die bei den Kindern zu einer Erschütterung ihres Elternbildes und der Beziehung zum erkrankten Elternteil führen. Allerdings schildern Kinder auch, dass die Klinikeinweisung eine Entlastung darstellen kann, wenn sie nach einer längeren akuten Krankheitsphase stattfand, die mit einer angespannten und von Unsicherheiten belasteten Familienatmosphäre verbunden war.

Tabuisierung, Isolierung und Kommunikationsverbot. Viele Kinder haben den häufig begründeten Eindruck, dass sie mit niemanden über ihre Familienprobleme sprechen dürfen. Sie haben die Befürchtung, dass sie ihre Eltern verraten und etwas „Böses“ tun, wenn sie sich an Personen außerhalb der Familie wenden. Während Eltern häufig angeben, sie wollten ihre Kinder schützen, indem sie mit den (insbesondere jüngeren) Kindern nicht über ihre Erkrankung sprechen, muss man davon ausgehen, dass die von den Kindern wahrgenommenen Veränderungen ganz besonders irritierend sind, wenn sie von den Eltern nicht thematisiert werden. |6|Die Tabuisierung verhindert eine offene Auseinandersetzung mit der psychischen Erkrankung und damit eine durch Aufklärung mögliche Ressourcenmobilisierung bei den Kindern.

Die Gründe für die Tabuisierung der Erkrankung können vielschichtig sein. Sie können in gegenseitiger Schonung und Rücksichtnahme, in der elterlichen Krankheitsverleugnung, in der Angst vor Stigmatisierung oder in Scham- oder Schuldgefühlen liegen. Oftmals befürchten Eltern auch, in ihrer Elternrolle infrage gestellt zu werden oder das Sorgerecht für ihre Kinder abgesprochen zu bekommen (Lenz, 2014).

In der Studie von Sollberger (2012) berichtete nur ein Viertel der Kinder, in der Familie regelmäßig und offen über die elterliche Erkrankung gesprochen zu haben. Mehr als die Hälfte (53 %) gaben an, wenig bis gar nicht im Familienkreis, und fast zwei Drittel (62 %) gaben an, wenig bis gar nicht mit familienexternen Personen über die elterliche Erkrankung gesprochen zu haben. Es werden zwei Familientypen beschrieben: Beim ersten Typ wird ein offener Gesprächsstil gepflegt und die Kinder in die familiären Geschehnisse, die im Zusammenhang mit der elterlichen Erkrankung stehen, einbezogen. Die Kinder vertrauen sich auch familienexternen Personen an und erhalten eine entsprechende soziale Unterstützung. Der Großteil der Familien mit psychisch kranken Eltern gehört jedoch einem zweiten Typ an: Hier wird ein offenes Gespräch in der Familie verhindert und damit auch die familienexterne soziale Unterstützung erschwert.

Das Rede- und Kommunikationsverbot bezieht sich also nicht nur auf die Familie, sondern auch darauf, mit Außenstehenden über die psychische Erkrankung und deren Auswirkungen auf das familiäre Zusammenleben zu sprechen. Die Kinder sind häufig überzeugt, dass sie ihre Eltern verraten, wenn sie sich dem Schweigegebot widersetzen und sich doch jemandem anvertrauen. Sie sind hin- und hergerissen zwischen Gefühlen der Loyalität ihren Eltern gegenüber, ihrem Schamgefühl darüber, einen psychisch kranken Elternteil zu haben und dem Bedürfnis danach, mit jemandem sprechen zu können (Lenz, 2014). Sie haben niemanden, mit dem sie darüber sprechen können, woraus Gefühle des Alleingelassenseins resultieren.

Fehlende soziale Unterstützung. Erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern beschreiben retrospektiv, dass sie sich in der Kindheit generell nicht ausreichend sozial unterstützt gefühlt haben, obwohl sie sich soziale Unterstützung gewünscht hätten (Sollberger, 2012). Dieser Befund ist umso schwerwiegender, als soziale Unterstützung eindeutig als protektiver Faktor für die Entwicklung von Kindern psychisch kranker Eltern identifiziert wurde.

Offensichtlich besteht eine Wechselwirkung zwischen dem oben beschriebenen Kommunikationsverbot über die Erkrankung und der Mög|7|lichkeit, soziale Unterstützung zu mobilisieren: Besteht eine Tabuisierungstendenz innerhalb der Familie, fällt es Kindern besonders schwer und es gelingt kaum, familienexterne Personen um Unterstützung zu bitten. Gleichzeitig wird es für familienexterne Personen deutlich erschwert, Unterstützung zu leisten, wenn ihnen Informationen über die Familiensituation, insbesondere die Erkrankung eines Elternteils, fehlen.

Darüber hinaus führt die starke emotionale Verstrickung der Kinder dazu, dass sie weder den äußeren noch den inneren Freiraum zur Verfügung haben, soziale Beziehungen außerhalb der Familie aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie fühlen sich zu Hause unentbehrlich und müssen befürchten, dass ihre Abwesenheit für die Familie katastrophale Folgen haben könnte. In der Konsequenz spielen außerfamiliäre Kontakte und Aktivitäten für sie nur eine untergeordnete Rolle. Die Mehrzahl der Kinder verfügt zwar über ein gewisses, meist kleines Geflecht sozialer Beziehungen zu Verwandten, Schulkameraden und Freunden, vermeidet es aber meist, diese für die Bewältigung der Alltagssorgen heranzuziehen (Lenz, 2014).

Familiärer Alltag. Als belastend beschreiben die Kinder die Auswirkungen der psychischen Erkrankung eines Elternteils auf das alltägliche Leben. Verlässliche Strukturen und Abläufe können in Krisensituationen oft nicht aufrechterhalten werden und so erleben Kinder das Zusammenbrechen vertrauter Alltagsstrukturen. Dazu kann gehören, dass die Mutter aufgrund einer depressiven Erkrankung morgens das Bett nicht mehr verlassen kann, zu erschöpft ist, um mit den Kindern zu spielen und auch die Arbeiten im Haushalt nicht bewältigt. Eine solche Krisensituation kann zu Veränderungen der familiären Rollenverteilung führen. Beispielsweise übernimmt der Vater Aufgaben der Mutter, oder oft werden auch die Kinder vermehrt in die Aufgabenbewältigung eingebunden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Kinder allein mit einem psychisch kranken Elternteil leben.

Häufig leiden Kinder unter weiteren Zusatzbelastungen, die sie durch die elterliche Erkrankung bewältigen müssen. Zum Beispiel müssen sie zahlreiche Aufgaben im Haushalt übernehmen, durch die sie sich überfordert fühlen und die ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund drängen (Knutsson-Medin et al., 2007). Befindet sich der erkrankte Elternteil in stationärer Behandlung, nehmen diese Belastungen weiter zu. Häufig geht die psychische Erkrankung eines Elternteils mit einem Betreuungsdefizit der Kinder einher. Meist fehlt es den Kindern an gezielter Zuwendung und Aufmerksamkeit durch ihre Eltern.

Parentifizierung. Durch die psychische Erkrankung werden die Grenzen zwischen den familiären Subsystemen diffus und das System Familie gerät durcheinander. Insbesondere die Generationengrenzen, die für die Funktionalität einer Familie von großer Bedeutung sind und sich nach Minuchin und Fishman (1983) vor allem aus der Anerkennung von Un|8|terschieden in elterlichen und kindlichen Rollen und deren Einhaltung sowie aus den Interaktionsregeln des elterlichen und kindlichen Subsystems ergeben, verwischen. Die Störungen der Generationengrenzen werden häufig mit dem Bild der „verstrickten Familie“ verknüpft. Eine besondere Form der Generationengrenzenstörungen ist die Parentifizierung, eine Rollenumkehr, in der Kinder Eltern- oder Partnerfunktionen für ihre Eltern übernehmen (Boszormenyi-Nagy & Spark, 2013). Derartige Rollenumkehrungen sind in der Mehrzahl der Familien mit psychisch kranken Eltern zu beobachten (Lenz, 2014). Es zeigt sich häufig, dass sowohl der psychisch kranke, als auch der gesunde Elternteil den Kindern ihre jeweilige Bedürftigkeit signalisieren und ihnen somit die Verantwortung für das eigene Wohlbefinden aufbürden. Dadurch werden Kinder zu Vertrauten und Ratgebern ihrer Eltern, zur primären Quelle von Unterstützung und Trost.

Denkbar sind auch andere Ausformungen dieser unangemessenen Rollenzuweisungen:

Kinder werden zu Friedensstiftern und Schiedsrichtern in konfliktreichen Partnerschaften,

Kinder übernehmen Verantwortung für Haushaltsführung, Tagesstrukturierung und Medikamenteneinnahme,

Kinder sind zuständig für die Versorgung und Pflege jüngerer Geschwister,

Kinder sind gezwungen, nach der Trennung der Eltern schneller erwachsen zu werden und mit einem Elternteil den Verlust zu teilen,

Kinder sollen den nicht verfügbaren kranken Partner ersetzen und

Kinder sollen den Lebenstraum der Eltern realisieren.

Sind die „Aufträge“ der beiden Elternteile widersprüchlich oder gar unvereinbar, wenn z. B. der kranke Elternteil vom Kind verlangt, als intimer Gesprächspartner und Versorger im Alltag zur Verfügung zu stehen und der gesunde Elternteil zugleich vom Kind die Erfüllung eigener Lebensträume erwartet, gerät das Kind zudem in kaum auflösbare Loyalitätskonflikte.

Für Kinder ist es jedoch unmöglich, solchen Rollenzuweisungen gerecht zu werden. Sie ordnen vielmehr ihre persönlichen Bedürfnisse denen der Eltern bzw. eines Elternteils unter, und zwar auf Kosten ihrer eigenen Entwicklung. Charakteristisch für die Parentifizierungsprozesse der Kinder ist die Erfahrung, dass sie letztlich den Wünschen und Erwartungen der Eltern niemals genügen können. Sie müssen damit rechnen, dass sich die Mutter bzw. der Vater oder sogar beide Elternteile aus Enttäuschung über die unerfüllt gebliebenen Wünsche aggressiv abwenden oder sogar gegen sie verbünden. Sie geraten dabei häufig in die Rolle eines Sündenbocks, der für die Probleme und Konflikte in der Familie verantwortlich gemacht wird. Das betroffene Kind fühlt sich in einer solchen Beziehungskonstellation unwichtig, emotional unterversorgt und ausgestoßen.

|9|Gefühle der Kinder. Gefühle, die von Kindern im Zusammenhang mit einer elterlichen psychischen Erkrankung häufig genannt werden, sind Ängste, das Gefühl des Verlustes, der Schuld und der Trauer. Die Ängste der Kinder beziehen sich oftmals darauf, vom erkrankten Elternteil getrennt zu werden oder diesen zu verlieren, beispielsweise krankheitsbedingt durch einen stationären Aufenthalt oder selbstschädigendes/suizidales Verhalten (Lenz, 2014). Die Kinder berichten außerdem von der Sorge, dass dem erkrankten Elternteil etwas zustoßen könnte, oder auch, dass er nicht die Behandlung bekommen könnte, die er benötigt (Knutsson-Medin et al., 2007). Auch die Angst, dass sich die Erkrankung des Elternteils verschlimmern oder erneut auftreten könnte, begleitet viele Kinder, die sich außerdem – vor allem im jugendlichen Alter – meist diffuse Sorgen darüber machen, ob auch sie selbst später von dieser Erkrankung betroffen sein könnten (Plass & Wiegand-Grefe, 2012). Schuldgefühle beziehen sich häufig darauf, dass Kinder glauben, die psychischen Probleme der Eltern ausgelöst zu haben (Mattejat & Remschmidt, 2008). Diese Gefühlslage wird durch Gefühle von Wut und Enttäuschung komplizierter, die sich auf die ungenügende Präsenz und Verfügbarkeit des erkrankten Elternteils beziehen, aber meist unbewusst bleiben müssen, da der erkrankte Elternteil geschont werden soll (Plass & Wiegand-Grefe, 2012).

Insbesondere nach einem längeren Krankheitsverlauf eines Elternteils erleben Kinder Gefühle der Hoffnungslosigkeit, der Resignation und Demoralisierung und reagieren darauf ihrerseits mit depressivem Rückzug und dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, weil sie dem kranken Elternteil nicht helfen können. In dieser Situation vermischen sich häufig Gefühle der Schuld und der eigenen Unzulänglichkeit mit Ärger und sogar Wut über die erkrankten Eltern. Diese enge Verwobenheit von Schuld, Trauer und Ärger bzw. Wut führt nicht selten zu erhöhter Reizbarkeit (Lenz, 2005).

1.3 Risikofaktoren

Die Risikoforschung verfolgt das Ziel, Gruppen mit hohem Erkrankungsrisiko genauer zu beschreiben und zu untersuchen, in welchen Merkmalen sich diese Risikogruppen von unbelasteten Vergleichsgruppen unterscheiden. Neben genetischen Faktoren müssen biologische und psychosoziale Risikofaktoren berücksichtigt werden. Meist kommen diese Risikofaktoren nicht isoliert vor, sondern haben die Tendenz, gehäuft aufzutreten und miteinander zu interagieren. Beim Vorliegen einer oder mehrerer Risikofaktoren variiert die Vulnerabilität in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht. Sie hängt aber auch davon ab, wie lange ein Risikofaktor anhält oder ob Risikofaktoren sequenziell oder simultan auftreten. Kumulative Modelle zeigen ein höheres Risiko für psychische Stö|10|rungen, wenn mehrere Risikofaktoren zusammen auftreten (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011).

Genetische Faktoren. Forschungsergebnisse weisen einen wichtigen genetischen Einfluss bei der Entstehung psychischer Störungen nach. Diese Ergebnisse können aber nicht in dem Sinne interpretiert werden, dass bei einer hohen Heritabilität die Entwicklung einer psychischen Erkrankung unbeeinflussbar ist. Vielmehr belegen wissenschaftliche Studien, dass genetische und Umwelteinflüsse sich gegenseitig bedingen. So untersuchte eine internationale Forschergruppe um Caspi und Kollegen in einer repräsentativen Längsschnittstudie an einer Geburtenkohorte (N > 800), warum belastende Lebensereignisse bei manchen Menschen zu Depressionen führen und bei anderen nicht. Frühere Studien weisen nach, dass das Serotonin-Transporter-Gen einen entscheidenden Einfluss auf den Serotonin-Stoffwechsel im Gehirn hat und dass eine Unterversorgung mit Serotonin zur Entwicklung einer Depression führen kann. Das Serotonin-Transporter-Gen kann verschiedene Merkmalsausprägungen haben, entsprechend derer Caspi und Mitarbeiter die Personen unterschiedlichen Gruppen zuwiesen: (a) Personen mit zwei kurzen Allelen auf dem Serotonin-Transporter-Gen, (b) Personen mit zwei langen Allelen sowie (c) Personen mit einem kurzen und einem langen Allel. Alle Personen wurden nach belastenden Lebensereignissen wie z. B. Misshandlung befragt. Anschließend wurde untersucht, ob es bei den Personen, die belastenden Erlebnissen ausgesetzt waren, zwischen den Gruppen (a) bis (c) zu Unterschieden hinsichtlich einer Depressionsentwicklung gekommen war. Es zeigte sich, dass Menschen mit zwei kurzen Allelen eine um 60 % erhöhte Wahrscheinlichkeit hatten, in der Folge belastender Lebensereignisse an einer Depression zu erkranken. Bei Personen mit zwei langen Allelen hingegen konnte keine erhöhte Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, im Laufe des Lebens eine Depression zu entwickeln. Diese Studie belegt, dass verschiedene genetische Merkmale zu einer unterschiedlich hohen Vulnerabilität der Personen für Umweltbedingungen führen, dass also Konsequenzen belastender Lebensereignisse von der genetischen Ausstattung einer Person abhängen. Stressreiche und belastende Lebensereignisse führen in dieser Studie nur bei Personen mit einer bestimmten genetischen Ausstattung zu einer Depression (Caspi et al., 2003).