Ressourcen psychisch kranker und suchtkranker Eltern stärken - Albert Lenz - E-Book

Ressourcen psychisch kranker und suchtkranker Eltern stärken E-Book

Albert Lenz

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Beschreibung

Kinder von psychisch kranken oder suchtkranken Eltern weisen ein erhöhtes Risiko auf, misshandelt oder vernachlässigt zu werden. Ressourcen, die als Schutzfaktoren wirken, sind bei den betroffenen Eltern häufig nur schwach ausgeprägt. Um diejenigen Ressourcen der Eltern zu stärken, die das Misshandlungsrisiko für Kinder vermindern, wurde das vorliegende modular aufgebaute Gruppenprogramm entwickelt und evaluiert. Es fokussiert auf die Förderung des Stress- und Belastungsmanagements der Eltern. Ziel ist es, einen besseren Schutz für die Kinder zu erreichen. Das Manual liefert zunächst einen Überblick über verschiedene Formen von Misshandlung und Vernachlässigung und geht auf empirische Befunde zu den Risiko- und Schutzfaktoren bei der Entstehung von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung ein. Ausführlich wird anschließend die Durchführung der vier Module des Gruppenprogramms beschrieben. Im Mittelpunkt steht die Stärkung der reflexiven Kompetenzen der Eltern, d.h. die Stärkung ihrer Mentalisierungsfähigkeit, die sich als wichtiger Schutzfaktor herauskristallisiert hat. Es geht darum, das Einfühlungsvermögen der Eltern in die kindlichen Bedürfnisse und Gedanken sowie die Sensibilität für Perspektiven der Kinder und anderer Personen zu fördern. Weiterhin soll der konstruktive Umgang mit Gefühlen und Belastungen gestärkt und der Aufbau eines sozialen Beziehungsnetzes gefördert werden. Zahlreiche Arbeitsblätter, die auf der CD-ROM vorliegen, erleichtern die Umsetzung des Programmes in der Praxis.

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Albert Lenz

Ressourcen psychisch kranker und suchtkranker Eltern stärken

Ein Gruppenprogramm zur Prävention von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung

unter Mitarbeit von

Anna Lena Rademaker

Lena Leffers

Christina Otto

Prof. Dr. phil. Albert Lenz, geb. 1951. Studium der Psychologie, Soziologie und Pädagogik in München. 1988 Promotion. Ausbildung in psychoanalytischer Paar- und Familientherapie und Krisenintervention. Von 1994 bis 2017 Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kinder psychisch kranker Eltern, Sozial- und Gemeindepsychiatrie, Kooperation Psychiatrie und Jugendhilfe, Empowerment und Soziale Netzwerke, psychosoziale Beratung und Krisenintervention.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Deutschland

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Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Matthias Lenke, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2019

© 2019 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2816-1; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2816-2)

ISBN 978-3-8017-2816-8

http://doi.org/10.1026/02816-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Audiodateien.

Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Einleitung

Kapitel 1 Misshandlung und Vernachlässigung – Risiko- und Schutzfaktoren

1.1 Formen von Misshandlung und Vernachlässigung

1.2 Risiko- und Schutzfaktoren bei Misshandlung und Vernachlässigung

1.2.1 Das Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren

1.2.2 Psychisch kranke und suchtkranke Eltern – Eine Risikogruppe für Kindesmisshandlung

1.3 Fazit

Kapitel 2 Ressourcen, Schutzfaktoren und Resilienz

2.1 Resilienz als Label – Schutzfaktoren für eine gesunde Entwicklung

2.2 Resilienz als ein dynamischer Prozess

2.3 Mentalisierungsfähigkeit – Ein zentraler Mechanismus der Resilienz

2.3.1 Konzept der Mentalisierung

2.3.2 Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit

Kapitel 3 Das Gruppenprogramm „Ressourcen psychisch kranker und suchtkranker Eltern stärken“ – Allgemeine Hinweise zum Vorgehen

3.1 Aufbau des Gruppenprogramms

3.2 Rahmenbedingungen des Gruppenprogramms

3.3 Allgemeiner Ablauf der Gruppensitzungen

3.4 Erste und letzte Gruppensitzung

3.5 Auffrischungssitzung

3.6 Aufgaben der Gruppenleitung

3.7 Handlungsempfehlungen für den Umgang mit speziellen oder schwierigen Situationen

3.8 Grundlegende Anforderungen an die professionellen Helfer in der Arbeit mit psychisch erkrankten Eltern

3.8.1 Kompetenzen auf der fachlichen Ebene – Wissen über Belastungen, Elternschaft und psychische Erkrankung

3.8.2 Kompetenzen auf der personalen Ebene – Gestaltung der Beziehung zu psychisch erkrankten Eltern

Kapitel 4 Evaluationsergebnisse

4.1 Studiendesign

4.2 Ergebnisse der Begleitforschung

4.2.1 Wirksamkeitsstudie

4.2.2 Subjektive Bewertungen der Eltern und Fachkräfte

4.3 Fazit

Kapitel 5 Die vier Module des Gruppenprogramms

5.1 Modul 1 – Mentalisieren

5.2 Modul 2 – Gefühle und Umgang mit Gefühlen

5.3 Modul 3 – Stressbewältigung

5.4 Modul 4 – Förderung des sozialen Beziehungsnetzes

Literatur

Anhang

Materialien auf CD-ROM

|7|Danksagung

Die Entwicklung des hier vorgestellten Gruppenprogramms „Ressourcen psychisch kranker und suchtkranker Eltern stärken“ sowie die Koordination des Projekts, die Implementierung und Evaluation gelang nur mithilfe eines hoch engagierten Teams, dem der Autor an dieser Stelle ausdrücklich und ganz herzlich danken möchte.

In der ersten Projektphase – Entwicklung des modularen Gruppenkonzeptes – ist insbesondere Dr. Eva Brockmann zu nennen. Recherchearbeiten wurden von Anne Rühländer, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, MA und Maike Beine, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, MA durchgeführt. Mein besonderer Dank gilt dem Team in der zweiten Projektphase – Durchführung der Einführungsworkshops, Weiterentwicklung des Elterngruppenprogramms, Entwicklung des Evaluationsdesigns, Durchführung der Evaluation und Datenauswertung – Dr. Anna Lena Rademaker, Lena Leffers, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, MA und Christina Otto, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, MA.

Ein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle auch den Praxiseinrichtungen, die an der Weiterentwicklung des Gruppenprogramms mit ihrem Fachwissen und ihren Erfahrungen aus der Praxis beratend beteiligt waren und das Programm in ihren Einrichtungen inklusive der Aufgaben der wissenschaftlichen Begleitforschung implementiert haben:

Diakonisches Werk im Kirchenkreis Recklinghausen Erziehung und Förderung gGmbH in Kooperation mit der

Kontakt- und Beratungsstelle für psychisch kranke und belastete Menschen sowie deren Angehörige (KuB) Diakonisches Werk im Kirchenkreis Recklinghausen gGmbH;

Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder Leverkusen; Kath. Erziehungsberatung Leverkusen e. V.;

Beratungszentrum Brakel, Caritasverband für den Kreis Höxter e. V.;

Balance – Erziehungs- und Familienberatungsstelle Neuss, Caritasverband Rhein-Kreis-Neuss e. V.;

Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche Caritasverband Paderborn e. V. in Kooperation mit der

Interdisziplinären Frühförderstelle des Caritasverbands Paderborn e. V.;

NetzWerk für psychisch belastete Familien Köln, Stiftung Leuchtfeuer;

Projekt Hilfen für Kinder (KipE), Verein für Rehabilitation psychisch kranker e. V. Mönchengladbach in Kooperation mit dem

Katholischen Beratungszentrum für Ehe, Familien-, Lebens- und Glaubensfragen Mönchengladbach, Kirche im Bistum Aachen;

Frau- und Kind-Haus, KölnRing, gGmbH;

Erziehungs- und Familienberatung Rath, Caritasverband Düsseldorf e. V.;

Sozialpsychiatrische Beratungsstelle Vechta, Sozialdienst katholischer Frauen e. V.;

Deutscher Kinderschutzbund Ortsverband Dortmund e. V.;

Fachstelle für kompetenzorientierte Familienarbeit, KOFA Winterthur GmbH (Schweiz);

Kompass, Katholischer Jugend- und Familiendienst, Gemeinnützige Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe mbH;

Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern e. V., Kinderschutz-Zentrum Dortmund;

Einrichtung für Mütter/Väter und ihre Kinder Lotte, LWL-Jugendheim Tecklenburg in Kooperation mit der

Kleinsteinrichtung für Mütter/Väter und ihre Kinder Lotte, LWL-Jugendheim Tecklenburg;

Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder Ibbenbüren, Caritasverband Tecklenburgerland e. V. in Kooperation mit den

Ambulanten Erziehungshilfen Ibbenbüren, LWL-Jugendheim Tecklenburg;

|8|Familienzentrum Montessori-Kinderhaus, Caritasverband Dortmund e. V.;

Institutsambulanz, LWL-Klinik Warstein in Kooperation mit der

Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche Warstein, Caritasverband für den Kreis Soest e. V.;

Förderzentrum Rolandstraße, Diakonisches Werk Dortmund und Lünen gGmbH;

Familienberatung, Christliche Sozialhilfe Köln e. V.;

Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung Köln gGmbH.

Bedanken möchte ich mich nicht zuletzt bei den Eltern für ihre Beteiligung.

Mein Dank gebührt dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen für die Förderung der zweiten Projektphase. Bedanken möchte ich mich darüber hinaus beim Caritasverbund für das Erzbistum Paderborn e. V. für die gute Zusammenarbeit und die Förderung der ersten Projektphase. Ohne die Förderungen durch das Ministerium und den Caritasverband wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Mein ganz besonderer Dank gilt dem Leiter des Referats für Erziehungs- und Familienhilfen des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn e. V. und Leiter des Kooperationsprojekts „Kinder schützen durch Stärkung der Eltern“ Paul Krane-Naumann.

Ein besonderer Dank gilt Susanne Weidinger vom Hogrefe Verlag für die Betreuung des Buches.

Dortmund, Sommer 2018

Albert Lenz

|9|Einleitung

Das modulare Gruppenprogramm „Ressourcen psychisch kranker und suchtkranker Eltern stärken“ ist im Rahmen des Kooperationsprojekts „Kinder schützen durch Stärkung der Eltern“ des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn e. V. und des Instituts für Gesundheitsforschung und Soziale Psychiatrie (igsp) der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen entwickelt, implementiert und wissenschaftlich evaluiert worden. In der vom Caritasverband für das Erzbistum Paderborn e. V. geförderten ersten Projektphase, vom 01. Juni 2014 bis 31. 10. 2015, wurde das Gruppenkonzept entwickelt. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen förderte im Rahmen der Landesinitiative „Starke Seelen“ die zweite Projektphase vom 01. April 2016 bis 31. Mai 2018, in der die Implementierung sowie die Weiterentwicklung und Evaluation des Gruppenprogramms erfolgte.

Das Präventionsprogramm wurde an 19 Standorten in Nordrhein-Westfalen darüber hinaus an einem Standort in Niedersachsen und an einem Standort in der Schweiz in Einrichtungen der Jugendhilfe und des Gesundheitswesens erprobt. An 6 Standorten wurde das Gruppenprogramm in Kooperation von zwei Praxiseinrichtungen durchgeführt. Die wertvollen Rückmeldungen der Gruppenleiterinnen1 fanden Eingang in die nun vorliegende Version des Manuals.

Misshandlung und Vernachlässigung stellen signifikante Risikofaktoren für die psychische Gesundheit von Kindern dar, die gesundheitliche Konsequenzen bis in das Erwachsenenalter haben können. Bei psychisch erkrankten und suchtkranken Eltern liegt häufig ein hohes Maß an kumulierten Risiken für Kindesmisshandlung vor. Auf der Grundlage der empirischen Befunde zu den Risiko- und Schutzfaktoren in der Entstehung von Kindesmisshandlung auf Seiten der Eltern wurde das modulares Gruppenprogramm entwickelt. Im Mittelpunkt steht die Förderung des Stress- und Belastungsmanagements der Eltern durch Stärkung ihrer individuellen und sozialen Ressourcen.

Ziel des Gruppenprogramms ist es, die Ressourcen der Eltern zu stärken, die das Misshandlungsrisiko für Kinder vermindern und die bei den erkrankten Eltern häufig schwach ausgeprägt sind

das Einfühlungsvermögen in die kindlichen Bedürfnisse und Gedanken,

die Sensibilität für Perspektiven der Kinder und anderer Personen,

der konstruktive Umgang mit Gefühlen und Belastungen sowie

die soziale Unterstützung und der soziale Rückhalt.

Im Vordergrund des Programms steht die Stärkung der reflexiven Kompetenzen der Eltern, d. h. ihrer Fähigkeiten zum Mentalisieren. Damit sind die Fähigkeiten gemeint, das eigene Handeln und das Handeln anderer auf mentale Zustände, wie Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle, zurückzuführen. Dies bedeutet, die Aufmerksamkeit auf die eigene innere Verfassung und auf die psychische Verfassung der anderen zu richten. Der Begriff der Mentalisierung beinhaltet eine kognitive, eine affektive und eine interpersonelle Komponente.

Zur Struktur des Buches

In Kapitel 1 wird dem Leser der aktuelle Stand der Forschung über das Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren bei Kindesmisshandlung und -Vernachlässigung dargelegt. Die theoretischen Grundlagen für die Ausrichtung des Gruppenprogramms |10|werden im Kapitel 2 erläutert. Die Rahmenbedingungen für die Durchführung des Gruppenprogramms werden in Kapitel 3 vorgestellt. Neben praktischen Hinweisen und Tipps, die zum großen Teil auf den Ergebnissen der Auswertungen der qualitativen Evaluation basieren, werden die besonderen fachlichen und personalen Anforderungen an die professionellen Helferinnen in der Arbeit mit psychisch erkrankten und suchtkranken Eltern herausgearbeitet. In Kapitel 4 werden einige Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitforschung vorgestellt. Alle vier Module des Gruppenprogramms lernt der Leser in Kapitel 5 detailliert kennen. Die Module sind folgendermaßen aufgebaut: Modulübersicht, Ziele des Moduls, Hintergrundwissen für die Gruppenleiterinnen, Durchführungsanleitung inklusive Instruktionen.

Der Anhang des Buches umfasst die Arbeitsblätter, die in den Modulen zu verwenden sind. Die Arbeitsblätter sind auch auf der dem Buch beiliegenden CD-ROM enthalten und können so direkt ausgedruckt werden.

1

In diesem Buch wird durchgängig für die Gruppenleiterinnen/professionellen Helferinnen die weibliche Form verwendet, wenn von „Leser“ und „Gruppenteilnehmer“ gesprochen wird, hingegen die männliche Form gewählt. Es sind jedoch stets beide Geschlechter gemeint.

|11|Kapitel 1Misshandlung und Vernachlässigung – Risiko- und Schutzfaktoren

1.1 Formen von Misshandlung und Vernachlässigung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versteht unter Kindesmisshandlung alle Formen von körperlicher und emotionaler Misshandlung und sexuellem Missbrauch sowie Vernachlässigung oder vernachlässigender Behandlung oder Ausbeutung, die zu tatsächlicher oder potenzieller Schädigung der Gesundheit, der Entwicklung oder der Würde des Kindes führen. Zusätzlich zu den Handlungen oder Unterlassungen, denen ein Kind ausgesetzt ist, wird das Ausgesetztsein von häuslicher Gewalt als weitere Form des Missbrauchs verstanden (Witt et al., 2013):

Körperliche Misshandlung: Unter körperlicher Kindesmisshandlung werden „alle Handlungen von Eltern oder anderen Bezugspersonen verstanden, die durch Anwendung von körperlichem Zwang bzw. Gewalt für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und seiner Entwicklung führen oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen bergen“ (Kindler, 2006, S. 52). Darunter fallen alle Formen körperlicher Gewalt gegen ein Kind, wie beispielsweise Schlagen, Schütteln, Stoßen, Verbrennen, Würgen oder andere körperliche Misshandlungen.

Emotionale Misshandlung: Emotionale Misshandlung tritt oftmals verknüpft mit anderen Formen der Gewalt auf. Das Kind erfährt Ablehnung, Verängstigung, Terrorisierung, Drohungen und Isolierung und wird dadurch in seiner Entwicklung beeinträchtigt oder geschädigt. Deneke (2005) weist darauf hin, dass alle Störungen in der Eltern-Kind-Interaktion in aller Regel den Charakter einer psychischen Misshandlung haben, wenn beispielsweise die Eltern für das Kind emotional nicht erreichbar sind oder sie zurückweisend, aggressiv, feindselig bzw. unberechenbar reagieren. Aufgrund dessen ist auch hier eine Unterscheidung zwischen aktiver und passiver psychischer Misshandlung bedeutsam. Aktive psychische Misshandlung umfasst bewusste Verhaltensweisen der Eltern, passive Misshandlung hingegen das Unterlassen von Verhaltensweisen, die für eine gesunde Entwicklung des Kindes unerlässlich sind. Letztere ist nur schwer vom Begriff der Vernachlässigung zu trennen. Die Handlungen in denen sich elterliche Ablehnung ausdrücken kann sind dabei sehr subtil. Zur emotionalen Misshandlung zählen auch Überbehütung und erdrückendes Verhalten der Eltern, wodurch wichtige Erfahrungs- und Entwicklungsräume des Kindes eingeengt werden.

Vernachlässigung: Vernachlässigung ist ein schleichender Prozess, der sich im Intimbereich der Familie vollzieht und häufig relativ lange Zeit unbemerkt bleibt. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass vernachlässigte Kinder die größte Gruppe der als gefährdet wahrgenommenen Minderjährigen bilden (Münder et al., 2000). Unter Vernachlässigung wird ein andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns von Eltern oder von anderen Sorgeberechtigten verstanden, das vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und/oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet (Deegener, 2005). Je jünger die betroffenen Kinder sind und je tiefgreifender sie vernachlässigt werden, desto größer ist das Risiko nachhaltiger Schädigungen. Für Säuglinge können Versorgungsmängel schon nach kurzer Zeit lebensbedrohlich sein. Häufig werden zur näheren Beschreibung der Vernachlässigung die Bereiche körperliche, erzieherische und emotio|12|nale Vernachlässigung unterschieden (Sullivan, 2000):

Unter körperlicher Vernachlässigung wird z. B. die unzureichende Versorgung mit Nahrung, Flüssigkeit, sauberer Kleidung, Hygiene, Wohnraum und medizinischer Versorgung gefasst.

Unter erzieherischer Vernachlässigung wird z. B. ein Mangel an Konversation, Spiel und anregenden Erfahrungen, fehlende erzieherische Einflussnahmen auf einen unregelmäßigen Schulbesuch, Delinquenz oder Suchtmittelgebrauch des Kindes, fehlende Beachtung eines besonderen und erheblichen Erziehungs- und Förderbedarfs verstanden.

Emotionale Vernachlässigung beinhaltet z. B. einen Mangel an Wärme in der Beziehung zum Kind, fehlende Reaktionen auf emotionale Signale des Kindes sowie unzureichende Beaufsichtigung des Kindes, z. B. bleibt das Kind längere Zeit auf sich gestellt oder die Eltern zeigen keine Reaktion auf eine längere unangekündigte Abwesenheit Kindes.

Sexueller Missbrauch: Unter sexuellen Missbrauch fallen sexuelle Handlungen an oder vor einem Kind, dem das Kind aufgrund seiner Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen bzw. widersprechen kann. Um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, nutzen die missbrauchenden Personen ihre Autorität sowie die Liebe und Abhängigkeit des Kindes aus. Darüber hinaus zwingen sie das Kind unter Ausspielung ihrer Macht zur Geheimhaltung bezüglich des erlittenen Missbrauchs. Sexueller Missbrauch ist nach verschiedenen Schweregraden zu unterscheiden. Versuchte oder vollendete anale, orale oder vaginale Vergewaltigung stellt die gravierendste Form des sexuellen Missbrauchs dar. Formen des sexuellen Missbrauchs sind auch sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt wie Exhibitionismus und das Zeigen pornografischer Bilder und Filme. Der Schweregrad des sexuellen Missbrauchs sagt nicht zwangsläufig etwas über den Grad der Traumatisierung aus. Entscheidende Faktoren für die Schwere der Traumatisierung nach einem Missbrauch sind das Alter des Kindes zu diesem Zeitpunkt, das Vertrauensverhältnis zwischen Täter und Opfer, Art und Dauer des Missbrauchs und die Reaktion des Umfeldes auf die Enthüllung der erlittenen Tat (vgl. dazu ausführlich Bange, 2004).

Häuslicher Gewalt ausgesetzt sein: Kinder werden Zeugen von Gewalt zwischen ihren Eltern im internen Bereich der Familie. Auch wenn sie nicht direkt im Raum anwesend sind, nehmen sie die Gewalt wahr. Sie sehen beispielsweise die Aggressivität und Wut des Vaters und die Angst und Hilflosigkeit der Mutter. In aller Regel identifizieren sie sich mit dem schwächeren Elternteil (Walper et al., 2013). Die Kinder erleben die partnerschaftlichen Konflikte ihrer Eltern als belastend und als einen gravierenden Verlust ihrer Sicherheits- und Geborgenheitsgefühle. Je nach Grad der emotionalen Ladung der elterlichen Konflikte und je nach Häufigkeit der elterlichen Gewalt können diese Erfahrungen die betroffenen Kinder traumatisieren und sich später auf ihre eigenen Partnerschaften auswirken. „Kinder, die eine Mutter haben, die partnerschaftliche Gewalt erfährt, tragen ein 12- bis 14-mal höheres Risiko, selber Gewalt zu erfahren“ (Bodenmann, 2013, S. 240).

Münchhausen-by-proxy-Syndrom: Eine Sonderform der Kindesmisshandlung stellt das Münchhausen-by-proxy-Syndrom dar. Darunter wird eine artifizielle Störung, d. h. selbst induzierte Störung verstanden, wobei die Betreuungsperson, zumeist die Mutter, sich nicht selbst verletzt, sondern stellvertretend (engl.: by proxy) ihr Kind. Die Betreuungsperson täuscht bei einem Arztbesuch Krankheitssymptome des Kindes vor oder erzeugt diese durch das Verabreichen von Medikamenten, absichtliches Verletzen, Vergiftungen, Nahrungsentzug etc. Hinter diesen Handlungen steht die Absicht, durch die dem Kind zuteilwerdenden medizinischen Behandlungen letztlich selbst eine gewisse Form von Aufmerksamkeit zu erfahren (Nowara, 2005). Zum anderen genießen die Eltern die Macht, die sie durch das Kranksein und die Pflegebedürftigkeit ihres Kindes gewinnen. Die Beschwerden der betroffenen Kinder sind äußerst vielfältig (Kindler, 2006). Die am häufigsten vorkommenden Symptome sind Atembeschwerden, Essstörungen, Durchfälle, unklare Blutungen, Allergien und Fieber. In der überwiegenden Mehrzahl sind im Falle eines Münchhausen-by-proxy-Syndroms Kinder unter fünf Jahren betroffen.

Es wird nicht nur zwischen den verschiedenen Formen kindlicher Misshandlungen differenziert, sondern zugleich werden Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Formen untersucht. Dabei zeigt sich, dass Komorbiditäten eher die Regel als die Ausnahmen sind (Häuser et al., 2011). Viele Kinder werden sowohl körperlich als auch emotional misshandelt oder emotional und/oder körperlich vernachlässigt. Auch sexuell missbrauchte Kinder sind häufig emotionaler Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt. Ein Problem besteht allerdings darin, dass emotionale Misshandlung und emotionale Vernachlässigung schwer zu erfassen bzw. zu diagnostizieren sind.

|13|1.2 Risiko- und Schutzfaktoren bei Misshandlung und Vernachlässigung

Misshandlung und Vernachlässigung stellen gravierende Risiken für die kindliche Entwicklung dar (Schmid et al., 2010). Die Folgen sind weitreichend und unspezifisch und gehen über eine posttraumatische Belastungsstörung oder Anpassungsstörung hinaus. Es gibt kein typisches Misshandlungs- oder Missbrauchssyndrom. Kindesmisshandlung und -vernachlässigung können auch somatische Beschwerden wie Diabetes mellitus oder ischämische Herzkrankheiten beeinflussen.

Die Auswirkungen sind umso gravierender, je früher und je häufiger Misshandlungserfahrungen aufgetreten sind. Die Plastizität des Gehirns und anderer physiologischer Systeme ist in der frühen Kindheit besonders stark ausgeprägt. Deshalb können sowohl positive als auch aversive Erlebnisse besonders ausgeprägte und lang andauernde Auswirkungen auf die frühkindliche Entwicklung haben. In der Neuropsychologie wird davon ausgegangen, dass eine solche Programmierung physiologischer Systeme über die gesamte Lebensspanne anhalten kann und so die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Organismus an Stresserfahrungen nachhaltig beeinflusst (Overfeld & Heim, 2016). In zahlreichen epidemiologischen und klinischen Studien wurde ein enger Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an Stresserfahrungen, wie z. B. durch Misshandlung und Vernachlässigung, in der Kindheit und dem Auftreten verschiedenster Störungen im Erwachsenenalter belegt (Heim & Binder, 2012). Hierzu gehören psychische Erkrankungen wie Depression, Angststörungen, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen, aber auch medizinische Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen, Übergewicht, Diabetes, Schmerzstörungen, chronisches Erschöpfungssyndrom und Autoimmunerkrankungen. Die psychischen und körperlichen Erkrankungen liegen bei den Personen mit frühen Misshandlungserfahrungen häufig in Komorbidität vor und manifestieren sich oft in Zusammenhang mit zusätzlichen Stressoren, für die die betroffenen Personen besonders sensibilisiert zu sein scheinen.

Diese Befunde sprechen dafür, dass frühe Stresserfahrungen das Gehirn in seiner Entwicklung maßgeblich beeinflussen, was zu Veränderungen in physiologischen Regulationssystemen und damit zu einem erhöhten Risiko für die Entstehung psychischer und somatischer Erkrankungen beiträgt (Overfeld & Heim, 2016). In psychiatrischen Populationen weisen etwa 30 bis 50 % der erwachsenen Patientinnen eine Missbrauchs-, Misshandlungs- oder Vernachlässigungsvorgeschichte auf (Grubaugh, 2011). Darüber hinaus zeigen Studien, dass bis zu 80 % der Patientinnen und Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in ihrer Kindheit und Jugend Opfer traumatischer Lebenserfahrungen wie sexualisierter Gewalt, schwerer physischer Gewalt und/oder Vernachlässigung waren (Zanarini, 2005; Zanarini & Hörz, 2011).

1.2.1 Das Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren

Manche Kinder überstehen auch schwere Misshandlungen und Vernachlässigungen ohne klinisch relevante Auswirkungen und zeigen dennoch eine positive Entwicklung. Es muss also nicht nur gefragt werden, warum es unter bestimmten Bedingungen zur Misshandlung und/oder Vernachlässigung von Kindern und den damit einhergehenden negativen Folgen kommt, sondern auch danach, warum unter ähnlichen Umständen in einigen Fällen keine negativen Folgen eintreten. Es geht nicht nur um Risiken, sondern auch um protektive Faktoren und Mechanismen. Studien zeigen, dass etwa 20 bis 50 % der Kinder nach Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen resilient bleiben, d. h. sich trotz belastender Umstände allem Anschein nach positiv entwickeln. Diese Kinder scheinen mit den Risiko- und Belastungssituationen besser umgehen zu können bzw. weniger verletzlich darauf zu reagieren – resilienter zu sein. Risiko- und Schutzfaktoren müssen gemeinsam berücksichtigt werden, um angemessen erklären zu können, warum bestimmte negative Erfahrungen oder Ereignisse unterschiedliche Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Kindes haben (Cicchetti & Rogosch, 1996).

Bis heute wurde bereits ein breites Spektrum potenzieller Risikofaktoren untersucht. Während man früher einfache bivariate Zusammenhänge annahm, sind in der Forschung zur Kindesmisshandlung mittlerweile komplexere, multifaktorielle Konzepte entwickelt worden. Die Modelle integrieren Einflüsse auf der Ebene des Individuums (ontologische Entwicklung), der Familie (Mikrosystem), der Nachbarschaft und des sozialen Umfelds (Mesosystem) sowie des gesellschaftlichen und kulturellen Kontexts (Makrosystem). Zur Makroebene gehören gesellschaftliche und kulturelle Faktoren, wie z. B. Erziehungseinstellungen und rechtliche Regelungen (siehe den Überblick bei Bender & Lösel, 2016).

Das Zusammenwirken einzelner Faktoren kann linear additiv, multiplikativ oder exponentiell sein (|14|Lösel & Farrington, 2012). Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, je mehr Risikofaktoren vorhanden sind, desto wahrscheinlicher ist die Entstehung von kindlichen Entwicklungs- und Verhaltensproblemen. Dieser Zusammenhang ist empirisch gut bestätigt. Weniger erforscht ist hingegen die protektive Seite. Es wird aber davon ausgegangen, dass eine günstige kindliche Entwicklung umso wahrscheinlicher wird, je mehr protektive Faktoren vorliegen. Kommt es zu Entwicklungsproblemen bei den Kindern, ist eine Art Ungleichgewicht zwischen Risiko- und Schutzfaktoren eingetreten. Die kumulierten Risiken können durch Schutzfaktoren nicht mehr kompensiert werden (Bender & Lösel, 2016).

Im Folgenden werden die empirischen Befunde über das Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren auf der Ebene des Individuums (Eltern und Kinder), des Mikrosystems (Familie und Eltern-Kind-Beziehung) und des Mesosystems (soziales Umfeld und Nachbarschaft) erörtert.

1.2.1.1 Merkmale der Eltern

Repräsentative Studien aus den USA zeigen, dass zwischen dem elterlichen Geschlecht und Kindesmisshandlung kein klarer Zusammenhang besteht (Straus, 2010). Dies konnte auch in einer bundesweiten repräsentativen Elternbefragung herausgefunden werden. In einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegebenen bundesweiten, repräsentativen Elternbefragung fanden sich keine Unterschiede zwischen Müttern und Vätern in der Anwendung von Gewalt in der Erziehung (BMFSFJ & BMJ, 2003).

Risikofaktoren durch eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit: Studien zeigen, dass misshandelnde Eltern in ihrer Kindheit und Jugend oft selbst Opfer elterlicher Gewalt geworden waren. Dieser „cycle of violence“, also der Zusammenhang zwischen selbst erlebter Misshandlung und späteren Misshandlungen eigener Kinder konnte in einigen prospektiven Studien nachgewiesen werden (z. B. Pianta et al., 1989). Es handelt sich allerdings nur um einen relativen Transfer. Die Schätzungen der Rate des Gewalttransfers liegen bei etwa 30 % (Bender & Lösel, 2016). Ein Großteil der Eltern gibt also die selbst erfahrene Gewalt nicht an ihre Kinder weiter. Dennoch konnte aufgezeigt werden, dass Eltern, die ihre Kinder in den ersten Lebensjahren nicht misshandelt haben, noch zu einem späteren Zeitpunkt oder an weiteren Kindern, z. B. in akuten Belastungssituationen, zu Tätern werden können.

Das erhöhte Misshandlungsrisiko wird durch die größere Stressempfindlichkeit der selbst in ihrer Kindheit misshandelten Eltern nahegelegt. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass lebensgeschichtlich frühe Stresserfahrungen markante Änderungen in neurobiologischen Systemen induzieren, die für den Umgang mit Stress relevant sind. Personen mit kindlichen Misshandlungserfahrungen weisen eine anhaltende Sensibilisierung der neuroendokrinen und autonomen Stressreaktionen, eine verminderte Feedbacksensitivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) sowie Veränderungen in Neurotransmitterkonzentrationen und Hirnstrukturen auf, die für die Regulation der Stressantwort eine zentrale Rolle spielen (Heim et al., 2013).

Bindungstheoretisch betrachtet entwickeln Kinder ein inneres Modell vom elterlichen Erziehungsverhalten und ein Bild von sich selbst. Diese mentalen Repräsentationen sind ein Abbild der Bindungsqualität zwischen dem Kind und seiner primären Bezugsperson. So werden das Ausmaß und die Angemessenheit elterlicher Reaktionen auf Bedürfnisse und Signale von den Kindern verinnerlicht. Ein misshandeltes Kind entwickelt das Schema, dass die primäre Bezugsperson unsensibel, nicht verfügbar und zurückweisend ist. Sich selbst erlebt das betroffene Kind als nicht wert und nicht fähig, angemessene Aufmerksamkeit und Fürsorge bei ihrer Bezugsperson hervorzurufen. Diese frühen mentalen Repräsentationen der Eltern, die sie als misshandelte Kinder entwickelt haben, werden häufig auf die Beziehungen zu ihren Kindern übertragen. Es ist daher das verinnerlichte Modell des Umgangs der primären Bezugsperson mit dem Kind, das an die nächste Generation weitergegeben wird, und nicht die Gewalt an sich.

Schutzfaktoren: Nach bindungstheoretischer Vorstellung ist ein Durchbrechen dieses „cycle of violence“ möglich, wenn es den misshandelten Eltern gelingt, sich an diese frühen Erfahrungen zu erinnern und sich innerlich davon zu distanzieren, z. B. durch eine therapeutische Bearbeitung dieser negativen Kindheitserfahrungen. Als hilfreich für das Durchbrechen des Kreislaufs der Gewalt scheint der Einfluss einer guten und unterstützenden Beziehung zum Ehepartner zu sein. Eine stabile Partnerschaft erleichtert das Erleben von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen, was sich positiv auf die Beziehung zum Kind auswirken kann. Weitere protektive Faktoren sind positive und unterstützende Rückmeldungen der Umgebung, eine gewisse Flexibilität im Denken und Verhalten sowie eine optimistische Einstellung zur Zukunft (Bender & Lösel, 2016).

|15|Risikofaktoren im Zusammenhang mit Persönlichkeitsmerkmalen der Eltern: Neben den Gewalterfahrungen in der eigenen Kindheit werden bestimmte Persönlichkeitsmerkmale bei misshandelnden Eltern angenommen, bei denen davon auszugehen ist, dass sie psychisch kranken und suchtkranken Eltern besonders affin sind. Die empirische Befundlage hierzu ist allerdings nicht völlig konsistent.

Es wurden Probleme der Impulskontrolle, ein geringes Selbstwertgefühl und eine eingeschränkte Empathiefähigkeit bei misshandelnden Eltern beobachtet. Darüber hinaus zeigten sich Besonderheiten im Bewältigungsverhalten. Misshandelnde Mütter wandten häufiger emotionsbezogene und seltener problemorientierte Bewältigungsstrategien an und nahmen sich selbst als ineffektiver in der Lösung von Problemen wahr als Mütter, die ihre Kinder nicht misshandelten (Azar, 2002; Cantos et al., 1997). Eine prospektive Studie zeigte, dass sich die emotionale Labilität deutlich zwischen misshandelnden und fürsorglichen Müttern unterschied. Bender und Lösel (2005) gehen davon aus, dass diese insgesamt inkonsistenten Befunde auf unterschiedliche Stichproben, Messinstrumente und Kriterien der Misshandlung zurückzuführen sind.

Empirisch gut belegt sind Zusammenhänge zwischen Misshandlungsrisiko und Problemen von Eltern bei der Emotionsregulation. So stellte Aragona (1983) fest, dass Mütter mit hohem Misshandlungsrisiko höhere Werte im Eigenschaftsärger, und auch häufiger situationsbezogenen Zustandsärger in Situationen zeigen, in denen Kinder sich nicht nach elterlichen Regeln und Vorgaben richteten.

Relativ konsistent sind auch die Zusammenhänge zwischen einem erhöhten Risiko seine Kinder zu misshandeln und einer eigenen emotionalen Verstimmung, Depressivität, Ängstlichkeit und geringem Selbstwertgefühl. Diese Ergebnisse werden durch die Depressionsforschung bestätigt, in der man Korrelationen zwischen affektiver Störung und feindseliger oder zurückweisender Versorgung sowie nicht responsivem Elternverhalten feststellen konnte (Bender & Lösel, 2016).

Schutzfaktoren von Eltern: Gegenüber diesen Risikofaktoren können Einflüsse protektiv wirken, die die emotionale Labilität der Eltern abmindern, das Selbstwertgefühl steigern und direkt oder indirekt zur Bewältigung von Problemen beitragen. Genannt werden z. B.:

eine zufriedenstellende soziale Unterstützung durch das unmittelbare Umfeld,

das Eingebundensein in stabile soziale Netzwerke,

religiöse Gemeinschaften,

die Unterstützung durch den Partner und

die Bestätigung des Selbstwerts durch außerfamiliäre Aktivitäten (siehe z. B. Sperry & Widom, 2013)