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Annemie Engel ist zurück! Ausgerechnet in der Adventszeit bricht eine bekannte Influencerin tot in Annemies Café zusammen, und der Verdacht, Annemies Gebäck könnte damit etwas zu tun haben, macht blitzschnell die virale Runde. Das kann Annemie nicht auf sich sitzen lassen. Todesmutig wirft sie sich in das Haifischbecken der Social-Media-Sternchen und muss bald feststellen: Dieses Weihnachtsfest wird alles andere als besinnlich.
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Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2025
Elke Pistor, Jahrgang 1967, studierte Pädagogik und Psychologie. Seit 2009 ist sie als Autorin, Publizistin und Medien-Dozentin tätig. 2014 wurde sie für ihre Arbeit mit dem Töwerland-Stipendium ausgezeichnet und 2015 und 2023 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Kategorie »Kurzkrimi« nominiert. Elke Pistor lebt mit ihrer Familie in Köln.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Ab Seite 226 finden sich Rezepte zum Nachbacken.
© Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive
istockphoto.com/Ekaterina Tarasova/Silvia Kienesberger/Vect0r0vich
Lektorat: Marit Obsen
E-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt Ltd
ISBN 978-3-98707-333-5
Ein Weihnachtskrimi
Originalausgabe
Dieser Roman wurde vermittelt durch die
Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationeninsbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
För Ulla1939–2025
Ja, jag tror att livets innersta mening är kärlek.Astrid Lindgren
... und für Herby 2011–2025
Als Annemie Engel erwachte, wusste sie, dass es kein Tag wie jeder andere werden würde. Sie freute sich. Vor allem über die kleinen Finger in ihrem Gesicht, die sich gerade sehr darum bemühten, ihre Augenlider besonders vorsichtig auseinanderzuschieben. Wobei nicht die Art und Weise des Vorgehens, sondern die Tatsache, dass es diese Finger gab, eine Welle des Glücks durch Annemie Engels Brust rollen ließ.
»Ommenie?«, flüsterte die Besitzerin der Finger dicht an Annemies Ohr. »Schläfst du noch?«
Annemie rührte sich nicht. Stattdessen öffnete sie den Mund, stieß einen lauten Schnarcher aus und schloss das halb geöffnete Auge wieder.
»Ommenie!« Die Finger rutschten von ihrem Gesicht zu ihrer Schulter und rüttelten daran.
Annemie schmatzte, drehte sich zur Seite und zog die Bettdecke über die Schultern. Sie liebte dieses allmorgendliche Spiel mit Nölli.
»Ommenie. Du sollst aufstehen.«
Annemie spürte das Gesicht ihrer Enkeltochter dicht vor ihrem. Unvermittelt riss sie die Augen auf.
»Hab ich dich!« Sie packte Nölli mit beiden Händen und zog sie unter die Bettdecke. Das Kind quietschte vor Schreck und Vergnügen auf, strampelte sich frei und sprang wieder auf den Boden.
»Wir müssen doch jetzt Kekse backen!«, rief Nölli atemlos und stemmte energisch die Hände in die Taille, bevor sie sich umdrehte und aus dem Zimmer rannte.
»Das stimmt.« Annemie setzte sich auf, schob die Füße aus dem Bett und suchte mit den Zehen ihre Filzpantoffeln, während sie mit der linken Hand nach ihrem Morgenmantel griff. Heute war der beigefarbene Bademantel an der Reihe, denn heute war Donnerstag. Er war auch jeden Dienstag und jeden Samstag der Morgenmantel ihrer Wahl. Morgen, am Freitag, wäre es bis vor Kurzem ein hellblauer gewesen, so wie jeden Montag, Mittwoch und Freitag. Aber den hatte sie wegwerfen müssen, nachdem es einen unglücklichen Zusammenstoß zwischen ihr, Nölli und einem großen Becher Kakao gegeben hatte. Nach mehr als vierzig Jahren hatte das Gewebe dem Reinigungsmittel nichts mehr entgegenzusetzen gehabt. Statt des Flecks prangte nach der Säuberungsprozedur ein Loch im Stoff, und Annemie war nach gründlicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen, sich ausnahmsweise einen neuen Morgenmantel erlauben zu dürfen. Hoffentlich würde der lindgrüne mit Rosenmuster und Rüschen, der immer sonntags zu Ehren kam, noch lange Zeit seinen Dienst versehen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Vier in der Früh. Am Fußende des Bettes hatten sich ihre beiden Kater, Belmondo und Engelbert von Adel, zusammengerollt und schliefen. Sie ließen sich von Nölli nicht stören. Annemie lehnte sich hinüber und strich jedem der beiden sanft über das Fell. Belmondo tat einen tiefen Seufzer, blinzelte und schlief sofort wieder ein. Engelbert von Adel brummte zufrieden. Annemie lächelte wehmütig. Die beiden wurden alt. Genau wie sie. Sie ging stramm auf die siebzig zu. Aber im Gegensatz zu den Katern konnte sie nicht im Bett liegen bleiben. Mal abgesehen davon, dass sie es auch nicht wollte. Sie wäre auch ohne ihre Enkeltochter um diese nächtliche Uhrzeit aufgestanden, denn der Lebensrhythmus von mehr als vierzig Jahren als Konditorin hatte sich in jeder Zelle ihres Körpers festgesetzt. Heute standen neben diversen Torten für das Café Engelsstübchen vor allem wieder Kekse auf dem Programm. Der Stand auf dem Niedelsinger Weihnachtsmarkt brauchte dringend frischen Nachschub. Drei Wochen vor Weihnachten war aus dem nasskalten Schmuddelwetter endlich ein ordentlicher Winter geworden, der die Besucher in Kauflaune versetzte.
»Komm doch endlich!« Nölli erschien wieder in der Tür zu ihrem Schlafzimmer. Wie sie dort stand, wirkte sie wie eine Miniversion ihrer Mutter Maike. Voller Tatendrang, Energie und vor allem sehr bestimmt. Ihre dunklen Locken waren allerdings eindeutig das Erbe ihres syrischen Vaters Farin. Eine gelungene Kombination. Genau wie ihr Name. Noelia Liya Assenmacher. Nur Annemie nannte sie »Nölli«. Und nur Nölli durfte Annemie »Ommenie« nennen, eine Mischung aus »Annemie« und »Omi«. Den ersten Teil ihres richtigen Namens verdankte Nölli dem Tag ihrer Geburt, dem 25. Dezember, und den zweiten dem ausgesprochenen Familiensinn ihres Vaters, der allen erklärt hatte, die erste Trägerin dieses klangvollen Namens, eine Cousine seines Onkels, sei eine ausgesprochen kluge, weise und darüber hinaus auch noch schöne Frau gewesen. Alles Eigenschaften, die er sich als Vater für seine Tochter wünschte. Allerdings machte die Kleine der eigentlichen Bedeutung des Namens Liya, »die Geduldige«, keine Ehre. Grundsätzlich und vor allem jetzt nicht. Sie lief auf Annemie zu, packte einen Zipfel des Bademantels und zerrte daran mit der ganzen Kraft, die eine fast Dreijährige aufbringen konnte.
»Ist dein Papa schon aufgestanden?«, wollte Annemie wissen. Sie griff nach Nöllis Hand und ließ sich bereitwillig von ihr in den Flur führen. Aus dem Augenwinkel erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild. Im Schlaf hatten sich ihre Haare auf einer Seite platt gedrückt, auf der anderen standen sie steil nach oben. In einer anderen Farbe als Grau und über dem Gesicht einer fünfzig Jahre Jüngeren hätte es gewollt ausgesehen. Auf ihrem Kopf sah es aus wie auf einer Seite platt gedrückt und auf der anderen Seite steil nach oben stehend. Ihr Blick glitt abwärts. Sie war ein bisschen zu klein und ein bisschen zu dick. Allerdings nur in den Augen derer, die sich um solche Dinge scherten. Was in diesem Haus niemand tat. Auch nicht Werner, dessen leises Schnarchen aus dem Zimmer nebenan drang.
Annemie blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Kurz war sie versucht, seine Tür einen Spalt weit zu öffnen und nachzusehen, aber alles schien in Ordnung zu sein. Werner und sie schliefen in getrennten Zimmern. Fast dreißig Jahre des Alleinlebens hatten zwischen Annemie und der Vorstellung von einem gemeinsamen Ehebett gestanden, als sie und Werner vor drei Jahren beschlossen hatten, ihrer lang vergangenen Jugendliebe wieder neues Leben einzuhauchen und eine auf den Rest ihrer beider Zukunft ausgerichtete Gemeinschaft einzugehen. So war Werner nach ihrer Verlobung in das Zimmer direkt neben dem ihren eingezogen. Ihrer Zuneigung tat es keinen Abbruch, und als gegenseitige Besucher hießen sie sich jederzeit willkommen.
Überdies schlief Werner als bis spätabends arbeitender Buchhändler länger als die beruflich bedingte Sehrfrühaufsteherin Annemie. Sein Dienst im Laden begann erst um zehn Uhr. Auch wenn beide, Annemie und er, bereits das Alter erreicht hatten, in dem andere ihre Rente genossen, dachten sie nicht ans Aufhören. Dazu wurden sie noch viel zu sehr gebraucht. Vor allem hier im Haus, in dem sie gemeinsam mit Maike, Farin und Noelia lebten. Sie und Werner in der ersten Etage, direkt über dem Café, Farin und Maike mit der Kleinen in der zweiten Etage und darüber. Nach Noelias Geburt hatten sie das Dachgeschoss ausgebaut, um mehr Platz zu haben. Obwohl beide Etagen über eigene Wohnungstüren verfügten, standen die in der Regel offen, was nicht nur die Kleine, sondern auch die Kater sehr zu schätzen wussten.
»Papa schläft noch. Mama ist im Krankenhaus.«
»Sie kommt sicher nach dem Frühstück nach Hause.«
»Aber dann muss sie schlafen gehen und sich ausruhen, das weißt du doch, Ommenie.« Noelia schaute Annemie ernst an. »Es ist anstrengend, kranke Leute gesund zu machen.«
»Fast genauso anstrengend, wie einen Haufen Kekse zu backen.« Annemie erwiderte den strengen Blick ihrer Enkeltochter. Dann schmunzelte sie. »Aber ich habe ja eine großartige Helferin.«
Noelia strahlte und nickte. Das Vertrauen, mit dem das kleine Mädchen sie ansah, die Wärme und der feuchte Druck der kleinen Finger in ihrer Hand ließen Annemies Herz schmelzen. Noch vor wenigen Jahren hätte sie nie damit gerechnet, einmal einen kleinen Menschen so lieb haben zu dürfen. Genauer gesagt, hätte sie nicht damit gerechnet, überhaupt jemals wieder jemanden so nah an sich heranzulassen, dass irgendein Gefühl entstand. Ihre vorherrschende Empfindung gegenüber allen Menschen war damals Abneigung und Misstrauen gewesen, und das daraus resultierende Bedürfnis nach größtmöglichem Abstand hatte in Konsequenz zu einem absoluten Einsiedlerleben geführt.
Gemeinsam stiegen Annemie und Nölli die Treppe zur Backstube hinunter. Annemie öffnete die Tür und ließ Noelia den Vortritt. Die Kleine streckte sich nach dem Lichtschalter. Bläuliches Licht erhellte den Raum bis in den letzten Winkel. Seit Farin vor einigen Jahren mit gepackten Koffern vor Annemies Tür gestanden und verkündet hatte, er müsse nun bei ihr wohnen, hatte sich auch hier vieles verändert.
Zuerst hatte sie ihn nicht einlassen wollen, aber die Umstände, die Annemies Bruder Harald, einen explodierten Weihnachtsmarktstand und einen Todesfall beinhalteten, hatten am Ende dazu geführt, dass Farin nicht nur dauerhaft bei ihr einzog, sondern zu dem Sohn wurde, den sie nie gehabt hatte. Als junger Mann hatte Farin in Syrien den Beruf des Bäckers erlernt, und so begeisterte er sich nicht nur schnell für die Konditorei, sondern erwies sich darüber hinaus als ausgesprochen talentiert und kreativ. Sie wurden Geschäftspartner und eröffneten gemeinsam das Café wieder, dem Annemie während der Jahre, die sie von der Menschheit zurückgezogen lebte, keine Beachtung mehr geschenkt hatte. Da beiden, Annemie und Farin, klar war, dass Annemie trotz aller Motivation nicht ewig würde arbeiten können, hatte Farin die offizielle Ausbildung zum Konditor bei Annemie absolviert und arbeitete nun in Teilzeit an seinem Meistertitel, um die Konditorei und das Café irgendwann allein betreiben zu können.
Dass er und Maike, Werners Tochter, sich ineinander verliebt, geheiratet und schließlich Noelia bekommen hatten, setzte Annemie ebenfalls auf die Liste der guten Dinge, die ihr widerfahren waren. Ob verdient oder unverdient, die Frage stellte sie sich nicht, weil sie in ihren Augen nicht zu beantworten war. Sie suchte nicht nach Schuldigen für Vergangenes. Das band Energien, die sie lieber dafür einsetzte, die Probleme und Herausforderungen zu lösen, die einem das Leben jeden Tag vor die Füße spülte.
Nölli, die jetzt fröhlich vor Annemie die Treppe hinunterhüpfte, war so eine Herausforderung. Im absolut positiven Sinne, aber nichtsdestotrotz konnte der kleine Fratz hin und wieder anstrengend sein, und zwar für die gesamte Familie.
Annemie war froh, Farin und Maike in ihren elterlichen Pflichten entlasten zu können. Vor allem Maike hatte viel um die Ohren. Ihren Job als Ärztin im Glimberger Kreiskrankenhaus nahm sie sehr ernst. Aber auch wenn sie die Arbeit mit und für Patienten liebte, hinterließen Nacht- und Wochenenddienste ihre Spuren. Selbst die Energie einer Mittdreißigerin war nicht unbegrenzt. Zumal sie auch als Werners Tochter, Annemies Quasi-Schwiegertochter, Farins Frau und Noelias Mutter immer zur Stelle und zusätzlich als Mitinhaberin für das Marketing des Cafés zuständig war. Annemie verstand zwar bis heute nicht genau, was Maike in diesem Zusammenhang mit ihrem Handy veranstaltete – für Annemie waren Mundpropaganda und ein beleuchteter Schaukasten mit der Speisekarte an der Außenwand als Werbung für das Café absolut ausreichend –, aber sie wollte der jungen Frau nicht reinreden. Das galt auch für Maikes Rolle in der Familie. Wobei ihr Wollen und ihr tatsächliches Handeln nicht immer zu hundert Prozent übereinstimmten. Was ihr dann im Nachhinein meistens leidtat.
»Was backen wir denn heute Schönes, Nölli?«, wollte Annemie wissen.
»Kronen. Mit Nüssen.« Noelia rieb sich den Bauch. »Die sind lecker.«
»Haselnuss-Makronen?« Annemie überlegte kurz. Sie würde davon noch etliche Bleche mehr herstellen müssen, aber ein paar der Nuss-Makronen für den Eigenbedarf – oder genauer gesagt, Nöllis Bedarf – konnte sie gut dazwischenschieben. »Alles klar. Was brauchst du dafür?«
»Eier.« Noelia schob einen Stuhl an die Arbeitsfläche und kletterte darauf. Sie hob ihre rechte Hand, streckte den Zeigefinger in die Höhe und hielt ihn mit der linken fest.
Annemie ging zur Kühlung, nahm zwei Eier heraus und trug sie zu Noelias Platz.
»Zuckerpuder.« Nölli streckte den Daumen aus und umfasste auch den.
Annemie wog hundertfünfzig Gramm Puderzucker ab. Die kleinen Mengen waren ungewohnt für sie, aber hier ging es nicht um Ware für den Verkauf, sondern darum, Nöllis Spaß am Backen zu wecken. Extra zu diesem Zweck hatte sie sogar ein Handmixgerät angeschafft – in Rosa, Noelias Lieblingsfarbe.
»Die Nüsse, gemahlt und in Ganz.« Zwei weitere Finger schossen in die Höhe, wobei der kleine Finger der Einfachheit halber mit nach oben wanderte.
»Einmal gemahlene Nüsse, die Dame.« Annemie griff nach den Vorratsbehältern, wog zweihundertfünfzig Gramm ab und stellte sie in einer Schüssel auf den Arbeitsplatz. »Und, einen Moment bitte …« Sie griff nach einem anderen Behälter und schüttete ungefähr fünfundzwanzig ganze Haselnüsse in eine zweite Schüssel.
Nölli schaute sich die Sachen an und lächelte zufrieden.
»Was fehlt noch?« Annemie wartete geduldig, während die Kleine nachdachte. Vor Anstrengung legte sich ihre glatte Kinderstirn in Falten.
»Zimt. Der gleiche wie in den Sternen.« Nölli strahlte, als Annemie nickte und mit einem Teelöffel Zimt abmaß. »Jetzt können wir anfangen.« Nölli schob die Ärmel ihres Schlafanzugs über die Ellenbogen.
»Noch nicht ganz. Eine Zutat fehlt noch.« Annemie machte eine kleine Pause. »Etwas, das man bei allen süßen Sachen nie vergessen sollte«, ergänzte sie, als sie die Ratlosigkeit auf Noelias Gesicht ablesen konnte.
»Pfeffer?«
»Das wäre sicher interessant. Aber: nein. Überleg noch mal.«
»Salz!«
»Richtig!« Annemie klatschte in die Hände, reichte ihrer Enkelin mit großer Geste die Salzdose, stoppte aber kurz vor Noelias ausgestreckten Händen. »Wie viel? Nur eine kleine …«
»Prise!«, rief Nölli, und Annemie stimmte in das Wort mit ein.
»Und bevor wir anfangen, machen wir was?«, fragte Annemie und schaute Nölli streng an.
»Hände waschen und Schürze anziehen«, kam prompt die Antwort. Nölli hüpfte vom Stuhl, lief zum Waschbecken und wartete auf Annemie.
»Sehr richtig. Und auch sehr wichtig.« Annemie drehte den Hahn auf, und die beiden wuschen sich die Hände. Im Anschluss nahm Annemie ihren Kittel vom Haken, zog ihn an und band dann Noelia die bunte Schürze um, die neben ihrer an einem eigenen Haken hing, über dem das Bild einer dieser Filmprinzessinnen klebte.
Eigentlich durfte das alles gar nicht in der Backstube sein. Weder Noelias Kletterstuhl noch die Kinderschürze. Genau genommen durfte das ganze Kind überhaupt nicht hier sein. Noelia widersprach allen Hygienevorschriften, die es gab. Aber das war Annemie egal. In früheren Zeiten hatte ihr Kater Belmondo buchstäblich in der Backstube gewohnt. Er war von Farin nach längeren Diskussionen verbannt worden, aber nur um den Preis, dass er im Café einen Ehrenplatz bekam, wenn es ihn dorthin zog, was aber nur selten der Fall war.
Eine halbe Stunde später hatte Nölli ihren Stuhl vor die Glasscheibe des Ofens geschoben und beobachtete ihre Haselnuss-Makronen. Sie hatten die Eier getrennt, den Eischnee geschlagen und dann den Puderzucker und die gemahlenen Nüsse vorsichtig untergehoben. Mit einer Spritztüte hatte Nölli kleine Haufen auf Backoblaten gespritzt. Natürlich waren die Makronen nicht alle gleich groß, und einige hingen halb auf und halb neben der Oblate. Auch die Nüsse, die zum Schluss oben auf die Makrone gesetzt werden mussten, hatte ein sehr unterschiedliches Schicksal ereilt. Von »perfekt auf der Spitze« bis »tief in den Teig gedrückt« war alles dabei. Aber das spielte keine Rolle. Diese Makrönchen waren Nöllis Werk, und sie war stolz und glücklich. Nur das zählte.
Weitere dreißig Backbleche, mehrere Kuchen, Torten und vier Stunden später stand Annemie hinter der Theke des Engelsstübchens und betrachtete zufrieden ihr Werk. Die Auslagen waren voll mit frisch hergestellten Kuchen und Torten, kleinen Teilchen und Plätzchen.
Farin war gegen sechs zu ihr und Noelia gestoßen und hatte eine Reihe Torten fertiggestellt, die er am Tag zuvor vorbereitet hatte, bevor er mit Noelia nach oben verschwunden war, um mit ihr zu frühstücken und ihr beim Ankleiden zu helfen. Um halb neun war Werner mit einer fröhlich hüpfenden Noelia in Richtung ihres Kindergartens abgezogen. Annemie wunderte sich immer wieder aufs Neue, woher die Kleine nach dem nächtlichen Aufstehen die Energie nahm. Aber der obligatorische Mittagsschlaf im Kindergarten tat da sicher das Seine.
Annemie freute sich auf die Tasse Kaffee mit Werner. Die beiden hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, in einer Ecke des Cafés ein kleines Frühstück einzunehmen, bevor Werner in die Buchhandlung musste. Sie nahm Geschirr, deckte ein und setzte sich mit einer vollen Tasse Kaffee an den Tisch zu ihrem Verlobten, der kurz von seiner Zeitung aufsah und Annemie einen angedeuteten Kuss zuwarf. Diese Momente der Ruhe und stillen Zweisamkeit waren ungewohnt für Annemie, und sie musste immer noch dagegen ankämpfen, bei jeder Arbeit, die sie sah, sofort aufzuspringen.
In der gegenüberliegenden Ecke des Raums hatte eine der täglichen Müttertruppen Posten bezogen. Annemie wusste nicht, ob sie sich über diese Kundschaft freuen sollte oder nicht. Auf der einen Seite konsumierten die jungen Frauen jede maximal einen oder zwei Milchkaffee pro Aufenthalt, schätzte Annemie. Auf der anderen Seite kamen sie nahezu täglich, außer am Wochenende. Und sie machten Werbung für das Engelsstübchen, hatte Maike ihr erklärt. Sie fotografierten den Milchkaffee, die gedeckten Tische und manchmal auch Belmondo und Engelbert von Adel, wenn diese sich zu einem ihrer seltenen Besuche im Gastraum einfanden. Diese Fotos »posteten« sie in den sozialen Netzwerken. Auch das hatte Maike ihr erklärt. Diese Fotos sahen dann andere Müttertruppen und kamen ins Engelsstübchen, um ebenfalls einen oder zwei Milchkaffee zu trinken und Fotos vom Kaffee, von der Einrichtung und den beiden Katern zu machen. Und so vermehrten sich die Müttertruppen, die Fotos im Internet und der Umsatz von Kaffee in allen Variationen sowie einem Getränk namens Chai Latte, dessen von Maike angesetzten Preis Annemie nicht nachvollziehen konnte, handelte es sich doch schlicht um Tee mit Milch und verschiedenen Gewürzen. Aber Maike hatte ihr erklärt, dass man nicht nur an dem Getränk, sondern auch am Trend verdiene, worauf Annemie entgegnete, früher hätte es so etwas wie einen Trend noch nicht einmal gegeben, und wenn doch, dann mit Sicherheit nicht, um sich daran zu bereichern. Einmal wollte eine der Müttertruppen auch Fotos von Annemie machen, aber das ging ihr dann doch zu weit. Obwohl Maike ganz begeistert von der Idee gewesen war: sie, Annemie in ihrem Kittel, hinter der Theke mit einem Teller voller Makrönchen. Das war einer der Momente gewesen, in dem Maikes Wollen und Annemies Handeln weit auseinanderklafften. Sehr weit.
Annemie wandte sich ab und trank einen Schluck Kaffee. Mal abgesehen von dem zweifelhaften Nutzen dieser Kundengruppe fragte sie sich, warum die jungen Frauen es sich leisten konnten, den ganzen Vormittag im Café zu sitzen und mit ihren Kinderwagen die Durchgänge zu verstellen. Gut, sie hatten ihre Kinder dabei. Das war ja immerhin schon mal etwas. Aber sonst? Hatten die keine Arbeit? Keinen Haushalt? Irgendetwas, was sie zu tun hatten? Jeder Mensch hatte doch irgendetwas zu tun. Oder sollte es zumindest. Und wenn es nichts zu tun gab, konnte man sich etwas zu tun verschaffen.
Ein Schrei gellte durch das Café. Spitz, hoch, schrill. Annemie fuhr herum. Das war kein Geräusch von einem Baby gewesen.
»Lenalaura?« Am Tisch der Müttertruppe waren alle aufgesprungen und riefen aufgeregt durcheinander.
»Einen Krankenwagen! Wir brauchen einen Krankenwagen!«
Annemie schob ihren Stuhl zurück und eilte zu ihnen. Energisch schob sie zwei Frauen zur Seite, die sich über etwas beugten, und erstarrte.
Vor ihr, den Oberkörper auf dem Tisch, lag in sich zusammengesackt eine der Frauen. Die Augen waren weit geöffnet. Aus ihrem Mund rann Speichel.
»Lenalaura, hörst du mich?« Eine der Frauen rüttelte heftig an der Schulter ihrer Freundin. Die rührte sich nicht. Sie umfasste die Schultern der Bewusstlosen mit beiden Händen, richtete sie auf, tätschelte ihr mit der flachen Hand kräftig die Wange. Ohne Erfolg.
»Lenalaura, oh mein Gott!«
»Was ist denn mit ihr?«
»Atmet sie noch?«
Aufgeregt riefen die Freundinnen durcheinander, drängten sich um die Frau. Ein Stuhl kippte krachend um. Eines der Babys in seinem Hochsitz fing an zu weinen, zwei weitere stimmten ein.
»Legt sie auf den Boden«, befahl Annemie laut. Für einen Moment verstummten die Frauen, sahen sie an. Dann brachen sie in hektische Geschäftigkeit aus.
»Ist jemand von Ihnen Arzt?« Werners tiefe Stimme dröhnte durch den Raum. »Wir haben hier einen Notfall.«
Jetzt horchten auch die Gäste, die bisher nicht auf das Geschehen geachtet hatten, auf und sahen zu der Gruppe am Tisch herüber. Niemand meldete sich. Aus einer Sitzgruppe nahe dem Fenster erhob sich ein älterer Mann, winkte mit einer Geldbörse und zog seinen Mantel an. Als niemand reagierte, legte er einen Geldschein auf den Tisch und ging.
»Zahlen, bitte! Wir möchten zahlen!« Rufe von allen Seiten.
Annemie seufzte innerlich. Das konnte warten. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was Maike ihr zum Thema Erste Hilfe beigebracht hatte. »Falls mal jemand in deinem Café umkippt.« Annemie hatte es damals als Scherz aufgefasst. Aber das hier war kein Scherz. Die junge Frau sah nicht gut aus.
Sie achtete nicht auf den stechenden Schmerz in ihren Gelenken und das Knacken, als sie sich neben ihr auf den Boden kniete. Rasch brachte sie die Arme und Beine der Frau in die richtige Position, zerrte am Oberschenkel, um sie zu drehen. Annemie keuchte.
»Warte, ich mache das.« Farin war herbeigeeilt und griff zu. Er schob den Oberkörper der Frau in die stabile Seitenlage und sicherte den überstreckten Hals mit ihrer Hand.
Ein paar der Gäste waren aufgestanden, drängten sich neugierig um den Tisch und versuchten, etwas zu sehen. Andere standen an der Theke und bestanden ungeduldig darauf, abkassiert zu werden.
Unvermittelt flutete Blaulicht den Raum. Der Krankenwagen. Schritte, energische Stimmen riefen Anweisungen. Annemie wurde zur Seite geschoben. Ein Rettungssanitäter beugte sich über die Frau, rhythmisch auf ihre Brust pressend. Die Ärztin daneben hob die Paddles eines Defibrillators in die Höhe. »Weg!« Der Körper bäumte sich auf, sank herab. Umgehend nahm der Sanitäter wieder die Herzrhythmusmassage auf. Annemie stand daneben, fassungslos. Leises Weinen drang aus einem anderen Teil des Cafés herüber. Jemand führte Annemie zu einem Tisch, drückte sie auf einen Stuhl.
»Annemie?«
Sie nahm einen tiefen Atemzug, schaute ihrem Gegenüber ins Gesicht. Werner.
»Gut, dass du da bist.« Sie sah in Richtung des Geschehens. Immer noch kämpfte die Besatzung des Krankenwagens um das Leben der jungen Frau. »Was, wenn sie stirbt? In meinem Café.«
»Weißt du, was passiert ist?«
Annemie umschlang sich mit beiden Armen. Sie war selten sprachlos, aber zu dem, was da gerade vor ihren Augen geschah, fehlten ihr die Worte. In ihren Ohren rauschte es. Sie schaute zur Decke. Die Lichterketten in den Tannengirlanden, die mit roten Samtschleifen an den Deckenbalken befestigt waren, blinkten fröhlich vor sich hin. In den glänzenden Flächen der dicken roten Kugeln spiegelte sich das Bild darunter: Die Ärztin war aufgestanden. Der Defibrillator stand neben ihr, eines der Paddles lag auf dem Boden. Auch der Rettungssanitäter kniete nicht mehr. Er sagte etwas zu der Ärztin, das Annemie nicht verstand. Die Ärztin nickte, zog ein Handy aus der Kitteltasche, tippte eine Nummer ein. Farin trat zu der Ärztin, sprach mit ihr. Sie schüttelte bedauernd den Kopf, hob die Hand, als wollte sie ihn berühren, ließ sie aber wieder sinken. Die beiden schienen sich zu kennen, vermutlich war sie eine von Maikes Kolleginnen.
Annemie riss ihren Blick von dem Spiegelbild in den Kugeln los, straffte sich. Gerade wollte sie aufstehen, als Farin zu ihr kam.
»Die Polizei wird gleich hier sein. Rike«, er zeigte kurz auf die Notärztin, »hat sie angerufen.«
Annemie nickte. »Die Frau ist tot«, stellte sie fest. Sie hatte es bereits geahnt, als sie zum Tisch gekommen war.
»Ja. Sie ist tot.« Farins Stimme klang belegt.
Es ausgesprochen zu hören, machte das Unfassbare fassbarer. Ein Mensch war gerade gestorben. Eine junge Frau. Eine Mutter. Was war mit dem Kind, das zu ihr gehörte? Kümmerte sich jemand? Vermutlich. Ihre Freundinnen waren da. Was würde als Nächstes passieren? Polizei. Dann musste jemand kommen und die Leiche abholen. Farin, die Aushilfe und sie würden aufräumen. Die Tische an die richtigen Stellen schieben, die Stühle aufrichten, die heruntergefallenen Kissen aufheben und ihnen einen Kniff in der Mitte verpassen. Es würde alles wieder so aussehen wie vorher. Aber es wäre nicht mehr das Gleiche. Zumindest für sie nicht. In ihrem Café war ein Mensch gestorben. Und auch wenn sie darauf keinen Einfluss gehabt hatte, fühlte sie sich verantwortlich.
Langsam ließ das Rauschen in Annemies Ohren nach, und sie konnte klarer denken. Sie sah sich um. Der Ausdruck in den Gesichtern der Anwesenden wirkte in der gemütlichen Umgebung des Engelsstübchens seltsam deplatziert. Entsetzen und Mitleid passten nicht zu dem munteren Sammelsurium alter Biedermeiersessel, glänzender Nierentische und viktorianischer Sitzgruppen, die Maike und Farin zur Wiedereröffnung des Cafés vor drei Jahren zusammengetragen hatten. Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, glänzten Kugeln, schimmerten Kerzenleuchter und glitzerten Lametta und Silbersterne aus allen Ecken. Maike hatte ihrem Hang zu üppiger Dekoration freien Lauf gelassen.
Immer noch fluteten der Duft des heißen Kaffees und süße Kuchenaromen den Raum. Doch sonst bildeten Gelächter, Gespräche, das Krachen der Espressomaschine und Geschirrklappern eine dichte Geräuschkulisse. Jetzt erkaltete der Kaffee in den Tassen, Brötchenhälften vertrockneten und die letzten Kuchenreste blieben unberührt. Den Gästen waren das Lachen und der Appetit vergangen. Einige flüsterten leise miteinander, andere hielten Telefone in den Händen, wischten darüber oder tippten wild darauf herum. Aber auch Neugier war zu sehen, man reckte die Hälse und balancierte auf Zehenspitzen, um einen Blick auf die Tote zu erhaschen. Die Schlange an der Kasse war noch länger, die Ungeduld noch größer geworden.
»Kann das jetzt auch mal vorangehen hier?«, rief eine Frau Mitte fünfzig. »Ich habe nicht ewig Zeit!«
»Rike hat gemeint, die Gäste sollen bleiben, bis die Polizei kommt«, informierte Farin Annemie.
Sie nickte. Sie ging zur Eingangstür und postierte sich davor. Zwei junge Männer wollten gerade das Café verlassen und traten auf sie zu.
»Können Sie uns bitte vorbeilassen?«
»Es sollen alle hierbleiben, bis die Polizei da ist«, erwiderte Annemie.
»Sagt wer?«
»Die Ärztin. Sie vermutet, dass die Polizei kurz mit Ihnen sprechen muss.«
»Wir haben keine Zeit für so etwas.« Die beiden schauten sich an. »Wir kommen zu spät zu einem wichtigen Termin.«
»Dann rufen Sie dort an und sagen der Person Bescheid, dass sie auf Sie warten muss.« Annemie richtete sich zu ihrer vollen Größe von knapp eins sechzig auf.
»Wir müssen auch gehen!«, rief eine Frau hinter den beiden jungen Männern. »Was für eine Unverschämtheit, uns hier zu bedrängen.«
»Ich bedränge niemanden. Es sollen alle hierbleiben, bis die Polizei kommt.«
»Jetzt führen Sie sich nicht auf, als wären Sie selbst die Oberpolizistin, und machen Sie endlich den Weg frei.«
»Ich bin keine Oberpolizistin, sondern Konditorin und …«
»Dann backen Sie gefälligst kleinere Brötchen!«, wurde sie rüde unterbrochen.
»… und hier die Hausherrin«, beendete sie ihren Satz. »Sie werden jetzt alle hier mit uns auf die Polizei warten.« Annemie fischte den Schlüsselbund aus ihrer Kitteltasche und schloss die Eingangstür ab.
»Das ist Freiheitsberaubung, was Sie da machen«, empörte sich eine der Wartenden. »Dieses Café werde ich ganz sicher nie wieder betreten.«
»Ist das ein Versprechen?« Annemie drückte sich an den Leuten vorbei und ging zu Werner. Farin war damit beschäftigt, bei den Gästen zu kassieren. »Was ist nur in die Leute gefahren?«, wollte sie wissen, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. »Was kann wichtiger sein als der Tod eines Menschen?«
Werner legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie. Annemie lehnte sich an ihn. Die stille Unterstützung war genau das, was sie jetzt brauchte. Sie hatte körperliche Nähe und Zuneigung nie vermisst, weil sie sie nicht gewohnt war. Aber nun, da Werner an ihrer Seite stand, genoss sie jede Geste und wusste ihr neues Leben sehr zu schätzen. Auch in dunklen Momenten wie diesem.
»Sehr lange kann es ja auch nicht mehr dauern, bis die Polizei da ist. Dann können sie alle ihrer Wege gehen, sofern sie sich nicht gegenseitig in der Tür blockieren«, meinte sie an Werner gewandt.
»›Mit Ungeduld bestraft sich zehnfach Ungeduld, man will das Ziel heranziehen und entfernt es nur‹«, zitierte er zur Antwort. »Der gute alte Goethe wusste, was Sache war.«
»Der gute alte Goethe hätte sich in so einer Situation mit Sicherheit besser benommen als diese Leute.« Annemie schnaubte abschätzig und schaute nach draußen. »Was ist denn das? So eine Unverschämtheit!«
Vor dem Café tummelten sich etliche Schaulustige und drückten ihre Nasen an das Glas, während andere das Geschehen im Inneren zu filmen schienen. Sie mussten vom Krankenwagen angelockt worden sein, der direkt vor dem Engelsstübchen in der Fußgängerzone gehalten hatte.
Energisch strich Annemie ihren Kittel glatt. Sie erhob sich, ging drei Schritte in Richtung der Fensterfront, machte kehrt und bahnte sich einen Weg durch die Tischgruppen bis zur Theke. Sie zupfte ihre Strickjacke vom Haken, streifte sie über und eilte durch die Küche zum hinteren Ausgang. Als sie auf die Straße trat, verharrte sie kurz. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Dichte, dicke Flocken schwebten sanft zur Erde. Die frostige Kälte stand vor ihr wie eine Wand. Aber Annemie brauchte keine weitere Jacke. In ihr kochte die Empörung.
»Junger Mann, was denken Sie eigentlich, was Sie da tun?«, herrschte Annemie den ersten Schaulustigen an der Scheibe an. Der Mann richtete sein Handy auf sie. »Dort drinnen ist jemand gestorben, und Sie alle hier haben nichts Besseres zu tun, als zu gaffen? Schämen Sie sich nicht?« Sie streckte ihre Hand nach dem Handy aus, ohne es zu erreichen. Der Mann ging einfach einen Schritt zur Seite. »Gehen Sie bitte weg. Das gehört sich nicht.« Annemies Stimme wurde lauter. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Niemand reagierte. Im Gegenteil. Jemand lachte.
Sie ging zu dem Lacher und stellte sich direkt vor ihn.
»Sie! Gehen Sie weg! Und nehmen Sie das Handy runter! Das ist hier keine Unterhaltungsshow.«
Wieder ein Lacher. Dann schob der Mann Annemie grob zur Seite. »Ich kann hier stehen und filmen, wenn ich das will, und zwar so lange, wie ich will. Wir sind ein freies Land, und ich lasse mir von dir nichts verbieten.«
»Mein Name ist Annemie Engel, und das hier ist mein Café. Und wenn Sie jetzt nicht aufhören, sich so unflätig zu benehmen, und sofort von hier verschwinden, ziehe ich ganz andere Saiten auf.« Annemies Betroffenheit über den Tod der jungen Mutter hatte sich in Wut über die Respektlosigkeit der Leute verwandelt. Sie baute sich vor dem Mann auf, wich keinen Millimeter zur Seite.
»Sie hat recht. Und wie sie recht hat.« Schräg hinter Annemie ertönte eine kräftige Frauenstimme. »Sie sind ein erwachsener Mann von Mitte fünfzig und benehmen sich wie ein Rotzlöffel.«
Die zu der kräftigen Stimme gehörende eindrucksvolle Frauengestalt trat an Annemies Seite. Gerburg Manderscheidt-Ziesemann überragte ihre Freundin um mehr als eine Haupteslänge. Wie immer trug sie ein wallendes Kleid. Passend zu dessen dunkelblauer Farbe hatte sie sich eine Strickstola in grün-blauem Farbverlauf um Hals und Schultern gewunden. Wenn Annemie gewollt hätte, hätte sie sich mühelos hinter ihr verstecken können.
»Ich kenne Sie. Sie sind der Sohn von Heidemarie Wallers aus der Marienstraße. Der Jürgen. Ihre Mutter ist eine meiner ältesten und treuesten Kundinnen. Lassen Sie sich von Ihrer Mutter in diesem freien Land auch nichts verbieten? Ich glaube, ich muss einmal ein ernstes Wort mit Heidemarie wechseln.«
Der Mann erbleichte, ließ sein Handy, das er schon im Verlauf von Gerburgs Ansprache hatte sinken lassen, in seiner Hosentasche verschwinden und drückte sich rückwärts durch die Umstehenden. Nach drei, vier Schritten drehte er sich um und suchte das Weite.
Gerburg nickte Annemie zufrieden zu. »Geht doch.« Dann wurde ihr Gesichtsausdruck ernst. »Ich habe den Menschenauflauf von meinem Laden aus gesehen. Was ist passiert? Brauchst du Hilfe?«
»Frau Engel, bitte kommen Sie wieder rein. Wir möchten Ihnen einige Fragen stellen.«
Annemie und Gerburg hatten den uniformierten Polizisten nicht kommen sehen. Jetzt stand er mit einem Mal neben ihnen.
»Wir kümmern uns hier. Das gilt auch für Sie.« Er blickte Gerburg an.
»Dann tun Sie das bitte schnell, junger Mann. Irgendjemand muss den Menschen hier Anstand beibringen.« Annemie schnaubte noch einmal empört, ließ sich dann aber von dem Polizisten ins Café zurückbringen. Gerburg folgte ihr.
»Wenn so ein junger Mensch zu Tode kommt, gibt es immer eine Untersuchung«, erklärte der Polizist in Uniform an Annemie, Gerburg, Farin und Werner gewandt. »Hauptkommissar Lehmann wird sich gleich mit Ihnen unterhalten.«
Annemie blickte sich suchend im Café um. Und richtig, dort hinten neben der Notärztin stand ein Mann und lauschte aufmerksam deren Bericht. Der uniformierte Polizist ging zu ihm. Als er ihn ansprach, hob der Mann den Kopf, sah in Annemies Richtung und nickte kurz, zum Zeichen, dass er sie gesehen hatte. Er beendete das Gespräch und kam zu ihr und den anderen.
»Hallo, Frau Engel. Ich bin Kriminalkommissar Oliver Lehmann. Meine Kollegen nehmen gerade die Personalien der Gäste auf. Danke, dass Sie sie am Weggehen gehindert haben. Das war sicher nicht leicht.«
»Einigen hat das gar nicht gefallen.« Annemie schaute grimmig zu den beiden jungen Männern mit dem dringenden Termin hinüber. »Und diese Gaffer da draußen. Dass die sich nicht schämen.«
»Leider ist das oft so, Frau Engel. Aber keine Sorge. Meine Kollegen werden den Bereich jetzt weiträumig abflattern. Dann kommt niemand mehr nah genug ans Fenster, um etwas zu sehen.« Gleichzeitig mit seinen Worten begann draußen eine Polizistin, die Leute energisch zurückzudrängen und den Bereich vor dem Café mit Flatterband abzusperren.
»Es war in der Situation genau richtig, die Tür zu verschließen. Wissen Sie, ob jemand das Café verlassen hat, bevor Sie das getan haben?«
Annemie musste einen Augenblick überlegen. Sie erinnerte sich an den älteren Herrn. Sie sah sich suchend um, konnte ihn aber nicht entdecken. »Da war ein Herr, der sehr eilig bezahlen wollte. Ich sehe ihn nicht mehr.«
Oliver Lehmann nickte. »Wenn wir gesprochen haben, möchte ich Sie bitten, einer meiner Kolleginnen eine möglichst genaue Beschreibung des Mannes zu geben. Wir überprüfen jeden Anwesenden.« Er wies mit der Hand auf den Tisch in der Ecke, auf dem noch immer die Gedecke für Annemies und Werners Frühstück standen. »Wollen wir uns setzen?«
»Wissen Sie schon, woran die Frau gestorben ist?«, wollte Annemie wissen, während sie sich auf den Stuhl sinken ließ. Jetzt erst spürte sie, wie sehr die Aufregung sie angestrengt hatte. Werner nahm neben ihr, Oliver Lehmann ihnen gegenüber Platz. Gerburg blieb in Hörweite stehen.
»Nein. Dazu kann ich zu diesem Zeitpunkt nichts sagen. Aber wir werden es untersuchen.« Er legte die Hände auf den Tisch und faltete sie. »Hat sich Frau Majka ungewöhnlich verhalten?«
»Frau Majka ist die junge Frau, die gestorben ist?«
»Ja, genau. Dem entnehme ich, dass Sie sie nicht kannten?«
»Sie war eine Stammkundin, aber das heißt nicht, dass ich sie kannte.«
»Stammkundin inwiefern?«
»Jemanden, der regelmäßig kommt und hier seinen Kaffee trinkt, bezeichne ich als Stammkunden.«
»Aber Sie kannten Frau Majka nicht.«
»Für mich sehen diese jungen Mütter alle irgendwie gleich aus. An sie kann ich mich erinnern, weil sie oft sehr laut gesprochen hat. Ich kann mich allerdings nicht entsinnen, je ein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Und bis gerade eben kannte ich auch nicht ihren Namen. Warum auch? Ich mache weder Service noch Kasse.«
»Sie wissen also nichts von möglichen Allergien?«
Annemie hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Dann verneinte sie.
»Wie oft kam Frau Majka in das Café?«
»Sie und ihre Freundinnen sind unter der Woche eigentlich jeden Tag hier. Am Wochenende habe ich sie hier noch nie gesehen.«
»Was hat Frau Majka in der Regel verzehrt?«
»Das müssen Sie Farin fragen. Er macht meistens den Service, außer zurzeit, vor Weihnachten. Da haben wir Aushilfen. Aber soweit ich weiß, trinken die Frauen an so einem Vormittag entweder Kaffee oder diesen Chai Latte. Ab und an bekommt eines der Kinder ein Hörnchen.«
»Warum macht Ihr Kollege zurzeit keinen Service?«
»Weil er unseren Stand auf dem Weihnachtsmarkt betreut.«
Oliver Lehmann schaute fragend zu Farin, der hinter der Kuchentheke Gläser polierte, um die Zeit sinnvoll zu überbrücken. Erst jetzt ging Annemie auf, dass der Stand noch immer nicht besetzt war, obwohl der Weihnachtsmarkt schon geöffnet hatte.
»Das hier war wichtiger«, sagte sie halb zu sich und halb zu dem Polizisten.
»Sie meinten, Frau Majka hätte in der Regel außer Getränken nichts verzehrt.«
Annemie nickte.
»Vor ihr stand aber heute ein großes Stück Torte. Die Hälfte davon hatte sie bereits gegessen.«
»Vielleicht hatte sie ausnahmsweise Appetit darauf? Was haben denn ihre Freundinnen dazu gesagt? Die haben Sie doch sicherlich auch befragt.«
»Natürlich«, antwortete Oliver Lehmann, ohne aber Annemies Frage zu beantworten. Dann stand er auf. »Wir nehmen den Rest der Torte und auch das Geschirr mit, von dem Frau Majka gegessen hat. Sie erhalten alles wieder, wenn wir mit der Untersuchung fertig sind.«
»Sie denken doch wohl nicht, dass meine Torte etwas mit ihrem Tod zu tun hat?« Annemie war geschockt.
»Wir dürfen nichts ausschließen, solange das Todesermittlungsverfahren nicht abgeschlossen ist. Deshalb sichern wir vorsichtshalber diese Dinge. Genauso, wie wir die Erreichbarkeit eines jeden Einzelnen hier feststellen. Das gehört zur Routine, Frau Engel.«
»Muss ich das Café denn jetzt so lange geschlossen halten, bis Sie wissen, woran die Arme gestorben ist?«
»Wenn wir hier fertig sind, steht es Ihnen frei, wieder zu öffnen.« Er schaute auf die Uhr. »Vermutlich heute Nachmittag.«
Annemie nickte nachdenklich. Sie würden das Café und auch den Weihnachtsmarktstand heute geschlossen lassen. Ein Mensch war gestorben. Da konnte sie nicht einfach zum täglichen Geschäft übergehen, als sei nichts gewesen.
»Entschuldigung.« Eine Polizistin trat zu ihnen. »Oliver, da ist eine Frau, die sagt, sie gehört hierher. Eine Dr. Maike Assenmacher. Kann ich sie reinlassen?«
»Meine zukünftige Schwiegertochter«, bestätigte Annemie. »Sie kommt vom Nachtdienst im Krankenhaus.«
Der Kommissar nickte, die Polizistin ging nach draußen und kam mit einer sehr beunruhigt wirkenden Maike zurück.
Maike zog ihre dicke Winterjacke aus und warf sie achtlos über einen Stuhl, bevor sie zu ihnen an den Tisch trat und erst Annemie, dann Werner umarmte. Sie wandte sich an Oliver Lehmann, stellte sich vor und reichte ihm die Hand. Der Kommissar erwiderte den Händedruck und verabschiedete sich anschließend von ihnen.
»Wie schrecklich, was passiert ist. Ich weiß schon alles«, sagte Maike und schaute Lehmann hinterher.
»Hat Farin dich angerufen?«, wollte Annemie wissen.
Maike schüttelte den Kopf. Sie griff an ihre hintere Hosentasche und zog ihr Handy hervor. Mit flinken Fingern entsperrte sie es, tippte darauf herum und drehte es dann so, dass Annemie den Bildschirm sehen konnte.
Auf dem kleinen Display konnte Annemie nichts erkennen. Was sie aber hörte, war ihre eigene Stimme, die laut und deutlich aus dem Handy ertönte: »Mein Name ist Annemie Engel, und das hier ist mein Café.«
»Nein. Kein Anruf. Ich weiß es von dir. Du gehst gerade viral.«
Annemie blickte angestrengt auf Maikes Handybildschirm. Dort konnte sie in Endlosschleife verfolgen, wie sie von links ins Bild trat und aufgeregt etwas rief. Ihre Worte verstand man nicht, weil Kamera und Mikrofon und wohl auch die Aufmerksamkeit des Filmers auf das Geschehen im Inneren des Cafés fokussiert waren. Die Umrisse der Toten, der Ärztin und des Sanitäters waren nur schemenhaft zu erkennen. Das änderte sich in den nächsten Sekunden. Derjenige, der die Aufnahme gemacht hatte, musste zunächst schräg hinter Heidemarie Wallers’ Sohn gestanden haben, denn dessen breite Schulter verdeckte Annemie beinahe vollständig, bis der Filmende sich an diesem vorbei nach vorne drängte. Ab diesem Augenblick war Annemie voll im Bild. Von Jürgen Wallers hatte die Kamera nur das Gesicht im Profil eingefangen.
»… und Sie alle hier haben nichts Besseres zu tun, als zu gaffen? Schämen Sie sich nicht?«
Während Annemie darum bemüht war, nichts zu verpassen, ploppten am oberen Rand des Bildschirms ständig irgendwelche Nachrichten auf und verschwanden wieder.
»hahaha, voll die Aufregung«
»Was will das?«
»Was ist passiert?«
»Cringe« – gefolgt von einer Reihe seltsamer kleiner Zeichen –
»Oh, eine Karen im Kittel«
»Wo ist denn das? Kennt man die?«
Mittlerweile war das kurze Video wieder an der Stelle angekommen, an der Annemie ihren Namen sagte. Maike stoppte die Wiedergabe.
»So geht das seit einer Stunde. Ein abfälliger Kommentar nach dem anderen. Wir können nur hoffen, dass sich das wieder beruhigt.« Maike rieb sich mit der Hand über Stirn und Augen. Annemie bemerkte, wie erschöpft sie aussah.
»Es geschieht dem Herrn Wallers sehr recht, dass die Leute so über ihn schimpfen. Wie er sich benommen hat. Kein Respekt vor den Toten. Das ist nicht anständig.« Annemie strich sich den Kittel glatt. »Aber auch wenn er es verdient hat: Jemanden öffentlich an den Pranger zu stellen, ist trotzdem falsch.«
Maike kniff die Lider zusammen und zog dann mit leicht verkniffenem Gesicht die Augenbrauen hoch. »Annemie, ich bin nicht sicher, ob du –«
»Jetzt nimm das Filmchen mal nicht so wichtig, Kind«, unterbrach Annemie ihre Schwiegertochter. »Die beruhigen sich schon wieder.«
»Die regen sich nicht über den …«, versuchte Maike es erneut, aber Annemie legte ihr die Hand auf den Arm, tätschelte ihn freundlich und unterbrach sie erneut.
»Trink erst einmal in Ruhe einen Kaffee und iss ein gutes Stück Torte. Das hilft in sämtlichen Lebenslagen. Diese Sache steckt uns allen in den Knochen. Außerdem brauchst du dringend eine Mütze voll Schlaf. Du hast doch heute Abend wieder Nachtdienst, oder?«
»Ja, ich muss um neun in der Klinik sein. Aber das ist nicht das Problem, Annemie. Es ist so, dass in dem Video –«
»Jetzt hör endlich mit diesem Filmchen auf. Was im Internet passiert, interessiert mich nicht. Das hier ist wichtig. Richtige, echte Menschen.« Annemies Hand wanderte von Maikes Unterarm zu deren Ellenbogen und umfasste ihn. Mit sanftem Druck schob sie die Jüngere in Richtung eines großen Tischs in der hinteren Ecke des Cafés. Dort stellte Farin gerade eine Platte mit Stollen-Muffins, Churro-Cupcakes und Bratapfel-Muffins sowie einigen belegten Brötchen in die Mitte. Er rückte die Stühle zurecht und blieb unschlüssig stehen.
»Wir sollten etwas essen.« Er schaute fragend zu den anderen.
Werner ging zu ihm und klopfte ihm stumm auf die Schulter. Er setzte sich und stieß einen langen Atemzug aus.
»Morgen können wir sie nicht mehr verkaufen«, sagte Annemie zustimmend. »Bevor sie verderben.«
Gerburg trat hinter die Theke, nahm große Becher und stellte sie unter den Kaffeeautomaten. Zischend und krachend tat die Maschine ihren Dienst.
»Du isst jetzt eine Kleinigkeit, Maike. Dann gehst du ins Bett. Werner holt Nölli vom Kindergarten ab, und wir kümmern uns um sie. Unser Engelchen ist die beste Ablenkung, die ich mir vorstellen kann.«
»Annemie. Bitte hör mir zu.« Maike blieb stehen und hielt ihr Handy hoch. »Die schimpfen nicht über Jürgen Wallers. Die meinen dich.«
»Mich?« Annemie schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Da hast du sicher etwas falsch verstanden.«
»Was hat Maike falsch verstanden?« Gerburg ging mit zwei randvollen Tassen an ihnen vorbei und stellte die Becher auf den Tisch. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, trat zu Annemie und Maike, die ihr wortlos das Handy hinhielt. Wieder hörte man, wie Annemie Jürgen Wallers zurechtwies.
»Ups.« Gerburg presste die Lippen aufeinander und ließ sie mit einem Ploppen wieder los. »Nicht gut. Gar nicht gut.«
Maike nickte bedrückt.
»Jetzt fängst du auch noch an, Gerburg. Wieso seid ihr alle so auf dieses soziale Internet fixiert?«
»Soziale Netzwerke«, warf Maike leise ein.
»Was?«
»Es heißt nicht ›soziales Internet‹. Es heißt ›soziale Netzwerke‹. Social Network.« Sie klang genervt. »Die Leute treffen sich hier und reden miteinander über die Dinge, die sie interessieren.«
»Die Leute treffen sich hier in diesem Café«, Annemie umfasste mit einer Geste den Raum, »und reden miteinander über die Dinge, die sie interessieren.«
»Die Leute im Café kennen sich. Sie leben alle in Niedelsingen und treffen sich im Engelsstübchen, weil sie hier wohnen und sich kennen. Die Leute im Netz leben alle an unterschiedlichen Orten und kennen sich oft noch nicht einmal persönlich.«
»Und diese Leute, die nicht aus Niedelsingen kommen und sich und mich nicht kennen, interessieren sich für mich?« Annemie lachte laut auf. »Das ist zu viel der Ehre. Ich bin Konditorin, kein Weltstar.« Sie wandte sich an Gerburg. »Und seit wann kennst du dich überhaupt damit aus?«
»Seit ich meinen Laden auch online bewerbe und damit richtig gute Umsätze mache, meine Liebe.« Gerburg Manderscheidt-Ziesemann machte eine kurze Pause, bevor sie hinterherschob: »Und seit ich Thilo kenne.«
»Wieso hast du mir denn nichts davon gesagt? Schließlich behauptest du immer, du wärst meine beste Freundin, und dann bist du einfach online. Und wer ist überhaupt Thilo?«
»Ich bin nicht nur deine beste, sondern auch deine einzige Freundin, meine Liebe.« Gerburg nahm Annemie in den Arm und drückte sie herzlich.
»Die Leute interessieren sich nicht für dich, sondern sie machen sich lustig. Außerdem hat uns jemand getaggt.« Maike klang resigniert. »Das bedeutet, dass jemand das Video mit dem Profil des Engelsstübchens verbunden hat und jetzt jeder weiß, dass du hierhingehörst.«
»Ich gehe mal davon aus, dass du damit nicht sagen willst, es sei dir peinlich, Maike. Ich habe mein ganzes Leben in diesem Haus verbracht. Selbstverständlich gehöre ich hierhin. Das kann jeder wissen.« Annemie zeigte auf das Handy in Maikes Hand. »Wenn diese Leute in den sozialen Netzwerken