Tide, Tod und Tüdelkram - Elke Pistor - E-Book

Tide, Tod und Tüdelkram E-Book

Elke Pistor

0,0

Beschreibung

Ein Krimi voller Herz und Puderzucker. Ihren ersten Urlaub an der Küste hatte Annemie Engel sich ganz anders vorgestellt: mehr Meer und weniger Tote. Vor allem auf das Konzert mit dem Schlagerstar Peter Juwel hatte sie sich gefreut, doch gleich am ersten Tag stolpert sie über dessen Leiche. Der Urlaub scheint gelaufen – aber dann steht der Sänger am Abend wieder quicklebendig auf der Bühne. Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu! Und als am nächsten Morgen Peter Juwel erneut mausetot aufgefunden wird, steckt die Miss Marple der Konditoren schneller in einem Mordfall, als ein Hefeteig aufgehen kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 376

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elke Pistor, Jahrgang 1967, studierte Pädagogik und Psychologie. Seit 2009 ist sie als Autorin, Publizistin und Medien-Dozentin tätig. 2014 wurde sie für ihre Arbeit mit dem Töwerland-Stipendium ausgezeichnet und 2015 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Kategorie »Kurzkrimi« nominiert. Elke Pistor lebt mit ihrer Familie in Köln.

www.elke-pistor.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte zum Nachbacken.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com/Alenka Karabanova, shutterstock.com/USBFCO

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-883-2

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Für Günni

Plunder gibt es immer wieder.

Annemie Engel

KAPITEL 1

Als Annemie Engel erwachte, wusste sie, dass es kein Tag wie jeder andere werden würde. Denn heute war der erste Urlaubsmorgen ihres Lebens. Das machte sie nervös. Mehr noch, es ängstigte sie. Was sollte sie mit sich anfangen, wenn sie nicht arbeiten konnte? Annemie Engel liebte ihre Arbeit und mochte keine Veränderungen. Sie freute sich, wenn ihre Tage planbar, überschaubar und berechenbar waren.

Mit geschlossenen Augen genoss sie die letzten Augenblicke im warmen Bett. Sie stellte sich vor, wie sie gleich zu Hause aufstehen, ihren lindgrünen Bademantel mit Rosenmuster überziehen und in der Backstube einen ersten Kaffee trinken würde, bevor sie sich ans Werk machte. Heute standen neben den üblichen Sorten auch eine Tiramisu-Torte, eine Joghurt-Sahne-Torte mit Exotik-Früchten und eine Regenbogentorte auf dem Plan, denn heute war der erste Sonntag im Monat. Am zweiten Sonntag buk sie Schwarzwälder Kirsch, Velvet Cake und die Joghurt-Sahne-Torte mit Waldbeeren. Die Kundinnen und Kunden des Cafés liebten Annemies Joghurt-Sahne-Torten. Deswegen gab es sie am dritten Sonntag mit Schokolade und am vierten mit karamellisierten Haselnüssen auf und Karamellstreifen in der Creme. An den sehr seltenen fünften Sonntagen im Monat musste die Kundschaft auf diese Torte verzichten, denn Annemie hatte sich nach vielen Versuchen eingestehen müssen, dass es keine weitere Variante gab, die ihren Ansprüchen genügte.

Annemie fand es beruhigend zu wissen, was sie erwartete. Früher hatte sie im Voraus festgelegt, welche Marmelade sie an welchem Wochentag zum Frühstück aß. Doch das war vorbei, seit die jungen Leute bei ihr wohnten. Nun gab es Nuss-Nougat-Creme auf dem Frühstückstisch. Selbstverständlich selbst gemachte, die sie »Nussiolade« nannte, denn ein Blick auf die Zutatenliste der gekauften Gläser hatte Annemie einen Schauer über den Rücken und ihre Zuckerwerte in die Höhe gejagt, ohne dass sie auch nur einen Bissen davon gegessen hätte.

Die Regenbogentorte war Maike Assenmachers Idee gewesen. Die junge Ärztin war eine ihrer beiden neuen Hausgenossen. Maike hatte sich nicht nur in Annemies Mitbewohner Farin verliebt, sondern mit ihm gemeinsam auch Annemies Café aus dem Dornröschenschlaf erweckt, in dem es achtundzwanzig Jahre geschlummert hatte. Farin war der einzige Mann im Haus, sah man von den Katern ab. Wobei die natürlich aus unterschiedlichen Gründen nicht als volle Männer gerechnet werden konnten. Farin hatte eines Tages mit gepackten Koffern vor Annemies Tür gestanden und verkündet, er müsse nun bei ihr wohnen. Das ganze Warum und Wieso hatte sich erst nach und nach entblättert und mit Annemies Bruder Harald, einer explodierten Weihnachtsmarktbude und einem Todesfall zu tun gehabt, hinter dem wiederum völlig andere Gründe steckten. Aber das war eine ganz eigene Geschichte. Im Ergebnis wohnte Annemie nun nicht mehr allein, aß selbst gemachte Nuss-Nougat-Creme zum Frühstück und hatte in den letzten beiden Jahren mehr Veränderungen erlebt als in den vergangenen dreißig ihres Lebens zuvor.

Als Erstes hatten Maike und Farin den Stil des Cafés komplett umgekrempelt. Annemie konnte zwar nicht verstehen, warum sie die lackierten Buchenmöbel, die sie in den achtziger Jahren für teures Geld angeschafft und immer sehr gut gepflegt hatte, gegen Tische, Stühle, Sessel, Sofas, Regale und Kommoden austauschten, die aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts stammten und allesamt Wurmlöcher aufwiesen. Ihren Einwand »Das sieht hier jetzt aus wie auf dem Sperrmüll!« hatten sie nicht gelten lassen, sondern ihr erklärt, das sei heute modern. Dass Maike und Farin die meisten Möbel tatsächlich vom Sperrmüll und die ursprüngliche Einrichtung noch für einen guten Preis verkauft hatten, linderte ihre Abneigung etwas, und sie hatte sich weitere Einwände verkniffen. Immerhin gaben sie so nicht unnötig Geld aus. Allerdings war Annemie den Möbeln erst einmal sehr gründlich und ausgiebig mit Politur zu Leibe gerückt, bis die alten Oberflächen wieder glänzten, auch wenn sie seither etwas streng rochen. Außerdem hatte sie darauf bestanden, die drei Pierrot-Figuren aus dem alten Café gut sichtbar aufzustellen.

Den Niedelsingern schien das Sammelsurium zu gefallen. Erst waren nur ein paar Neugierige gekommen, dann die Nachbarn, die ebenfalls neugierig waren. Weniger auf das Café als auf sie, Annemie Engel, diese verschrobene alte Frau, die sich jahrzehntelang in ihrer Backstube verkrochen hatte und nie vor die Tür gegangen war, ehe sie nun auf einmal zusammen mit zwei jungen Leuten wieder das Leben ins Haus ließ. Den Neugierigen und den Nachbarn gefiel es im »Engelsstübchen«, wie das Café nun hieß, so gut, dass sie ihren Familien, Freunden, Freundinnen und den Menschen auf ihrer Arbeit davon erzählten. Woraufhin die Familien, Freunde und Freundinnen und die Menschen von der Arbeit ebenfalls ins »Engelsstübchen« kamen. Sie saßen auf den alten, wurmstichigen Stühlen, Sesseln und Sofas, aßen Annemies Torten und Törtchen und erzählten dann ihrerseits ihren Familien, Freunden und Freundinnen und den Menschen auf ihrer Arbeit davon. Schon nach kurzer Zeit wurde es schwer, einen freien Platz im Café zu finden.

Damit das so bleiben würde, hatten Farin und Maike Annemie überredet, neue Tortenrezepte zu kreieren. Annemies Torten waren himmlisch, aber auch die beste Buttercremetorte wird irgendwann langweilig. Und so kam die Regenbogentorte ins Spiel.

Zuerst hatte Annemie sich geweigert, war die Torte doch trotz ihrer vielen Farben geschmacklich eher eintönig gewesen. Aber dann hatte sie sich diesbezüglich etwas einfallen lassen, und seitdem konnte sie auch dieses Backwerk guten Gewissens verkaufen.

Annemie tastete mit ihrer Rechten nach den beiden Herren, die mit ihr das Bett teilten, fand aber nur Leere vor. Sie runzelte die Stirn. Belmondo und Engelbert von Adel, ihre stolzen Kater, die sonst immer auf den extra für sie ausgebreiteten Kopfkissen schliefen, schienen nicht da zu sein. Dabei hörte sie doch ihr leises Schnarchen. Sie wandte den Kopf zur Seite und öffnete die Augen. Was sie sah, irritierte sie. Neben ihr bauschte sich nur ein einziges Kissen und gar kein Kater. Da wurde es ihr wieder klar: Sie befand sich nicht in ihrem Bett in ihrem Haus in Niedelsingen, sondern in einer Pension im schönen Luftkurort Bad Nordersielergroden, und wer da schnarchte, war keiner ihrer Kater. Das Geräusch drang durch die Tür zum Nebenzimmer und wurde von Werner Assenmacher, ihrem Begleiter auf dieser Reise, verursacht.

Annemie drehte sich auf den Rücken und starrte die Decke ihres Zimmers an. In den gesamten fünfundsechzig Jahren ihres Lebens war sie noch niemals in Urlaub gefahren, sah man von dem dreitägigen Fahrradausflug ab, den sie im Alter von siebzehn Jahren mit drei anderen Mädchen gemacht hatte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sich daran auch nichts geändert. Annemie lebte gerne in Niedelsingen. Sie musste nicht wegfahren. Wenn sie etwas Neues sehen wollte, schaute sie Reiseberichte im Fernsehen an oder fuhr in die nächstgelegene größere Stadt. Das aber eher ungern und nur, wenn es absolut notwendig war.

Wenn man berücksichtigte, dass sie bis zu Farins Auftauchen über Jahre noch nicht einmal ihr Haus verlassen hatte, kam schon eine Fahrt ins benachbarte Glimberg einem dreiwöchigen Urlaub gleich.

Jetzt lag sie hier und fragte sich, wieso um alles in der Welt sie sich zu diesem Urlaub hatte überreden lassen. Einfach ihre Backstube im Stich zu lassen, erschien ihr in diesem Moment als der größte Fehler ihres Lebens. Annemie machte sich Sorgen. Schaffte Farin es wirklich allein? Sie hatte ihm in den letzten Tagen jedes Detail noch einmal erklärt, alles aufgeschrieben und penibel darauf geachtet, dass sämtliche Gerätschaften einsatzbereit und die Vorräte aufgefüllt waren.

Farin hatte hoch und heilig versprochen, beim geringsten Zweifel anzurufen und sie um Rat zu fragen.

Annemie griff nach ihrem Handy, schaltete es an und suchte nach Hinweisen, ob Farin angerufen hatte. Maike hatte ihr verschiedene bunte Kästchen auf das Mobiltelefon geladen und ihr erklärt, was man damit alles machen konnte. Nachrichten schreiben, Fotos verschicken und Videos ansehen. Sogar telefonieren ging, auch wenn Annemie das bisher mangels Gelegenheit noch nicht ausprobiert hatte. Wen hätte sie damit anrufen sollen? Maike und Farin wohnten mit ihr in ihrem Haus, und Werner kam morgens, mittags und abends ins »Engelsstübchen«, um »nach dem Rechten zu sehen«, wie er sich ausdrückte.

Farin hatte sich nicht gemeldet. Dabei war es fast fünf Uhr. Annemie suchte seine Nummer und rief ihn an. Nicht dass er verschlafen hatte.

Das Freizeichen ertönte. Annemie wartete und lauschte in den Hörer. Es dauerte eine Weile, bis Farin das Gespräch annahm. »Käsekuchen, zwei Obstböden und die Schwarzwälder sind schon fertig, die Böden für zwei Regenbogen im Ofen und die Joghurt-Sahne-Torte in der Kühlung«, meldete er sich.

»Zwei Regenbogen?«

»Kindergeburtstag.« Im Hintergrund schepperte etwas.

»Kommst du denn zurecht, Herr Farin?«

»Ja.«

»Hast du keine Fragen?«

»Eigentlich nicht.«

»Hast du den Joghurt auch gut über Nacht abtropfen lassen?«

»Wie du es mir gesagt hast, Frau Annemie.«

»Hast du frische Beeren besorgt? Nimm nicht die tiefgekühlten. Es ist Sommer, die Leute wollen jetzt frisches Obst.«

»Maike war gestern auf dem Markt und hat wunderbare Beeren mitgebracht.« Farin lachte leise. »Loszulassen ist eine Kunst, die die Mutter lernen muss, damit das Kind laufen kann, sagte die Tante meiner Großmutter väterlicherseits immer.«

Annemie räusperte sich, sagte aber nichts. Farins weitläufige Verwandtschaft hatte einen ebenso großen Schatz an Lebensweisheiten aufzubieten, die er gerne bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit zum Besten gab.

»Maike und ich haben alles im Griff hier. Du solltest den Urlaub genießen, Frau Annemie. Einfach mal abschalten.«

»Ich genieße doch.«

»Mitten in der Nacht?«

»Selbstverständlich. Unsere Zeit hier ist begrenzt, und ich wollte einen frühmorgendlichen Strandspaziergang machen.« Das war ihr zwar gerade erst eingefallen, klang aber deutlich besser als das Eingeständnis, dass ihre innere Uhr sie geweckt hatte.

»Dann viel Spaß und einen schönen Gruß an die Möwen!« Farin beendete das Telefonat.

Annemie stellte sich vor, wie er jetzt zu dem Regal mit den Schüsseln ging, eine sauber glänzende herausnahm und die Zutaten für die nächste Torte abwog. Große Sehnsucht nach ihrer Backstube überkam sie. So also fühlte sich Heimweh an. Sie seufzte und legte das Mobiltelefon auf den Nachttisch. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. Solche Sentimentalitäten wollte sie erst gar nicht aufkommen lassen. Wo kämen sie denn da hin?

Sie stand auf, klaubte ihre Kleidungsstücke zusammen und ging ins Bad. Exakt dreißig Minuten später – warum sollte sie hier mehr Aufwand betreiben als zu Hause? – war sie bereit für den Tag. Das Schnarchen aus dem Nebenraum war verklungen. Ob Werner ebenfalls schon wach war? Dann könnten sie gemeinsam zum Spaziergang aufbrechen. Annemie trat an die Zwischentür, klopfte leise und lauschte. Stille. Sie klopfte erneut und legte ihr Ohr an die Tür.

Aus dem Nebenraum drang kein einziges Geräusch.

»Nicht dass ihm etwas zugestoßen ist«, murmelte sie und legte die Hand auf die Klinke. »In unserem Alter weiß man ja nie.« Sie drückte die Klinke hinunter und öffnete langsam die Tür zum Zimmer ihres Begleiters.

Getrennte Zimmer. Das war eine ihrer Bedingungen gewesen, als Maike und Farin ihnen diesen Urlaub geschenkt hatten. Denn auch wenn Werner keinen Hehl daraus machte, wie gerne er seine Jugendliebe zu Annemie wiederaufleben lassen würde, und auch wenn Annemie sich im Stillen eingestand, dass ihr dieser Gedanke ebenfalls nicht unangenehm war, so bestand sie doch auf Sitte und Anstand.

»Werner?« Sie schob die Tür gerade so weit auf, dass sie das Bett sehen konnte. Werner lag auf der Seite, seinen Arm um die zusammengeknüllte Bettdecke geschlungen, als wäre sie ein Mensch. Er rührte sich nicht. Annemie ging ins Zimmer, trat an sein Bett und beugte sich zu ihm hinunter. Vorsichtig hielt sie einen Finger unter seine Nase. Er atmete noch. Werner Assenmacher lächelte leicht im Schlaf.

Annemie richtete sich auf, betrachtete ihn schweigend, dann ging sie wieder hinaus und schloss leise die Tür. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu wecken. Gegen die Morgenkälte zog sie die neue dicke Strickjacke über, die Maike extra mit ihr für diesen Urlaub gekauft hatte. Draußen wehte ein frischer Wind.

Im kleinen Frühstückscafé »Zur Meeresbrise«, das der gleichnamigen Pension angeschlossen war, brannte noch kein Licht. Sonja Hansen, die Pensionswirtin, stand sicherlich in der Backstube und bereitete alles für das Frühstück der Gäste und den Tagesbetrieb vor.

Annemie kämpfte gegen den Drang an, Sonja Hansen ihre Hilfe anzubieten. Schließlich war sie hier, um Urlaub zu machen, sich zu entspannen, und nicht, um zu backen. Allerdings beschlich sie der deutliche Verdacht, dass Letzteres sehr zu ihrer Entspannung beitrüge. Vor allem, wenn sie dabei ihre geliebten Schlager singen könnte.

Was das betraf, musste sie allerdings zugeben, dass Farin und Maike ihr doch eine riesengroße Freude gemacht hatten. Denn neben den Bahntickets in den Norden hatten noch zwei weitere Ausdrucke gelegen. Zunächst hatte Annemie nicht gewusst, was das für Karten sein sollten, bis sie den in fetten Buchstaben aufgedruckten Namen gelesen hatte: Peter Juwel. Der Peter Juwel, dessen Schlager sie alle auswendig kannte. Der Peter Juwel, dessen Musik seit Jahrzehnten in ihrer Backstube erklang. Die Marzipantorte gelang immer besonders gut, wenn sie beim Backen seine Lieder sang. Der Peter Juwel, dessen Autogrammkarte von 1982 bis heute als Lesezeichen in ihrer Rezeptsammlung diente. Es waren Eintrittskarten für sein »Unsre Liebe schrieb das Leben«-Konzert. Das Programm versprach die größten Hits und die Premiere von gleich drei neuen Liedern. Außerdem sollte er auf diesem Konzert eine Goldene Schallplatte verliehen bekommen. Diese Information stand zwar nicht auf den Karten, aber Maike hatte sie in einer dieser Zeitungen gelesen, die bei ihrem Friseur auslagen, und Annemie umgehend davon berichtet.

Annemie trällerte leise vor sich hin. Von der Liebe, vom Leben und dem Glück und von der Tragik, die beides verband. Sie durchquerte den kleinen Garten der Pension, schloss die Gartenpforte hinter sich und spazierte in Richtung Strand.

Gestern hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer gesehen. Direkt nach der Ankunft hatte Werner sie zu einem Spaziergang überredet. Sie war überwältigt gewesen. Die Luft, das Wasser, die Möwen. Alles war neu und wundervoll. Gut, für Annemies Geschmack waren auf der Strandpromenade etwas zu viele Menschen unterwegs gewesen. Kinder tobten, Hunde bellten, und irgendjemand hatte ein tragbares Radio deutlich zu laut aufgedreht. Aber Werner hatte sie eingehakt und sicher durch die wogenden Menschenmengen geleitet. Durch und durch ein Gentleman der alten Schule. So, wie Annemie es erwartete. Mit der Liebe hatte sie noch weniger Erfahrung als mit dem Verreisen. Aber aus vielen Filmen wusste sie, was sich gehörte. Der Herr warb um die Dame, mit Stil und Zurückhaltung. Schickte anonym rote Rosen – so wie Peter Alexander als Herr Leopold im »Weißen Rössl am Wolfgangsee« – oder andere kleine Aufmerksamkeiten. Nun hatte sie zwar bisher noch keine Rosen von ihm erhalten, weder anonym noch direkt, aber was nicht war, konnte ja noch werden.

Jetzt, um diese Uhrzeit, war der Strand vermutlich menschenleer. Die meisten Urlauber lagen noch in ihren warmen Betten. Annemie zog die Strickjacke vor der Brust zusammen. Sie fror. Die Luft war klar, aber klamm und schmeckte nach Salz. Sie überquerte den Bad Nordersielergrodenschen Marktplatz und bog hinter der Kirche rechts ab. Den Weg war sie gestern gemeinsam mit Werner gegangen. Als Nächstes kämen ein großes Schild mit dem Hinweis auf eine Gärtnerei und dann die Abzweigung zum Strand.

Annemie ging zügig, blieb aber nach hundert Metern stehen. Irritiert schaute sie sich um. Das sah anders aus als gestern. Oder erinnerte sie sich nur nicht richtig? Hätte das Gärtnereischild nicht bereits viel früher kommen müssen? Sie schaute sich um. Sollte sie sich wirklich verlaufen haben? So groß war Bad Nordersielergroden ja nun nicht, da sollte es doch möglich sein, den Weg zum Strand zu finden. Annemie beschloss, den eingeschlagenen Weg einfach so lange weiterzugehen, bis sie auf ein Gebäude stieß, das ihr bekannt vorkam. Oder auf ein Hinweisschild.

Beides kam schneller in Sicht, als sie erwartet hatte. An der Seitenwand des großen Supermarktes hing ein Wegweiser zum Kurpavillon, der sich wiederum ganz in der Nähe der Strandpromenade befand. Annemie wusste das deswegen so genau, weil sie Werner überredet hatte, schon einmal zu schauen, wo das Konzert mit Peter Juwel stattfinden würde und wo ihre Sitzplätze sein würden. Zu ihrem großen Bedauern war der Platz vor der Bühne gestern Abend allerdings noch nicht bestuhlt gewesen. Aber vielleicht war das jetzt anders. Sie konnte schauen, wo sie hinmussten, und vielleicht sogar schon Probe sitzen.

Annemie beschleunigte ihre Schritte. Sie sang laut von Leben, Lieben und Leidenschaft, hörte in ihrem Kopf die Musik und Peter Juwels Stimme, und es war ihr egal, ob ihre eigenen Töne schief und krumm waren. Hinter der nächsten Ecke erkannte Annemie den Pavillon. Der Platz vor der Bühne war leer. Immer noch keine Stuhlreihen. Doch etwas lag auf der Treppe, das gestern noch nicht da gewesen war.

Annemie blinzelte. Nicht etwas. Jemand. Ein Mensch. Annemie ging, so schnell sie konnte, bis sie die Person erreicht hatte. Sie beugte sich über den Mann.

Da lag Peter Juwel und rührte sich nicht.

KAPITEL 2

Der Sänger lag auf dem Rücken, das linke Bein in einem Winkel verdreht, der nicht gesund aussah. Hatte er genau wie Annemie zu dieser frühen Morgenstunde schon einmal die Bühne in Augenschein nehmen wollen und war dann gestürzt? Annemie berührte den reglosen Mann zaghaft an der Schulter.

»Herr Juwel?« Sie schüttelte ihn leicht.

Nichts.

»Hallo?« Sie nahm seine Hand, strich und klopfte sie kräftig. Mit dem Ärmel der Strickjacke blieb sie am eingerissenen Daumennagel des Toten hängen und zog sich ein paar Fäden aus dem Gewebe. Das durfte doch nicht wahr sein. Annemie wusste nicht, worüber sie sich mehr aufregte. Da hatte sie zum ersten Mal Gelegenheit, ihn live zu sehen, und auf einmal war er tot. Immerhin würde sich der Schaden an der Jacke wieder reparieren lassen. »Herr Juwel, können Sie mich hören?« Sie tätschelte seine Wange.

Wieder kam keine Reaktion. Seine Haut fühlte sich eiskalt an. Annemie hielt ihm wie zuvor Werner einen Finger unter die Nase. Außer der frischen Morgenbrise spürte sie nichts. Peter Juwel war tot. Entsetzt richtete sie sich auf und schaute sich um. Niemand zu sehen. Was konnte sie tun?

Die Polizei. Sie musste die Polizei informieren. Annemie griff in die Tasche ihrer Strickjacke und stöhnte leise auf, als sie darin nur Leere vorfand. Ihr Mobiltelefon lag auf dem Nachttisch neben ihrem Bett in der Pension. Sie hatte vergessen, es mitzunehmen.

»Ich bin es eben nicht gewohnt«, erklärte sie dem toten Peter Juwel im Tonfall einer Entschuldigung. »Wissen Sie, Maike hat mir schon sehr oft gesagt, wie wichtig es ist, sein Handy immer dabeizuhaben. Vor allem in Notfällen wie jetzt. Aber ich denke nie daran. Früher hatten wir so was ja auch nicht und sind klargekommen, oder nicht?«

Peter Juwel gab, wie zu erwarten gewesen war, keine Antwort. Annemie zögerte. Was sollte sie tun? Hier ausharren und Totenwache halten, bis der nächste Spaziergänger, die erste Joggerin des Tages oder eine Hundebesitzerin beim frühmorgendlichen Gassigang vorbeikam? Womöglich würden die dann denken, sie hätte etwas mit dem Tod des Sängers zu tun. Und wenn es so war? Was – der Gedanke kam ihr mit Schrecken –, wenn Peter Juwel doch noch nicht tot war, sondern ihm noch geholfen werden könnte? Sie war Konditorin, keine Ärztin. Dann wäre sie, Annemie Engel, schuld an seinem Tod.

Ein weiteres Mal beugte sie sich zu ihm hinunter, lauschte, fühlte, rüttelte. Es half nichts. Ein Arzt musste her. Und die Polizei.

Annemie ging, so schnell sie konnte, in Richtung der Häuser. Als sie das erste erreicht hatte, klingelte sie Sturm. Die Leute würden die Polizei und den Notruf informieren, und sie könnte dann wieder zurück zum Strand und bei Peter Juwel ausharren, bis Hilfe kam.

Im Haus blieb alles still und dunkel. Entweder waren die Leute nicht zu Hause, oder sie schliefen mit diesem Knetgummizeug in den Ohren, denn die Klingel war nicht zu überhören. Annemie wartete noch einige Sekunden, dann lief sie weiter zum nächsten Haus. Doch auch hier reagierte niemand. Die Erklärung dafür entdeckte sie beim dritten erfolglosen Versuch. Ein Schild pries diese Häuser als Luxus-Feriendomizile an, sie waren noch nicht bewohnt. Annemie fragte sich, warum man in einem Ferienhaus einen Videoraum und Fitnessgeräte brauchte, wenn man die schönste Natur und viel Platz für Bewegung direkt vor der Haustür hatte. Vielleicht war sie nicht die Einzige, die so dachte, und deshalb standen die Häuser trotz des Sonderangebots, dessen Preis Annemie im Übrigen noch immer sehr beachtlich fand, leer. Nein. Es war das Beste, wenn sie sich direkt an die Polizei wandte. Was brachte es denn, hier von Haustür zu Haustür zu laufen, wenn niemand öffnete. Je weiter sie sich dabei von der Kurgartenbühne entfernte, umso länger würde sie für den Rückweg brauchen. Die Polizeistation befand sich am Marktplatz, und dort würde sie nun ohne weitere Umwege hingehen.

Immerhin brannte in den Fenstern der Polizeiwache Licht, als Annemie etwas außer Atem dort ankam. Sie hatte sich sehr beeilt, war fast gelaufen.

»Guten Morgen«, sagte sie, schnappte nach Luft und legte die Hände auf die hohe Theke, die sie von dem diensthabenden Beamten trennte. Sie hatte Mühe, darüber hinwegzuschauen. »Mein Name ist Annemie Engel, und ich habe etwas zu melden.«

Der Beamte schaute sie an, rollte mit dem Schreibtischstuhl ein Stück zurück und gähnte. Dann stand er auf und kam zu Annemie.

»So mitten in der Nacht? Was haben wir denn?«

»Was wir haben, kann ich Ihnen nicht sagen, denn ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht.« Annemie musterte den jungen Mann. »Außer dass Sie eine Mütze Schlaf vertragen könnten, ist Ihnen so auf den ersten Blick nichts anzusehen. Was mich betrifft, ich persönlich habe auch nichts. Das kann man von dem Herrn, um den es geht, allerdings nicht sagen.«

»Und um welchen Herrn geht es?«

»Um Peter Juwel.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist tot.«

Jetzt kam doch etwas Bewegung in den Polizisten. Annemie sah förmlich, wie diese Mitteilung ihn in Spannung versetzte.

»Bitte genauer: Wer ist dieser Peter Juwel, in welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm, wann ist er verstorben, und wo ist er jetzt?« Die Fragen prasselten auf Annemie ein.

»Sie kennen Peter Juwel nicht?« Für Annemie unvorstellbar.

»Nein. Tut mir leid.«

»Der Schlagerstar. Er gibt heute Abend …« Sie verstummte und korrigierte sich: »Er sollte heute Abend ein Konzert auf der Kurgartenbühne geben. Ich habe Karten, wissen Sie?«

»In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Toten?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sind Sie mit ihm verheiratet? Ist er Ihr Partner?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Woher wissen Sie dann, dass er tot ist?«

»Ich habe seine Leiche gefunden. Auf ebenjener Kurgartenbühne, auf der er heute eigentlich auftreten sollte.«

»Sie haben seine Leiche gefunden? Jetzt gerade? Was machen Sie denn um diese Uhrzeit am Kurhaus?«

Annemie holte tief Luft und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Selbst wenn man bedachte, dass sechs Uhr in der Früh für die meisten jungen Menschen eine unchristliche Zeit darstellte und sein Kopf nach einer langen Nachtwache sicherlich nicht mehr richtig arbeiten konnte, hätte sie bei einer solchen Meldung doch etwas mehr Aktivität erwartet. »Wollen Sie jetzt wirklich mit mir diskutieren, warum ich einen Strandspaziergang mache, oder wollen Sie mich dorthin begleiten, damit ich es Ihnen zeigen kann?«

Der junge Polizist wandte sich ab. »Harry? Hol mal den Wagen. Einer muss mit raus.«

In einem Türrahmen, den Annemie bisher nicht bemerkt hatte, erschien eine gleichfalls junge, wenn auch nicht ganz so müde wirkende Polizistin. Sie musterte Annemie über die Theke hinweg, nickte und zog einen Schlüsselbund aus ihrer Uniformhose. »Kommen Sie bitte. Sie müssen mir zeigen, wo Sie die Leiche gefunden haben.«

»Aber er war ganz sicher dort.« Annemie zeigte auf die Stelle am Fuß der Treppe. »Da hat er gelegen. Das linke Bein ganz verdreht. Ich bin zu ihm gegangen. Habe ihn an der Schulter gefasst. Ihn gerüttelt. Ihn angesprochen. Ich habe ihm sogar den Finger unter die Nase gehalten und nichts mehr gespürt.«

Annemie war vollkommen aufgelöst. Sie hatte sich das doch nicht eingebildet! Peter Juwel hatte dort mit verdrehten Gliedmaßen gelegen und keinen Mucks mehr von sich gegeben. Aber es war nicht zu leugnen: Jetzt lag er dort nicht mehr. Nicht die kleinste Spur von ihm.

»Frau Engel …«

Der Ton der Polizistin gefiel Annemie nicht. Er hatte so etwas Salbungsvolles. So eine vorgeschobene Güte und Geduld, wie man sie kleinen Kindern entgegenbrachte. Oder alten Leuten, die nicht mehr ganz richtig im Kopf waren.

»Reden Sie nicht so mit mir. Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Vielleicht hatten Sie ja nur einen schlechten Traum?«

»Ich träume nicht. Niemals.«

»Oder Sie haben es sich nur eingebildet?«

»Ich bilde mir auch nichts ein.«

»Manchmal denkt man, man hätte etwas gesehen, und dann war es doch nicht so.«

»Halten Sie mich für senil?«

Die Polizistin schwieg.

»Hören Sie. Ich bin weder senil noch verrückt. Peter Juwel lag hier auf diesen Stufen, vollkommen leblos.«

»Vielleicht ist er ja wirklich gestürzt und war für einen Moment bewusstlos. Sie haben ihn gefunden, und als Sie losgezogen sind, um uns zu informieren, ist er wieder wach geworden und nach Hause gegangen.«

»Dann sollten wir schnellstmöglich dorthin fahren und nachsehen, wie es ihm geht. So eine tiefe Bewusstlosigkeit kann Folgen haben. Von dem Bein ganz zu schweigen.« Annemie machte sich auf den Weg. Nach wenigen Schritten stoppte sie, weil sie bemerkte, dass die Polizistin ihr nicht folgte. »Was ist? Wir müssen uns beeilen.«

Die Polizistin verschränkte die Arme vor der Brust, blieb aber, wo sie war. »Frau …«, sie suchte kurz nach Annemies Namen, »Engel«, ergänzte sie zögerlich, bevor sie wieder eine Pause machte.

Annemie schwieg, obwohl sie innerlich brodelte. Wie konnte diese junge Frau da so tun, als wäre nichts geschehen?

»Frau Engel«, setzte die Polizistin erneut an. Sie sprach langsam und laut. »Wir werden jetzt nicht gemeinsam zu Herrn Juwel fahren, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass er sonderlich begeistert wäre, um diese Uhrzeit aus dem Bett geholt zu werden.« Sie machte einen Schritt auf Annemie zu und streckte ihr in einer Geste den Arm entgegen, die wie eine Mischung aus Abführen und Unterhaken wirkte. Annemie ignorierte sie.

»Was ist mit den Krankenhäusern? Es wird doch sicherlich Krankenhäuser geben?«

»Natürlich, die St.-Ansgar-Klinik und das Städtische Krankenhaus. Aber auch dort werden wir nicht gemeinsam hinfahren. Jedenfalls nicht, um Peter Juwel zu suchen, Frau Engel.«

Annemie schnaubte und marschierte weiter. Wenn diese Polizistin nichts unternehmen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ihr erster Spaziergang gestern mit Werner hatte sie bis zur Strandpromenade geführt. Dort stand das erste Haus am Platz. Ein historisches Gründerzeithaus mit sehr viel Eleganz. Die Zimmer nach vorne hinaus mit direktem Meerblick. In Annemies Augen die einzig würdige Bleibe für einen Star wie Peter Juwel. Und falls er dort nicht war – so groß war Bad Nordersielergroden nun auch wieder nicht, als dass sie die Krankenhäuser nicht finden würde.

»Frau Engel?«

Die Polizistin klang ein wenig irritiert, aber das kümmerte Annemie nicht. Unbeirrt setzte sie ihren Weg fort.

»Frau Engel.«

Jetzt schlich sich so etwas wie Strenge in den Tonfall. Annemie drehte sich nicht um. Wenn die Polizistin sie schon für eine alte und senile Frau hielt, konnte sie sich auch so verhalten.

»Frau Engel!«

Jetzt klang es, als hielte sie bereits die Waffe im Anschlag. Womöglich packte sie nun auch noch das Attribut schwerhörig oder stur auf die Liste. Oder beides. Annemie beschloss, sie in dem Glauben zu lassen. Hinter ihr schien sich die Polizistin in Bewegung zu setzen. Annemie hörte ihre Schritte immer näher kommen und ein weiteres »Frau Engel«, bevor sie sich unvermittelt festgehalten fühlte. Gezwungenermaßen blieb sie stehen.

»Ich bringe Sie jetzt zu Ihrer Pension, Frau Engel. Kommen Sie bitte mit«, sagte die junge Frau mit einer polizeilichen Strenge, die keinen Widerspruch mehr duldete. Sie deutete auf den Polizeiwagen, mit dem sie hierhergekommen waren. Der nächste Satz klang versöhnlicher. »Ruhen Sie sich noch ein wenig aus. Danach sieht die Sache sicherlich schon wieder ganz anders aus.«

»Du hast was getan?« Werner Assenmacher zog ein großes weißes Taschentuch aus der Hosentasche seines Schlafanzugs und tupfte sich damit über die Stirn.

Annemie hatte es nach ihrer Rückkehr in die Pension nicht mehr ausgehalten und Werner geweckt, um ihm ihre Erlebnisse zu berichten, obwohl es erst kurz nach sieben Uhr gewesen war. Dabei hatte es sie ausnahmsweise nicht gestört, dass er noch nicht angezogen war. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte sie selbstverständlich vor der Tür gewartet, bis er den gestreiften Pyjama aus- und ein ordentliches Hemd samt Hose angezogen hätte. Aber ihre Aufregung war nach wie vor zu groß gewesen, um so lange auszuharren. So saßen sie nun in Werners Zimmer, Annemie in einem kleinen Sessel unter dem Fenster und Werner auf seinem Bett. Er hatte ihren Worten stumm bis zu der Stelle gelauscht, an der die Polizistin sie persönlich bis zur Haustür begleitet hatte.

»Ich habe ihr ein Trinkgeld gegeben.«

Werner starrte sie an, kniff kurz die Augen zusammen und betupfte erneut sein Gesicht. »Das meine ich nicht.« Das Tuch verschwand wieder in der Hosentasche. »Ich meine den toten Peter Juwel. Du hast seine Leiche gefunden?«

»Ja. Oder auch nein. Ich dachte, ich hätte seine Leiche gefunden. Als wir wieder dort ankamen, war von ihr jedoch nichts mehr zu entdecken.«

»Bist du dir da sicher?«

»Ja, natürlich bin ich mir sicher. Zuerst war sie da, dann, als ich die Stelle der Polizistin zeigte, nicht mehr.«

»Das meine ich nicht.« Werner griff wieder nach dem Tuch, behielt es aber nur in der Hand.

»Was meinst du dann?« Annemie wurde langsam ungeduldig. Wenn Werner nie das meinte, was sie aus seinen Worten heraushörte, würden sie beide ein Problem bekommen.

»Vielleicht hatte die Polizistin ja recht.« Werner rutschte auf seinem Bett hin und her. Beiläufig strich er die Bettdecke glatt.

»Womit?«

»Schau, Annemie. Nur weil du in Niedelsingen einen Mord aufgeklärt hast, bedeutet das nicht, dass nun auf einmal Leichen deinen Weg pflastern.«

»Was willst du damit sagen, Werner?« Annemie stand von dem Sessel auf. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter einundsechzig auf, straffte sich und betrachtete ihren Begleiter empört wie einen Hefeteig, der trotz aller Sorgfalt nicht aufgehen wollte.

»Vermutlich gibt es eine ganz einfache Erklärung, Annemie.«

»Bläst du jetzt in das gleiche Horn wie die Polizei, Werner? Hältst du mich auch für eine senile alte Frau?« Annemie konnte es nicht glauben.

»Nein. Aber Haralds Tod hat dir zugesetzt. Unsere Phantasie spielt uns manchmal einen Streich und …«

»Ich habe keine Phantasie, Werner. Niemals.« Annemie knöpfte den obersten Knopf ihrer Strickjacke zu, ging zur Tür und verließ grußlos den Raum. In ihrem Zimmer zog sie die Jacke aus und hängte sie ordentlich auf einen Kleiderbügel. Kurz zögerte sie. Sollte sie zurückgehen? So ein unvermittelter Abgang war nicht besonders höflich. Aber Werner war auch nicht besonders höflich, wenn er ihren Worten keinen Glauben schenkte.

Unter ihrem Fenster stand der Zwilling des Sessels aus Werners Zimmer. Sie setzte sich darauf und schaute nach draußen. Was, wenn die Polizei und Werner doch recht hatten und das alles entsprang nur ihrer Einbildung? Die Sache mit ihrem Bruder Harald war nicht spurlos an ihr vorübergegangen, da hatte Werner durchaus ins Schwarze getroffen. In stillen Momenten trauerte sie um ihn. Vor allem aber bedauerte sie von Herzen die vielen verschenkten Jahre, in denen sie wegen einer Reihe von Missverständnissen und einem unnötigen Streit nicht miteinander gesprochen hatten. Wenn man sich so lange wie sie von den Menschen ferngehalten hatte, wurde man vielleicht wirklich etwas seltsam und bildete sich Tote ein, wo keine waren.

Annemie starrte auf die katerlosen Kopfkissen und hatte zum zweiten Mal an diesem Tag Heimweh.

KAPITEL 3

»Kein Kuchen backt sich von allein.« Annemie sprach immer über alles mit ihren Katern und dachte gar nicht daran, ausgerechnet jetzt damit aufzuhören. Auch wenn die beiden nicht hier waren. Sie stützte ihre Hände auf den hohen Lehnen des Sessels ab und hievte sich hoch. Sie fühlte sich steif und unbeweglich. »Das kommt vom Nichtstun.« Sie rieb sich den Rücken. »Am besten wäre ich zu Hause geblieben. Aber es hilft ja nichts.«

Sie entschied sich gegen die Strickjacke und für den ebenfalls neuen, leichten hellgrauen Mantel, zog ihn an und musterte sich in dem schmalen, langen Spiegel an der Zimmertür.

»Ein Spaziergang entlang der Uferpromenade ist jetzt genau das Richtige«, sagte sie zu sich selbst. Kurz überlegte sie, Werner Bescheid zu geben. Aber in den Filmen ließen die Damen die Herren auch immer etwas schmoren, wenn man sich gestritten hatte.

Fünfzehn Minuten schnellen Schrittes später bereute Annemie eine ihrer Entscheidungen. Die morgendliche Frische hatte sich zu einer milden Brise gewandelt, und die Sonne schien von einem beinahe wolkenlosen Himmel. Der Mantel war zu warm. Sie zog ihn aus, legte ihn sorgsam gefaltet über ihren Unterarm, an dem sie ihre Handtasche trug, und fand sich sehr elegant. Passend zu den mondänen Häusern entlang der Promenade, in deren unteren Geschossen vornehme Geschäfte residierten. Bad Nordersielengroden war mehr als nur ein Kurort. Zumindest stand das in der kleinen Broschüre, die Farin und Maike neben den Konzertkarten in den Umschlag gesteckt hatten. Sie versprach stilvolle Erholung, vielfältige Kultur und unvergessliche Meeres(augen)blicke. Von Leichen vor der Freiluftkonzertbühne war darin nicht die Rede gewesen.

Annemie blieb vor einem Hotel stehen und blickte an der Fassade empor. »Hotel zur Kurpromenade« prangte in geschwungenen Lettern über dem Eingang, vor dem ein Portier in funkelnder Uniform Wache hielt. Mit einer leichten Verbeugung öffnete er Annemie die Eingangstür, als sie die drei lang gezogenen Stufen hinaufging und die Empfangshalle betrat. Drinnen hielt sie den Atem an. So viel Pracht und Glanz in einem Raum hatte sie noch nie gesehen. An der Decke funkelten kristallene Kronleuchter, die dunkel gestrichenen Wände waren wie Bilder von schweren Goldrahmen eingefasst. Überall in der Halle verteilt standen kleine Gruppen von Ohrensesseln um zierliche Tischchen herum. In einigen dieser Sessel saßen Menschen, tranken Tee und unterhielten sich. Annemie überlegte, wie viele fleißige Hände notwendig waren, um das alles sauber zu halten. Sicherlich eine Menge. Aber auch wenn sie sich in ihrer Pension »Zur Meeresbrise« wunderbar aufgehoben fühlte, war sie nach wie vor davon überzeugt, dass Stars wie Peter Juwel selbstverständlich in so eine Umgebung gehörten. Zielstrebig ging sie auf den Empfang zu.

»Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen helfen?« Der Herr hinter dem Empfangstresen hätte ebenso gut der Vater einer Braut sein können. Sein schwarzer Anzug saß perfekt, das helle Hemd strahlte makellos weiß. Nur ein kleines Ansteckschild an seiner Brusttasche wies ihn als jemanden aus, der hier arbeitete und nicht residierte.

»Guten Morgen. Mein Name ist Annemie Engel, und ich mache zurzeit Urlaub hier.«

»Sie sind Gast bei uns im Haus?« Annemie sah, wie es in ihm arbeitete.

»Nein. Ich wohne in der Pension ›Zur Meeresbrise‹.«

»Aha.« Er räusperte sich. »Was kann ich denn für Sie tun?«

»Ich möchte gerne zu Herrn Juwel. Peter Juwel«, schob sie schnell hinterher – für den unwahrscheinlichen Fall, dass auch er nicht wusste, wer das war. Wobei man von einem Hotelangestellten erwarten durfte, die Gäste zu kennen. Aber da er bei ihr auch nicht sicher gewesen war, hielt Annemie es für das Beste, ihm weitere Informationen zukommen zu lassen. »Herr Juwel soll heute Abend auf der Kurparkbühne ein Konzert geben. Heute Morgen habe ich ihn …« Annemie verstummte kurz und überlegte, wie sie den Satz beenden konnte, ohne dass ihr Gegenüber sie ebenfalls sofort in die Schublade »verrückte Alte« legen würde. »Ich habe ihn heute Morgen auf der Promenade getroffen, und da fühlte er sich nicht gut. Können Sie mir bitte sagen, wie es ihm jetzt geht?«

Der Hotelangestellte hinter dem Empfangstresen lächelte, als bisse er in ein misslungenes Zitronentörtchen. »Es tut mir leid, aber zum einen gibt es bei uns keinen Gast mit dem Namen Juwel. Zum anderen dürfte ich Ihnen auch keine Auskunft geben, selbst wenn der Herr unser Gast wäre. Höchste Diskretion ist einer unserer Grundsätze.«

»Hören Sie, junger Mann. Peter Juwel ist ein Star. Glauben Sie, er steigt in irgendeiner Kaschemme ab? Jetzt schauen Sie doch bitte einmal in Ihre Bücher.«

»Ich habe bereits nachgesehen.« Er wies mit einer Hand auf den Computerbildschirm. Keiner unserer Gäste trägt diesen Namen.«

»Sind Sie sicher? Es ging ihm gar nicht gut.«

»Natürlich bin ich sicher.« Der Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf und zog sein Jackett straff. Er wirkte in seiner Ehre beleidigt. Annemie verharrte kurz.

»Danke.« Sie wandte sich ab und ging Richtung Ausgang.

»Warten Sie.« Der Hotelangestellte kam hinter dem Empfang hervor und eilte ihr nach. Annemie schaute ihn über ihre Schulter hinweg an. Das Zitronentortige war aus seinem Gesicht verschwunden. Er hielt einen Prospekt in der Hand.

»Sie scheinen sich wirklich Sorgen um den Herrn zu machen, Frau Engel.« Er reichte ihr den Prospekt. »In Bad Nordersielergroden gibt es viele gute Hotels und Pensionen. Vielleicht ist er in einem anderen Haus abgestiegen. Hier stehen alle Adressen und Telefonnummern drin.« Er lächelte nun wieder freundlich. »Viel Glück.«

Vor der Tür steuerte Annemie auf die nächste Bank zu. Sie setzte sich, sah zu dem Hotel hinüber und dachte nach. Wenn Peter Juwel, was sie immer noch nicht recht fassen konnte, nicht hier abgestiegen war, sondern in einem der vielen anderen Hotels, hatte sie eine Menge Arbeit vor sich. Sie blätterte in dem Prospekt und überschlug kurz die Zahl der genannten Hotels. Das waren sicher mehr als dreißig Adressen. Ganz hinten fand sie auch die Anschriften der beiden Krankenhäuser. Das St. Ansgar lag ganz in der Nähe. Die Hotels konnte sie unmöglich alle zu Fuß ablaufen. Blieb nur das Telefon.

Sie öffnete ihre Handtasche und suchte ihr Handy. Als sie es endlich ganz unten gefunden, ans Tageslicht gezogen und angeschaltet hatte, hielt sie es einen Moment in der Hand. »Rasenmäher, Werner« stand auf ihrem Display. Die Autokorrektur hatte beim Eintrag in das Telefonbuch aus Assenmacher »Rasenmäher« gemacht. Bisher hatte sie noch keine Gelegenheit gefunden, Maike zu bitten, ihr zu zeigen, wie sie das berichtigen konnte. Werner hatte also angerufen. Drei Mal. Wollte er sich entschuldigen? Annemie beschloss, ihn nicht zurückzurufen. Solche Dinge erledigte man besser von Angesicht zu Angesicht. Er musste sich noch etwas gedulden, bis er sie um Verzeihung bitten durfte.

Annemie schlug die Seite mit dem Hotelverzeichnis auf und klappte sie direkt wieder zu. Was, wenn Juwel der falsche Name war? Wenn Peter Juwel nicht als Peter Juwel im Hotel abgestiegen war? Vielleicht war Juwel ein Pseudonym. Wenn Annemie es recht bedachte, war das sogar sehr wahrscheinlich. Menschen hießen Müller oder Yilmaz oder Nowak oder Rossi, nicht Juwel. Wie seltsam, dass sie bisher noch nie auf die Idee gekommen war. Für sie hieß ihr Lieblingssänger eben Peter Juwel und nicht anders. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie dieser andere Name lauten könnte. Also konnte sie auch nicht danach fragen. Aber sie konnte anders vorgehen.

Wieder nahm sie sich ihr Handy vor, versuchte sich zu erinnern, was Maike ihr über den Umgang mit dem weltweiten Netz beigebracht hatte. Nach dem dritten Versuch hatte sie Erfolg. Ein strahlender Peter Juwel schaute sie von ihrem Display aus an.

Annemie stand auf und ging zu dem Portier am Eingang.

»Kennen Sie diesen Herrn?«, fragte sie und hielt ihm das Telefon entgegen. Der Mann trat einen Schritt näher, blinzelte und betrachtete das Foto.

»Natürlich. Das ist doch Peter Juwel. Wer kennt den nicht? ›Unsre Liebe schrieb das Leben, hart geprüft und doch bestanden …‹« Er sang die ersten Takte des Liedes leise vor sich hin und wiegte sich dabei in den Hüften, ehe er sich wohl erinnerte, wo er sich gerade befand und was seine Aufgabe war. Sofort wurde er wieder ernst und nahm Haltung an. Annemie schöpfte Hoffnung.

»Dann ist er doch hier?«, wollte sie wissen.

»Meinen Sie hier, in unserem Haus?« Der Portier schüttelte den Kopf. »Nein. Da muss ich Sie leider enttäuschen.«

Das kleine Fünkchen Hoffnung verschwand so schnell wie Mini-Muffins in Kindermündern. Annemie bedankte sich bei dem Portier, stieg die wenigen Stufen zur Uferpromenade hinunter und wandte sich in Richtung St.-Ansgar-Klinik. Nach einer kurzen Wegstrecke entdeckte sie ein erstes Hinweisschild, das eine nur noch geringe Entfernung bis zum Ziel versprach. Unterwegs erkundigte sie sich noch in zwei weiteren Hotels und einer Pension nach Peter Juwel und zeigte auch jedes Mal das Foto. Die Besitzerin der Pension hatte zwar ebenfalls eine Eintrittskarte für das Konzert am Abend, teilte Annemie aber zu ihrem sehr großen Bedauern mit, Herr Juwel logiere leider nicht in ihrem Haus.

Das St. Ansgar war ein altehrwürdiger Bau aus dicken Basaltsteinen. Genau in der Mitte des lang gestreckten Gebäudes befand sich der Eingang in einem großen Torbogen. Darüber erhoben sich eine weitere Etage und ein Dachgeschoss, das mittig platziert genau halb so breit war wie die beiden unteren Etagen. Oben auf dem Dach thronte ein leuchtturmähnliches Zwiebeltürmchen. Die Fenster waren sehr gleichmäßig verteilt und lagen exakt übereinander. Annemie mochte das Gebäude auf Anhieb. Ihr gefielen solche symmetrischen Strukturen, und sofort überlegte sie, wie sie eine Torte in dieser Art backen könnte. Die Etagen und den Turm als Schichten aus dunklem Sachertortenteig, dazwischen jeweils eine leckere Creme. Für die Fenster fiele ihr auch noch etwas ein. Die entscheidende Frage war, ob die Torte ein Mäntelchen bekommen sollte oder nicht. »Naked Cake« hieß das heute. Wobei Annemie sich immer noch nicht sicher war, ob dieser Trend nicht eher daher kam, dass ein schöner und glatter Überzug sowohl Übung als auch Können verlangte.

Vor dem Torbogen blieb sie stehen und schaute nach oben. Ein Schokoüberzug käme in Frage. Dann rief sie sich selbst zur Ordnung. Schließlich war sie nicht hier, um neue Torten zu erfinden. Und wie würde sie so eine Torte überhaupt nennen? Schoko-Haus? St. Ansgars Versuchung? Nein. Darum ging es jetzt wirklich nicht. Jetzt ging es darum, Peter Juwel zu finden und sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Und auch darum, sich selbst zu beweisen, dass sie nicht senil war. Allerdings würde ihr, daran erinnerte sie sich noch aus der Zeit mit Harald, das Krankenhaus keine Auskunft geben dürfen. Sie war mit Peter Juwel weder verwandt noch verschwägert und kannte ja noch nicht einmal seinen richtigen Namen. Sie konnte also nicht einfach zum Empfang gehen und sich nach ihm erkundigen. Sie musste ihn schon selbst suchen. So groß war das Krankenhaus nicht, als dass das nicht gelingen konnte. Und eine freundliche alte Dame würde auf ihrem Weg durch die Eingangshalle sicher niemand aufhalten.

Annemie fasste sich ein Herz, betrat das Krankenhaus, fand sofort den Hinweis zu den Stationen und ging zielstrebig darauf zu. Aus dem Augenwinkel erkannte sie eine weitere Person, die einige Schritte hinter ihr in die Eingangshalle kam. Es war die junge Polizistin. Sie hatte Annemie nicht erkannt. Vielleicht brachte sie die geordnete Frisur und den eleganten Mantel nicht mit der windzerzausten alten Frau in Strickjacke von heute Morgen in Verbindung.

Trotz des Risikos, von ihr entdeckt zu werden, beschloss Annemie, in der Nähe zu bleiben, um zu hören, was die Polizistin hier wollte. Verdeckt von einer Säule, standen nahe dem Empfang einige Sessel für Besucher und Patienten bereit. Annemie setzte sich mit dem Rücken zu der Krankenhausmitarbeiterin in einen der Sessel und bemühte sich, möglichst viel von dem Gespräch mitzubekommen. Es drangen zwar nur Gesprächsfetzen zu ihr herüber, doch es ging wirklich um Peter Juwel. Den Namen verstand sie deutlich. Die Antwort der Dame am Empfang ging jedoch im Lärm einer Gruppe Pflegerinnen unter, die die Halle durchquerten.

Annemie riskierte einen vorsichtigen Blick über die Schulter. Die Polizistin hielt der Dame vom Krankenhaus gerade ein Foto hin. Die Befragte schüttelte bedauernd den Kopf und verwies die Polizistin an die Notaufnahme. Annemie erhob sich und folgte ihr in gebührendem Abstand.

»Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?« Eine Pflegerin stand mit einem Mal neben Annemie. Sie hatte sie nicht kommen hören, was sicherlich an diesen leisen Schuhen lag, die heutzutage alle trugen. Früher waren die Ärzte und Schwestern mit anständigen Holzpantinen durch die Gänge geklappert. Da war man wenigstens gewarnt.

»Nein danke.« Annemie nickte ihr kurz zu und versuchte gleichzeitig, die Polizistin nicht aus den Augen zu verlieren.

»Sind Sie Besucherin? Zu den Stationen geht es nämlich dort entlang.« Sie wies in die entgegengesetzte Richtung und lächelte freundlich.

Unter anderen Umständen hätte Annemie sich über die höfliche junge Frau gefreut. Das war heutzutage nicht mehr selbstverständlich, dass die Jugend dem Alter mit Respekt begegnete. Eine Erfahrung, auf die sie nach den langen Jahren ihrer Abgeschiedenheit sehr gerne verzichtet hätte. Trotzdem musste sie die sympathische Schwester so schnell wie möglich loswerden, wenn sie noch eine winzige Chance haben wollte, die Polizistin zu belauschen.

»Danke. Ich befinde mich durchaus auf dem richtigen Weg und brauche keine Hilfe.« Sie sah die Pflegerin streng an. Vielleicht half das ja. Dann wandte sie sich von ihr ab und wollte weiter in Richtung Notaufnahme, wurde aber durch einen Beinahe-Zusammenprall abrupt gestoppt.

»Frau Engel.« Die Polizistin trat einen Schritt zurück. »Was machen Sie hier?«

»Was macht eine alte Frau schon in einem Krankenhaus? Einen Tanzkurs besuchen?«

»Geht es Ihnen nicht gut?« Wieder die Pflegerin. So langsam ging Annemie deren Helferdrang doch auf die Nerven.