Kipppunkte - Georg Diez - E-Book

Kipppunkte E-Book

Georg Diez

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Beschreibung

Die Neunziger als Schlüsseljahrzehnt unserer Gegenwart und Zukunft.

In den neunziger Jahren wurde die Welt geschaffen, in der wir immer noch leben – und die gerade krachend kollabiert. Dagegen setzt dieses Buch kämpferischen Optimismus. Ziel ist es, die Geschichte dieser Dekade zu nutzen, nicht zur Abrechnung, sondern zur Aufklärung. Denn darum geht es: Wir müssen wieder trainieren, in Alternativen zu denken. Wir müssen die Möglichkeiten erkennen, die in jedem Krisenmoment vorhanden sind. Wir müssen wieder an unsere Handlungsfähigkeit glauben, als Einzelne, in der Gemeinschaft, als Demokratie.

»Georg Diez beschreibt die 1990er als Jahre der Weichenstellung, wo vieles anders wurde, als Epochenschwelle, die bis heute unsere Gegenwart bestimmt. Scharfsinnig und mit Gespür für die Tiefenströmungen historischer Umbrüche.« Steffen Mau.

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Seitenzahl: 494

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Klimawandel, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, ein zur Ideologie gewordener Kapitalismus, Technologie, die nur als Bedrohung wahrgenommen wird, eine erschöpfte  wahrgenommen wird, eine erschöpfte  Demokratie, wirtschaftliche Ungleichheit – wenn wir die Krisen unserer unserer Gegenwart verstehen wollen, müssen wir die Neunzigerjahre noch einmal neu betrachten. Was damals begann, prägt die Welt bis heute. In seiner klugen Analyse identifiziert Georg Diez die entscheidenden Kipppunkte jener Jahentscheidenden Kipppunkte jener Jahre. Und nicht nur das: Er zeigt auf, wie wir aus den Fehlern der Vergangenheit Ideen und Alternativen für die demokratische, ökonomische und technolokratische, ökonomische und technologische Zukunft ableiten können.

Über Georg Diez

GEORG DIEZ, geboren 1969 in München, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitete für die Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, den Spiegel und Die Zeit und schreibt für deutsche und internationale Medien. Als Fellow der Max-Planck-Gesellschaft und von Project-Together beschäftigt er sich mit Fragen demokratischer Innovation. Er lebt in Berlin und Stockholm.

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Georg Diez

Kipppunkte

Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Warum die neunziger Jahre?

Anfänge

Wer ist Milton Friedman?

Tschernobyl und die Krise der Moderne

Schabowskis Stottern

Here we are now, entertain us

Amnesie

Kunst

Das neue Deutschland

Wie wichtig war die deutsche Einheit?

Der 3. Oktober 1990

Die fehlende Verfassung

Rassismus und Vergangenheit

Alltag und Terror

Theater

Der verlorene Frieden

Wer gewinnt den Kalten Krieg?

Die postdemokratische Union

Moral

Israel

Die falsche Globalisierung

Die Welt ist flach

Schock und Konsens

Der Widerstand einer Generation

HipHop

Die verkaufte Freiheit

Internet und Idealismus

Internet und Kapitalismus

Internet und Macht

Medien

Die vorletzte Generation

Die Wissenschaft vom Klimawandel

Von Rio nach Kyoto

Was tun?

Gender

Die Abschaffung der Politik

Enden

Anhang

Dank

Abkürzungen

Literatur

Anfänge

Das neue Deutschland

Der verlorene Frieden

Die falsche Globalisierung

Die verkaufte Freiheit

Die vorletzte Generation

Die Abschaffung der Politik

Impressum

Für Karin

Warum die neunziger Jahre?

Dieses Buch ist eine Gebrauchsanweisung für die Gegenwart, mehr eine Gedankenübung als ein Geschichtswerk. Und doch unternimmt es die erste Gesamtschau des Jahrzehnts, das entscheidend ist für das Verständnis der Krisen unserer Gegenwart: In den neunziger Jahren wurde die Welt geschaffen, in der wir immer noch leben – und die gerade krachend kollabiert.

Nach dem Ende des Kalten Krieges, nach dem Ende der Geschichte, wie es hieß, nach dem Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, nach der deutschen und der europäischen Einheit, nach dem Triumph, so klang es, des Westens als politische und kulturelle Matrix – was konnte da noch schiefgehen?

Leider, das zeigt sich, ziemlich viel. Und so stehen wir vor dem Scherbenhaufen der Chancen, die dieses Jahrzehnt geboten hätte. Ziel dieses Buches ist es, diese verpassten Chancen für heute zu beschreiben. Ziel ist es, die Geschichte der neunziger Jahre zu nutzen, nicht zur Abrechnung, sondern zur Aufklärung. Und zu zeigen: Das waren die Ideen und Alternativen, das sind die nicht eingelösten Versprechen, das sind die »roads not taken«.

Dieses Buch soll etwas kämpferischen Optimismus verbreiten. Denn das Gefühl von Krise ist umfassend, und in der abermaligen Wahl von Donald Trump zum US‑Präsidenten verdichten sich Autoritarismus, Demokratieverneinung, Profitgier, Rassismus, Frauenverachtung und Neodarwinismus – verbunden mit der entgrenzten Klimakatastrophe und einer toxischen Kombination von Technologie und Kapital. Der Horizont scheint zu verschwinden, der Blick auf die Zukunft scheint sich zu schließen.

Was aber haben die neunziger Jahre damit zu tun? Im Rückblick fällt die aufgekratzte Apathie jener Zeit auf, eine echte und eine falsche Euphorie, dass es – trotz der Kriege in Irak und auf dem Balkan und des Genozids in Ruanda, um nur ein paar Schrecken dieses Blutjahrzehnts zu nennen – nun immer besser werden würde. Freiheit sollte endlich Gestalt annehmen.

Was auch auffällt, das ist die Dunkelheit, die am Anfang der Dekade herrschte, die Verstörung, die Verweigerung, die Gewalt, die aus dem Herzen des Kapitalismus selbst kam, die sich gegen diesen Kapitalismus wendete und in der Kultur spiegelte: Generation X, Nirvana und der Selbstmord von Kurt Cobain; Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho und Blutlust aus turbokapitalistischem Selbsthass; Fight Club, das Buch und der Film, wo die Gewalt, die in Gier und Geld geborgen ist, nach außen gewendet wurde, Mann gegen Mann und jeder gegen sich selbst.

Was weiter auffällt, das ist, wie wenig wir uns erinnern wollen, wie umfassend die Amnesie ist und wie absichtsvoll: Alles, was wir heute über die Klimakatastrophe wissen, war damals schon klar. Alles, was Elon Musk und seine Oligarchenfreunde an digital-libertären Dystopien erschaffen, wurde damals vorbereitet. Alles, was westliche Hybris, demokratischen Verfall und die Übermacht der Märkte ausmacht, wurde damals diskutiert.

Und heute? Was können wir aus dem lernen, was damals passierte? Und wie können wir es ändern? Denn darum geht es: Wir müssen wieder trainieren, in Alternativen zu denken. Wir müssen die Möglichkeiten erkennen, die in jedem Krisenmoment vorhanden sind. Wir müssen die Kraft wiederfinden und an unsere Handlungsfähigkeit glauben, als Einzelne, in der Gemeinschaft, als Demokratie.

Geschichte ist nie linear, Geschichte ist verschlungen, sie überlagert sich, sie überlappt sich. Vieles wird verständlicher, wenn wir der Enge und der scheinbaren Alternativlosigkeit unserer Gegenwart ausweichen, vieles wird dadurch auch veränderbarer. In diesem Sinne ist dies ein politisches Buch – Politik verstanden als der organisierte Versuch, das Leben gemeinsam zu verändern. Politik als die Notwendigkeit, in Optionen zu denken und sich nicht mit dem abzugeben, was andere sagen. Politik auch als etwas, das in den neunziger Jahren verlernt wurde, als Handwerk, als Denkweise, als kollektive Anstrengung.

Es war in vielem ein verlorenes Jahrzehnt, es war auch ein sehr langes Jahrzehnt: Eine mögliche Zeitspanne wären die Jahre zwischen dem 9. November 1989, als die Mauer fiel, und dem 11. September 2001, als der Terroranschlag auf das World Trade Center die Auszeit von der Geschichte beendete. Ein weiteres denkbares Ende der neunziger Jahre wäre die Finanzkrise von 2008 und 2009, als die Spekulationsblase rund um den Immobilienmarkt barst und in der Folge Banken gerettet wurden und die Bürger nicht – was auf der einen Seite zu den Protesten von Occupy Wall Street 2011 führte und auf der anderen Seite zur Wahl von Donald Trump 2016.

Ich wähle diesen weiten Winkel. Die neunziger Jahre beginnen für mich 1973, als das Bretton-Woods-Abkommen zerbrach, das die Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg geregelt hatte, und damit die neoliberale Ära Form annahm – und sie enden 2016, als dieselbe neoliberale Ära mit der Wahl von Donald Trump und dem Brexit crashte. So grenzt auch der Harvard-Ökonom Dani Rodrik die Epoche ein, mit dem ich, wie mit vielen anderen Menschen, während der Arbeit an diesem Buch gesprochen habe – das aus konkreten Fragen entstand, die ich an die Gegenwart hatte.

Ein Auslöser war die Frustration mit einer bestimmten Art von Politik ohne Politik, oft eher ein technokratisches Achselzucken als demokratisches Anpacken – die Methode Scholz zum Beispiel, dessen politisches Projekt eine Art von Projektverweigerung war und der sich als Erbe und Vollstrecker einer ganzen Generation von Sozialdemokraten erwies: Gerhard Schröder und Tony Blair hatten mit dem »dritten Weg« in den neunziger Jahren die Entpolitisierung der Gesellschaft vorangetrieben und dennoch wenigstens Reformen gewagt, deren Folgen bis heute nachwirken.

Ein weiterer Auslöser war die Frustration über die Art und Weise, wie über den Krieg Russlands in der Ukraine gesprochen wurde, medial wie politisch. Historische Analyse wirkte hier eher störend oder polarisierend, wenn es um die NATO-Osterweiterung geht oder die Frage, wie sich eine Verteidigungsallianz in eine Friedensordnung verwandeln kann.

Und schließlich war da noch die Frustration darüber, wie sich seit mehr als 30 Jahren die Diskussionen um Klimawandel und Kapitalismus verhaken und dass wir so viel Zeit vergeudet haben, die uns heute fehlt. Das verbindet sich mit der Sorge, dass meine Kinder und Ihre Kinder eine Welt erben werden, die in vielem nicht mehr wiederzuerkennen sein wird.

Wir leben in einer unübersichtlichen Epoche, und die Zeit, die vor uns liegt, lässt sich nicht genau bemessen aus der Erfahrung der Zeit, die hinter uns liegt. Aber es hilft, wenn man versucht, in der Geschichte Muster zu erkennen, Verbindungen zu sehen, Perspektiven zu verknüpfen, die weiter gefasst sind als die atemlose Gegenwart. Die Muster, die sich abzeichnen, strukturieren die Lektüre des Buches.

Ich glaube sehr daran, dass es notwendig ist, diese Struktur in der Vergangenheit zu erkennen, um die Mutlosigkeit und Trägheit unserer Gesellschaften zu überwinden. Ich glaube daran, dass Ideen helfen, die Welt zu gestalten, und dass es darum geht, bestimmte Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität auf der Folie der neunziger Jahre neu zu definieren.

Ich suche deshalb nach den Kipppunkten, nach den Momenten und Konstellationen, an denen Geschichte hätte anders verlaufen können – oder an denen Entscheidungen getroffen wurden, deren Konsequenzen wir noch heute erleben. Diese Kipppunkte sind, anders als die Kipppunkte der Klimaforschung, nicht unumkehrbar. Es gibt, das ist das Versprechen von Politik, immer die Möglichkeit, den Lauf der Geschichte zu verändern.

Was aber sind die Alternativen? Wo sind sie zu finden? Wie kann aus dem, was nicht geschehen ist, eine neue Wirklichkeit werden? Wie funktioniert historische Spekulation? Was ist, mit anderen Worten, die Macht des Kontrafaktischen?

Diese Gedanken strukturieren das Buch. Diesen Motiven gilt es zu folgen. In der Vergangenheit versteckt liegen die Schlüssel dafür, unsere Zukunft anders zu gestalten

Und so bleibt die Hoffnung, dass dieses Buch so wirkt, wie es gemeint ist: Als Einladung, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir gemeinsam weitermachen wollen. Es ist kein Werk der Melancholie oder des Pessimismus. Es geht nicht darum zu zeigen, was alles falsch gelaufen ist. Es geht darum zu verstehen, was wir tun müssen, um die Dinge wieder zu richten.

Dafür sind neue Ideen und neue Allianzen notwendig. Dafür ist auch eine andere Art von Politik notwendig, die sich aus der Selbstentmachtung der neunziger Jahre befreit, und eine neue Rolle für den Staat, der Treiber der Veränderungen sein muss. Das bedeutet eine tiefe Revision wesentlicher Grundlagen des Denkens dieser Zeit.

Die Alternativen zeichnen sich immer klarer ab. Elon Musk ist too rich to fail, er ist der Principe unter der neuen Gang der Tech-Fürsten, die einen digital getriebenen Neofeudalismus zum Ziel haben. Donald Trump macht das autoritäre Denken great again. Und Mark Zuckerberg führt den Opportunismus der Wirtschaftseliten vor, die allzu leicht der Logik von Macht und Stärke folgen.

Das Interregnum ist vorbei. Wir leben in einer neuen Epoche, die sich vor unseren Augen entfaltet. Wie baut sie auf dem auf, was vorangegangen ist? Wie unterscheidet sie sich davon? Gerade setzt sich die Wirklichkeit in rasender Geschwindigkeit neu zusammen. Was gestern Wahrheit war, gilt heute als Ideologie: Der Klimawandel wird mehr und mehr totgeschwiegen, Diversität wird als umgekehrter Rassismus definiert, Wachstum wird wieder fossil definiert.

Die Mechanik des Neuen nimmt Elemente des Alten auf – und spitzt sie radikal zu. Das ist erschreckend. Das ist auch verblüffend. Sind die Menschen nicht in der Lage zu lernen, frage ich mich dieser Tage immer öfter.

Die neue Ära, die auf jene folgt, die mit den neunziger Jahren begann, wird unübersichtlich sein und voller alter und neuer Gewalt. Wir müssen uns darauf vorbereiten. Wir werden eine Weile damit leben.

Der Blick zurück hilft. Verstehen ist das eine, handeln ist das andere.

Anfänge

Wer ist Milton Friedman?

Oder: Was ist die Macht von Ideen? Die Weltgeschichte ist eine große und langgezogene Antwort auf diese Frage. Ideen strukturieren die Wirklichkeit, sie scheiden richtig und falsch, sie geben Macht ihre Legitimation. Ein König oder Kaiser etwa, der von Gott eingesetzt ist, der von Gottes Gnaden oder in Gottes Namen regiert, wie Karl der Große in Deutschland oder Ludwig der Vierzehnte in Frankreich, das ist eine starke Idee, die Hunderte von Jahren überlebt und Schlösser produziert hat und zahllose Kriege und Tote über Tote. Es ist eine Idee, die Identität schafft, so wie auch die Idee der Nation, die die Idee des Königs ablöste und das Volk an seine Stelle setzte – eine Idee, die keine Schlösser schuf, dafür Kultur und Gemeinschaft und einen Sinn für das Verbindende in Geschichte und Gegenwart; und Kriege und Tote über Tote.

Das 20. Jahrhundert erlebte beide Ideen, überlebte beide Ideen; die Könige und ihre Reiche verließen die Bühne zu Beginn des Jahrhunderts, eine Epoche ging zu Ende und die Zeit der Nationen begann, nach dem Zweiten Weltkrieg institutionalisiert als Vereinte Nationen, eine abgeschwächte Form von Weltregierung, die durch nationale Interessen gebunden war. Diese Epoche hatte 30 starke Jahre, von 1945 bis 1975, in denen sich Wohlstand ausbreitete in weiten Teilen der westlichen Welt. Dieser Wohlstand basierte einerseits im Äußeren auf der fortbestehenden globalen Ungleichheit und andererseits im Inneren auf einem Konsens zwischen Kapital und Arbeit, zwischen den Interessen der Wirtschaft und denen der Menschen, verfasst als Demokratie. Es hieß, dass sich diese Interessen wechselseitig beförderten, und im Idealfall stimmte das auch. Gewerkschaften waren stark, es gab Fortschritt im Sozialen und eine Art gesellschaftliches Zielbild, in Deutschland und je unterschiedlich in den anderen Staaten der westlichen Welt, das sich im Wohlfahrtsstaat ausdrückte, der sich durch Steuern finanzierte.

Dieses konsens-orientierte Modell von Staat, Demokratie und Markt kam Ende der siebziger Jahre in die Krise, verursacht durch äußere wie innere Konflikte. Nach dem jahrzehntelangen Boom der Nachkriegszeit mit Investitionen in Infrastruktur, Wiederaufbau, Konsum erlahmte die Weltwirtschaft. Die Ölkrise Anfang der siebziger Jahre und das Scheitern des Systems der festen Wechselkurse waren entscheidende Faktoren, so dass Ende des Jahrzehnts viele Staaten mit dem Problem der Stagflation konfrontiert waren, eine ungewohnte Kombination von wirtschaftlicher Stagnation und Preissteigerung, also Inflation. Es war eine Krise der Wirtschaft wie der Gesellschaften, die sich durch den wachsenden Wohlstand in einer Weise strukturiert hatten, die, so schien es, nicht mehr finanzierbar war. Die Verbindung von Staat und Wirtschaft wurde brüchig. Es war damit auch eine Krise der Ideen von Demokratie, Wirtschaft, Gesellschaft, und in dieses Vakuum stießen die, die ihre Ideen lange schon vorbereitet hatten. Für das Verständnis der neunziger Jahre ist das Verständnis dieser Ideen zentral.

»Nur eine – tatsächliche oder gefühlte – Krise führt zu echten Veränderungen«, so formulierte es der führende Intellektuelle dieser neuen Epoche. »Wenn diese Krise eintritt, hängen die Maßnahmen, die ergriffen werden, von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist, glaube ich, unsere grundlegende Aufgabe: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie lebendig und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche zum politisch Unvermeidlichen wird.«

Milton Friedman war dieser Mann, und seine Idee war der Markt. Friedman wurde damit zum einflussreichsten Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Art Gegenentwurf zu Freud, der am Anfang des Jahrhunderts eine Revolution des Menschbilds ermöglicht hatte, indem er das Unbewusste als Triebkraft und Lebensmotiv identifizierte. Auch Milton Friedman machte Annahmen über die Natur des Menschen und dessen Triebkräfte, der individualistisch sei, von eigenem Interesse getrieben, egoistisch. Der Markt war für Friedman der perfekte Mechanismus, um diese Triebkräfte zu organisieren. Er setzte – zusammen mit einer wachsenden Phalanx von Ökonomen, Policy Makern, Think Tanks – die Idee des Marktes an die Stelle der Nation, des Volks, der Demokratie und leitete eine Art Konterrevolution des Nachdenkens über den Menschen ein.

Friedman entwickelte eine Gesellschaftslehre ohne Gesellschaft. Der Markt ersetzt auch diese Idee, aus lauter Ichs lässt sich nur schwer ein Wir bauen. Der eigentliche Kern seiner Idee des Marktes ist wiederum die Freiheit, denn nur der freie Markt ist ein guter Markt, der den Gesetzen der Rationalität gehorcht. Damit prägte Friedman einen sehr engen und instrumentellen Begriff von Freiheit, der seit den achtziger und speziell seit den neunziger Jahren immer mächtiger wurde und bis heute das Denken stark bestimmt.

Neoliberalismus heißt diese ökonomische, politische, gesellschaftliche Denkschule, in Abgrenzung zum klassischen Liberalismus etwa eines John Stuart Mill im 19. Jahrhundert. Der Begriff der Freiheit fungiert hier als wesentlicher Kipppunkt unserer Zeit: Freiheit, die in der Folge der Französischen Revolution politisch und gemeinschaftlich und emanzipatorisch definiert wurde und für die von links gekämpft wurde, wurde zu einem Begriff der, grob gesagt, Rechten, zu einem erst einmal ökonomisch definierten Begriff, auch wenn damit erhebliche politische und gesellschaftliche Konsequenzen einhergingen. Freiheit, so formulierten es Friedman und andere Denker des Neoliberalismus, sollte primär für den Markt gelten. Markt und Demokratie waren damit nicht unbedingt notwendig füreinander – im Idealfall stützte Demokratie den Markt, im schlechtesten Fall emanzipierte sich der Markt von der Demokratie.

Diese Dynamik prägt die neoliberale Epoche bis heute, und Milton Friedman und Kollegen gelang es, das neoliberale Versprechen für viele Menschen attraktiv zu machen. Sie waren Mythologen ihrer eigenen Lehre, sie schafften es, als geschickte Geschichtenerzähler der menschlichen Natur und Gesellschaft, ihrer Vorstellung von Freiheit eine gewisse Urwüchsigkeit zu verleihen. Das Problem war ihnen ziemlich klar: Um sich entfalten zu können, braucht Wirtschaft Ordnung, die notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden muss. Märkte brauchen Sicherheit, und diese Sicherheit muss durchgesetzt und garantiert werden. Gewalt ist bisweilen auch notwendig, um neue Märkte zu erobern, gerade im globalen Kontext. Wirtschaft schafft Ungleichheit, und diese Ungleichheit muss legitimiert werden.

Geboren wurde diese Meta-Idee des Marktes im Wien der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie war eine direkte Reaktion auf den Untergang des österreichischen Kaiserreichs, das gemeinsam mit den anderen Kaiser- und Königreichen das Zeitalter des Empires geformt und die territorialen und militärischen Grundlagen für einen freien Welthandel gebildet hatte, eine erste Globalisierung. Diesen Freihandel wollten die führenden Ökonomen der Österreichischen oder Wiener Schule retten. Sie waren sich dabei bewusst, dass sie für die Zukunft arbeiteten, an Konzepten für eine andere Ordnung, an Ideen. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 fanden zentrale Denker wie Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek den Weg in die USA – von Hayek lehrte lange Jahre an der University of Chicago, die neoliberale Denkschule wird deshalb oft auch die Chicago School genannt.

Wie sie ihre Idee in die Tat umsetzen wollten, das konnten von Hayek und Friedman, die sich in Chicago getroffen hatten, am Beispiel Chiles zeigen. Nachdem dort 1973 der demokratisch gewählte Präsident Chiles Salvador Allende ermordet worden war und General Augusto Pinochet das Land in eine blutige Diktatur verwandelt hatte, wurde Chile zum neoliberalen Versuchslabor: Friedman und von Hayek reisten in das Land und berieten Pinochet bei seinen harten Wirtschaftsreformen. Die Medien nannten Friedman einen »Freiheitskämpfer« und den »letzten Konservativen«, Friedman sprach 1981 mit Blick auf Chiles Wirtschaft von einem »Wunder«. Er hatte damals schon seinen Wirtschafts-Nobelpreis bekommen – der eigentlich gar kein richtiger Nobelpreis ist und eher eine aus Wirtschaftskreisen finanzierte clevere Möglichkeit, um eine bestimmte radikale ökonomische Sicht durchzusetzen.

Lange Jahre, auch das zeichnet den neoliberalen Visionär aus, war Friedman verlacht worden für seine simplifizierenden Thesen vom Wesen der Wirtschaft und der Rationalität der Märkte: Das System von Angebot und Nachfrage war demnach der menschlichen Vernunft überlegen, der Markt wusste mehr über die Welt als der Mensch, der Preis war die Wahrheit. Wirtschaft wurde als eine Wissenschaft präsentiert, »in exakt dem gleichen Sinn wie eine der Naturwissenschaften«. Es dauerte, bis sich die Schule Friedmans gegen das Denken seines großen Gegenspielers John Maynard Keynes durchgesetzt hatte, der einen starken Staat und eine aktive staatliche Wirtschaftspolitik propagierte. Friedman war der Außenseiter, der Underdog.

Durch die Wahl von Margaret Thatcher zur englischen Premierministerin 1979 und von Ronald Reagan zum US‑amerikanischen Präsidenten 1980 änderte sich das. Friedmans Doktrin wurde reale Macht, der Mainstream schwenkte um. »Der Markt«, schrieb Friedman, »ermöglicht Einstimmigkeit ohne Konformismus«, und er fügte hinzu: »Je mehr Bereiche vom Markt geregelt werden, desto weniger Fragen müssen durch ausdrücklich politische Entscheidungen geklärt werden.« Politik also war das Problem; der Staat war das Hindernis für das, was Friedman den freien Markt nannte, der Staat war der Gegner individueller Freiheit. Eine Epoche endete 1980, die keynesianisch geprägte Nachkriegszeit, eine andere Epoche begann, die Zeit des Neoliberalismus – der in den neunziger Jahren erst seine volle Macht entfaltete, vorangetrieben von Politikern wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder. Milton Friedman war nun Sozialdemokrat.

Die Instrumente waren überall gleich: Deregulierung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft, Privatisierung von Staatseigentum, Liberalisierung von Handel, Steuersenkungen, Haushaltsdisziplin – das ökonomische Werkzeug, das bis heute gilt und in Deutschland etwa durch die Schuldenbremse Verfassungsrang erhalten hat. Ein Weg, die Geschichte der neunziger Jahre zu erzählen, ist damit der des Geldes, verkleidet als Geschichte der Freiheit. Das Geld war seiner Verantwortung entkleidet, es war frei zu tun, was es wollte, und es wollte vor allem eines, ganz im Sinne von Milton Friedman, der es so formulierte: »Die soziale Verantwortung der Wirtschaft ist es, immer mehr Profit zu machen.« Irgendwie, so die Idee der Friedman-Doktrin, würde das Geld schon auch bei denen ankommen, die das bildeten, was andere die Gesellschaft nannten. »Trickle down«, so hieß der Glaubenssatz, es wird schon was runtertropfen. Aber es kam anders.

Wer also ist Milton Friedman? Vielleicht bis heute der mächtigste Ideologe unserer Zeit – Ideologie definiert als Verdichtung von Wirklichkeit zur Wahrheit, was immer eine Verkrümmung der Wirklichkeit bedeutet. Es waren seine Ideen, die sich vor die Realität schoben; alternative Fakten, so würde man es heute nennen, die wiederum Wahrheit wurden und Wirklichkeit schufen. Der Staat wurde als Widersacher des Individuums definiert, nicht als dessen eigentliche Gestalt, wie es Hegel gesehen hatte, als Produkt kollektiven Willens, wie es Rousseau beschrieb, als Möglichkeit von Gerechtigkeit und Ausgleich, wie es Grundlage eines sozial-demokratisch geprägten Demokratie- und Wirtschaftsverständnisses war.

Wenn Milton Friedman etwas nicht war, dann konservativ im klassischen Sinn. Er war ein Revolutionär, und er schuf die Grundlagen für eine Hegemonie im Denken wie im Handeln. Ideen sind dabei nicht alles, es gibt entscheidende Veränderungen im Materiellen, Wirtschaftsinteressen, geopolitische Faktoren, Technologiesprünge, die ihren Teil zum Lauf der Dinge beitragen. In der Krise der späten siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zeigt sich das genauso wie in der Krise der mittleren zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts. Die materiellen Verschiebungen durch einen extrem oligarchisch organisierten Kapitalismus, der Aufstieg Chinas und der Abstieg Europas und die Revolution im Digitalen sind deutlich – weniger deutlich ist, woher die Ideen kommen sollen, die das alte Paradigma ablösen und durch ein neues ersetzen.

Das Beispiel Friedman, der die Grundmotive des liberal-autoritären Denkens des frühen 21. Jahrhunderts vorformulierte, zeigt dabei, dass Ideen Veränderungen ermöglichen und beschleunigen, wenn die Zeit reif dafür ist, wenn die Krise den Status Quo unmöglich macht. An diesem Kipppunkt befinden wir uns.

Tschernobyl und die Krise der Moderne

In den achtziger Jahren, so schien es damals, war vieles bereits vorbei. Wie oft wurde die Silbe »post« an Ideen, Konzepte, Vorstellungen von Welt und Zukunft geheftet? Was war nicht alles »post«? Die Moderne auf jeden Fall, die Geschichte auch, Aufklärung, Humanismus, die Industriegesellschaft sowieso. Es gab viel Ende, die Krise war ein umfassendes Lebensgefühl, und der Atomunfall von Tschernobyl war die Katastrophe als Beweis: »Das ist das Ende des 19. Jahrhunderts, das Ende der klassischen Industriegesellschaft mit ihren Vorstellungen von nationalstaatlicher Souveränität, Fortschrittsautomatik, Klassen, Leistungsprinzip, Natur, Wirklichkeit, wissenschaftlicher Erkenntnis usw.«, schrieb der Soziologe Ulrich Beck im Vorwort zu seinem Buch Risikogesellschaft im Mai 1986.

Am 26. April 1986 um kurz nach ein Uhr morgens ereignete sich im Kernkraftwerk von Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion und heutigen Ukraine der Atomunfall, der nie passieren durfte und doch passieren musste: Bei einer Übung, mit der überprüft werden sollte, ob der Reaktor auch im Krisenfall betriebsfähig wäre, kam es zu einer Reihe von Fehlern – aufgrund von Konstruktionsmängeln des Reaktors führte das zum GAU, zum Größten Anzunehmenden Unfall, zur Kernschmelze. Erst nach und nach wurde die Wahrheit bekannt, der Wind hatte die Strahlung längst bis nach Schweden getragen, bis nach Deutschland. Spielplätze wurden gesperrt und der Sand wurde ausgetauscht, frische Milch wurde durch Milchpulver ersetzt. Auf einmal wussten die Menschen, was Geigerzähler sind, was in Becquerel gemessen wird und dass Caesium-137 ein gefährliches Produkt der Kernspaltung ist.

Die Schätzungen der Toten durch den Reaktorunfall von Tschernobyl weichen stark voneinander ab. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace geht von 93 000 Toten aus, die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges schätzen die Zahl der Toten auf zwischen 50 000 und 100 000 und die Zahl der Invaliden auf 900 000. Es war ein Generationenschock, ein Bruch in der Geschichte der industriellen Moderne, deren Dialektik mit großer Drastik demonstriert wurde. Was blieb, war ein Gefühl von existenzieller Bedrohtheit, das Ulrich Beck in den prägnanten Begriff der Risikogesellschaft packte – der in der Folge der Corona-Pandemie eine neue Konjunktur erlebte: Wir sind verbunden im Risiko der Folgen dessen, was wir geschaffen haben, wir haben uns an der Natur vergangen, wir haben das Schicksal herausgefordert, und irgendwann müssen wir dafür einen Preis bezahlen.

Das Bewusstsein also, dass etwas fundamental falsch lief, war Ende der achtziger Jahre weit verbreitet. Der saure Regen drohte, die Wälder zu zerfressen, das Loch in der Ozonschicht ließ die Sonne zur Gefahr werden – es war deutlich, was der Mensch dem Planeten antat und was die Folgen davon waren, und Tschernobyl hatte den Eindruck von Apokalypse zum Epochenphänomen gemacht: Die Verseuchung wird Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende andauern. Zeit wurde zur Bedrohung, Ende und Unendlichkeit fielen zusammen. Die Folge war eine »Neue Ratlosigkeit«, wie Beck es nannte, er sah die »Verunsicherungen des Zeitgeistes« angesichts einer Moderne, die sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert gegen sich selbst wendete.

Wir sind »Augenzeugen«, so beschreibt es Beck, »eines Bruches innerhalb der Moderne« – eine Epoche des Fortschritts ging vorbei, eine Epoche des Risikos begann. Beck erkannte einen Kipppunkt, der ökologisch gefasst war und sich auf alle weiteren Felder menschlichen Handelns erstreckte: Wir sind zu weit gegangen, wir haben den Glauben an die Technologie über die menschliche Vernunft gesetzt und haben damit die »Verwandlung von zivilisatorischer Naturgefährdung in soziale, ökonomische und politische Systemgefährdungen« vorangetrieben. Beck formulierte damit die Grundlagen eines planetaren Denkens, das die Verbundenheit und Abhängigkeit von Mensch und Natur, Mensch und Umwelt, menschlichem und nicht-menschlichem Leben als Ausgangspunkt einer neuen politischen Philosophie nahm: »Am Ende des 20. Jahrhunderts gilt: Natur ist Gesellschaft«, schrieb Beck – wer das nicht erkenne, der »redet in den Kategorien eines anderen Jahrhunderts, die unsere Wirklichkeit nicht mehr greifen«.

Bruno Latour, der französische Soziologe und Philosoph, sah es ähnlich düster, als er ein paar Jahre später über das Ende des Kommunismus und den vermeintlichen Sieg des Kapitalismus schrieb – ein Triumph, so nannte er es, »von kurzer Dauer«. Was 1989 gefeiert wurde, der Triumph des Westens und der westlichen Moderne von Technologie und Fortschritt, das war zu diesem Zeitpunkt bereits vorüber – ein Ereignis, das seine eigene Negation in sich trug. »Im selben glorreichen Jahr 1989 fanden in Paris, London und Amsterdam die ersten Konferenzen über den globalen Zustand des Planeten statt«, so Latour in seinem Buch Wir sind nie modern gewesen aus dem Jahr 1993 – es zeigte sich schon damals »das Ende des Kapitalismus und seiner eitlen Hoffnungen der unbegrenzten Eroberung und totalen Beherrschung der Natur«.

Die neunziger Jahre begannen mit diesem tiefen Bewusstsein für die innere Wirkweise der industriellen Moderne und ihrer Widersprüche. Dieses Wissen scheint in Wellen zu kommen und dann wieder zu gehen, diese Dynamik ist ein Teil der Tragik des Diskurses etwa über den menschengemachten Klimawandel, seine Folgen und die möglichen Auswege oder Alternativen. Denn der Klimawandel wurde bereits 1972 durch den Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Damals rückte der Planet als Bild und Vorstellung ins Bewusstsein, 1969 durch das erste Foto der Erde aus dem Weltall und dann durch die Dringlichkeit, mit der die Endlichkeit der Ressourcen und die Folgen von Verschwendung und Raubbau an der Natur beschrieben wurden. In den siebziger Jahren wurde Umweltschutz zu einem Mainstream-Thema, was sich in Deutschland durch die Gründung der Grünen Anfang der achtziger Jahre manifestierte. Und doch war es nicht klar, wie sich diese Einsicht in Taten verwandeln ließ, es war nicht klar, was die gesellschaftliche und persönliche Reaktion darauf sein konnte. Wie sollte man mit dieser Erkenntnis umgehen?

Zur Dialektik der Moderne gehört auch das Verhältnis von Ernsthaftigkeit und Ironie, von Weltgier und Weltflucht, von Anpassung und Abkehr – und was in den achtziger Jahren angelegt war, durchzog die neunziger Jahre vor allem im Bereich der Kultur. Der Pessimismus dieser Zeit fand in Deutschland seine Formen vor allem in der Musik – etwa durch die Bands der Hamburger Schule, deutscher Pop mit deutschen Texten, die bestimmt waren von einem politisierten Bewusstsein, geprägt vor allem durch die Häuserkämpfe in der besetzten Hafenstraße und eine alternative Szene, die vom Rand in die Mitte drängte. Bands wie Blumfeld, Die Sterne oder Tocotronic verbanden Wut mit Melancholie, die Abscheu vor den Verhältnissen mit der Lust, diese Abscheu zu formulieren. Sie spürten zugleich die Vergeblichkeit dieser Versuche, sie fanden sich wieder an der Bruchlinie einer neuen Zeit, in der Politisierung für eine neue Generation – in Abgrenzung zur Generation, die die Grünen gegründet hatte – zunehmend peinlich wurde.

Wie also ging Widerstand? Oder machte Widerstand überhaupt Sinn? Die Band Blumfeld brachte ihr erstes Album Ich-Maschine 1992 heraus, und der Song »Von der Unmöglichkeit Nein zu sagen, ohne sich umzubringen« war ein Beispiel für die reflektierte oder überreflektierte Widersprüchlichkeit von Widerstand: »Montagmorgen erwachte ich als missgeburt«, heißt es da, »Halt mich trotzdem fest / Ich will morden / den apparat, der dich und mich bloß apparat sein lässt«. Es herrschte Ekel, es herrschte Abscheu, die Angst, die in der Gesellschaft war, sollte in Aggression verwandelt werden. Aber war die Verzweiflung echt oder war sie auch nur eine Geste? War sie ernsthaft oder ironisch? Und was wäre, das war ein Teil der Unschärfe dieser Zeit, der Unterschied?

In diesem Widerspruch wuchs eine Generation auf, die die neunziger Jahre prägte: Die Band Tocotronic veröffentlichte 1995 ihr Album Digital ist besser, auf dem sich auch die ironisch gebrochene Generationenhymne »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« findet: »Lärmend mit euch durch die Straßen rennen / Jede unserer Handbewegungen / Hat einen besonderen Sinn / Weil wir eine Bewegung sind«. Es würde diese Bewegung nie geben, das war klar, es gab zu viele »Ich-Maschinen«, wie es Blumfeld formulierte. Individualismus, Hedonismus und das, was der Schriftsteller David Foster Wallace in seinem Epochenroman Infinite Jest von 1996 als »unendlichen Spaß« bezeichnete, hatten kollektives Handeln, so schien es, unmöglich gemacht.

Sie wussten, dass das nicht mehr ging, und wollten es doch. Sie spürten den Zerfall dieser Möglichkeit, und wollten es nur widerwillig akzeptieren. Das Ende, das die Generation vor ihnen beschworen hatte, war für sie kein Ende, sondern ein Anfang. Es war ihre Zeit, die neunziger Jahre, warum sollte diese Zeit schon wieder vorbei sein? Aber es blieb die Schwierigkeit, sich hier einzurichten. Authentizität war keine Option in den Spiegelkabinetten der Postmoderne. Wenn alle Ich-Maschinen »Ich« sagen, bedeutet Identität nichts mehr. Es ist schwer, sich auf etwas zu verpflichten, wenn einem suggeriert wird, dass alles egal ist. Was also blieb, auch als andere Seite der Angst, war die Ironie, die Annäherung an die Wirklichkeit mit Schutzfolie.

Derart imprägniert gegen Enttäuschung und Selbstentblößung konnte man sich einer Zeit stellen, die von einer überästhetisierten Egalheit geprägt war, von cool inszeniertem Schulterzucken. Es war eine Ära der Ambivalenz und Unentschiedenheit, wie sie Richard Linklater in seinem Film Slackers aus dem Jahr 1991 beschreibt – das Porträt einer Generation, die sich im Ungefähren eingerichtet hat, weit weg von der Rationalität der Metropolen und des Mainstreams, der Leistungsgesellschaft und den Lebensentwürfen von Job, Familie, Haus. Es sind gebrochene Biografien, von den Rändern der Gesellschaft gezeichnet, die Menschen zu müde und zu matt sogar zum Anarchismus. Eine gewisse Ergebenheit lag in dieser Geste. Liebe passiert oder auch nicht. Politik ist ein Zitat aus einer anderen Zeit. Und Verschwörungstheorien sind so plausibel wie die Abendnachrichten. Das Leben wurde zum Spiel, und Zeit löste sich auf, weil alles Gegenwart wurde.

Der Schriftsteller Douglas Coupland prägte für diese Generation einen Namen – es war die Generation X, der Titel seines Romans aus dem Jahr 1991, der Satz um Satz Beispiele für ein Leben in Geste und Andeutung lieferte: »Ich hungerte nach Zuneigung und hatte Angst vor dem Alleinsein und fragte mich mehr und mehr, ob Sex nur eine Ausrede ist, einem anderen Menschen tief in die Augen zu schauen.« Oder: »Wenn dir jemand erzählt, dass er gerade ein Haus gekauft hat, kann er dir genauso gut sagen, dass er keine Persönlichkeit mehr hat.« Was sich änderte, war das Verhältnis vom Wir zum Ich – das allerdings den Mut verloren hatte, Ich zu sagen.

Die Band Die Sterne fasste das Dilemma in dem Song »Was hat dich bloß so ruiniert?« so zusammen:

Hast du denn niemals richtig rebelliert?

Kannst du nicht richtig laufen?

Oder was lief schief?

Und sitzt die Wunde tief in deinem Inneren

Kannst du dich nicht erinnern?

Bist du nicht immer noch

Gott weiß wie privilegiert?

Wenn man sich also angesichts der Zustände der Welt nicht mehr politisch organisieren wollte, so eine zentrale Frage dieser Zeit, wie wollte man dann auf eine Wirklichkeit reagieren, die man selbst abgeschafft hatte? Geschichte jedenfalls wurde »zu einer individuellen Erfahrung«, wie es der Essayist Chuck Klosterman ausdrückte. Die Zeit der großen Narrative, der übergreifenden Weltentwürfe und Meistererzählungen war vorbei, wie es die postmodernen Philosophen prophezeit hatten, die das allerdings eher als Befreiung verstanden hatten von universalistischer Hegemonie. Nun schien Ironie das Bewusstsein für Schmerz ersetzt zu haben – wogegen sich am Ende der Dekade wiederum Stimmen erhoben, die diese Haltung als im Grunde reaktionär zurückwiesen, weil die Welt im ironischen Gestus als »alt, flach und steril« gesehen wird, weil es »nichts gibt, das uns erfreut, bewegt, inspiriert oder erschreckt. Nichts wird uns je überraschen. Alles, was wir erleben, ist ein Remake, eine Wiederholung, eine Nachahmung. Wir kennen alles, bevor wir es sehen, weil wir schon alles gesehen haben.«

Es war der damals 24‑jährige Philosoph Jedediah Purdy, der das Privileg hatte, mit dem Pathos des Nachgeborenen die Apathie einer ganzen Generation zurückzuweisen. Sein Buch For Common Things, das 1999 in den USA erschien, war wohl auch deshalb so ein Medienerfolg, weil sich das Zeitgefühl der neunziger Jahre erschöpft hatte. Ironie ist für Purdy mehr als eine Geste, es ist eine Lebenshaltung der Selbstaufgabe, der Erschöpfung, des Rückzugs und der Resignation. Purdy setzt dagegen die Prinzipien von Vertrauen und Pflicht als eine Form der Repolitisierung aus dem Geist der Gemeinsamkeit oder eben der Commons. Er sieht Ironie als eine Antwort auf das Verschwinden von Gemeinsinn und vor allem von Politik als Form, diesen Gemeinsinn auszudrücken. »Wo sind unsere prometheischen Ambitionen verschwunden«, fragt er – und führt damit eine Kippfigur im westlichen Denken ein: Der Mann, der das Feuer von den Göttern stahl und es den Menschen brachte.

Prometheus veränderte die Menschen für immer, und er wurde dafür auf Ewigkeit bestraft. »Sein mutiger Akt«, schreibt Purdy, »ist das großartige Zeugnis einer Rebellion gegen das, was ist, und für das, was sein könnte«. Purdy fordert damit die Zukunft ein – und er entwickelt dazu das Konzept der drei verbundenen Ökologien, die moralische, die soziale und die Ökologie im allgemein bekannten Sinn als die natürliche Welt, in der wir Menschen unsere Spuren hinterlassen. Purdy schließt damit den Kreis zu den Fragen, die Ulrich Beck mehr als zehn Jahre vor ihm stellte – und die heute relevanter sind als je.

Im Zeitalter der Krise des Globalen wird die Idee des Planetaren immer wichtiger. Der Unterschied: Das Globale geht vom Menschen aus, der sich die Erde untertan macht; das Planetare geht vom Mehr-als-Menschlichen aus, die Verbindungen allen Lebens und die Verantwortung, die daraus erwächst.

Schabowskis Stottern

Günter Schabowski ist ein Mann mit einer gelassen-müden Autorität, und er schien nicht nervös zu sein, als er an diesem Abend des 9. November 1989 die Pressekonferenz eröffnete, die vom Reporter des DDR-Fernsehens mit einer flüsternden Intensität kommentiert wurde. Irgendetwas passierte gerade, das war zu spüren, irgendetwas würde passieren, aber was?

Schabowski, früher einmal Chefredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland und damit eine wichtige Stimme der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), war erst seit drei Tagen Sekretär für Informationswesen, wie das in der Sprache der DDR hieß – er war der Mann, der sagen sollte, was los ist. Aber wie genau sollte er das tun? Irgendetwas war gekippt im Verhältnis zwischen einer Partei, die die alte Öffentlichkeit als eine Abwurffläche für ihre Botschaften und Verlautbarungen verstanden hatte, und einer neuen Öffentlichkeit, die schon nach demokratischen Kriterien organisiert war. Es schien, als ob die Journalistinnen und Journalisten im Raum mehr wussten als die Vertreter der DDR-Macht.

Das stimmte natürlich nicht. Alle wollten wissen, was denn nun beschlossen worden war am »zweiten Tag der Beratungen der zehnten ZK‑Tagung«, wie Schabowski etwas vor sich hin nuschelte, also die Tagung des Zentralkomitees der SED, das seit dem 18. Oktober 1989 von Egon Krenz angeführt wurde, der dem langjährigen Staats- und Parteichef Erich Honecker nachgefolgt war. Die Beratungen seien noch im Gange, sagte Schabowski, er bitte darum, eine Frist von einer Stunde einzuhalten, bis die Ergebnisse der Pressekonferenz vermeldet würden.

Schabowski nestelte ab und zu an seiner Krawatte herum, das muss kein Zeichen von Nervosität sein, es kann aber auf eine gewisse innere Anspannung hindeuten. Er trug, wie seine Kollegen auf dem Podium, einen einheitsgrauen Anzug und eine Krawatte von unspezifischer Farbe. Er stellte sie der Reihe nach vor, wobei »Professor Banaschak«, wie Schabowski ihn nannte, »Chefredakteur der theoretischen Zeitschrift der DDREinheit«, aufstand wie ein kleiner Schuljunge, kerzengerade, es schien, als habe er eigentlich kurze Hosen an. Wo war die Autorität hin an diesem Abend?

Es war nicht immer friedlich gewesen in diesem Herbst, das Regime hatte auf Repression gesetzt und Proteste zum Teil sehr gewalttätig auseinandergetrieben. Als der Druck aber zunahm, als immer mehr Kerzen der Solidarität mit der Demokratiebewegung in den Fenstern der ostdeutschen Wohnungen standen und die Menge der Menschen wuchs, die montags demonstrierten – da baute sich eine Spannung auf, die sich irgendwann entladen musste. Als Reporter des westdeutschen Fernsehens jedoch am Morgen des 9. Novembers Ost-Berlin erkundeten, fanden sie eine »Stadt im Phlegma«, wie sie berichteten. Die Hauptstadt der DDR ruhte im Unwissen dessen, was kommen würde. Die Leute standen Schlange, um Würstchen in Gläsern zu kaufen und Obst, das in Plastiktüten verpackt wird.

Nun also? Die Pressekonferenz schleppte sich etwas hin. Am 6. November hatte die DDR-Führung ein neues Reisegesetz vorgelegt, um den Druck der andauernden Ausreisewelle etwas zu lindern – der Gesetzentwurf allerdings kam zu spät und war nicht weitreichend genug. Schabowski führte aus, dass es auch zu diesem Thema eine Parteikonferenz geben werde, im November noch, nein im Dezember, wie er sich korrigierte. Dann herrschte ein wenig Unklarheit, wie der Wahlmodus für diese Parteikonferenz eigentlich sei. Schabowski wirkte unsicher: »Ich muss euch immer mal anschauen«, sagte er zu seinen Kollegen links und rechts, »weil ich nicht bei jedem Punkt der Beratungen dabei war«. Ihm wurde ein Papier gereicht, auf dem der Wahlmodus erklärt war. Irgendwie wurschtelte Schabowski sich bislang durch, so schien es.

Eine Stunde lang ging das so, ein wenig plätschernd, immer noch im Bewusstsein, dass die DDR existiert und existieren wird: Von Wirtschaftsreformen war die Rede, von der Arbeit der Medien, von einem »in sich geschlossenen Programm«, von einem »sozialistischen Rechtsstaat« und »neuen Gesetzen«, von der Frage nach der Schuld von handelnden Politikern und abgewählten Parteisekretären, von »Erneuerung« und der »Arbeit am Erfolg unserer Schritte« – bis der italienische Journalist Ricardo Ehrmann die Frage stellte, ob das neue Reisegesetz nicht ein Fehler gewesen sei. Worauf Schabowski nach einigen Umwegen antwortete, dass es einen Beschluss gegeben habe, aus dem Reisegesetz den Passus herauszunehmen, der die, »wie man so schön sagt oder so unschön sagt, also die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik«.

Es fuhr kein Blitz vom Himmel in diesen haselnussbraunen Saal der Pressekonferenz, eher breitete sich eine kurze Stille aus, wie vielleicht manchmal in historischen Momenten, ein Innehalten vor dem Erzittern. Man habe sich also darauf geeinigt, sagte Schabowski, nun mit einigen Ähs und manchen Pausen, allen Bürgerinnen und Bürgern der DDR die Ausreise zu erlauben. Ab wann das denn gelte, fragte ein Journalist. Schabowski kratzte sich kurz am Kopf, griff nach einem Papier, das vor ihm lag. »Also Genossen, also mir ist das hier mitgeteilt worden«, fing er etwas stockend an, eigentlich habe diese Mitteilung schon verteilt werden sollen. Dann sagte er den Satz, der das Ende der DDR beschleunigte: »Das tritt, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich«.

Was also ist Geschichte? Ist es das, was passiert? Oder auch das, was nicht passiert? Wie erzählt man Geschichte? Und wie erzählt man Nichtgeschichte oder Gegengeschichte? Wo ist das Reservoir des Nichtgeschehenen? Und was sind Nutzen und Funktion sowohl des Geschehenen wie des Nichtgeschehenen?

Die DDR wäre auch ohne Schabowskis Stottern zu Ende gegangen, vielleicht nicht auf diese Art, vielleicht nicht mit diesen Bildern. Es hätte andere Bilder gegeben, aber wohl nicht die von ungläubigen, weinenden Menschen, die im Trabbi eine Grenze überquerten, die wie ein historischer Fluch auf dem Land gelegen hatte. Vielleicht wäre das Tempo der Vereinigung ein anderes gewesen, vielleicht der Tenor der Vereinigung ein anderer, weniger emotional, weniger unmittelbar, mehr die Verwaltung des Endes, das Schabowski im Wesentlichen verkündet hatte, auch wenn er von Erneuerung sprach. Wo ist die Rolle des Zufalls in unserer Betrachtung von Geschichte? Wo ist die Möglichkeit, der Kipppunkt, dass alles ganz anders hätte verlaufen können?

Was wäre etwa gewesen, wenn Egon Krenz am Abend des 9. Oktober 1989 rechtzeitig in Leipzig zurückgerufen hätte, wo sie so dringend auf Anweisungen warteten? In der Stadt waren Zehntausende Menschen, um wieder einmal gegen das Regime zu demonstrieren, so viele, wie nie zuvor bei einer Montagsdemonstration. In der Stadt waren auch mehr als 6000 bewaffnete Polizisten und Soldaten, die in langen LKW-Kolonnen herbeigebracht wurden. Es gab einen Aufruf gegen Gewalt, unter anderem vom Dirigenten des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, der am Abend in der ganzen Stadt durch fest installierte Lautsprecheranlagen übertragen wurde. Aber sollten sie die Demonstration wirklich einfach laufen lassen, fragte sich der SED-Funktionär Helmut Hackenberg, der an die DDR glaubte und das Kommando hatte in Leipzig. Er wollte mit Egon Krenz in Berlin sprechen – als der nicht zurückrief, ließ Hackenberg die Demonstranten demonstrieren.

Was wäre gewesen, wenn die DDR-Regierung mit Gewalt geantwortet hätte wie die chinesische, die im Juni 1989 am Platz des Himmlischen Friedens die Proteste von Studierenden hatte blutig niederschlagen lassen? Hätte es dann die Pressekonferenz von Günter Schabowski überhaupt gegeben? Geschichte wird meistens präsentiert als eine Serie von Ereignissen, die mehr oder weniger logisch aufeinanderfolgen oder sich sinnvoll erklären lassen. Diese Linearität der Erzählung entspricht aber nicht der Nicht-Linearität der Wirklichkeit. Was also, wenn diese Erkenntniskette bricht?

Der britische Soziologe Geoffrey Hawthorn wollte mit seinem 1991 erschienenen Buch Plausible Worlds der Geschichtsschreibung den Raum eröffnen, alternative Wirklichkeiten zu verfolgen, mögliche oder sogar plausible Welten zu erkunden. Jedes Ereignis, so schreibt er, hat einen ganzen Kranz von Möglichkeiten um sich, die nicht eintreten, aber dennoch in gewisser Weise real bleiben. Sie sind als Möglichkeiten weiter vorhanden, auch wenn die Zeit voranschreitet.

Zeit also als Gradmesser und Richtschnur historischen Handelns – nur ist auch die Linearität von Zeit mindestens seit dem frühen 20. Jahrhundert und der Entwicklung der Quantenphysik durch Einstein, Bohr, Heisenberg und andere eher unplausibel geworden. Was wäre also, wenn Zeit sich anders entwickeln würde, wenn Geschichte auch das Nichtgeschehene mitdenken, mitschreiben würde? Die akademische Geschichtsschreibung lehnt dieses Denken weitgehend ab. Eine Ausnahme ist dabei zum Beispiel der Historiker Niall Ferguson, der später leider einen echten Rechtsdrall hingelegt hat. Er veröffentlichte 1999 den Sammelband Virtual History, in dem unter anderem untersucht wurde, was gewesen wäre, wenn Hitler England eingenommen hätte, wenn der Kalte Krieg nicht stattgefunden hätte, wenn John F. Kennedy nicht ermordet worden wäre, wenn Michail Gorbatschow nicht gewesen wäre.

Schon ein bescheidener Einsatz von Vernunft reicht aus, um zu sehen, dass alle Ereignisse eine fast unendliche Anzahl von möglichen Geschichten in sich bergen. Geschichtsschreibung, mit anderen Worten, ist notwendigerweise fluide, sie ist gegenwartsabhängig und offen – aber genau das Fluide in der Geschichtsschreibung wird nicht genutzt, um die alternativen Wirklichkeiten auf ihr Potenzial hin zu untersuchen und für die Gegenwart zugänglich zu machen. Das ist ein Versäumnis, weil Gegenwart und Zukunft nur aus der Vergangenheit verstanden werden können, es ist eine Verarmung, weil der Reichtum an Alternativen schwindet. Wie es anders gehen könnte, hat etwa Philip Roth mit seinem Roman Verschwörung gegen Amerika gezeigt, der 2004 erschien und das Szenario einer im Zweiten Weltkrieg faschistisch gewordenen USA durchspielte und vor und nach der Wahl von Donald Trump 2016 mit dem Schauer einer Prophetie gelesen wurde.

Schabowskis Stottern verweist damit auf eine Art, die Geschichte zu betrachten, die eigentlich im Wesen der Geschichtsschreibung liegt und dennoch oft vernachlässigt wird: die Offenheit für mögliche andere historische Verläufe, je nachdem, wie einzelne Momente sich in ein größeres Ganzes fügen. Geschichte, die Erzählung dessen, was geschah, ist eine mehr oder weniger strategische Reduktion von komplexer Wirklichkeit; manchmal gehorcht sie dabei ideologischen Kriterien, öfter wohl narrativen.

Es gibt aber auch narrative Strategien, die genau diese Offenheit fördern, eine Distanz ermöglichen zum sauerstoffarmen Status Quo. Sie stammen fast alle aus der Literatur, die sich hier als reiche Quelle für historisches Denken erweist: etwa das Doppelgänger-Motiv, das fiktional den Blick auf die eigene Existenz in ihrer Spaltung ermöglicht und damit wohl realistischer ist als ein reduktionistischer Realismus. Im Deutschen sind es Autoren wie Jean Paul, E. T. A. ​Hoffmann oder Heinrich Heine, die im 18. und 19. Jahrhundert versuchten, das Unheimliche zu nutzen, das im Doppelgänger angelegt ist, um das Vertraute in der Verfremdung besser zu erkennen. Auch Edgar Allen Poe oder Fjodor Dostojewski oder Oscar Wilde arbeiteten mit dieser Technik. Zuletzt war es die kanadische Autorin Naomi Klein, die in ihrem Buch Doppelgänger die Dialektik von Freiheit und Verfolgung durchspielte – im Rückschluss erfährt man auf diese Weise meistens etwas über sich, das sich einem bislang entzogen hat, das man nicht sah oder sehen wollte.

Politisch gedeutet war die DDR der Doppelgänger der BRD und umgekehrt. In der Geschichte des einen Landes spiegelte sich die Geschichte des anderen Landes, meistens je affirmativ gesehen, als Beleg für die Bedeutung und Behauptung des eigenen Landes und damit des politischen wie ökonomischen Systems. Mit dem Ende des Kalten Krieges fiel diese Dynamik in sich zusammen. Es blieb die eine Welt, das eine Land, die eine Wahrheit. Das konnte nicht gutgehen. Wenn sich die Wahrheit des einen über das Leben des anderen ausbreitet, entstehen Spannungen, die auf die eine oder andere Weise gelöst werden müssen.

Die neunziger Jahre sind in vielem geprägt von diesen Spannungen. Schabowskis Stottern verweist darauf, was kommen würde. Was ist also der Raum, der sich hier öffnet, in diesem Moment? Was ist das Element des Zufalls, und wie wirkt es sich auf heute aus? Wie kann es, umgekehrt, von heute aus rückwärts wirken, um in dem, was Geschichte wurde, die Möglichkeiten dessen zu erkennen, was nicht Geschichte wurde?

Die Zukunft ist auch eine Gedankenübung. Geschichte, in diesem Sinn verstanden, ist eine Einladung, über alternative Wirklichkeiten und plausible Welten nachzudenken.

Here we are now, entertain us

Am Anfang war die Gitarre; leise, zögernd fast, einige Sekunden nur, bevor das Schlagzeug losbrach und damit die Achterbahnfahrt der neunziger Jahre begann: Ein paar Cheerleaderinnen im orangefarbenen Nebellicht schwangen ihre Pompoms, Götzendienerinnen, Abgesandte einer untergehenden Zivilisation, die USA. Dann ein Bruch, der Rhythmus wurde schleppend, und aus dem Nichts klang eine Stimme herüber, fern und nah, intim und fremd, ein Mensch unter Menschen: »Load up on guns, bring your friends«, das rief, das brüllte Kurt Cobain, Sänger der Band Nirvana, blonde Strähnenhaare, Posterboy wider Willen. »It’s fun to lose and to pretend, she’s over-bored and self-assured«, bis sich schließlich das Crescendo krachend entlud, der Anfang einer Dekade als langgezogener Aufschrei: »Hello, hello, hello, how low, hello, hello, hello, how low, hello, hello, hello, how low. With the light’s out, it’s less dangerous. Here we are now, entertain us! I feel stupid and contagious. Here we are now, entertain us!«

Es lohnt sich, diesen Song, diese Worte ganz genau zu hören, denn sie führen tief in das Herz der Finsternis, das diese Jahre auch waren, die für viele im Rückblick so golden leuchten, so harmlos erscheinen, so glatt und kalt und voller Siegesgewissheit, Glücksversprechen, Möglichkeiten. Aber die Gewalt war da, von Anfang an, die Waffen, die Freunde, der Verlust, die Pose, die Langeweile, die Selbstsicherheit, die Dunkelheit, die Gefahr, die ausschließliche Anwesenheit, die radikale Gegenwart, die Dummheit und die Seuche – alles war da, als Kurt Cobain und Nirvana am 10. September 1991 die trügerische Ruhe dieser Welt durchbrachen. Fast zwei Milliarden Mal wurde das Video des Songs »Smells Like Teen Spirit« seither auf YouTube geschaut, mehr als zwei Milliarden Mal wurde der Song auf Spotify gehört.

Was war da also los, so früh in den neunziger Jahren, so kurz erst nach dem Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus? Woher kam die Wut bei denen, die doch gewonnen hatten, woher kam die Abkehr, die Abwendung, die Erschlaffung? Es ist schwer, eine Epoche zu verstehen, wenn man mittendrin steckt; aber es ist auch schwer, diese Vergangenheit zu entschlüsseln, wenn sie überdeckt ist von Narrativen, die so oft von den Siegern gesetzt werden oder die sich einfach ergeben aus der Fülle von Fehlannahmen, der Reduktion von Wirklichkeit, die auch notwendig ist, um so etwas wie Sinn zu erzeugen – aber Sinn für wen? Und zu welchem Zweck?

Die neunziger Jahre sind die Jahre der US‑amerikanischen Hegemonie, nicht nur geopolitisch und ökonomisch, sondern auch kulturell. Die globale Leitkultur war die US‑amerikanische Popkultur, waren die Romane, die Filme, war die Musik, war Grunge wie Nirvana, war Rap wie Public Enemy oder Tupac. Aber die Geschichte der neunziger Jahre beginnt nicht am 1. Januar 1990, so wie Geschichte sich nur selten sauber nach dem Kalender sortieren lässt. Ein Teil dieser Geschichte reicht zurück in die achtziger Jahre, andere Aspekte haben sehr viel früher angefangen – der Rassismus etwa, den Public Enemy oder Tupac zum Thema machten, ist in den USA immer vorhanden gewesen und ist es bis heute.

Grunge aber, die Musik, mit der Nirvana der Wut den Weg in den Mainstream eröffnete, formulierte in den Worten von Kurt Cobain speziell die Zurückweisung einer Gesellschaft, die sich in den achtziger Jahren immer stärker materialistisch definiert hatte, durch Konsum und Erfolg und Geld und den Schein dessen, was Geld und Erfolg mit dem Leben machen konnten. Kurt Cobain ging es um Abwehr, Aggression, Selbstbehauptung. »Hello, hello, hello«, singt er. Am 5. April 1994 nahm er sich das Leben, indem er sich ein Gewehr an den Kopf setzte und abdrückte. »Hello, hello, hello, how low«.

Die Gegenposition zu Kurt Cobain formulierte in vielerlei Hinsicht Francis Fukuyama, dessen Essay »The End of History« im Sommer 1989 erschien und den Ton setzte für eine ganze Reihe von Annahmen und Missverständnissen. »Der Triumph des Westens«, schrieb Fukuyama, »der westlichen Idee, ist zuallererst evident in der völligen Erschöpfung gangbarer Alternativen zum westlichen Liberalismus.« Aber war das logisch? Wie folgte aus der Erschöpfung des Gegenübers die Einsicht in die Fitness der eigenen Position? War der Kapitalismus gut in Form, was auch immer das heißen sollte, nur weil dem Kommunismus das Geld ausging und das Volk davonlief? Und wenn man die neunziger Jahre betrachtete als Erfolgsjahre des kapitalistischen und auch des demokratischen Modells, hieß das dann, dass der Kapitalismus wirklich fit war – oder zeigten sich die Leere und vor allem die Erschöpfung, materieller oder ideeller Art, erst mit Verzögerung, etwa in den zehner und zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts?

Anders gefragt: Wie verhält sich die Wut und auch die Erschöpfung von Kurt Cobain zum geschichtsphilosophischen Optimismus von Francis Fukuyama, der von den demokratischen Eliten gelesen wurde wie der fünfte Apostel? Was ist von einer Analyse zu halten, die von der »unabwendbaren Verbreitung westlicher Konsumkultur in so verschiedenen Kontexten wie den Bauernmärkten und den in China jetzt omnipräsenten Farbfernsehern, den kooperativen Restaurants und Kleiderläden, die im letzten Jahr in Moskau eröffnet haben«, spricht, von einem Autor, der den Weltgeist am Wirken sieht, wenn »aus den Lautsprechern japanischer Kaufhäuser Beethoven klingt« und Rockmusik »in Prag, Rangun und Teheran gleichermaßen genossen wird«?

Die Fragen, die sich hier stellen, sind nicht nur: Was meint Francis Fukuyama mit Rockmusik und war er jemals in Prag, Rangun und Teheran? Die Fragen gehen weiter zum Grundsätzlichen: Was können Philosophen, die Hegel wie einen historischen Uhrzeiger benutzen, über eine Gegenwart aussagen, in der sich Altes und Neues auf verwirrende Weise überlagern?

Wenn Fukuyama im Ende des Kalten Krieges auch den »Endpunkt der ideellen Entwicklung der Menschheit und die Universalisierung der liberalen westlichen Demokratie« sieht, das »finale Stadium menschlicher Regierungsformen«, dann ist die hyperbolische Übertreibung eigentlich gut zu erkennen – das Problem war, dass Fukuyamas Epistel in den Regierungszentralen und den Redaktionen der wiederum westlichen Welt als eine mit deutscher Philosophie unterfütterte höhere Wahrheit rezipiert wurde. Es war der Sieg der Idee über die Wirklichkeit, der Sieg der Philosophie über die Geschichte. Jedenfalls wurde es so zelebriert. Marx hatte verloren, der das Materielle, die Welt, die Wirklichkeit, über das Ideelle stellte, also alles, was er dem Bewusstsein zuordnete, Religion, Kunst, Kultur. Fukuyama nun stellte Marx’ Lehrmeister Hegel wieder von den Füßen auf den Kopf, das Bewusstsein »ist Ursache, nicht Wirkung, und kann sich unabhängig von der materiellen Welt entwickeln«.

Aber warum ist das wichtig? Warum ist das relevant, um die neunziger Jahre und letztlich die Gegenwart bis heute zu verstehen? Fukuyama formte das Bewusstsein der liberalen westlichen Elite – und benannte doch eigentlich sehr präzise die Widersprüche genau dieses liberalen Denkens, das den Materialismus vielleicht in der Fasson von Marx ablehnte, aber nicht in den Shopping Malls des Konsums. Fukuyama nannte es die »Wall-Street-Journal-Schule des deterministischen Materialismus« und warnte, dass eine »liberale Ökonomie« nicht automatisch eine »liberale Politik« zur Folge habe – wobei sich heute anders als in der Zeit von Milton Friedman, Margaret Thatcher und Ronald Reagan die Frage stellt, ob Chinas autoritärer Kapitalismus oder der libertäre Autoritarismus des argentinischen Präsidenten Javier Milei überhaupt noch als liberale Ökonomie gelten kann. Der Faschismus wenigstens, so Fukuyama, sei endgültig erledigt, und der »Egalitarismus des modernen Amerika« entspreche »im Wesentlichen der von Marx vorgestellten klassenlosen Gesellschaft«.

Was Fukuyamas Essay auszeichnete, war bei alldem nicht nur eine Art von westlichem Provinzialismus, gerade mit Blick auf Asien und vor allem China. Es war auch eine Form von Hegelianischem Realismus, der die »Unpersönlichkeit und spirituelle Leere im Kern des Liberalismus« beschrieb. So erklärte Fukuyama wiederum die Wiederkehr von Religion und Nationalismus – und gab sich als widersprüchlicher Bruder im Geiste von Kurt Cobain zu erkennen.

»Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein«, so schloss Fukuyama seinen Essay etwas überraschend und auch recht persönlich: »Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein rein abstraktes Ziel aufs Spiel zu setzen, der weltweite ideologische Kampf, der Kühnheit, Mut, Vorstellungskraft und Idealismus hervorgebracht hat, wird ersetzt werden durch ökonomische Kalkulation, das endlose Lösen technischer Probleme, Umweltbedenken und die Befriedigung raffinierter Konsumbedürfnisse.« Er fühle es in sich, schrieb er, diese »starke Nostalgie für die Zeit, als Geschichte noch existierte«. Vielleicht, so lautet der letzte Satz, »wird gerade diese Aussicht auf Jahrhunderte voller Langeweile genügen, um die Geschichte erneut in Gang zu setzen.«

Francis Fukuyama beschrieb damit mehr einen Kipppunkt als eine Kontinuität. Sein Essay war kein Persilschein für ungebremsten ökonomischen Liberalismus und auch keine Existenzgarantie für die liberale Demokratie. Er formulierte einen Ausblick, eine Wende, eine Warnung. Aber es schien, als wollten die Eliten ihn nicht verstehen. Es war so etwas wie Blindheit um sie, es war ein Gefühl, das sich von den Höhen der Reflexion bis zum Wust des Populären erstreckte: Wie konnte man sich spüren an der Schwelle zweier Epochen, wie konnte man glauben, was man erlebte, wenn doch alles schon geschehen war, wenn alles vorbei war, wenn selbst die Geschichte und damit die Zeit aufgehört hatte, dem eigenen Sein so etwas wie Bedeutung zu geben?

Für den Schriftsteller Chuck Palahniuk waren es die Aggression, der Schmerz und die Verletzung, die im Kampf von Mann gegen Mann so etwas wie Gemeinschaft oder Authentizität ermöglichten. Wo Blut fließt, ist Anwesenheit, wo Knochen brechen, da bin ich. Das war die Poesie, wenn man dieses Wort gebrauchen will, seines Romans Fight Club, der 1996 erschien und 1999 von David Fincher mit Brad Pitt, Edward Norton und Helena Bonham Carter in den Hauptrollen verfilmt wurde. Der Mainstream wurde hier mit seiner eigenen dunklen Seite vertraut gemacht, mit toxischer Männlichkeit avant la lettre und einer gewissen terroristischen Mentalität inmitten der Mittelklasse. Gespiegelt wurde diese mordlustige Dunkelheit auch in der Wall-Street-Dystopie American Psycho von Bret Easton Ellis, eine weitere Männerfantasie in dieser in vielem männerdominierten Zeit – ob man den Roman als Satire liest oder als kapitalistischen Realismus, es bleibt der Bodensatz an Frauen- und vor allem Selbstverachtung, der den Serienkiller Patrick Bateman ausmacht.

Stellte sich das Bewusstsein im Reich der Kultur also gegen die Erwartungen, die im Reich des Materiellen erweckt wurden? Etwas stimmte jedenfalls nicht, da war ein Unbehagen in der Kultur, das sich in manchen Zeiten öfter und anders äußert als in anderen, greller oder gefährlicher, realistischer oder radikaler. Was wollte man sehen? Was konnte man wissen? Das waren die Fragen, die den Filmemacher David Lynch umtrieben, der in seiner Fernsehserie Twin Peaks 1990 und 1991 ein ganz anderes Land als die angeblich so siegreichen, triumphalen USA erkundete. Es war eine typisch Lynch’sche Tiefenanalyse der gesellschaftlichen Pathologien einer Epoche, verdichtet auf einen Ort und wenige Charaktere, das Städtchen Twin Peaks, die marode Holzfabrik, eine Handvoll Teenager, zu alt, um unschuldig zu sein, zu jung, um zu verstehen, welche Kräfte durch sie wirkten. Die Fabrik jedenfalls, Symbol und Produkt der industriellen Moderne, war schon damals dem Ende geweiht, ein Beispiel für einen Prozess der Deindustrialisierung, verborgen unter dem Firnis des Finanzkapitalismus der neunziger Jahre – die eine Form von Kapitalismus ersetzte eine andere.

25 Jahre später sprach Donald Trump in seiner Antrittsrede als US‑Präsident von »American carnage« – und er meinte auch das, das Gemetzel der Deindustrialisierung. Lynch erzählte auf elegantere Weise von der Wut derer, die sich abgehängt fühlten – eine Wut, die lange simmerte, brodelte, oft unter der Oberfläche. Selbst der epochale Crash des Finanzsystems von 2007 und 2008 änderte ja nichts an der Logik des Systems, das immer weitermachte, immer weiter, bis es nicht mehr ging.

»In der post-historischen Zeit wird es weder Kunst noch Philosophie geben, nur das andauernde Pflegen des Museums der Menschheitsgeschichte«, schrieb Francis Fukuyama. »Obwohl ich ihre Unvermeidlichkeit einsehe, habe ich sehr ambivalente Gefühle gegenüber der Zivilisation, die seit 1945 in Europa entstanden ist mit ihren nordatlantischen und asiatischen Ablegern.«

Wurde Fukuyama also fundamental falsch gelesen? Ein weiteres Missverständnis in diesem Jahrzehnt der Missverständnisse? »A mulatto, an albino, a mosquito, my libido«, rief und schrie, verzweifelt, Kurt Cobain. »A denial, a denial, a denial.«

»Smells Like Teen Spirit« war ein Dokument der Negation am Beginn eines Jahrzehnts der Affirmation.

Amnesie

Die neunziger Jahre waren eine seltsame Mischung aus zu viel und zu wenig. Zu viel Gegenwart und zu wenig Geschichte. Zu viel Vergangenheit und zu wenig Anwesenheit. Zu viel Erleben und zu wenig Reflexion. Zu viel Ökonomie und zu wenig Politik. Zu viel Geld und zu wenig Geld. Zu laut und zu leise. Zu viel Westen und zu wenig Welt. Zu viel Globalisierung und zu wenig Gerechtigkeit. Zu viel Intimität und zu viel Öffentlichkeit. Zu viel Privatheit und zu wenig Privatheit. Zu schnell und zu langsam. Ein stetes Zerren und Ziehen, und dazwischen gingen Menschen verloren.



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