Power To The People - Georg Diez - E-Book

Power To The People E-Book

Georg Diez

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Beschreibung

Über Technologie als Chance für eine andere Politik und Gesellschaft sprechen Georg Diez und Emanuel Heisenberg in ihrem Buch „Power To The People“.

Die Digitalisierung ist unter Verdacht geraten: Überwachung, Manipulation, Fake News. Dabei bietet sie auch Möglichkeiten, unsere Demokratie zu erneuern. Georg Diez und Emanuel Heisenberg plädieren in ihrer Streitschrift für einen anderen Umgang mit den neuen Technologien. Sie beschreiben, wie Identität, Autonomie und Mitbestimmung mit digitalen Mitteln erreicht werden können, etwa durch eine neuartige Regulierung von Social-Media-Plattformen. Sie zeigen, am Beispiel von Barcelona, wie mit einer gänzlich neuen Daten-Politik Probleme wie Gentrifizierung und Klimawandel gesteuert werden können. Technologie, wenn wir sie im Sinne einer digitalen Bürgergesellschaft denken, ermöglicht eine neue Form von Macht und Emanzipation, die von unten wächst: Eine digital-demokratische Revolution.

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Über das Buch

Über Technologie als Chance für eine andere Politik und Gesellschaft sprechen Georg Diez und Emanuel Heisenberg in ihrem Buch »Power to the People«. Die Digitalisierung ist unter Verdacht geraten: Überwachung, Manipulation, Fake News. Dabei bietet sie auch Möglichkeiten, unsere Demokratie zu erneuern. Georg Diez und Emanuel Heisenberg plädieren in ihrer Streitschrift für einen anderen Umgang mit den neuen Technologien. Sie beschreiben, wie Identität, Autonomie und Mitbestimmung mit digitalen Mitteln erreicht werden können, etwa durch eine neuartige Regulierung von Social-Media-Plattformen. Sie zeigen, am Beispiel von Barcelona, wie mit einer gänzlich neuen Daten-Politik Probleme wie Gentrifizierung und Klimawandel gesteuert werden können. Technologie, wenn wir sie im Sinne einer digitalen Bürgergesellschaft denken, ermöglicht eine neue Form von Macht und Emanzipation, die von unten wächst: Eine digital-demokratische Revolution.

Georg Diez

Emanuel Heisenberg

POWER TO THE PEOPLE

Wie wir mit Technologie die Demokratie neu erfinden

Hanser Berlin

Für unsere Kinder

»The real problem of humanity is the following: we have paleolithic emotions; medieval institutions; and god-like technology.«1

E.O.Wilson

Einleitung

Technologie ist eine Art, zu denken und zu handeln. Darin liegt das konstruktive Potential, eine andere Form von Demokratie und Gesellschaft zu imaginieren und zu gestalten. Wie können Prozesse und Abläufe beschleunigt und transparenter, durchlässiger, partizipativer, gerechter gemacht werden? Wie können Regierung und Repräsentation anders gedacht werden? Wie sollten Märkte verändert werden, damit Eigentum und Besitz kein Hindernis mehr sind für das gute Leben für möglichst viele? Das ist der Optimismus, von dem wir angetrieben sind. Es gibt keine progressive Politik ohne oder gegen Technologie, das ist unsere Überzeugung. Wir verstehen dieses Buch auch als eine Handlungsanweisung, als Aufforderung und Wegweiser, wie so eine andere Politik und Gesellschaft aussehen könnten.

Wir leben, als Weltgemeinschaft, in einem Zeitalter der Angst und des Zorns, so hat es der indische Essayist Pankaj Mishra formuliert2; und was das bedeutet, das sehen wir jeden Tag, davon hören und lesen wir in immer schnelleren Zyklen von News, Live-Tickern und Twitter-Stürmen. Es ist die Technologie, die diese Zyklen antreibt, die Kommunikation in Sekundenschnelle ermöglicht und den Kosmos schrumpfen lässt, weil theoretisch jede*r alles jederzeit wissen kann. Oft genug ist aber das Gegenteil der Fall, denn die Explosion des Wissens sorgt für ein Gefühl der Überwältigung und Verunsicherung in wesentlichen Fragen von Wahrheit und Lüge, von Richtig und Falsch, von Gut und Böse. Angst ist eine Folge dieser Überwältigung und steht im Zentrum der Konflikte unserer Zeit: zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Alt und Jung, zwischen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe, Religion, die in überkommenen politischen Konstruktionen, in Nationalstaaten, zusammenleben und sich zutiefst misstrauen. Und so mag es Leser*innen verwundern, dass wir ausgerechnet der Technologie die Rolle einer integrativen, emanzipatorischen, verbindenden Kraft zutrauen, die diese Angst überwinden kann.

Wie also kommen wir zu unserem Optimismus? Wir haben uns in den vergangenen Jahren und an unterschiedlichen Orten intensiv mit Demokratie und Technologie auseinandergesetzt. Wir haben dieses Buch im Dialog begonnen, und idealerweise sollte es auch so gelesen werden: offen, neugierig und von der Hypothese getragen, dass das Gute möglich ist. Dieser Gedanke, der Kern einer progressiven Politik, verbindet uns. Emanzipation, Individualismus, Empathie, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschlichkeit müssen als gedankliche Möglichkeit verfügbar sein, bevor sie realisiert werden können.

Wir kommen aus verschiedenen Feldern, der eine Journalist und Autor, der andere Start-up-Gründer im Bereich Erneuerbare Energien. Wir sind unterschiedlich im Temperament und ähnlich in der Weltsicht. Wir suchen das Neue im Alten und den Kern des Künftigen in der Gegenwart. Wir glauben an den Menschen. Diese Haltung prägt unseren Blick auf Technologie, die in diesem Buch als Werkzeug für Veränderung definiert ist, techné im altgriechischen Wortsinn, ein Tool, das vom Menschen geschaffen wurde und nicht vom Menschen getrennt ist; etwas, das dem Menschen dient.

Und genau an diesem Punkt liegt der Anfang einer anderen Vision von Technologie, zwischen dem Kult des technologisch Machbaren, wie ihn das Silicon Valley verkörpert, und der intuitiven Abneigung gegenüber allen technologischen Veränderungen, die jede wirtschaftliche und vor allem demokratische Innovation blockiert. Zwischen diesen beiden Positionen liegt ein weites Feld von Optionen für eine progressive Politik, und dieses Feld wollen wir ausmessen; wir wollen Vorschläge machen, wie eine andere, gerechtere digitale Demokratie aussehen könnte; wir wollen konkret beschreiben, wie Technologie für alle genutzt und nicht nur für Monopolisten, autoritäre Herrschaft oder rechte Meinungsmache instrumentalisiert werden kann.

Die Argumentation in diesem Buch vollzieht sich dabei in drei Schritten:

Technologie ist vom Menschen gemacht.

Politik ist die angemessene Form menschlicher Macht.

Technologie bietet die Möglichkeit, diese Macht besser und gerechter zu gestalten, wobei sie selbst politischer, also gesellschaftlicher Kontrolle unterliegt.

Es geht uns darum, die Grundlagen demokratischer Praxis für das digitale Zeitalter neu zu beschreiben. Es geht uns um Gestaltung und Veränderbarkeit. Wir sind interessiert an demokratischer Innovation, an anderen institutionellen Formen und an alternativen Marktstrukturen. Genauer gesagt: Wir möchten herausfinden, ob es einen Weg gibt, Technologie ins Zentrum der Demokratie zu stellen, so dass sie weder der extraktiven Logik des gegenwärtigen Kapitalismus gehorcht noch dem chinesischen Modell des staatsgetriebenen und autoritären digitalen Überwachungsapparates, dessen Elemente mittlerweile weltweit eingesetzt werden. Gibt es womöglich sogar eine spezifisch europäische Antwort auf die Fragen der technologischen Revolution, gibt es eine Chance, Europa neu zu denken und zu positionieren, aus dem Geist des verantwortungsvollen Individualismus heraus?

Es ist der europäische Bürger*innengeist, der aus der Aufklärung in die Gegenwart herüberragt und die Möglichkeit demokratischer Innovation auch im digitalen Zeitalter bietet. Ein wesentliches Element ist dabei, dass nach Jahrzehnten der Vorherrschaft neoliberalen Denkens der Begriff und die Funktion des Staates neu definiert werden. Der Staat ist nicht notwendigerweise etwas, das den Bürger*innen entgegensteht, der Staat ist im Idealfall der Bürger, ist eine Ordnung, die von Bürger*innen gemacht wird. Die Bürger*innen selbst sind dabei Akteur*innen, die aktiv eingreifen können und müssen, damit die Demokratie lebendig bleibt und die Wirtschaft sich innovativ und gerecht weiterentwickelt. Der Staat, von dem wir sprechen, wäre ein grundsätzlich anderer als der, den wir heute kennen.

Eine zentrale These dieses Buches ist es, dass das demokratische Denken und Handeln hinter den technologischen Möglichkeiten zurückbleibt. In der politischen Realität der meisten westlichen Demokratien besteht eine Kluft zwischen politischem Anspruch und politischer Wirklichkeit, was tiefgreifende systemische Konsequenzen hat. Die Menschen verabschieden sich vom System und flüchten sich in Vergangenheiten, die Schutz versprechen. Institutionen halten an einer überkommenen Machtlogik fest, weil sie den Wandel fürchten, und das trifft auf politische Parteien genauso zu wie auf traditionelle Medien und große Industrieunternehmen, die immer noch größtenteils von alten weißen Männern dominiert werden, geprägt durch das analoge Zeitalter und ohne Anreiz, Veränderungen zuzulassen.

Dabei hat sich etwas sehr Grundsätzliches verändert: Macht funktioniert im digitalen Zeitalter anders, Kommunikation funktioniert anders, der Markt funktioniert anders, Identität, Individualität, Staat, Nation funktionieren anders — also müssen wesentliche Elemente einer demokratischen Grundordnung im 21. Jahrhundert neu gedacht werden. Und tatsächlich gibt es längst Innovationen wie die Blockchain- und Peer-to-Peer-Technologien, die es ermöglichen, Wirtschaft und Gesellschaft dezentraler und individuell steuerbarer zu gestalten.

Problematisch für progressive Positionen ist dabei die Tatsache, dass der gegenwärtige Diskurs über das Internet und die digitalen Möglichkeiten überlagert wird von einer negativen Realität, die die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff3 als »Überwachungskapitalismus« zusammengefasst hat — die Macht von Konzernen, mit digitalen Mitteln Freiheitsrechte einzuschränken. Kostenfreie Leistungen wie E-Mail-Dienste, Suchmaschinen oder soziale Netzwerke werden mit Informationen bezahlt, die die anbietenden Konzerne speichern, auswerten und analysieren. Diese Form der Überwachung wird anschließend als Prognose-Produkt verkauft, wobei der Mensch in seinen Handlungen und seiner Nachfrage als berechenbar gilt. Seine privaten Daten werden Teil einer Produktwelt.

Besonders in autoritären Staaten zeigen sich bereits die Auswirkungen der Vernetzung von Daten, wenn beispielsweise in China Fußgänger beim Überqueren einer roten Ampel gefilmt werden, wobei ihre Bewegungen und Gesichtszüge analysiert und mit Datenbanken abgeglichen werden. Der Regelverstoß geht dann in ein Scoring-System ein, das darüber entscheidet, ob jemand einen Platz an der Universität oder eine Wohnung erhält. Die Technologie ist dadurch mächtiger und effektiver als jeder Polizeiapparat, denn sie ist allgegenwärtig.

Aber nichts muss so sein, wie es ist. Technologie fällt nicht vom Himmel, sie ist nicht Werkzeug von abstrakten Mächten, sie ist politisch und gesellschaftlich verhandelbar und damit ein Teil der Kultur. Emanzipation entsteht aus der Aneignung und Veränderung der Technologie selbst. Alles könnte anders sein. Das ist ein weiterer Grundgedanke dieses Buches: Die Suche nach radikalen Alternativen, nach neuen Strukturen, Praktiken, Institutionen, die eine lebendigere, direktere, andere Demokratie ermöglichen, beginnt mit der Frage nach einer demokratischen oder demokratisierten Technologie.

Der brasilianische Denker Roberto Mangabeira Unger spricht mit emanzipatorischem Optimismus von einer »high-energy democracy«, im Gegensatz zur »low-energy democracy«4 unserer Tage, in welcher Angst und Fehlervermeidung zu Triebkräften werden, die den Status quo von Regierung, Staat und Markt aufrechterhalten, als seien in der gegenwärtigen Form alle Möglichkeiten sozialer und politischer Innovation erschöpft. Demokratie aber ist eine Verabredung zur Veränderung, und nicht alle, die diese Veränderung wollen, bringen eine Botschaft von Untergang und Zerstörung, Disruption genannt.

Technologie, empfunden als Rätsel, Schicksal oder Bedrohung, ist damit Teil der gegenwärtigen Abwärtsspirale demokratischer Praxis. Sie erscheint als eine externe Kraft, die unser Leben auf eine unkontrollierbare Art und Weise bestimmt. Aber Technologie hat eine Geschichte, hat Akteure, die Interessen haben und Intentionen. Technologie ist immer eingebettet in ein Gefüge von Macht, Technologie verschiebt Macht. Die Beschreibung von Technologie als etwas, das dem Willen und der Kontrolle des Menschen entzogen ist, dient nur dazu, die Demokratie zu schwächen, indem sie ihrer Handlungsfähigkeit beraubt wird.

Die Wahl von Donald Trump 2016 und das Brexit-Votum im selben Jahr haben diesen Eindruck verstärkt. Die beiden Ereignisse hängen miteinander zusammen, das zeigen auch personelle und technologische Verbindungen: Die Firma Cambridge Analytica arbeitete sowohl für die Trump- als auch die Leave-Kampagne und nutzte massive Datensätze von Facebook5, um Wähler*innen zu manipulieren. Beiden Ereignissen liegen reale politische, ökonomische und soziale Entwicklungen zugrunde. Beide Ergebnisse wären aber, das kann man vom heutigen Standpunkt aus mit ziemlicher Sicherheit sagen, anders ausgefallen, wenn die destruktive Macht der digitalen Technologien besser verstanden worden wäre.

Beide Ereignisse zeigen auch, dass reaktionäre Kräfte daran arbeiten, eine neue Weltordnung zu schaffen, nationalistisch, protektionistisch, gegen Multilateralismus und Menschenrechte. Im Gespann mit autoritären Regimen wie in China oder Russland, die beide ihre je eigene Form des Kapitalismus ohne wesentliche demokratische Kontrolle geschaffen haben, bildet sich damit ein Muster für eine Regierungsform des 21. Jahrhunderts heraus, die die Rolle und die Rechte des Einzelnen einschränkt und eine Art Neofeudalismus etabliert — eine rigide Klassen- und Überwachungsgesellschaft, die von einer avancierten technologischen Praxis gestützt wird.

Was bislang fehlt, ist eine echte progressive Alternative, eine zusammenhängende politische Philosophie, ein Plan. Doch in unserer Zeit gilt: Je schneller sich die Verhältnisse verändern, desto schwieriger wird wirkliche Veränderung. Das Denken hetzt der Wirklichkeit hinterher, die Technologie ist schneller als die Demokratie, und die Möglichkeiten konkreter Utopien scheitern daran, dass es eine Wissenslücke zwischen Denken und Handeln gibt. Das war immer so in revolutionären Zeiten.

Genau an der Stelle wollen wir ansetzen: Wie könnte eine andere Welt, wie eine andere Politik aussehen, die sich den Herausforderungen unserer Zeit stellt und sich nicht im Alten versteckt? Eine Politik, die die Bedingungen und die Chancen des Neuen nutzt, um eine tatsächlich gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Es geht um die Frage, wie sich Technologie und Demokratie so ergänzen können, dass am Ende nicht die Demokratie auf der Strecke bleibt.

Denn das ist die Gefahr, wenn die Lösungen der gegenwärtigen Probleme vor allem in den technologischen Mitteln und Möglichkeiten gesehen werden, eine Gefahr des »Solutionismus«, wie es der politisch-technologische Denker Evgeny Morozov genannt hat6 — der Glaube, dass Technologie alle Probleme lösen kann, womöglich auch die, die sie selbst verursacht hat. Mehr noch, indem der Solutionismus ganz auf technologische Rationalität setzt, werden andere wichtige Argumente und Überlegungen ausgeschlossen, die helfen, eine andere Welt, eine andere Gesellschaft, eine andere Technologie zu imaginieren.

Vor allem ökonomische und politische Ansätze fehlen in der Diskussion. Es scheint, dass es in den wesentlichen Diskussionen unserer Zeit an Verständnis dafür mangelt, wie wichtig, wirkungsvoll und wirkmächtig Politik ist; oder sein kann. »Kapitalistischer Realismus«7, so hat der britische Theoretiker Mark Fisher die angebliche Alternativlosigkeit eines Wirtschaftssystems beschrieben, das das Denken im Möglichkeitsraum für beendet erklärt hatte.

Technologische Entwicklungen wurden zu lange als etwas betrachtet, das außerhalb der Koordinaten der demokratischen Entscheidungsfindung stattfindet. Aber die Demokratie, das große Gespräch, muss sich der Technologie öffnen, genauso wie sich die Technologie, die Unternehmen, die Entwickler*innen Fragen der Gesellschaft öffnen müssen, was etwa die Ethik ihrer Erfindungen angeht, den möglichen Missbrauch und die sozialen Folgen, wenn Technologiekonzerne die materielle Umverteilung und Veränderung von Lebensverhältnissen in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit beschleunigen. Diese Sicht, die über den Einzelnen hinausgeht und die Frage nach dem Ganzen im Blick hat, muss wieder eingeübt werden, wenn Lösungen für die bestehenden und kommenden technologischen Herausforderungen gefunden werden sollen.

Von Seiten der Politik bedarf es einer selbstbewussten Umgangsweise in Form von Fachkompetenz, Einbindung von Expert*innen und Offenheit gegenüber technologischen Problemlösungen. Und von Seiten der Technologieszene bedarf es eines Innehaltens und der Einsicht, dass nicht alle Probleme der Welt mit Technologie gelöst werden können; ja, dass manche dieser Probleme erst durch Technologie geschaffen wurden.

Letztlich geht es bei all dem um die Frage, wie wir leben wollen. Was uns wichtig ist als Gesellschaft. Wie wir die Rechte des Einzelnen und die Zukunft des Menschen sehen. Denn die Klimakrise zeigt, wie dringlich die Themen sind, die uns in diesem Buch beschäftigen. Die Zeit, die uns bleibt, fossile Energie zu konsumieren, lässt sich berechnen. Wir werden unser Wirtschaften, unseren Alltag, womöglich auch unser politisches System ändern müssen. Und wir benötigen Technologie, um unser Leben, unseren Konsum, unsere Gewohnheiten auf einen nachhaltigen Ressourcenverbrauch umzustellen. Von dieser Umstellung wird unsere Demokratie abhängen. Sollten wir nicht reagieren, wird die Erde durch Hitzewellen, Trockenheit, Überschwemmungen und andere Klimaauswirkungen nur noch in Teilen bewohnbar sein. Das Zeitfenster ist nicht hypothetisch, sondern wissenschaftlich berechenbar. Es definiert sich durch das sogenannte Carbon Budget, das darstellt, wie hoch die vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen jährlich sind und wie viele Jahre uns bleiben, unsere Emissionen zu verringern, damit wir das Ziel von 1,5 Grad Erderwärmung nicht überschreiten.

In diesem komplexen Modell werden alle vom Menschen verursachten Emissionen addiert, derzeit sind es rund 42 Gigatonnen, also 42 Milliarden Tonnen Kohlendioxid (CO2-Equivalent), wenn man neben Energieverbrauch auch Verkehr, Landwirtschaft und die Industrie mit einberechnet. Der Sonderbericht des Weltklimarats (IPCC) von 2018 schätzt das verbleibende Budget auf 420 Gigatonnen, wenn wir die 1,5 Grad nicht überschreiten wollen.8 Nach dieser Rechnung bleiben uns also zehn Jahre, um die Emissionen auf »Net Zero« oder »Netto Null« herunterzubringen. Ein Jahrzehnt für eine vollkommene Dekarbonisierung.

Deswegen muss jeder Politikentwurf radikal ökologisch gedacht sein, will er den Herausforderungen unserer Zeit begegnen. Unser Regierungssystem muss danach beurteilt werden, wie demokratisch gewählte Parteien und Regierungen die Klimakatastrophe abwenden wollen. Denn die Demokratie zu verteidigen, heißt, die Lebensgrundlagen der Menschen zu verteidigen. Unser Gesellschaftssystem muss sich in einem Jahrzehnt mehr verändern als in dem Jahrhundert nach 1850, als sich Europa von einer Agrargesellschaft in eine Industriegesellschaft verwandelte. Diese ökologische Transformation, das haben die Ideen der Vordenker*innen eines Green New Deal in den USA und Großbritannien gezeigt, bringt viel mehr als eine Dekarbonisierung unserer Infrastruktur, Gebäude, Konsumgüter und unseres Finanzsystems. Nur eine derart große Transformation kann eine gerechtere und transparentere Gesellschaft, eine demokratischere Lebensweise ermöglichen.

Das ist, wenn man so will, die utopische, die real-utopische Dimension dieses Projektes, die Notwendigkeit, jenseits der Gegebenheiten zu denken. Gerade in Deutschland sehen wir einen Mangel an Möglichkeitssinn, der gesellschaftlich gefährlich wird und politisch problematisch. Wenn sich die Realität reduziert, regiert reaktionäres Denken. Politik braucht Imagination. Politik braucht eine Vorstellung davon, wie eine andere, bessere Welt aussehen könnte. Auf dem Weg dorthin gibt es keinen klaren Plan, keine Karte. Das Mittel des rationalen, empathischen Verstandes ist der Kompass, »a sense of direction«9, wie es der amerikanische Autor Gideon Lewis-Kraus genannt hat.

Die Richtung also muss klar sein. Wir werden als Gesellschaften und als Individuen etwas riskieren müssen, um etwas zu verändern. Wir werden manches verlieren, um anderes zu gewinnen. Es sind Zeiten der Resistenz und des Widerstandes, es sind Zeiten des systemischen Denkens und des Zweifels am System. Wir sind viele, aber wir spüren es nicht.

Was wir vor uns sehen, ist die Möglichkeit einer demokratisch-digitalen Revolution von unten, einer technologischen Graswurzelbewegung, die das politische wie das kybernetische Denken der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wiederaufnimmt. Es geht um uns alle. Nur gemeinsam können wir das schaffen. Power to the people!

1. Demokratie

Politik bedeutet Gestaltung.

Technologie ist die Form der Veränderung.

Wir müssen Politik und Technologie gemeinsam denken, um Veränderung zu ermöglichen.

Die Widersprüche zwischen demokratischer Praxis und Theorie reichen bis zu den Ursprüngen von Demokratie. Bereits Plato beklagte die demokratische Praxis seiner Zeit; herrschen sollten am Ende besser die Wenigen und die Klugen, die Philosophenkönige, weil den Menschen in ihrer Masse nicht zu trauen sei. Diese Skepsis, Abneigung oder Angst dem Volk gegenüber durchzieht die gesamte Geschichte der Demokratie, von der antiken Agora bis zu den digitalen Foren, und manifestiert sich in Form parteiengestützter parlamentarischer Demokratien, die auf diversen Kontrollmechanismen basieren.

Der britische Politikwissenschaftler David Runciman sieht in der Gründung der Demokratie in Athen gleich eine dreifache Angst am Werk: die Angst vor den Armen, die Angst vor den Ungebildeten, die Angst vor den Jungen.1 Die Demokratie, so wie sie Runciman skizziert, wäre demnach kein System gewesen, in dem Macht geteilt, sondern vielmehr ein System, in dem Macht legitimiert werden sollte. Die Angst der Wenigen vor der Mehrheit, dem Volk, bestimmte diesen Diskurs, und die Mehrheit, die Vielen, die Ungebildeten, die Armen, die Jungen, stellte ein Problem dar und nicht die Lösung. Die etablierte Machtelite musste sich fragen, wie sie ihre Stellung in ihrer zahlenmäßigen Minderheit behalten und doch die Belange der Mehrheit bedienen konnte.2

Die Antwort, die Runciman gibt, ist bestürzend einfach: durch Wahlen. Wahlen begegneten den Ängsten der Eliten in der Form, dass alle gefürchteten Gruppen vom demokratischen Prozess ausgeschlossen waren: die Ungebildeten, weil sie an den komplexen Debatten nicht teilnehmen konnten, die Armen durch die aufwendige Finanzierung von Wahlkämpfen und die Jungen durch mangelnde Erfahrung. Alle diese Faktoren, so Runciman, haben sich inzwischen elementar verändert.3 Es gibt keine Mehrheit der Ungebildeten, die Jungen sind in vielen westlichen Staaten in der Minderheit, und auch die Armut ist relativ geworden, selbst wenn die Ungleichheit wächst. Was bedeutet es aber für ein System, das auf Ängsten gebaut ist, wenn sich die Gründe für diese Angst verschoben haben?

Wovon also reden wir, wenn wir von Demokratie sprechen? Reden wir davon, dass die Macht vom Volke ausgeht, egal, was dieses Volk will? Reden wir von einem Wertesystem, das dieser Demokratie unterliegt, entstanden aus dem Geist des Universalismus und der Menschenrechte? Reden wir davon, dass Nation und Demokratie zusammengehören? Reden wir davon, dass Demokratie und Freiheit zusammengehören, Demokratie und der freie Markt, Demokratie und Kapitalismus? Wie verhält es sich mit Demokratie und Republik, wie mit Demokratie und Liberalismus als bürgerlichem Werte- und Rechtssystem?

Historisch betrachtet gibt es weder die Demokratie als solche, noch kann die gegenwärtige Gestalt demokratischer Herrschaftsformen als unveränderbar oder gar vollkommen betrachtet werden. Dies zeigt sich zum Beispiel mit Blick auf die Regelungen der Altersgrenzen bei demokratischen Wahlen: Warum etwa sollte in Zeiten der drohenden Klimakatastrophe und der massiven technologischen Umwälzungen die Wählerschaft auf Menschen über 18 Jahren begrenzt sein? Mit welchem Argument schließt man 16-Jährige, 12-Jährige, 8-Jährige vom demokratischen Prozess aus — Menschen, die viel stärker von den Folgen heutiger Entscheidungen betroffen sein werden als die Älteren und die folglich ein Mitspracherecht verdient hätten? Eigentlich sollte ihre Stimme mehr zählen als die der Älteren, eigentlich fehlt eine Art chronopolitische Zukunftsdividende.

Es braucht eine größere Offenheit, Partizipation und Transparenz für die demokratischen Prozesse, eine Durchdringung von politischer Debatte und bürokratischer Entscheidung, eine stärkere Hitze und größere Intensität des täglichen Miteinanders in konstruktiver Art und Weise, ein Bewusstsein dafür, dass der Staat nichts Abstraktes ist, sondern nur eine Abstraktion dessen, was wir sind, als Gemeinschaft, Gesellschaft, Bevölkerung. Ein neues, anderes Bewusstsein ist elementar, wenn es darum geht, eine andere Demokratie zu denken, zu sehen, zu realisieren. Technologie schult dieses Bewusstsein, schafft eine andere Sicht auf uns, auf andere, auf die Welt, den Kosmos, rückt sie gleichzeitig näher an uns heran und weiter von uns weg, je nachdem, wie wir Technologie einsetzen und benutzen.

Die technologische Entwicklung ermöglicht damit ein produktives Nachdenken über fundamentale Fragen wie die des Stimmrechts, der Partizipation weit über den Menschen hinaus. Wer sagt, dass nicht Tiere, die immer öfter eigene Rechte zugesprochen bekommen, auch demokratische Rechte verdienen, eine Stimme, eine Form der Autonomie, die Möglichkeit, über ihr eigenes Schicksal mitzubestimmen? Wer sagt, dass die Natur, Ozeane, Flüsse, Wälder, nicht an den Entscheidungen beteiligt sein sollte, die das Schicksal dieses Planeten bestimmen?

Und wenn es um die Bedrohung des Menschen durch mächtige Maschinen geht, die mit menschenähnlichen oder dem Menschen überlegenen kognitiven Fähigkeiten ausgestattet sind, wie verhält es sich umgekehrt mit dem Schutz der Maschinen vor menschlicher Willkür, was bedeutet die radikale technologische Entwicklung also für die Frage, ob nicht nur Menschenrechte für Roboter gelten sollten, sondern überhaupt, ob Roboter, Maschinen, Algorithmen eine eigene Stimme in der demokratischen Praxis bekommen sollten? Die Demokratie verändert sich und reicht über den Menschen hinaus, auch das ist eine Konsequenz der technologischen Entwicklungen.

Die Krisenbeschreibungen und Pathologien der vergangenen Jahre erscheinen damit in einem etwas anderen Licht. Sie beschreiben die gegenwärtige liberale und parlamentarische Demokratie, die durch illiberale Kräfte bedroht wird: etwa Yascha Mounks »Der Zerfall der Demokratie«4, David Runcimans »How Democracy Ends«5 oder »Wie Demokratien sterben«6 von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Und schon 2008 hatte der amerikanische Politikwissenschaftler Larry Diamond von einer »globalen Rezession«7 der Demokratie gesprochen, eine Zeitdiagnose, die an Aktualität wenig eingebüßt hat.