Kissing Chloe Brown - Talia Hibbert - E-Book
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Kissing Chloe Brown E-Book

Talia Hibbert

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Beschreibung

Der Liebesroman-Trend aus England von USA Today Bestseller-Autorin Talia Hibbert Viel zu lange hat sich Chloe Brown von ihrer chronischen Krankheit einschränken lassen. Damit ist jetzt Schluss! Sie will das Leben in vollen Zügen genießen. Doch es fällt ihr nicht leicht, aus ihrer Komfortzone auszubrechen. Was sie braucht, ist ein Lehrer. Red Morgan hat Tattoos, ein Motorrad und mehr Sexappeal als so mancher Hollywoodstar. Er ist außerdem Chloes neuer Nachbar und wäre die perfekte Unterstützung auf ihrer Mission. Doch Red hat unerklärlicher Weise eine Abneigung gegen sie. Erst als Chloe ihn näher kennenlernt, erfährt sie, was wirklich hinter seinem rauen Äußeren steckt … Wenn dir The Love Hypothesis von Ali Hazelwood gefallen hat, wirst du Talia Hibberts Romane lieben!

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Seitenzahl: 551

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Kissing Chloe Brown

Die Autorin

Talia Hibbert ist eine britische Autorin, die in einem Schlafzimmer voller Bücher lebt. Vermutlich gibt es eine Welt außerhalb dieses Raums, aber bisher konnte sie sich noch nicht dazu aufraffen, sie zu erkunden. Sie schreibt Sexy Diverse Romances, weil sie findet, dass auch Minderheiten und Randgruppen ehrlich und positiv dargestellt werden sollten. Talia liebt Junkfood, Make-up und unnötigen Sarkasmus.

Das Buch

»Entschuldige, liebes Universum«, flüsterte Chloe dem Küchenboden zu. »Als du mich heute fast ermordet hättest – was übrigens ganz schön brutal war, aber ich kann das respektieren – wolltest du mir damit etwas sagen?«

Viel zu lange hat sich Chloe Brown von ihrer chronischen Krankheit einschränken lassen. Damit ist jetzt Schluss! Sie will das Leben in vollen Zügen genießen. Doch dann merkt sie, dass es nicht leicht ist, über den eigenen Schatten zu springen. Was sie braucht, ist ein Lehrer!

Red Morgan hat Tattoos, ein Motorrad und mehr Sexappeal als so mancher Hollywoodstar. Er ist außerdem Chloes neuer Nachbar und wäre die perfekte Unterstützung auf ihrer Mission. Aber als Chloe ihn näher kennenlernt, merkt sie, was wirklich hinter seinem rauen Äußeren steckt …

Talia Hibbert

Kissing Chloe Brown

Roman

Aus dem Englischen von Christiane Bowien-Böll

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juli 2020 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Titel der amerikanischen Originalausgabe: Get a Life, Chloe Brown© 2019 by Talia Hibbert© 2019 Avon, HarperCollinsPublishers

Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Übersetzung: Cherokee Moon AgnewE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-513-5

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Epilog

Ankündigung

Danksagungen

Leseprobe: Thirty

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

Für meine Mutter, die getan hat, was nötig war.

Prolog

Eines schönen Tages starb Chloe Brown.

Beinahe.

Natürlich geschah es an einem Dienstagnachmittag. Schreckliche Dinge schienen immer an einem Dienstag zu passieren. Chloe hatte den Verdacht, dass auf diesem Wochentag ein Fluch lag, aber bis jetzt hatte sie diesen Verdacht nur in gewissen Internetforen geteilt – und mit Dani, die von ihren beiden merkwürdigen kleinen Schwestern die merkwürdigere war. Dani hatte Chloe geantwortet, sie habe einen Knall und solle es mal mit positiven Affirmationen versuchen, um sich von der negativen Energie des »falschen Wochentags« zu befreien.

Als Chloe also Schreie und Reifenquietschen hörte und nach rechts blickte, wo sie einen glänzenden weißen Range Rover direkt auf sich zurasen sah, war ihr erster idiotischer Gedanke: Ich sterbe an einem Dienstag und Dani muss zugeben, dass ich die ganze Zeit recht hatte.

Aber dann starb sie doch nicht. Sie wurde nicht einmal schwer verletzt – was ein großes Glück war, denn sie verbrachte ohnehin schon genug Zeit in Krankenhäusern. Der Range Rover flog nämlich an ihr vorbei und krachte in die Wand eines Coffeeshops. Statt mit einer sehr lebendigen Chloe stieß die betrunkene Fahrerin also mit einer toten Wand zusammen und verpasste Erstere um einen knappen Meter. Metall wurde zerknautscht, als wäre es Papier. Die Dame mittleren Alters, die auf dem Fahrersitz saß, sank hinter dem Airbag in sich zusammen, ihr blondes, zu einem schicken Pagenkopf geschnittenes Haar schwang hin und her. Schaulustige sammelten sich und mehrere schrien nach einem Krankenwagen.

Chloe konnte nichts anderes tun als glotzen.

Menschen eilten an ihr vorbei und die Zeit verging, aber sie bemerkte es kaum. Nebensächlichkeiten schwirrten ihr durch den Kopf, als wäre ihr Gehirn ein riesiger Ordner für irrelevante Daten. Wie teuer würden wohl die Reparaturarbeiten sein? Würde das die Versicherung zahlen oder müsste das die Unfallverursacherin tun? Wer hatte der Dame wohl die Haare geschnitten? Der Schnitt war perfekt. Ihr Haar fiel immer noch fast makellos, auch als man die Frau aus dem Auto zog und auf eine Bahre legte.

Irgendwann berührte jemand Chloe an der Schulter und fragte: »Alles in Ordnung, Schätzchen?«

Sie drehte sich um. Es war ein Sanitäter mit einem freundlichen, faltigen Gesicht und einem schwarzen Turban auf dem Kopf. »Ich glaube, ich habe einen Schock«, sagte sie. »Könnte ich etwas Schokolade haben? Die mit Meersalz von Green & Black. Meine Lieblingssorte. Aber die Dunkle mit 85 % ist aus medizinischer Sicht wahrscheinlich besser.«

Der Sanitäter schmunzelte, legte ihr eine Decke um die Schultern und sagte: »Wie wäre es mit einer Tasse Tee, Eure Durchlaucht?«

»Oh. Ja, bitte.« Chloe folgte ihm zur Rückseite seines Krankenwagens. Dabei merkte sie, dass ihr vor lauter Zittern das Gehen schwerfiel. Mit der Kraft, die sie einem langjährigen Zusammenleben mit einem höchst launenhaften Körper verdankte, biss sie die Zähne zusammen und zwang einen Fuß vor den anderen.

Als sie endlich am Krankenwagen ankamen, setzte Chloe sich vorsichtig hin. Es wäre nicht gut, wenn sie jetzt zusammenbräche. Falls das passierte, würde der Sanitäter anfangen Fragen zu stellen. Dann würde er sie womöglich untersuchen wollen. Und dann müsste sie ihm von all ihren kleinen Abnormitäten erzählen und weshalb das alles kein Grund zur Sorge sei, und das würde womöglich den ganzen Tag dauern. In ihrem besten Ich-bin-total-gesund-und-habe-alles-im-Griff-Ton fragte sie forsch: »Wird die Frau wieder gesund werden?«

»Die Fahrerin? Bestimmt, Schätzchen. Machen Sie sich keine Sorgen deswegen.«

Muskeln, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie verspannt waren, lockerten sich in ihrem Körper.

Nach zwei Tassen Tee und einigen Fragen von der Polizei durfte Chloe ihren Dienstagnachmittagsspaziergang fortsetzen. Es kam zu keinen weiteren Nahtoderfahrungen, und das war hervorragend, denn wäre das der Fall gewesen, hätte sie sich womöglich zu etwas Peinlichem wie einem Tränenausbruch hinreißen lassen.

Sie betrat ihr Elternhaus durch den Nordflügel und schlich auf der Suche nach ein paar stärkenden Snacks zur Küche. Stattdessen fand sie dort ihre Gigi, ihre Großmutter, die offenbar auf sie wartete. Gigi wirbelte mit ihrem bodenlangen violetten Morgenmantel – den Chloe ihr zum vier(oder fünf-?)undsiebzigsten Geburtstag geschenkt hatte – um die eigene Achse.

»Schätzchen«, rief sie atemlos und ihre glitzernden Pantoffeln mit den kleinen Stöckelabsätzen klapperten auf den Bodenfliesen. »Du siehst so … kränklich aus.« Aus dem Mund von Gigi − sowohl besorgte Großmutter als auch schmerzhaft schöne Ragtime-Legende – war dies eine wirklich ernste Feststellung. »Wo bist du gewesen? Du warst eine Ewigkeit weg und hast keine Anrufe beantwortet. Ich habe mir ganz schön Sorgen gemacht.«

»Oh, du meine Güte. Tut mir leid.« Chloe war vor Stunden zu einem ihrer unregelmäßig regelmäßigen Spaziergänge aufgebrochen – regelmäßig, weil ihr Physiotherapeut darauf bestand, unregelmäßig, weil ihr chronisch kranker Körper sich oft dagegen aussprach. Normalerweise war sie innerhalb einer halben Stunde wieder zu Hause, es war also kein Wunder, dass Gigi verrückt vor Sorge war. »Du hast doch wohl nicht meine Eltern angerufen, oder?«

»Natürlich nicht. Ich bin davon ausgegangen, dass du dich, falls du einen Wackler kriegst, so weit berappeln würdest, jemanden zu bitten, dir ein Taxi zu rufen.«

Ein Wackler war die dezente Umschreibung, die Gigi für jene Situationen verwendete, in denen Chloes Körper einfach den Dienst quittierte. »Ich hatte keinen Wackler. Mir geht es eigentlich ziemlich gut.« Mittlerweile. »Aber es … hat einen Unfall gegeben.«

Gigi spannte die Schultern an, sie saß inzwischen auf einem Stuhl an der marmornen Kücheninsel. »Du bist aber nicht verletzt worden?«

»Nein. Eine Frau hat ihren Wagen direkt vor mir zu Schrott gefahren. Es war sehr dramatisch. Ich habe Tee aus Styroporbechern getrunken.«

Gigi bedachte Chloe mit einem Blick aus ihren katzengleichen Augen. Augen, in denen sich Normalsterbliche schnell verloren. »Möchtest du ein Xanax, Schätzchen?«

»Oh, das geht nicht. Ich weiß nicht, wie sich das mit meinen Medikamenten vertragen würde.«

»Ja, klar. Ah, ich weiß! Ich rufe Jeremy an und sage, es sei ein Notfall.«

Jeremy war Gigis Therapeut. Gigi brauchte eigentlich nicht wirklich eine Therapie, aber sie mochte Jeremy und hielt viel von vorbeugenden Maßnahmen.

Chloe blinzelte. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist.«

»Das sehe ich anders«, erwiderte Gigi. »Therapie ist immer notwendig.« Sie zog ihr Handy hervor und tänzelte zur anderen Seite des Raumes. Wieder klapperten ihre Pantoffeln auf den Fliesen und sie schnurrte ins Handy: »Jeremy, Liebling! Wie geht’s? Wie geht es Cassandra?«

Das waren alles total normale Geräusche. Und doch lösten sie, ohne jede Vorwarnung, etwas Katastrophales in Chloes Kopf aus.

Gigis Klappern verschmolz mit dem Ticken der riesigen Küchenuhr an der Wand. Das Geräusch wurde unerträglich laut und merkwürdig unregelmäßig, bis es sich anhörte, als würden in Chloes Kopf eine Reihe von Felsbrocken umeinanderpurzeln. Sie presste die Lider zusammen – Moment mal, was hatten ihre Augen mit ihrem Gehör zu tun? – und in der einsetzenden Dunkelheit tauchte eine Erinnerung auf: das Hin- und Herschwingen dieses perfekt geschnittenen blonden Pagenkopfs. Dieses unverändert glatte, glänzende Haar im Kontrast zu dem schwarzen Leder der Krankenbahre.

»Betrunken«, hatte der nette Sanitäter halblaut gesagt. Das war es, was allgemein angenommen wurde. Die Frau war am helllichten Nachmittag betrunken gewesen, war auf den Bürgersteig geraten und in ein Haus gerast. Und Chloe …

Chloe hatte zufällig genau dort gestanden. Weil sie immer um dieselbe Tageszeit spazieren ging, um nicht durcheinanderzukommen. Weil sie immer denselben Weg ging, um Zeit zu sparen. Sie hatte genau dort gestanden.

Ihr war heiß, sie schwitzte. Ihr war schwindlig. Sie musste sich setzen, sofort, oder sie würde umfallen und sich auf den Marmorfliesen den Schädel brechen, als wäre er eine Eierschale. Aus dem Nichts kam plötzlich die Bemerkung ihrer Mutter: »Wir sollten die Böden neu machen lassen. Diese Ohnmachtsanfälle werden langsam zu viel. Sie wird sich noch ernsthaft wehtun.«

Aber Chloe hatte darauf beharrt, dass ihretwegen nichts neu gemacht werden musste. Sie hatte versprochen, gut aufzupassen, und Gott wusste, sie hatte ihr Versprechen gehalten. Langsam, ganz langsam sank sie zu Boden. Stützte sich mit den feuchtkalten Handflächen auf die kühlen Fliesen. Atmete ein. Atmete aus. Atmete ein.

Atmete aus. Ihr Flüstern hörte sich an wie splitterndes Glas. »Wenn ich heute gestorben wäre, wie würde sich wohl die Grabrede anhören?«

Diese atemberaubend langweilige Spaßbremse hatte null Freunde, hat seit zehn Jahren keine Reise unternommen trotz zahlreicher Anlässe, verbrachte das Wochenende am liebsten mit Code-Schreiben und machte niemals etwas, was nicht in ihrem Terminplaner stand. Weint nicht um sie; sie ist jetzt an einem besseren Ort. Nicht einmal im Himmel kann es so langweilig sein.

So würde die Grabrede lauten. Vielleicht würde jemand besonders Gemeines sie im Rundfunk verlesen, jemand wie Piers Morgan.

»Chloe?«, rief Gigi. »Wo hast du …? Ach, da bist du. Ist alles in Ordnung?«

Chloe lag flach auf dem Boden und schnappte nach Luft wie ein sterbender Fisch. »Danke der Nachfrage«, erwiderte sie fröhlich.

»Hmm«, murmelte Gigi, leicht skeptisch, aber nicht allzu besorgt. »Vielleicht sage ich Jeremy besser, er soll zurückrufen. Jeremy, mein Lieber, könntest du vielleicht …?« Ihre Stimme wurde immer leiser, als sie sich von Chloe wegbewegte.

Diese schmiegte ihre heiße Wange an die kalten Fliesen und versuchte, ihre imaginäre Grabrede nicht noch um weitere Beleidigungen zu bereichern. Wenn sie eine Rolle in einem dieser albernen Musicals – die ihre jüngere Schwester Eve so liebte – übernommen hätte, dann wäre das jetzt ihr absoluter Tiefpunkt. Ein paar Szenen weiter würde dann die Erleuchtung erfolgen, mit einer erhebenden Arie über Entschlusskraft und den Glauben an sich selbst. Vielleicht sollte sie sich eine Seite aus den gesammelten Texten dieser Musicals herausreißen.

»Entschuldige, liebes Universum«, flüsterte sie dem Küchenboden zu. »Als du mich heute fast ermordet hättest – was übrigens ganz schön brutal war, aber ich kann das respektieren –, wolltest du mir damit etwas sagen?«

Das Universum, rätselhaft wie immer, antwortete nicht.

Jemand anders leider schon.

»Chloe!« Die Stimme ihrer Mutter kam von der Haustür, sie schrie fast. »Was machst du denn auf dem Boden?! Bist du krank? Garnet, hör auf zu telefonieren und komm her! Deiner Enkelin geht es schlecht!«

Oje. Nachdem ihr Augenblick der Verbundenheit mit dem Kosmos rüde unterbrochen worden war, rappelte Chloe sich in eine sitzende Position auf. Merkwürdig, jetzt fühlte sie sich viel besser. Vielleicht, weil sie die Botschaft des Universums verstanden und akzeptiert hatte.

Es war ganz offensichtlich an der Zeit, dass sie anfing zu leben.

»Nein, nein, Liebling, nicht bewegen.« Joy Matalon-Browns zarte Gesichtszüge verzerrten sich, als sie diesen panischen Befehl erteilte. Sie wurde blass unter ihrem dunklen Teint. Ein vertrauter Anblick. Chloes Mutter leitete mit ihrer Schwester eine erfolgreiche Anwaltskanzlei, lebte ihr Leben mit fast ebenso viel Sachlichkeit und Vorsicht wie Chloe und hatte Jahre gebraucht, um die Symptome und Bewältigungsstrategien ihrer Tochter zu begreifen. Trotzdem geriet sie beim geringsten Anzeichen von Krankheit und Unwohlsein in helle Panik. Es war, offen gestanden, ermüdend.

»Mach nicht so viel Aufhebens um sie, Joy, du weißt, sie kann das nicht leiden.«

»Soll ich etwa ignorieren, dass sie gerade auf dem Boden lag wie eine Tote?«

Autsch.

Während ihre Mutter und ihre Großmutter sich über ihren Kopf hinweg stritten, beschloss Chloe, dass die erste vom Kosmos angeordnete Änderung in ihrem Leben sich auf ihre Unterkunft beziehen würde.

Das Heim der großen Mammutfamilie fühlte sich auf einmal ziemlich eng an.

1. Kapitel

Zwei Monate später

»Oh, Sie sind wirklich ein Schatz, Red.«

Redford Morgan probierte ein heiteres Grinsen, was nicht ganz einfach war, da er gerade mit einem Arm bis zum Ellenbogen in der Toilettenschüssel einer achtzigjährigen Mieterin steckte. »Ich mache nur meinen Job, Mrs. Conrad.«

»Sie sind der beste Hausmeister, den wir je hatten.« Sie stand in der Badezimmertür und legte eine faltige Hand auf ihre knöcherne Brust. Sie war so von ihren Gefühlen überwältigt, dass sogar ihr volles weißes Haar bebte. Neigte ein bisschen zum Dramatisieren, die Gute.

»Danke, Mrs. C«, erwiderte er lässig. »Sie sind so nett.« Und wenn Sie einfach damit aufhören würden, alles Mögliche in die Toilette zu schmeißen, dann wären wir die besten Freunde. Es war das dritte Mal in diesem Monat, dass er wegen eines Sanitärproblems zum Apartment Nr. 3E gerufen worden war, und, offen gesagt, er hatte langsam die Nase voll von Mrs. Conrads Problemen. Genauer gesagt, von den Problemen ihrer Enkel.

Reds behandschuhte Hand tauchte aus den Tiefen der Kloschüssel auf, zwischen seinen Fingern befand sich ein nasser Klumpen Toilettenpapier. Als er ihn entzerrte, erschien … »Ist das Ihr Gemüseauflauf, Mrs. C?«

Sie blinzelte ihn unschuldig an, dann kniff sie die Augen zusammen. »Also, ich habe wirklich keine Ahnung. Wo ist denn meine Brille?« Sie drehte sich um, als wollte sie sie suchen gehen.

»Nein, sparen Sie sich die Mühe.« Red seufzte. Er wusste genau, dass es Gemüseauflauf war, wie beim letzten und auch beim vorletzten Mal. »Sie müssen mal mit den Jungs reden«, sagte er sanft, während er den Klumpen entsorgte und die Handschuhe auszog. »Die schmeißen ihr Abendessen ins Klo.«

»Was?« Sie keuchte, eindeutig empört. »Naaaa … Nein, nein, nein. Nicht mein Felix und mein Jeremy. Das würden sie nie tun! Das sind keine verwöhnten Bengel, und sie essen gern bei mir.«

»Bestimmt tun sie das«, sagte Red langsam, »aber … nun ja, Mrs. C, jedes Mal, wenn ich hier bin, finde ich ein kleines Päckchen mit Brokkoli und Pilzen, das Ihre Abwasserleitung verstopft.«

Es entstand ein Moment der Stille, während Mrs. Conrad versuchte, diese Information zu verarbeiten. »Oh«, hauchte sie. Red hatte noch nie so viel Niedergeschlagenheit aus einer einzelnen Silbe herausgehört. Sie blinzelte und schürzte die dünnen Lippen. Red brach es das Herz, als er merkte, dass sie gegen die Tränen ankämpfte. Verdammt aber auch. Er konnte mit weinenden Frauen nicht umgehen. Wenn sie auch nur eine Träne vergießen würde, würde er den ganzen Abend hier verbringen, mit Begeisterung Schüsseln voller Gemüseauflauf vertilgen und dabei noch Komplimente verteilen.

Bitte nicht weinen. Ich habe in zehn Minuten Feierabend und, verdammt, ich hasse Brokkoli aus vollem Herzen. Bitte nicht weinen. Bitte nicht …

Sie drehte sich von ihm weg, als der erste Schluchzer ihre mageren Schultern erbeben ließ.

Seufz.

»Na, na, Mrs. C, regen Sie sich nicht auf.« Ungeschickt befreite Red sich von den Handschuhen und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. »Es sind doch nur Kinder. Jeder weiß, dass Kinder manchmal nicht mehr Vernunft im Hirn haben als eine Ziege.«

Mrs. Conrad lachte kurz auf, drehte sich wieder zu Red um und betupfte ihre Augenwinkel mit einem Taschentuch. Alte Leute hatten wohl immer ein Taschentuch bei sich. Sie verbargen es irgendwo an ihrem Körper, wie Ninjas ihr Wurfmesser. »Sie haben ja recht. Natürlich. Es ist nur … nun ja, ich dachte, dieser Eintopf ist ihr Lieblingsessen.« Sie schniefte und schüttelte den Kopf. »Ist ja auch egal.«

Dem Zittern ihrer Stimme nach zu urteilen, war es alles andere als das.

»Ich wette, es ist ein verdammt guter Eintopf«, sagte Red, weil er, verflixt noch mal, einfach nicht den Mund halten konnte.

»Meinen Sie?«

»Ich weiß es. Sie sehen aus wie eine Frau, die in der Küche genau weiß, was sie tut.« Red hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, aber es hörte sich gut an.

Das tat es für Mrs. Conrad offenbar auch, denn ihre Wangen röteten sich und sie gab eine Art Gurren von sich, das man als Kichern interpretieren konnte. »O, Red. Wissen Sie, ich habe gerade einen fertig.«

War ja klar. »Tatsächlich?«

»Ja! Möchten Sie probieren? Sie haben so hart gearbeitet. Das Mindeste, was ich für Sie tun kann, ist, Ihnen etwas zu essen anzubieten.«

Sag nein. Sag, du hast für diesen Freitagabend schon etwas vor. Sag, du hast zu Mittag schon fünf Frikadellen gegessen. »Nur zu gerne.« Red lächelte. »Ich gehe schnell in meine Wohnung und ziehe mich um.«

Er brauchte dreißig Minuten, um in seinem Apartment im Erdgeschoss zu duschen und frische Sachen anzuziehen. Die Wohnung gehörte zu seinem Job. Passend zu dem wahnsinnig aufregenden Leben, das er in letzter Zeit führte, wechselte er eigentlich nur noch zwischen schwarzen und – bitte ein Trommelwirbel – dunkelblauen Overalls, direkt aus der Waschmaschine. Um ehrlich zu sein, hatte er keine Ahnung, was man zu einem Abendessen mit einer alten Dame trug, aber sein üblicher Aufzug aus klobigen Stiefeln und einer alten Lederjacke erschien ihm irgendwie unpassend.

Erst als er seine Wohnungstür abschloss, dämmerte es ihm: Die ganze Situation war irgendwie unpassend. Durfte er sich überhaupt von Mietern zum Essen einladen lassen? War das erlaubt? Er konnte nichts Verkehrtes daran finden, aber diese Hausmeistersache war ziemlich neu für ihn und er war nicht unbedingt dafür qualifiziert. Sicherheitshalber zog er sein Handy hervor und schickte eine SMS an Vik, den Eigentümer – und Kumpel −, dem er diesen Job verdankte.

Kann ich bei der netten alten Dame in 3E zu Abend essen?

Viks Antwort kam wie immer prompt.

Was immer dich scharf macht, Alter. Ich halte mich raus.

Red stieß einen kurzen Lacher aus und verdrehte die Augen, während er das Handy zurück in die Hosentasche schob. Und dann, wie aus dem Nichts, hörte er es.

Besser gesagt, sie.

Chloe Brown.

»… wir sehen uns zum Brunch, wenn ich es schaffe«, sagte sie. Ihre Stimme klang energisch und irgendwie teuer, als hätte man einem Diamanten das Sprechen beigebracht. Sie verursachte ein Chaos in seinem Kopf, die korrekte Aussprache erinnerte ihn an Leute und Orte, an die er lieber nicht mehr denken wollte. An eine andere Zeit, eine andere Frau, eine, die in einer manikürten Hand ihren Silberlöffel hielt, während sie ihm mit der anderen das Herz aus dem Leib riss.

Abgesehen von Chloes leicht rauchigem Timbre und den Erinnerungen, die es auslöste, war Red völlig unvorbereitet, als er um die Ecke bog und der Frau von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Besser gesagt, von Angesicht zu Hals. Verdammt, plötzlich war sie da. Sie prallten aufeinander, und irgendwie landete ihr Gesicht an seinem Hals. Das tat weh. Richtig weh.

Der Zusammenstoß hatte außerdem eine extrem ungünstige Wirkung auf seine Atmung. Er holte Luft, erstickte dabei fast und streckte gleichzeitig die Hand nach Chloe aus. Letzteres geschah im Reflex: Er war mit jemandem zusammengestoßen, also war er dafür zuständig, die Person am Hinfallen zu hindern. Allerdings war es nicht irgendeine Person. Es war Chloe, deren Taille sich so weich anfühlte. Chloe, die duftete wie ein Garten nach einem Frühlingsregen. Chloe, die ihn jetzt von sich wegstieß, als ob er eine ansteckende Krankheit hätte, und stotterte: »Oh. Du lieber … was …? Lassen Sie mich los!«

Irgendwie niedlich, aber sie ließ ihn eiskalt abblitzen. Er gab sie frei, bevor sie noch eine Herzattacke bekam, und zuckte zusammen, als seine schwieligen Hände an der feinen Wolle ihrer pastellfarbenen Strickjacke hängen blieben.

Chloe wich vor ihm zurück, als ob er sich jeden Moment auf sie stürzen könnte. Ihre Augen waren riesig, ihr Blick hart und misstrauisch. So schaute sie ihn immer an – als ob er kurz davor wäre, sie zu ermorden und zu zerstückeln. Sie behandelte Red, als sei er ein wildes Tier, schon seit ihrer ersten Begegnung, als er ihr die Wohnung gezeigt hatte, von der er nie gedacht hätte, dass sie sie wirklich mieten würde. Eine Woche später war sie eingezogen und seitdem störte sie mit ihrem Eisprinzessin-Getue seinen Seelenfrieden.

»Ich … verstehe nicht, wie das passieren konnte«, sagte sie, so als hätte er das Ganze heimlich geplant, nur um eine Chance zu bekommen, sie anzufassen.

Zähneknirschend versuchte er ihr zu versichern, dass dies kein stümperhafter Versuch seinerseits war, sie auszurauben oder zu kidnappen, und dass er − trotz seiner Tattoos und seines Akzents und all der anderen Dinge, die ihn in den Augen feiner Damen wie ihr herabsetzten − kein gefährlicher Krimineller war. Aber alles, was ihm über die Lippen kam, war ein sinnloses Keuchen, also gab er es auf und konzentrierte sich stattdessen einfach aufs Atmen. Der Schmerz ließ nach, giftiges Gelb verwandelte sich in helles Zitronengelb.

Chloes Schwestern bemerkte er erst, als diese anfingen zu reden.

»O, Chloe«, sagte Eve, die Kleinere. »Sieh nur, was du getan hast! Der arme Mann hustet sich die Zunge aus dem Leib.«

Die andere Schwester – sie nannten sie Dani – verdrehte die Augen. »Du meinst wohl die Seele, Schätzchen?«

»Nein. Sollten wir nicht etwas tun? Komm schon, Dani, tu etwas.«

»Was soll ich denn machen? Sehe ich aus wie eine Krankenschwester?«

»Wir können ihn jedenfalls nicht ersticken lassen«, sagte Eve. »Was für eine Verschwendung, so ein attraktiver …«

Chloes Stimme beendete die Zankerei. »Oh, seid still, alle beide. Wolltet ihr nicht gerade gehen?«

»Wir können jetzt nicht gehen. Unser Lieblingshausmeister befindet sich in einer Krise.«

Aha, Chloe mochte ihn vom ersten Moment an gehasst haben, ihre Schwestern Dani und Eve schienen ihn dagegen sehr zu mögen. Sie verfügten über denselben geschliffenen Akzent wie Chloe, aber nicht deren offensichtliche Blasiertheit. Dani erschien ihm als die Elegantere der beiden, mit kurz rasiertem Haar und fließenden schwarzen Outfits. Ihr Lächeln war schöner, als die Polizei erlaubte, und sie schenkte Red jedes Mal eines, wenn sich ihre Wege kreuzten. Eve dagegen war die Lustige, die kleine Schwester mit den langen blonden Zöpfen, die ständig unter Strom zu stehen schien. Sie flirtete gern. Und sie trug gern gepunktete Sachen und Schuhe, die überhaupt nicht dazu passten und Reds künstlerischen Geschmack beleidigten.

Wenn eine von den beiden vor fünf Wochen das Apartment Nr. 1D angemietet hätte, das wäre absolut okay gewesen. Aber nein – es musste Chloe sein. Es musste die Schwester sein, die ihm das Gefühl gab, ein ungehobeltes, gruseliges Monster zu sein. Es musste die hochnäsige Prinzessin sein, die ihn als gefährlich einstufte, nur wegen seiner Herkunft. Warum sie überhaupt hier wohnte, in einem erbarmungslos mittelmäßigen Apartmentblock, war ihm ein verdammtes Rätsel. Offenbar war sie doch wohlhabend. Seit Pippa erkannte er den gewissen Touch einer reichen Frau aus meilenweiter Entfernung.

Aber er würde jetzt nicht an Pippa denken. Da kam nie etwas Gutes bei heraus.

»Alles in Ordnung«, krächzte er. Er hatte Tränen in den Augen und blinzelte.

»Seht ihr?«, sagte Chloe schnell. »Alles in Ordnung. Gehen wir.«

Verdammt, sie machte ihn wütend. Diese Frau hatte ihm gerade die Luft abgeschnitten und trotzdem konnte sie nicht einmal das übliche Maß an Mitgefühl zeigen. Einfach unglaublich. »Wie schön, immer noch die Freundlichkeit in Person«, presste er hervor. »Solche Manieren lernt man wohl im Mädchenpensionat, was?«

Er bereute seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Sie war eine Mieterin. Er war Hausmeister, dem Schicksal – und seinem besten Freund − sei Dank. Er sollte unter allen Umständen höflich zu dieser Frau sein. Er hatte jedoch schon vor ein paar Wochen gemerkt, dass von seiner Gutmütigkeit, seiner guten Erziehung und seinem verdammten gesunden Menschenverstand nichts übrig blieb, wenn Chloe Brown in der Nähe war. Wirklich erstaunlich, dass sie sich noch nicht über ihn beschwert hatte.

Das war das Merkwürdigste an Chloe Brown. Sie blaffte ihn an, sie blickte auf ihn herab, aber sie beschwerte sich niemals über ihn. Er war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte.

Jetzt schleuderten ihre Augen Blitze hinter ihrer funkelnden blauen Brille. Red genoss den Anblick unter ästhetischen Gesichtspunkten und hasste sich dafür, ein klein wenig. Ganz oben auf seiner Liste der Dinge, die ihn an Chloe Brown ärgerten, war ihr verdammt schönes Gesicht. Es war von einer strahlenden, dekadenten, rokokoartigen Schönheit, bei der es ihn in den Fingern juckte, nach einem Stift oder einem Pinsel zu greifen. Es war einfach übertrieben schön: schimmernde dunkle Haut, geschwungene Brauen, die ihr einen leicht ironischen Ausdruck verliehen, ein Mund, der förmlich danach schrie, geküsst zu werden. Sie hatte kein Recht, so auszusehen. Absolut nicht.

Aber er wusste, er würde eine Million Brauntöne mischen, um sie zu malen, einen Hauch von Ultramarin beifügen für die eckigen Rahmen ihrer Brillengläser. Das volle kastanienbraune Haar, das sich auf ihrem Kopf türmte? Das würde er anders malen. Manchmal starrte er blicklos vor sich hin und dachte darüber nach, wie dieses Haar ihr Gesicht einrahmen würde. Meistens jedoch dachte er darüber nach, dass er überhaupt nicht an sie denken sollte. Absolut überhaupt nicht.

Jedes Wort war wie ein Pistolenschuss, als sie sagte: »Es tut mir schrecklich leid, Redford.« Ihr Bedauern schien so echt zu sein wie das einer Wespe nach einem Stich. Wie immer sagte ihr Mund etwas ganz anderes als ihr tödlicher Blick. Red war eigentlich ein umgänglicher Typ, aber er wusste, in diesem Augenblick war sein Blick genauso tödlich.

»Keine Problem«, log er. »Mein Fehler.«

Sie hob eine Schulter und er wusste aus Erfahrung, das bedeutete in der Welt der Schönen und Reichen so viel wie »Was soll’s«. Ohne ein weiteres Wort ging sie davon, denn ihre verbalen Auseinandersetzungen waren eigentlich nie sehr verbal, abgesehen von dem einen oder anderen passiv-aggressiven Schlagabtausch ganz am Anfang.

Red sah zu, wie sie sich um die eigene Achse drehte, sodass ihr damenhafter Rock um ihre Waden wirbelte. Er sah zu, wie ihre Schwestern ihr folgten, und winkte kurz, als sie ihm besorgte Blicke über die Schulter zuwarfen. Er hörte, wie ihre Schritte immer leiser wurden.

Schließlich riss er sich zusammen, ging hinauf zu Mrs. Conrad und aß ihren grässlichen Gemüseauflauf.

Und er dachte nicht mehr an Chloe Brown. Kein. Einziges. Mal.

Manche Leute fänden es wohl lächerlich, eine Liste von Vorsätzen für ein neues Leben aufzustellen, nur weil man dem Tod auf Sichtweite nah gekommen war, aber Chloe war zu dem Schluss gekommen, dass es diesen Leuten an Fantasie und Begeisterung für methodisches Planen mangelte. Sie seufzte zufrieden und ließ sich noch etwas tiefer in den Kissenberg auf ihrem Sofa sinken. Ihr Rücken quälte sie heute besonders, ihre Beine fühlten sich taub an und schmerzten gleichzeitig, aber das alles konnte ihrem Seelenfrieden nichts anhaben. Als sie vor einigen Wochen ihre Vorsätze zu Papier gebracht hatte, hatte der erste »von zu Hause ausziehen« gelautet. Dieses Ziel hatte sie erreicht und abgesehen von diesem unmöglichen Hausmeister war alles bestens.

Durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen in ihrem Wohnzimmer drangen die Sonnenstrahlen eines Septemberabends. Der warme, orangegoldene Schimmer bildete einen Kontrast zu den dunklen Umrissen der westlichen Hälfte ihres Wohnblocks und machte den Innenhof zu einem friedlichen Ort voll schattiger Ecken und Winkel. Ihre Wohnung hatte eine ähnlich wohltuende Wirkung auf ihre Nerven: Es war angenehm kühl hier und still, bis auf das leise Summen ihres Laptops und das gleichmäßige Tippen ihrer Finger auf der Tastatur.

Seelenfrieden, Freiheit, Alleinsein. Das brauchte Chloe wie die Luft zum Atmen. Sie atmete tief durch. Es war, mit einem Wort, das Paradies.

Es war auch der Augenblick, in dem ihr Handy die Stille zerriss. Vorbei war es mit ihrer Gelassenheit.

»Oh, verdammt noch mal.« Chloe gab sich genau drei Sekunden, um genervt zu sein, bevor sie nach dem Gerät griff und die Nummer auf dem Display las. Eve. Ihre kleine Schwester. Was bedeutete, dass sie nicht einfach den Klingelton abstellen und ihr Handy in eine Schublade legen konnte.

Zu dumm.

Sie tippte auf »annehmen«. »Ich arbeite gerade.«

»Tja, so geht das aber nicht«, erwiderte Eve gut gelaunt. »Gut, dass ich anrufe.«

Chloe war gerne grantig – Griesgrämigkeit stand auf der Liste ihrer Hobbys ganz oben –, andererseits liebte sie einfach alles an ihrer albernen jüngsten Schwester. Sie kämpfte gegen ein Grinsen an. »Was willst du, Evie-Schatz?«

»Oh, ich bin ja so froh, dass du fragst.«

O nein. Chloe kannte diesen Ton, er bedeutete nie etwas Gutes. »Weißt du, jedes Mal, wenn ich deine Anrufe beantworte, merke ich sehr schnell, dass ich es bereue.« Sie drückte auf »Lautsprecher«, legte das Handy auf die Armlehne des Sofas und richtete den Blick wieder auf ihren Laptop, den sie auf den Knien balancierte.

»Was für ein Blödsinn. Du liebst mich. Ich bin effizient liebenswert.«

»Du meinst ›effektiv‹, Schätzchen?«

»Nein«, sagte Eve. »Hör zu, ich gebe dir jetzt ein paar Anweisungen. Denk nicht drüber nach, widersprich nicht, tu es einfach.«

Hörte sich gut an.

»In der Hockley-Bar fängt in einer Stunde ein Karaoke-Abend an – nein, Chloe, hör auf zu stöhnen. Nicht nachdenken, nicht widersprechen, einfach machen, erinnerst du dich? Ich will, dass du aufstehst, ein bisschen Lippenstift auflegst …«

»Zu spät«, unterbrach Chloe sie trocken. »Hab schon meinen Pyjama an. Ich bin bettfertig.«

»Um halb neun?« Eves Begeisterung fiel in sich zusammen und verwandelte sich in zögernde Besorgtheit. »Du hast doch nicht gerade einen Anfall, oder?«

Die Frage rührte Chloe. »Nein, mein Schatz.«

Die meisten Leute hatten ein Problem damit, zu akzeptieren, dass Chloe krank war. Fibromyalgie und chronische Schmerzen waren unsichtbare Symptome, man konnte sie also leicht abtun. Eve war gesund, würde also niemals Chloes abgrundtiefe Müdigkeit empfinden, ihre lähmenden Kopfschmerzen oder die blitzartig einschießenden Gelenkschmerzen, die Fieberanfälle und die Verwirrtheit, die unzähligen Nebenwirken, verursacht durch zahllose Medikamente. Sie brauchte nicht Chloes Tränen zu sehen oder ihren Schmerz, um zu glauben, dass ihre Schwester es manchmal wirklich schwer hatte. Dani übrigens auch nicht. Sie verstanden Chloe.

»Bist du sicher?« Eve klang skeptisch. »Du warst nämlich gestern furchtbar unhöflich zu Red und das bedeutet meistens, dass …«

»Es ist nichts«, unterbrach Chloe sie rüde. Ihre Wangen brannten. Redford Morgan – die Liebenswürdigkeit in Person, der Mann, der jeden mochte, nur sie nicht. Andererseits gab es wenige Leute, die Chloe mochten. Sie drückte alle Gedanken an ihn sorgfältig zurück in den Käfig, in den sie gehörten. »Mir geht es gut. Wirklich.« Es war keine Lüge, nicht heute. Aber sie hätte nötigenfalls auch gelogen. Manchmal war familiäre Besorgnis allein schon ein unerträglich nervendes Symptom.

»Gut. Dann kannst du ja mitkommen zum Karaoke-Abend. Duette sind heute das Thema und meine sogenannte beste Freundin hat mich hängen lassen. Ich brauche ganz dringend einen großschwesterlichen Ersatz.«

»Leider ist mein Stundenplan voll.« Mit ein paar Klicks minimierte Chloe ein Fenster, maximierte ein anderes und suchte auf ihrem Kundenfragebogen nach dem Abschnitt über Testimonial Slideshows. Sie wusste nicht mehr genau, ob …

»Stundenplan?«, brummte Eve. »Ich dachte, du lebst nicht mehr nach Stundenplänen. Ich dachte, du hast ein neues Lebenskonzept.«

»Habe ich auch«, erwiderte Chloe gelassen. »Aber ich habe auch einen Job.« Aha. Sie fand die gesuchte Information und versuchte sie sich einzuprägen in der Hoffnung, dass sie sich nicht innerhalb der nächsten dreißig Sekunden in einem Erinnerungsnebel auflöste. Sie hatte an diesem Tag noch keine Medikamente eingenommen, ihr Kurzzeitgedächtnis sollte also noch einigermaßen zuverlässig funktionieren.

Sollte.

»Es ist Samstagabend«, quengelte Eve. »Du arbeitest doch freiberuflich. Von zu Hause.«

»Was auch der Grund dafür ist, dass ich diszipliniert sein muss. Frag doch Dani.«

»Dani singt wie ein Brüllaffe.«

»Aber sie hat eine gute Bühnenpräsenz«, argumentierte Chloe.

»Bühnenpräsenz kann nicht alles ausgleichen. Sie ist nun mal nicht Madonna, verflixt noch mal. Ich glaube nicht, dass du den Ernst der Situation erfasst hast, Chlo. Es ist nicht einfach ein normaler Karaoke-Abend. Es findet ein Wettbewerb statt.«

»Oh, wie toll.«

»Rate, was der Hauptgewinn ist?«

»Wie könnte ich?«, murmelte Chloe.

»Komm schon. Rate!«

»Sag es mir einfach. Ich platze vor Spannung.«

»Der Hauptgewinn sind …«, Eve zögerte es dramatisch heraus, »… Karten für Mariah Careys Christmas-Tour.«

»Karten für …?« Ach du lieber Gott. »Die brauchst du doch nicht zu gewinnen, Eve. Sag Gigi, dass sie sie dir besorgen soll.«

»Darum geht es doch nicht. Es geht um den Spaß! Du erinnerst dich? Spaß haben – das, was du nie erlebst.«

»Es mag ein Schock für dich sein, Liebes, aber die meisten Leute finden Karaoke nicht aufregend.«

»Na schön«, erwiderte Eve und gab nach. Sie klang sehr bedrückt, aber wie immer hellte sich ihre Stimmung rasch wieder auf. »Da wir gerade vom Spaßhaben reden … was macht deine Liste?«

Chloe seufzte und ließ den Kopf nach hinten in den Kissenberg sinken. Verflixte kleine Schwestern. Sie hätte keiner der beiden etwas von der Liste erzählen sollen, die sie verfasst hatte, nachdem sie dem Tod knapp entronnen war und aufgrund dieser Erfahrung eine Entscheidung getroffen hatte. Immer machten sie sich lustig über ihre guten Vorsätze in Form von Listen.

Nun, sie hatten eben keine Ahnung. Eine gute Planung war der Schlüssel zum Erfolg. Immerhin war es dieser Liste zu verdanken, dass ihre Grabrede nun schon sehr viel positiver ausfallen würde. Inzwischen konnte sie stolz für sich beanspruchen, dass im Fall ihres Todes in der Zeitung etwa Folgendes stehen würde:

Im ehrwürdigen Alter von einunddreißig zog Chloe aus ihrem Elternhaus aus und mietete sich eine bescheidene Wohnung, wie jeder normale Mensch. Sie stellte auch eine beeindruckende Liste von sieben Dingen auf, die ihr zu einem erfüllten Leben verhelfen sollten. Zwar gelang es ihr bis zu ihrem Tod nicht mehr, alle Punkte auf dieser Liste zu verwirklichen, aber allein deren Existenz beweist, dass sie schon an einem besseren, weniger langweiligen Ort war. Wir grüßen dich, Chloe Brown. Du bist dem Ruf des Universums gefolgt.

Nicht ideal, aber zufriedenstellend. Noch hatte sie ihr Leben nicht verändert, aber sie war im Begriff, es zu tun. Sie war eine Raupe, eingehüllt in einen vom Universum geliehenen Kokon. Bald würde sie als schöner Schmetterling schlüpfen, der immer nur coole und großartige Dinge tat, ganz gleich, ob die zuvor geplant waren oder nicht. Sie musste einfach nur dieser Liste folgen.

Leider war Eve weder so geduldig noch so zuversichtlich wie sie. »Na?«, fragte sie, als Chloe nicht antwortete. »Hast du schon etwas abgehakt?«

»Ich bin ausgezogen.«

»Ja, das habe ich bemerkt.« Eve schnaubte. »Weißt du, dass ich die letzte der Brown-Schwestern bin, die noch zu Hause wohnt?«

»Tatsächlich? Ich hatte keine Ahnung. Ich dachte, es würden noch ein paar von uns durch diese Hallen wandeln.«

»Ach, halt den Mund.«

»Vielleicht solltest du auch ausziehen.«

»Noch nicht. Ich spare immer noch mein monatliches Stipendium«, erwiderte Eve ausweichend. Der Himmel wusste, wozu. Chloe wagte nicht zu fragen, für den Fall, dass die Antwort lauten würde: Für eine diamantenbesetzte Geige, was dachtest du? »Aber du bist schon vor Wochen ausgezogen, Chlo. Auf deiner Liste stehen alle möglichen Sachen. Was davon hast du inzwischen in die Tat umgesetzt?«

Im Zweifelsfall besser schweigen – das war Chloes Motto.

»Ich hab’s gewusst.« Eve schniefte. »Du lässt mich hängen.«

»Ich lasse dich hängen?«

»Ja. Dani hat mit mir um fünfzig Pfund gewettet, dass du bis zum Jahresende deine Liste aufgeben würdest, aber ich …«

»Sie hat mit dir um was gewettet?«

»Ich war auf deiner Seite, wie es sich für eine brave, treue Schwester …«

»Was um alles in der Welt ist mit euch beiden los?«

»Und so zeigst du dich erkenntlich! Mit Apathie! Und um das Maß vollzumachen, hilfst du mir auch nicht mit den Mariah-Carey-Karten.«

»Hörst du jetzt endlich auf mit diesem Karaoke-Blödsinn?«, brummte Chloe genervt. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft. »Schätzchen, ich kann jetzt nicht mehr reden. Ich sitze wirklich an der Arbeit.«

»Also gut.« Eve seufzte. »Aber du wirst noch von mir hören, Chloe Sophia.«

»Lass das.«

»Ich werde nicht lockerlassen, bis du endlich aufhörst, so eine langweilige …«

Chloe legte das Handy weg.

Eine Sekunde später blinkte eine Meldung auf dem Display auf.

Eve:

Mit gespielter Entrüstung schüttelte Chloe den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Die suchmaschinenoptimierten Texte der örtlichen Restaurants, Friseursalons und anderen kleinen Geschäfte, für die Chloe arbeitete, würden sich nicht von alleine pflegen. Sie versank in der vertrauten mentalen Routine des Nachforschens und Aktualisierens … besser gesagt, sie versuchte es. Doch mit ihrer Konzentration war es vorbei. Nach fünf Minuten hielt sie inne und motzte das leere Zimmer an: »Dani hat fünfzig Pfund gewettet, dass ich meine Liste aufgebe? Lächerlich.«

Es war schon nach zehn, als sie mit den Fingern auf die Armlehne des Sofas trommelte und vor sich hin brummte: »Sie versteht einfach nichts von der Kunst listenbasierter Zielsetzung.« Mit der Tatsache, dass Dani Philologie studierte, hatte das alles nichts zu tun. Sie war einfach zu rebellisch, um zu begreifen, wie wichtig ein guter, solider Plan war.

Allerdings … es war tatsächlich eine Weile her, seit Chloe Bilanz gezogen hatte. Vielleicht war es wieder einmal Zeit.

Plötzlich stand ihr Laptop zugeklappt und verlassen im Wohnzimmer, denn sie war losgezogen, um das in der Nachttischschublade verborgene Notizbuch mit dem rosa Glitzereinband zu holen.

Chloe besaß viele Notizbücher, denn Chloe schrieb viele Listen. Ihr Gehirn war zu oft benebelt und lethargisch – irgendwie gebremst wegen Schmerzen oder wegen Schmerzmedikamenten (oder, an wirklich aufregenden Tagen, wegen beidem), als dass sie sich hundertprozentig darauf hätte verlassen können. Deshalb vertraute sie auf ihr sorgfältig organisiertes Erinnerungssystem.

Tägliche To-do-Listen, wöchentliche To-do-Listen, monatliche To-do-Listen, Medikamentenlisten, Einkaufslisten, eine Feinde-die-ich-zerstören-werde-Liste (die ziemlich alt war und eigentlich nur als Stimmungsaufheller fungierte), Kundenlisten, Geburtstagslisten und − ihr persönlicher Favorit – Wunschlisten. Wenn etwas organisiert, kategorisiert, geplant und ordentlich in einen der farbig markierten Abschnitte eines Notizbuchs eingetragen werden konnte, dann war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Chloe das getan hatte. Falls nicht, dann würde es nicht lange dauern, bis sie sich in einer Situation befand, die Mum als »schreckliches Durcheinander« bezeichnete. Chloe hatte keine Zeit für Durcheinander.

Das Notizbuch, das sie jetzt in der Hand hielt, enthielt nur eine einzige Liste und die war anders als alle anderen. Chloe schlug die erste Seite auf und fuhr mit dem Finger über die nüchternen Blockbuchstaben. Hier gab es keine bunten Schnörkel oder andere Verzierungen, denn als Chloe diese Seite gestaltete, hatte sie es wirklich ernst gemeint. Und das tat sie immer noch.

Dies war ihre »Liste für ein neues Leben«. Ja, es war ihr ziemlich ernst damit.

Was zu der Frage führte, weshalb die mit Häkchen zu versehenden Kästchen so bedauernswert leer waren.

Ihr Finger strich über den ersten Punkt auf der Liste. Wenigstens diesen Vorsatz hatte sie erfüllt: 1. Von zu Hause ausziehen. Sie lebte jetzt seit fünf Wochen unabhängig – wirklich unabhängig, denn sie budgetierte ihren Haushalt, Lebensmitteleinkäufe und Ähnliches selbst – und sie hatte sich noch nicht übernommen. Ihre Eltern waren erstaunt, ihre Schwestern beglückt, Gigi jodelte bei jeder Gelegenheit: »Hab ich’s doch gesagt!« Es war sehr befriedigend.

Weniger befriedigend waren die fünf nicht verwirklichten Vorsätze, die darunter aufgeführt waren.

2. Ausgehen und sich richtig betrinken

3. Motorrad fahren

4. Im Campingzelt übernachten

5. Sex haben ohne Beziehung

6. Die Welt nur mit Handgepäck bereisen

Ganz am Schluss stand eine Aufgabe, die sie besorgniserregend prompt erledigt hatte.

7. Etwas ganz Unartiges tun.

O ja, sie hatte etwas Unartiges getan. Nicht, dass sie jemals ihren Schwestern davon etwas erzählen könnte. Schon beim Gedanken daran wurden ihre Wangen heiß. Aber als sie mit ihrem Notizbuch ins Wohnzimmer ging, lenkten die Erinnerungen und das schlechte Gewissen ihren Blick, völlig gegen ihren Willen, in Richtung Fenster. Dem verbotenen Portal zu ihrer »Sünde«. Die Vorhänge waren immer noch geschlossen, so wie sie sie seit ihrer letzten Verfehlung hinterlassen hatte – und doch war da ein kleiner Spalt, durch den das Licht hindurchdrang.

Vielleicht sollte sie hingehen, die Vorhänge zuziehen und den Spalt völlig schließen, nur um sicher zu sein. Ja. Unbedingt. Sie schlich hinüber zu dem breiten Wohnzimmerfenster und hob die Hand, um genau das zu tun … aber irgendetwas klemmte. Bevor sie wusste, was sie tat, hatte sie den Vorhang etwas zur Seite gezogen und den Spalt vergrößert, anstatt ihn zu schließen. Ein schmaler Lichtstrahl fiel über den Innenhof in ihre Richtung und verschmolz mit den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Tu’s nicht. Tu’s nicht. Das gehört sich überhaupt nicht, es ist mehr als nur ein bisschen pervers und du machst damit alles noch schlimmer …

Aber ihre Augen taten, was sie wollten, nutzten die ungewöhnliche Helligkeit dieses Abends und blickten über den kleinen Innenhof hinweg durch ein gar nicht so weit entferntes Fenster und auf die Gestalt dahinter.

Redford Morgan war in seine Arbeit vertieft.

»Nennen Sie mich einfach Red«, hatte er schon vor Wochen zu ihr gesagt. Aber sie hatte es nicht getan. Sie konnte nicht. Das Wort war, wie alles, was mit ihm zu tun hatte, eine Überforderung für sie. Chloe konnte nicht gut mit Leuten wie ihm. Mit selbstbewussten Leuten, gut aussehenden Leuten, Leuten, denen das Lächeln leichtfiel und die von allen gemocht wurden und in sich ruhten. Die erinnerten Chloe an alles, was sie selbst nicht war, und an all die Freunde, die sich von ihr entfernt hatten. In der Gegenwart solcher Menschen kam sie sich dumm vor und sie wurde kratzbürstig und ablehnend und irrational. Sie verspannte sich innerlich so, dass sie am Ende nur noch blaffen oder stammeln konnte.

Normalerweise entschied sie sich fürs Blaffen.

Das Problem mit Redford war, dass er sie anscheinend immer in ihren schwächsten Momenten erwischte. Zum Beispiel, als eine von diesen Mama-Tussis Chloe im Innenhof in die Enge getrieben und gefragt hatte: »Ist das eine Perücke?«

Chloe, völlig perplex, hatte nach ihrem normalerweise zu einem braunen Dutt hochgesteckten Haar gefasst und sich gefragt, ob sie vielleicht versehentlich Danis platinblonde Perücke aufgesetzt hatte. »Äh …nein?«

Chloes verunsicherte Reaktion hatte die Tussi nicht sehr beeindruckt und diese hatte dann die Dinge selbst in die Hand genommen, also Chloes Haare gepackt und daran gezogen.

Aber hatte Redford dieses Desaster mitbekommen? Natürlich nicht. Er hatte auch nicht gehört, wie das schokoladenverschmierte Kind der Dame Chloe eine »fiese, hässliche Frau« genannt hatte, weil sie sich verteidigt hatte. Nein, er war aufgetreten wie ein Ritter in goldener Rüstung, gerade rechtzeitig, um zu hören, wie Chloe die Frau eine »Schande für die Menschheit« und das Kind einen »widerlichen Rotzbengel« genannt hatte, beides absolut zutreffende Bezeichnungen.

Redford hatte sie angestarrt, als wäre sie Cruella de Vil persönlich, und hatte der Tussi seine Schulter zum Ausweinen angeboten.

Und dann war da noch dieser unglückselige Vorfall bei den Briefkästen. War es Chloes Fehler, dass eine verrückte alte Dame namens Charlotte Brown direkt über ihr in 2D wohnte? Oder dass besagte alte Dame vergessen hatte, ihre Brille aufzusetzen, und aus Versehen in Chloes Briefkasten herumgestöbert und die Briefe darin geöffnet hatte? Nein. Nein, war es nicht. Es war auch nicht Chloes Fehler, dass sie sich, aufgebracht wegen dieses Verbrechens gegen ihre Intimsphäre, dazu hatte hinreißen lassen, die Thermoskanne mit ihrer morgendlichen Teeration in den Briefkasten der alten Dame zu leeren. Woher sollte sie auch wissen, dass die alte Dame Geburtstagskarten zu ihrem Siebzigsten von den Enkeln in Amerika erwartete? Das hatte sie natürlich nicht ahnen können. Sie war keine Hellseherin, verflixt noch mal.

All das hatte sie versucht, Redford zu erklären, doch er hatte sie nur überaus finster angeblickt und dann auch noch etwas wirklich Verletzendes gesagt – darin war er richtig gut, der Schuft –, da hatte sie es aufgegeben, sich zurechtfertigen. Überlegenes Schweigen war einfacher, besonders gegenüber Red. Er hatte sie damals geradezu vernichtet, also scheute sie jede Begegnung mit ihm wie die Pest. Tagsüber.

Aber abends schaute sie ihm manchmal beim Malen zu.

Er stand vor seinem Fenster, mit nacktem Oberkörper. Also war sie nicht nur eine Spionin, sondern auch eine Perverse. Aber es hatte für sie nichts mit Sex zu tun. Red war auch kaum attraktiv. Sie betrachtete ihn nicht als Objekt oder etwas in der Art. Aus der Entfernung, in der Dunkelheit, und ohne seine spitze Zunge erschien er Chloe wie ein Stück Poesie. Er hatte so etwas Authentisches, selbst wenn er sie finster anstarrte, vor allem aber, wenn er malte. Er wirkte aufrichtig und strahlte eine Verletzlichkeit aus, die sie faszinierte.

Chloe wusste, sie war aus Fleisch und Blut, genau wie er. Aber sie war nicht so lebendig wie er. Nicht im Entferntesten.

Redford wandte ihr sein Profil zu, während er konzentriert auf die Leinwand blickte. Manchmal malte er zögerlich, fast vorsichtig, manchmal blickte er mehr auf die Leinwand, als dass er sie berührte. Aber heute Abend war er wie ein Wirbelsturm, er tupfte und kleckste mit schnellen, flüssigen Bewegungen. Chloe konnte nicht sehen, woran er arbeitete, und das wollte sie auch gar nicht. Wichtig waren nur das leichte Auf und Ab seines Brustkorbs, wenn sich sein Atem beschleunigte, und die kleinen, schnellen Bewegungen seines Kopfes. Wie die eines Vogels. Faszinierend. Wichtig war nur er.

Sein langes Haar hing ihm übers Gesicht, ein kupfergoldener Vorhang, übersät von Lichtreflexen. Dieses Haar, das wusste sie, verbarg eine ausdrucksvolle Stirn, im Moment wahrscheinlich gerade gerunzelt vor Anspannung; eine markante Nase; einen sensiblen Mund, umgeben von blonden Bartstoppeln und stets zu einem Lächeln bereit. Chloe liebte es, die angespannte Konzentration auf seinem Gesicht zu sehen, während er malte, aber sie wusste, es war besser, wenn seine wilde Mähne das alles verdeckte. Wenn sie ihn nicht sehen konnte, dann sah er sie nämlich auch nicht. Außerdem musste sie nicht sein Gesicht sehen, um sich an seiner Vitalität zu berauschen. Diese kupferfarbene Mähne über seinen breiten Schultern, die Tattoos auf seiner hellen Haut waren genug.

Wenn jemand sie fragen würde, wie seine Tattoos aussahen, könnte sie die Bilder und Worte nicht beschreiben. Sie könnte nur etwas von schwarzen Linien und einzelnen farbigen Flecken sagen. Die halb verblichenen, die ganz leicht erhaben wirkten, und die anderen, die seinen Körper bedeckten wie ein Muster, das entstand, wenn Tinte sich mit Wasser vermischte. Sie würde davon reden, wie eigenartig es ihr schien, dass jemand absichtlich für etwas zu bluten bereit war, einfach weil er es so wollte. Sie würde davon reden, was für Gefühle das in ihr auslöste und wie sehr sie sich wünschte, etwas so sehr zu wollen, und zwar regelmäßig, dass sie am Ende genauso von Tattoos bedeckt wäre wie er.

Aber niemand würde sie fragen, es ging sie nämlich nichts an.

Das erste Mal, als sie zufällig mit dieser Aussicht konfrontiert worden war, hatte sie sich sofort weggedreht und die Lider zusammengepresst, während ihr Herz gepocht hatte, als wollte es ihr aus der Brust springen. Und sie hatte den Vorhang zugezogen. Ganz fest. Doch das Bild war vor ihrem geistigen Auge stehen geblieben und ihre Neugier war immer stärker geworden. Tagelang hatte sie sich Fragen gestellt: War er nackt? Nackt vor seinem Fenster? Und was hatte er in der Hand gehabt? Was hatte er da gemacht?

Sie hatte es drei Wochen ausgehalten, bevor sie erneut einen Blick gewagt hatte.

Beim zweiten Mal war sie zögernd, schockiert über ihre eigene Dreistigkeit im Dunkeln zum Fenster gegangen und hatte sich hinter dem fast geschlossenen Vorhang versteckt. Sie hatte gerade lange genug hindurchgespäht, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten: Er trug Jeans, nicht viel mehr. Er hielt einen Pinsel in der Hand: Natürlich, er malte. Dann hatte sie einen längeren Blick gewagt, gefesselt von dem Anblick. Danach hatte sie etwas Unartiges tun auf ihrer Liste abgehakt und versucht, sich gut zu fühlen, ohne schlechtes Gewissen. Es hatte nicht funktioniert.

Und dieses Mal? Das dritte Mal? Das letzte Mal, wie sie sich energisch ermahnte. Was war jetzt ihr Vorwand?

Es gab keinen. Ihr Verhalten war verachtenswert.

Er hielt inne, richtete sich auf und trat von der Leinwand zurück. Chloe sah zu, wie er den Pinsel ablegte und die Finger dehnte, als hätte er schon seit Stunden so gearbeitet. Sie war neidisch darauf, wie weit er sich antreiben konnte, wie lang er an einer Stelle stehen konnte, ohne dass sein Körper versagte. Oder ihn strafte. Angestachelt von diesem Neid bewegten ihre Hände sich wie von selbst, als sie den Vorhang ein kleines Stückchen weiter öffnete, sodass noch ein wenig mehr Licht ihr nächtliches Tun beleuchtete.

Red drehte sich plötzlich um. Er blickte aus dem Fenster.

Direkt zu ihr.

Aber sie war nicht mehr da, sie hatte den Vorhang wieder geschlossen und war herumgewirbelt, sodass sie mit dem Rücken an der Wand neben dem Fenster stand. Ihr Herz schlug so schnell und heftig, dass sie es fast schmerzhaft bis in die Kehle hinauf spürte. Ihre Atemzüge hörten sich an, als wäre sie eine Meile gerannt.

Er hatte sie nicht gesehen. Hatte sie nicht gesehen. Nein, hatte er nicht.

Und doch konnte sie nicht anders, als sich zu fragen: Falls doch, was würde er tun?

2. Kapitel

Warum sollte eine Frau, die Red geradezu hasste, den Abend damit verbringen, ihn durchs Fenster zu beobachten?

Er wusste es nicht. Es gab keine positiven Gründe. Nur negative, die etwas mit Fetischen zu tun hatten, mit Klassenunterschieden und mit dem Quatsch, den manche Leute als demütigend bezeichneten, aber er glaubte nicht, dass solche Gründe für Chloe Brown eine Bedeutung hatten. Nicht, weil sie es für unter ihrer Würde erachten würde, einen Mann zu begehren, auf den sie herabblickte, sondern weil sie nicht der Typ zu sein schien, der überhaupt jemanden begehrte. Es gab kein Verlangen ohne Verletzlichkeit. Chloe wirkte trotz ihres hübschen Äußeren so verletzlich wie ein tollwütiger Hund.

Vielleicht hatte er sich ja getäuscht. Vielleicht hatte sie ihn gar nicht beobachtet. Aber er wusste doch, was er gesehen hatte, oder? Volles dunkles Haar, hochgesteckt zu einem weichen Knoten; den hellen Schimmer ihrer blauen Brille; eine kurvige Gestalt in einem Pyjama mit rosa Nadelstreifen und einer endlosen Reihe von Knöpfen an der Vorderseite. Irgendwie niedlich. Immer hatte sie etwas mit Knöpfen an. Red wusste genau, wer in der Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs wohnte, und er wusste – er wusste –, dass er sie am Abend zuvor am Fenster gesehen hatte. Aber warum?

»Red«, fuhr ihn seine Mutter an. »Mach nicht so viel Lärm beim Schneiden. Du raubst mir den letzten Nerv.«

Die Ablenkung, so absurd sie auch war, wirkte erleichternd. Red hatte die ständige Wiederholung seiner eigenen Gedanken satt, sie bildeten einen trüben Fleck in seinem Gehirn. Er drehte sich zu seiner Mutter um, die an dem in die Ecke gezwängten Tisch direkt neben dem Fenster ihrer winzigen Küche hockte. »Willst du dich etwa über meine Arbeit beschweren, Frau? Wo ich doch extra hier bin, um dir dein Mittagessen zu kochen?«

»Werde nicht frech«, sagte sie und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. Sie war auf einem Auge völlig blind, aber das hinderte sie nicht daran, ihren Sohn mit Blicken aufzuspießen.

Er setzte eine unschuldige Miene auf. Sie schnaubte großmütig, drehte sich wieder zum Fenster um und schob die Vorhänge ein Stück weit auseinander. Reds Mutter herrschte mit strenger Hand über das Ende dieser Sackgasse und verbrachte den größten Teil ihrer Zeit damit, auf die Ankunft von Bittstellern zu warten.

Die aktuelle Bittstellerin war Shameeka Israel, eine Ärztin aus dem Queen’s Medical Centre. Wenn sie sonntagmittags mit ihrer Großtante, die drei Häuser die Straße runter wohnte, zum Mittagessen kam, wurde aus Dr. Israel »unsere Meeka« oder, alternativ, »Mausezähnchen«. Jetzt stand sie mit einem Topf Ochsenschwanzsuppe vor dem Fenster und sagte: »Hier, Ms. Morgan. Tantchen hat etwas gegen Ihre Erkältung gemacht.«

Mums strenger Blick wurde weicher, als sie die Stimme der Ärztin hörte. »Mausezähnchen, du bist so ein gutes Kind. Wann heiratest du meinen Redford?«

»Bald, Ms. Morgan. Nicht wahr, Red?«

Er blinzelte ihr durchs Fenster zu. »Abgemacht.«

Sie lächelte breit, sodass man die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen sah, stellte den Topf mit der Suppe auf die Fensterbank und verabschiedete sich. Als ihr Lexus aus der Parklücke ausscherte, zog Red rasch den Topf aus den grapschenden Händen seiner Mutter. Sie hatte bereits den Deckel gehoben, einen Finger eingetaucht und abgeleckt.

»He!«, schimpfte er. »Nicht, dass dir der Hunger vergeht. Ich mache doch Pistou-Suppe.«

»Was in Gottes Namen ist das?«

»Dachshoden. Gedämpft.«

Sie schnaubte und verzog angewidert ihr hageres Gesicht. »Na toll.« Mrs. Conrad war nicht die einzige Drama-Queen in Reds Leben. Wenn man seine Mum und Vik mit einrechnete, konnte er sich kaum vor ihnen retten.

Er wollte ihr gerade erklären, was wirklich die Bestandteile von Pistou-Suppe waren, als seine Mum sich aus dem Fenster beugte. Ihre Lautstärke machte jetzt fast einem Flugzeug. Konkurrenz. »He, Mike! Ich kann dich sehen, du Mistkerl. Komm gefälligst her.«

Mike war im Wesentlichen so etwas wie Mums nichtsnutziger fester Freund und die beiden flirteten auf diese Art miteinander. Red stellte sich an den Herd, rührte in seiner Pistou-Suppe und überhörte geflissentlich, was Mike zurückbrüllte. Der Kerl war in den Siebzigern, soff wie ein Loch und tauchte jeden Nachmittag in Betfair auf, pünktlich wie ein Uhrwerk. Red fand das nicht gut.

Nicht, dass er irgendetwas dagegen sagen konnte. Mum hatte ihn vor seiner letzten Freundin Pippa gewarnt und er hatte sie fröhlich ignoriert, bis zum bitterbösen Ende. Er war nicht gerade ein Experte, was Beziehungen anging. Aber er würde nicht mehr an Pippa oder an London oder an seine zahllosen Fehler denken, denn das machte ihn nur wütend. Red hasste es, wütend zu sein. Heiter und gelassen zu sein ließ sich eher mit seinem persönlichen Rhythmus vereinbaren.

Als er nach einem ordentlichen Mittagessen die Teller abräumte und gerade im Begriff war, sein Gleichgewicht wiederzufinden, brachte Mum das für ihn kritischste Thema zur Sprache, und zwar mit dem Feingefühl eines tobenden Nashorns.

»Inzwischen ein paar Bilder verkauft?«

Ah. »Noch nicht«, erwiderte Red ruhig. Ein wenig zu ruhig, aber Mum schien das nicht aufzufallen.

»Menschenskind. Du machst jetzt seit Jahren nichts Sinnvolles mehr.«

Seit Jahren? »Es sind erst achtzehn Monate.«

»Verbessere nicht deine Mutter.«

Seine endlose Geduld wurde wirklich nicht geschätzt. Vielleicht sollte er sich selbst einen Preis verleihen. Dem Mann, auf den sich alle stützen, Redford Thomas Morgan, in Anerkennung seiner Ausdauer angesichts völlig sinnloser Fragen über Kunst. Oder so ähnlich.

»Du kannst dir nicht von dieser ekelhaften reichen Tussi die Karriere zerstören lassen«, redete Mum weiter.

Zu spät. Red spritzte eine großzügige Menge Spülmittel in die Schüssel.

»Jetzt gib nicht den Schweigsamen, Redford. Antworte mir. Was treibst du so? Du arbeitest doch, oder?«

»Ja.« Er seufzte, denn wenn er nicht irgendetwas sagte, würde sie nicht lockerlassen, bis ihm die Ohren bluteten. »Hauptsächlich als Freelancer. Illustrationen. Ein Portfolio aufbauen.« Wieder einmal. »Hab gerade Tuschezeichnungen von einem Gehirn und einer Flasche Portwein fertig.«

Mum blickte ihn an, als sei ihm gerade der Kopf von den Schultern gefallen.

»Lifestyle-Magazin«, erklärte er. »Ein Artikel über erektile Dysfunktion.«

Sie schnaubte und drehte sich vollständig vom Fenster weg, um ihn mit ihrem intakten Auge zu durchbohren. Es funkelte skeptisch hinter ihrer getönten Brille. »Schon als Junge hast du Zeichnungen für Zeitschriften gemacht. Worauf wartest du? Verkauf wieder Bilder, verdammt noch mal. Du hast doch wieder welche gemalt, oder?«

O ja. Er hatte welche gemalt. Er hatte so besessen gemalt wie immer und manches war sogar nicht schlecht. Aber es war anders. Es war anders und er war anders und das, was er wusste, war anders, und nach all den falschen Entscheidungen, die er getroffen hatte …

Tja, Red hatte jede Menge Kunstwerke zu verkaufen. Aber bis jetzt hatte er nicht den Arsch in der Hose gehabt, um sie auch nur einer Menschenseele zu zeigen. Jedes Mal, wenn er es in Erwägung zog, rief ihm eine vertraute, schneidend klare Stimme gewisse Dinge in Erinnerung: Du gibst dir ja solche Mühe, Red, es ist einfach erbärmlich. Finde dich damit ab, Schätzchen. Du warst ein Niemand vor mir und du wirst ein Niemand sein nach mir.

Chloe Browns kristallklare Artikulation hatte nichts gemein mit der von Pippa Aimes-Baxter. Und warum, verdammt, dachte er wieder an Chloe?

»Willst du ewig Wohnungen vermieten?«, wollte Mum wissen.

Red schüttelte abrupt den Kopf wie ein Hund und verscheuchte die unwillkommenen Erinnerungen. »Vik ist der Vermieter, Mum. Ich bin sein Hausmeister.«

»Du solltest dir von Vik eine Scheibe abschneiden, finde ich. Nichts und niemand kann diesen Jungen aufhalten.«

Das stimmte. Vik Anand war nicht nur Reds bester Freund, sondern auch ein kleiner Immobilienmogul, der Red den Hausmeisterjob gegeben hatte, nach … nun ja. Nach Pippa. Red war nicht direkt dafür qualifiziert, aber bis jetzt hatte er noch nichts vermasselt, und er war nicht schlecht als Klempner, nicht schlecht als Elektriker, sehr gut als Maler und Tapezierer. Harte Arbeit schreckte ihn nicht ab.

Der Papierkram war nicht sein Ding, aber er tat sein Bestes.

Uuuund er suchte schon wieder nach Ausflüchten.

»Du hast recht«, sagte er. Er schrubbte gerade einen Soßentopf und blinzelte, als ihm das Haar in die Augen fiel. Es war, als würde er bei Sonnenuntergang zwischen hohen, vergilbten Grashalmen hindurchblicken. Seine Finger wurden ganz rot in dem fast kochend heißen, schäumenden Wasser und die MUM-Tätowierung auf seinen Fingerknöcheln trat noch deutlicher hervor. Jeder einzelne Buchstabe befand sich genau über einem der Silberringe von seinem Großvater. Dieses Tattoo war nicht gerade die gescheiteste Entscheidung seiner Teenagerzeit gewesen, aber an der Stimmung hatte sich nichts geändert: Red liebte seine Mutter wie verrückt. Er sah hinüber zu ihr und wiederholte: »Du hast absolut recht. Morgen früh kümmere ich mich ernsthaft darum. Fange an zu planen. Mache mir Gedanken über eine neue Website.«

Sie nickte, drehte sich wieder zum Fenster um und wechselte das Thema. Sie fing an, über Mrs. Poplins dummen Neffen zu tratschen, der doch tatsächlich das Mädchen aus dem Laden an der Ecke geschwängert habe, dem ein Schneidezahn fehle. War es denn zu glauben?

Red machte jeweils an den richtigen Stellen »hm« und überlegte, was er tun könnte, damit Kirsty Morgan stolz wäre. Er beendete seinen Besuch, indem er seine Mutter auf beide Wangen küsste und versprach, falls möglich im Lauf der Woche wieder vorbeizukommen. Dann setzte er seinen Helm auf, zog die Lederjacke an, schwang sich aufs Motorrad und sauste nach Hause zu dem Apartmentblock, der seine Rettung war und ihm als Vorwand für alles Mögliche diente.

Er war in keiner Weise vorbereitet auf das Schauspiel, das sich ihm dort bot.

3. Kapitel

Zu Fuß gehen war gut für Herz und Kreislauf, reduzierte drastisch das Brustkrebsrisiko und ließ sich als relativ gemäßigte sportliche Betätigung einordnen. Nichtsdestoweniger, und trotz der New-Balance-Walkingschuhe, die Chloe extra angeschafft hatte, brachten ihre Knie sie um.

»Du«, raunzte sie den Gehweg unter ihren Füßen an, »bist ein verdammter Mistkerl.«

Der Gehweg gab keine Antwort. Wie kleinlich von ihm. Wenn er den Nerv hatte, ihre Knochen bei jedem Schritt durchzuschütteln, sollte er auch imstande sein, seine verdammte Sturheit zu rechtfertigen.

Andererseits war Chloe vielleicht selbst schuld, dass es ihr so schlecht ging. Sie hatte am Morgen ihre Schmerzmittel weggelassen, weil sie sich so dynamisch gefühlt hatte. Sie hätte wohl besser nicht die letzten siebenundzwanzig Minuten damit verbracht, sich im Freien herumzutreiben, die frische Herbstluft einzusaugen und sich härter als sonst anzutreiben. Ganz schön blöde, im Nachhinein.