Klassischer Liberalismus - Helmut Krebs - E-Book

Klassischer Liberalismus E-Book

Helmut Krebs

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Beschreibung

Vom Wert des klassischen Liberalismus zeugt das Kompendium herausragender Denker, die in der Achsenzeit politischer Philosophie die Staatsfrage stellten. Gedankliche Klarheit, zeitlose Erkenntnisse sowie heute verlorene Werte und Prinzipien zeichnen ihre Schriften aus. Der Band legt das staatstheoretische Fundament des Liberalismus frei. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Aufgabe und Begrenzung des Staates. Angesichts der strukturellen Krise der EU und der Nationalstaaten sowie des politischen Liberalismus ist eine Staatsdebatte überfällig. Die Lektüre erweitert den Horizont: David Hume, John Locke und Immanuel Kant, Wilhelm von Humboldt und Claude-Fréderic Bastiat, gezielt ausgewählt auch Jeremy Bentham und vor allem Ludwig von Mises haben uns Wegweisendes zu sagen. Ein Essay über heute legitime Staatsausgaben ergänzt die Rekonstruktion klassisch liberaler Denker.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

David Hume – Begründer der klassisch-liberalen Staatslehre

I. Kooperation

II. Konventionen

III. Recht

IV. Gesellschaftsordnungen

John Locke – Begründer der modernen Staatslehre

Die Rechtfertigung staatlicher Macht

Die Frage des Souveräns

Die Begründung der Volkssouveränität

Das Naturrechtsmodell

Die Initialisierung der staatlichen Macht

Die Bindung der staatlichen Macht an das Allgemeinwohl

Die Bindung der Staatsmacht an das Gemeinwohl

Die Gefährdung des Rechts durch die menschliche Natur

Die Technik der Verhinderung absoluter Staatsmacht

Widerstandsrecht und Revolution

Lockes Rolle als Vorläufer und Begründer liberaler Ideen

Die Grenzen von Lockes Argumentation im Vergleich zu Hume

Immanuel Kant – Kritik und Neubegründung

I. Der Vernunftbegriff des Rechts

II. Das Privatrecht: Eigentum

III. Das öffentliche Recht: die Begründung des Rechtsstaates

IV. Völkerbund

Wilhelm von Humboldt – die Grenzen der Wirksamkeit des Staates

Einleitung

Die Liberalen in Deutschland Ende des achtzehnten Jahrhunderts

Programm zur Begrenzung des Umfangs staatlichen Wirkens

Absage an den Wohlfahrtsstaat

Absage an den moralischen Staat – gegen Einmischung in Erziehung, Religion und Sitten

Für die Freiheit der Wissenschaft, der Rede und der Künste

Die Aufgaben des Staates

Gesellschaft und Staat

Nationalanstalten

Humboldt, ein Denker an der Zeitwende.

Claude-Frédéric Bastiat – Kämpfer gegen einen neuen Absolutismus

Kampf gegen den Interventionismus

Die Staatsphilosophie Bastiats

Was ist das Gesetz?

Das Recht auf Verteidigung und die Grenzen der Gewalt

Die Wirklichkeit des Staates

Die Perversion des Gesetzes

Primitiver Egoismus

Fehlgeleitete Philanthropie

Die Ideengeschichte des Etatismus

Freiheit

Jeremy Bentham – Utilitarismus und die liberale Moralphilosophie

Einführung

Gesinnungsethik

Verantwortungsethik

Der geschichtliche Hintergrund des Utilitarismus.

Ideengeschichtliche Wurzeln des Utilitarismus

Benthams Ausgangsfrage

Die Schwierigkeiten des Bentham'schen Systems

Kritische Analyse der moralphilosophischen Hauptschrift

Zusammenfassung und Kritik

Benthams Stellung im Liberalismus

Ludwig von Mises – Die Vision der Freiheit

I. Einführung

II. Individualismus – ein Fundament der Freiheitslehre

III. Das Konzept der Gesellschaft

IV. Die Rechtsordnung

V. Die Rolle des Staates

VI. Die Potenz der spontanen Ordnung

VII. Die Umkehrung des geschichtlichen Trends

Anhang: Die Interventionsspirale am Beispiel der Milchpreisfixierung

Legitime Staatsausgaben

Legitim

Aufgaben

Addendum: vermeintliche Kernaufgaben des Staates, die keine sind

Ausgaben

Fazit: Legitime Staatsausgaben

Der Autor

Der Herausgeber

Forum Freie Gesellschaft

Vorwort

Vom Wert des klassischen Liberalismus zeugt das Kompendium herausragender Denker, die in der Achsenzeit politischer Philosophie die Staatsfrage stellten. Gedankliche Klarheit, zeitlose Erkenntnisse sowie heute erodierte Werte und Prinzipien zeichnen ihre Schriften aus. Helmut Krebs hat sich der ideengeschichtlich bedeutsamen und politisch drängenden Aufgabe gestellt, das staatstheoretische Fundament des Liberalismus freizulegen – mit lehrreichen Ergebnissen.

Beispielhaft kommt das Anliegen von Helmut Krebs in seiner persönlichen Schilderung zum Ausdruck, mit der er in einem elektronischen Brief die aktuelle Herausforderung umriss: Er würde gerne an einer Rekonstruktion der theoretischen Grundlagen des Liberalismus mitarbeiten, die einer breiten ideologischen und sozialen Bewegung für Freiheit dienen und diese einen könne. Das Lager der Freiheitsfreunde sei in Extreme zerrissen, zwischen einem politisch angepassten Bindestrichliberalismus einerseits und einem radikalen Anarchismus einerseits. Keine dieser beiden Richtungen könne erfolgreich im Sinne des Liberalismus sein. Zunächst müssten die gewaltigen geistigen Traditionen Deutschlands und Europas ins Spiel gebracht werden. Wer für die Abschaffung des Staates eintrete, würde den Faden abschneiden, an dem Jahrhunderte lang die besten Köpfe gesponnen hätten. Und Helmut Krebs fuhr fort: „Auf meinem Lesetischchen liegt ein Kompendium Wilhelm von Humboldts. Insbesondere das Werk von Ludwig von Mises kann dazu dienen gegen alle Gefahren der Machtkorrumpierung zu immunisieren. Er war der einzige Theoretiker von Belang, der sich nicht in das Fahrwasser des Ordoliberalismus begeben hat.“

Dementsprechend müsse eine Renaissance des liberalen Gedankens von der Erkenntnis ihren Ausgang nehmen, dass das Konzept des Ordoliberalismus gescheitert sei und notwendig scheitern musste, weil der Staat niemals ein neutraler Sachwalter des Allgemeinwohls sein könne. „Er fällt in die Hände von Gruppen, die ihre Sonderinteressen verfolgen und entwickelt schließlich ein systemisches Eigeninteresse, nämlich immer mehr zu regulieren und seinen Apparat immer weiter auszubauen“, konstatiert Helmut Krebs treffend, um griffig abzuschließen: „Die steigende Staatsquote bildet die Schleimspur dieses unausweichlichen Vorganges.“

Im Mittelpunkt der nachfolgenden Rekonstruktionen der maßgeblichen Erkenntnisse klassisch liberaler Staatstheoretiker steht die Frage nach der Aufgabe und Begrenzung des Staates; sie steht seit Jahren angesichts der strukturellen Krise der EU und der Nationalstaaten auf der Tagesordnung, ohne aufgerufen zu werden. Die Debatten bleiben weitgehend verengt auf Märkte und deren Regulierung sowie einen Staat, der sich als vermeintlich neutraler Schiedsrichter, Spielgestalter und Coach dem Kollektiv annimmt. Über die Grenzen der Zuständigkeit des Staates wird indessen kaum oder nur in kundigen Kreisen ohne viel Aufsehen in der Öffentlichkeit diskutiert. Das kann sich nach der Lektüre dieses Bandes ändern, denn David Hume, John Locke und Immanuel Kant, Wilhelm von Humboldt und Claude-Frédéric Bastiat, gezielt ausgewählt auch Jeremy Bentham und vor allem Ludwig von Mises haben uns heute viel Wegweisendes zu sagen.

Ludwig von Mises ist der „Visionär der Freiheit“, wie Helmut Krebs aufzeigt, der an die Erkenntnisse von Hume, Kant, Humboldt und Bastiat anknüpft, sie weiterführt und systematisch zu etwas Neuartigem, Miseanischem zusammenführt. Der herausragende Kopf der Österreichischen Schule insgesamt hat einen evolutorischen und pragmatischen Liberalismus neu begründet, der gerade wegen der ihm eigenen kompromisslosen Konsequenz für eine zweite Aufklärung Europas geeignet ist. Und die frohe Botschaft lautet, dass dafür keine Revolution erforderlich ist, sondern jeder Schritt, der die Freiheit des Einzelnen erweitert, ein Schritt zu mehr Wohlstand und Selbstbestimmung ist. Es ist kein geringer Verdienst von Helmut Krebs, das Gedankengebäude quellennah herausgearbeitet zu haben.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre – vielleicht mögen Sie sich mit dem Band zurückziehen und über das Gelesene nachdenken. Sobald der Wert der besseren Ideen Zugang zu möglichst vielen klugen Köpfen gefunden hat, ist ein wichtiger Anfang gemacht, um Freiheit, Recht und Einigkeit (über das Wesentliche) wieder mehr Geltung zu verschaffen. Eine Fortsetzung mit weiteren Autoren in der kontinuierlich wachsenden Reihe freiheitlicher Gegenwartspublizistik für jedermann ist geplant.

Berlin, im Oktober 2014

Michael von Prollius

David Hume – Begründer der klassisch-liberalen Staatslehre

David Hume (1711–1776) konstruiert seine politische Lehre, indem er drei Ebenen menschlichen Handelns unterscheidet, die sachlogisch aufeinander aufbauen. Die Grundfrage der Moral lautet: Wie ermöglicht die durchgängige Selbstsüchtigkeit (T 486 / 313 / II 230) des Menschen Kooperation?

„Die Selbstsüchtigkeit des Menschen lebt vom Missverhältnis zwischen den Gütern, über die er verfügt, und seinen Bedürfnissen.“ (T 495 / 318 / Buch II 238)

„Da jeder Mensch sich selbst mehr liebt als irgend eine andere Person, wird er natürlicherweise dazu getrieben, seine Erwerbungen so weit auszudehnen wie möglich; und nichts kann ihn in dieser Neigung einschränken als Überlegung und Erfahrung, die ihn lehren, welche gefährlichen Folgen solche Freizügigkeit hat und dass sie eine völlige Auflösung der Gesellschaft nach sich ziehen muss.“ (Essays 480 / 316)

Der Mensch ist ein Mängelwesen, ein bedürftiges und schwaches Wesen.

„Unter allen Tieren, die den Erdball bevölkern, gibt es keines, gegen das die Natur auf den ersten Blick grausam verfahren zu sein scheint; nur gegen den Menschen. Wie zahllos sind die Bedürfnisse und notwendigen Mittel, die sie ihm zur Befriedigung derselben gewährt hat.“ (T Buch III, 2. Teil, 2. Abschn., Der Ursprung von Rechtsordnung und Eigentum, S. 564)

Darum kann er nicht auf sich allein gestellt leben, mindestens aber sehr viel schlechter als in Gesellschaft.

I. Kooperation

Der Mensch ist in der Lage, die Befriedigung seiner Bedürfnisse durch gesellschaftliche Zusammenarbeit erheblich zu verbessern und den Nutzen der Kooperation zu erkennen. Die Zusammenarbeit schließt die Aufgabe von Unabhängigkeit und die Einbuße von Freiheitsgraden mit ein. Die Kooperation droht aber immer wieder am Egoismus der Menschen zu zerbrechen. Die Frage ist, wie sie auf Dauer erhalten werden kann.

II. Konventionen

In der Zusammenarbeit mit anderen bilden sich Konventionen heraus. Eine Konvention

„ist nichts weiter als ein allgemein geteiltes Verständnis gemeinsamer Interessen, das alle Mitglieder der Gesellschaft einander zum Ausdruck bringen und das sie bewegt, ihr Verhalten gewissen Regeln zu unterwerfen. Ich sehe, dass es in meinem Interesse ist, einen anderen im Besitz seiner Güter zu lassen, wenn dafür gesorgt ist, das er in derselben Weise mir gegenüber handeln wird. Ihm ist bewusst, dass eine gleiche Regulierung seines Verhaltens in seinem Interessen ist. Wenn nun dieses gemeinsame Interessenverständnis [common sense of interest] für beide Seiten deutlich zum Ausdruck kommt und beiden Seiten bekannt ist, dann erzeugt es entsprechende Entscheidungen und ein entsprechendes Verhalten. Und das mag mit Fug und Recht eine Konvention oder ein Einvernehmen zwischen uns heißen, obwohl dabei keinerlei Versprechen eingeschaltet ist. Denn die Handlungen eines jeden von uns sind auf die Handlungen des anderen bezogen und geschehen unter der Annahme, dass auch der andere etwas Bestimmtes tun wird.“ (T 490 / 314 f / II 233; vgl. auch T 498 / 319 / II 242)

Konventionen stellen Erfahrungswerte dar und begründen die Möglichkeit der Zusammenarbeit während der Zeit der Zusammenarbeit. Es sind drei Konventionen wirksam:

Anerkennung des

Eigentums

aller beteiligten Individuen, die sich aus der Tatsache ergibt, dass erworbene Güter geraubt werden können.

Anerkennung des Eigentums nach einer Eigentumsübertragung oder Anerkennung der Gültigkeit von

Tauschakten

.

Verlässlichkeit der

Vertragserfüllung

oder Einhaltung von Absprachen.

„Wer sieht zum Beispiel nicht, dass alles, was durch die Geschicklichkeit oder den Fleiß eines Menschen erzeugt oder vervollkommnet wurde, ihm für immer gehören sollte, um so nützliche Gewohnheiten und Fertigkeiten zu ermutigen? Dass sich das Eigentum auch auf Kinder und Verwandte vererben sollte, um demselben nützlichen Zweck zu dienen? Dass es durch Vereinbarung übertragen werden darf, um den für die menschliche Gesellschaft so förderlichen Handel und Verkehr zu schaffen? Und dass alle Verträge und Versprechungen sorgfältig erfüllt werden sollten, um den Glauben der Menschen aneinander und wechselseitiges Vertrauen zu gewährleisten, wodurch das allgemeine Interesse der Menschheit so sehr gefördert wird?“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 115)

Doch auch eine Gesellschaft, die Konventionen pflegt, ist gegen Verletzungen der konventionellen Werte ungeschützt. Daher schließt sich die Frage an, wie kann die Gültigkeit von Konventionen auf Dauer sichergestellt, also garantiert werden. Zunächst werden situative Lösungen entwickelt. Die Individuen zeigen ihre Kooperations-bereitschaft an. Die Gültigkeit der Konventionen wird durch Symbolhandlungen bekräftigt.

„Es ist offensichtlich, dass der Wille oder die Zustimmung allein niemals Eigentum überträgt noch ein Versprechen verbindlich macht (denn für beide gilt dieselbe Begründung), sondern der Wille muss durch Worte und Zeichen ausgedrückt werden, um einem Menschen eine Verpflichtung aufzuerlegen. Sobald der Ausdruck eingeführt wurde, um als Zeichen des Willens zu dienen, wird er bald zum wichtigsten Teil des Versprechens; auch wird jemand dadurch nicht weniger an sein Wort gebunden, wenn er insgeheim seiner Absicht eine andere Richtung gibt und innerlich seine Zustimmung vorenthält.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 120, Fußnote)

Doch muss die Gültigkeit der Verträge über die Situation hinaus und schon vorher glaubhaft sein. Die Notwendigkeit der Bekräftigung und Beglaubigung von Willensakten führt zur Idee des Rechts. Recht ist das, was gilt, auch wenn sich die Wünsche und Absichten der Handelnden zwischenzeitlich verschoben haben. Es garantiert Verlässlichkeit gegen die Gefahr der Willkür.

III. Recht

Die Individuen in gesellschaftlicher Kooperation sichern die Konventionen durch Recht. Dazu bilden sie einen Staat, der Rechtsbrechern Strafen androht und gegen sie verhängt. Das Recht allein genügt aber nicht, da es nicht über die Kraft hinausgeht, die die Konventionen bereits stiften, so lange das Recht nicht die Willkür beugen kann.

„Positive Gesetze können unbestreitbar Eigentum übertragen. … Auch Richtern, selbst wenn ihr Urteil unrichtig und gesetzeswidrig sein sollte, muss um des Friedens und der Ordnung willen eine maßgebende Autorität und ein letztes Entscheidungsrecht über das Eigentum zugestanden werden.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 123)

„Du hast dieselbe Neigung wie ich, das Nähere dem Entfernteren vorzuziehen. Du wirst also, ebenso wie ich, von Natur zu rechtswidrigen Handlungen getrieben. … Diese Eigenschaft der menschlichen Natur ist nun aber nicht nur sehr gefährlich für die Gesellschaft, sondern es scheint auch bei flüchtiger Betrachtung, als gäbe es kein Mittel dagegen. … Ist es uns also unmöglich, das Entferntere vorzuziehen, so ist es uns ebenso unmöglich, uns [freiwillig] einer Macht zu unterwerfen, die uns zu einer solchen Handlung zwingen würde.“ (T, Buch III, 2. Teil, 2. Abschn., Der Ursprung von Rechtsordnung und Eigentum, S. 620)

„Die einzige Schwierigkeit besteht nun in der Auffindung dieses Mittels, durch das die Menschen ihrer natürlichen Schwäche abhelfen und sich die Nötigung auferlegen, die Normen des Rechts und der Billigkeit einzuhalten, trotz ihrer heftigen Neigung, das Nähere dem Entfernteren vorzuziehen. … Und da es unmöglich ist, etwas Wesentliches in unserer Natur zu ändern oder abzustellen, so können wir nichts anderes tun, als unsere Lage und Umstände so zu verändern, dass die Erhaltung der Rechtsnormen unser nächstes und ihre Übertretung unserer entferntestes Interesse wird. Dies ist aber unausführbar in Bezug auf die ganze Menschheit; es kann nur wenigen gegenüber geschehen. Nur wenige können wir in solcher Weise unmittelbar für die Ausübung der Rechtsnormen interessieren. “ (ebd., S. 671)

Zu diesem Zweck werden Regierungen gebildet, indem die Persönlichkeiten ausgewählt werden, die „gegenüber dem Staat neutral sind und kein oder nur ein sehr entferntes Interesse an den Akten der Rechtswidrigkeit haben.“ (ebd., S. 622)

Aufgaben der Regierung sind: Ausführung des Rechts, Entscheidung über das Recht, Zwang zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten auf dem Weg von Vereinbarungen, die Planung und Ausführung von Investitionen, die der Allgemeinheit zugute kommen.

„Dies ist der Ursprung der bürgerlichen Regierung und [damit der bürgerlichen oder staatlichen] Gesellschaft. … Aus diesen beiden Dingen, Ausführung des Rechtes und Entscheidung über dasselbe, ziehen die Menschen den Vorteil der Sicherheit gegen die eigene und fremde Schwäche und Leidenschaft. Unter dem Schutz ihrer Regierung fangen sie an, die Annehmlichkeiten der Gesellschaft und der gegen-seitigen Hilfestellung in Ruhe zu genießen. … Es können wohl zwei Nachbarn sich vereinigen, um eine Wiese zu bewässern, die ihnen gehört. Für diese ist es leicht, sich wechselseitig zu kennen, und jeder sieht unmittelbar, wenn er seinen Teil der Arbeit ungetan lässt, so bedeutet dies die Vereitelung des ganzen Unternehmens. Dagegen ist es sehr schwer, ja unmöglich, dass tausend Personen in solcher Weise zu einer Handlung sich vereinigen. Es ist schon schwer, in einem so verwickelten Falle einen klaren und einheitlichen Plan festzustellen, noch schwerer, ihn auszuführen; jeder wird einen Vorwand suchen, um sich von der Mühe und den Kosten zu befreien und die ganze Last den anderen aufzuhalsen. Die staatliche Gesellschaft erst hilft beiden Übelständen ab. … So werden Brücken gebaut, Häfen eröffnet, Wälle errichtet, Kanäle gezogen, Flotten ausgerüstet und Armeen geschult.“ (ebd., S.622 ff.)

Die Auswahl geeigneter Personen zur Führung der Regierungsgeschäfte ist allerdings die Voraussetzung, dass die Regierung auch zum Wohle der Allgemeinheit tätig wird.

Die Rechtfertigung des Rechts und der rechtswahrenden Einrichtungen des Staates (Gesetze, Rechtsprechung) muss sich aus dem Nutzen herleiten, den sie für die Gesellschaft haben, also für die Befriedigung der Bedürfnisse der in der Gesellschaft zusammenarbeitenden Menschen. Aus der Nützlichkeit speist sich die Zustimmung, das Ansehen und die Wertschätzung der Gerechtigkeit.

„Hätte jeder Mensch genügend Klugheit, jederzeit das starke Interesse wahrzunehmen, das ihn zur Beachtung von Gerechtigkeit und Fairness verpflichtet, und genügend Willensstärke, beständig in der Verfolgung eines allgemeinen und fernliegenden Interesses zu beharren, anstatt den Verlockungen gegenwärtigen Vergnügens und Vorteils nachzugeben; in diesem Fall hätte es nie so etwas wie eine Regierung oder staatliche Gesellschaft gegeben, sondern jeder lebte, seiner vollkommenen Harmonie mit allen anderen. Wozu bedarf es eines positiven Rechts, wenn die natürliche Gerechtigkeit schon von sich aus eine ausreichende Schranke bildet? Warum Behörden schaffen, wenn niemals irgendeine Unordnung oder Ungerechtigkeit geschieht? Warum unsere angeborene Freiheit einschränken, wenn die äußerste Verwirklichung derselben sich in jedem Fall als unschädlich und förderlich erweist? Es ist offensichtlich, dass, wenn die Regierung gänzlich nutzlos wäre, sie niemals hätte bestehen können und dass die einzige Rechtfertigung für Untertanentreue der Vorteil ist, den sie der Gesellschaft bringt, indem Frieden und Ordnung unter den Menschen erhalten bleiben.“ (UPM, 4. Abschnitt, S. 126)

Im Unterschied zu den Staatsbildungstheorien von Hobbes und Locke lehnt Hume die Vorstellung ab, dass sich die Legitimität der staatlichen Rechtssicherung aus einem verfassungsgebenden Akt ableitet. Einen solchen Urvertrag gab es nicht und er ist auch nicht erforderlich. Recht wächst aus der Konvention, also aus der Gewohnheit des gesellschaftlichen Handelns und sichert diese ab. Recht bezieht seine Legitimität praktisch durch die Anerkennung und Nutzanwendung der Konventionen, die es sichert. Es findet Zustimmung, weil es nützlich ist. Daher ist es legitim auch ohne einen förmlichen Initialakt. Die letzte Rechtfertigung des Rechts ist seine Nützlichkeit für die Erfüllung der Bedürfnisse eines jeden Individuums, die besser in einem Rechtsstaat als in einer rechtlosen Gesellschaft gelingt. Wie die Konventionen hat auch das Recht für die Individuen einen abgeleiteten Wert.

Gesellschaftsrecht und Völkerrecht

Im Vergleich zwischen gesellschaftlichen Kooperation und dem Verhalten von Staaten zu anderen erläutert Hume den Nutzen von Rechtsordnungen.

„Gerechtigkeitsregeln, die sich zwischen Individuen durchsetzen, behalten auch im zwischenstaatlichen Verkehr eine gewisse Geltung. Alle Fürsten geben vor, die Rechte anderer Fürsten zu achten; und einige davon zweifellos ohne Heuchelei. Bündnisse und Verträge werden jeden Tag zwischen souveränen Staaten geschlossen, die doch nur eine große Pergamentverschwendung wären, wenn nicht die Erfahrung lehrte, dass sie ein gewisses Maß an Einfluss und Autorität besitzen. Aber hier zeigt sich der Unterschied zwischen Königreichen und Individuen. Die menschliche Natur kann in keiner Weise ohne die Vereinigung der Individuen existieren; und diese Vereinigung könnte nie stattfinden, wenn nicht die Gesetze der Fairness und Gerechtigkeit beachtet würden. Unordnung, Verwirrung, der Krieg aller gegen alle, sind die notwendigen Konsequenzen eines so zügellosen Verhaltens. Aber Nationen können ohne Beziehung miteinander weiterbestehen: bis zu einem gewissen Grad können sie es sogar in einem allgemeinen Kriegszustand. Die Beachtung von Gerechtigkeit, obwohl auch unter Völkern nützlich, ist nicht von so dringender Notwendigkeit wie zwischen Individuen; und die moralische Verpflichtung steht im direkten Verhältnis zum Nutzen.“ (UPM, 4. Abschnitt, S. 126 f.)

Anthropologische Voraussetzungen von Kooperation, Konvention und Recht

Drei anthropologische Konstanten macht Hume aus: Bedürftigkeit, Sympathiefähigkeit und Klugheit.

Der Mensch ist ein Mängelwesen. Seine Bedürfnisse ergeben sich aus einem Mangel an Zufriedenheit, der trotz ständiger Befriedigung unablässig wiederkehrt.

„Die menschliche Natur kann in keiner Weise ohne die Vereinigung der Individuen existieren.“ (UPM, 4. Abschnitt, S. 126 f.)

Aber er verfügt auch über geistige Vermögen. Erstens ist er sympathetisch begabt. Sympathie bedeutet nicht, den egoistischen Standpunkt zu verlassen und einen altruistischen, also den egoistischen fremden anzunehmen. Der Mensch handelt eigennützig, aber im Zusammenspiel eigennütziger Handlungen bildet sich auf der Grundlage von Zusammenarbeit eine stabile Gesellschaft heraus. Die Sympathiefähigkeit befähigt den Menschen dazu, das Mein und Dein zu unterscheiden und anzuerkennen. Es ist somit die Voraussetzung für seine Gesellschaftsfähigkeit. Er ist zur Selbstreflexion fähig, er kann den anderen so sehen, wie er von außen gesehen werden möchte.

Moral fußt auf Sympathie und Selbstreflexion sowie auf Klugheit.

„So ist Eigennutz das ursprüngliche Motiv zur Festsetzung der Rechtsordnung, aber Sympathie für das Allgemeinwohl ist die Quelle der sittlichen Anerkennung, die dieser Tugend gezollt wird. (T, Buch III, 2. Teil, 2.. Abschn., Der Ursprung von Rechtsordnung und Eigentum, S. 579)

Soll sich aber die Gesellschaft bilden, so muss dieselbe nicht nur [tatsächlich für den Einzelnen] vorteilhaft sein, sondern die Menschen müssen sich dieser ihrer Vorteile auch bewusst werden.“ (ebd., S. 565)

Die Konventionen sind auch dann gültig, wenn sie den unmittelbaren Bedürfnissen des Individuums widersprechen. Der Mensch ist in der Lage, durch seine Sympathiefähigkeit die Reziprozität seiner Interessen und der der anderen Individuen zu erkennen und aufgrund seiner Klugheit, seine komplexen Interessen auch in längeren Zeiträumen vorauszusehen, die langfristigen den kurzfristigen Interessen vorzuziehen. Er kann sich selbst Nutzen verschaffen, indem er auf einen unmittelbaren Nutzen in Übereinstimmung mit Konventionen verzichtet, zum Beispiel, indem er Tauschhandlungen als Eigentumsübertragungen respektiert. Er kann in den Konventionen selbst Werte erkennen, auch dann, wenn sie nicht unmittelbar ein Bedürfnis befriedigen.

Recht und Konventionen werden für den verständigen Menschen zu abgeleiteten Gütern.

Gerechtigkeit und Tugend

Hume führt das Recht auf die Konventionen zurück und die Konventionen auf die Notwendigkeit zur gesellschaftlichen Zusammenarbeit. Ursprünglich gründet sich die ganze Kette von Instanzen auf die Nützlichkeit der Güter zur Bedürfnisbefriedigung des Mängelwesens Mensch. Die Grundlage sind demnach die unmittelbaren Güter der Bedürfnisbefriedigung, auf denen sich Verhaltens-gewohnheiten aufbauen, die die Erlangung der Güter vermitteln. Diese Mittel zum Zweck werden als Werte angesehen. Die Sicherung der Verhaltensgewohnheiten durch positives Recht schafft eine Wertehierarchie, wobei auf der Grundlage die Güter der Bedürfnisbefriedigung stehen und an der Spitze das Recht.

Recht und Konventionen müssen ihre Nützlichkeit erweisen, indem sie die Beschaffung der unmittelbaren Güter vermitteln. In diesem Sinne sind sie selbst nützlich. Das ist die Bedeutung des Begriffs Gerechtigkeit.

„Dass Gerechtigkeit nützlich für die Gesellschaft ist und folglich wenigstens ein Teil ihrer Wertschätzung aus dieser Überlegung stammen muss, dies zu beweisen wäre ein überflüssiges Unternehmen. Dass aber der öffentliche Nutzen der alleinige Ursprung von Gerechtigkeit ist und dass Erwägungen über die wohltätigen Folgen dieser Tugend die alleinige Grundlage ihres Wertes sind; diese interessantere und wichtigere Behauptung verdient eher unsere Prüfung und Untersuchung.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 101)

Tugend und Laster bezeichnen nützliche und schädliche Verhaltens-dispositionen, oder, was dasselbe ist, gerechte und ungerechte Handlungsweisen.

„Daher hat die Frage, ob der Mensch von Natur aus böse oder gut sei, mit der Frage nach dem Ursprung der Gesellschaft nicht das mindeste zu tun. Das einzige, was eine Rolle spielt, ist Klugheit oder Torheit. Denn ob man die Selbstinteressiertheit des Menschen nun als böse oder gut erachtet, das läuft auf dasselbe hinaus, weil es allein Selbstinteressiertheit ist, die sich selbst restringiert. Ist sie eine Tugend, so werden die Menschen durch ihre Tugend zu sozialen Wesen; ist sie ein Laster, so hat ihre Lasterhaftigkeit denselben Effekt.“ (T 492 / 316 / II 236)

Gut oder Böse ist auch eine Frage der Umstände.

„So hängen also die Regeln der Fairness oder Gerechtigkeit vollständig von dem besonderen Zustand und der Lage ab, worin sich die Menschen befinden; und ihrem Ursprung und ihre Existenz verdanken sie gerade jenem Nutzen, der dem Gemeinwesen aus ihrer strengen und regelmäßigen Befolgung erwächst.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 106)

Konventionen müssen auch eingehalten und angewendet werden. Die kurzfristigen selbstsüchtigen Handlungsimpulse müssen gegen den langfristigen Nutzen einer Achtung der Konventionen abgewogen werden. Die Abwägung muss situativ aktualisiert werden. Da der Mensch fehlbar ist, hilft eine Erziehung zur Tugend in Sinne einer Erziehung zu gerechtem, konventionellen Verhalten. Auch wenn der Mensch Verstand genug besitzt, den Nutzen der Konventionen zu verstehen, muss er doch auch die Willensstärke besitzen, seine Gelüste zu zügeln. Eine moralische Erziehung von Tugenden unterstützt den Menschen bei der Wahl zwischen kurzfristigen und langfristigen Gütern.

Aber es müssen auch die Bedingungen für Gerechtigkeit und Tugend gegeben sein. In Zeiten bitterer Not, bei Schiffbruch, Belagerung, in Hungersnöten, in Gefangenschaft gehen die Voraussetzungen verloren. Die Gesellschaft löst sich auf, die Konventionen werden gebrochen, die Zusammenarbeit wird durch den rücksichtslosen Egoismus ersetzt.

„Und wäre eine zivilisierte Nation in einen Krieg mit Barbaren verwickelt, die nicht einmal Kriegsgesetze anerkennen, so müsste auch sie aufhören, dieselben zu befolgen, da sie in diesem Fall zwecklos geworden sind; und sie müsste jeden Kampf und jeden Zusammenstoß für die ersten Angreifer so blutig und verderblich als möglich machen.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 106)

Recht und Eigentum

Wenn die Güter der Befriedigung reichlich vorhanden sind, braucht es keine Regeln.

„Weshalb eine Aufteilung der Güter, wenn jeder schon mehr als genug hat? Warum das Eigentum einführen, wenn ein Zuwiderhandeln ohnedies nicht möglich ist? Warum einen Gegenstand mein nennen, wenn ich, sobald ein anderer ihn sich aneignet, nur meine Hand auszustrecken brauche, um mir etwas zu verschaffen, das gleich wertvoll ist? Gerechtigkeit wäre in diesem Fall, weil völlig nutzlos, ein leeres Zeremoniell und könnte wahrscheinlich niemals einen Platz im Verzeichnis der Tugenden finden.

Selbst in der gegenwärtigen dürftigen Lage der Menschheit sehen wir, dass überall dort, wo von Natur aus ein nützlicher Gegenstand in unbegrenzter Fülle zur Verfügung steht, dieser stets Gemeingut bleibt und wir keine Unterscheidungen nach Recht und Eigentum vornehmen.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 102)

Ferner, wenn die Menschen nicht egoistisch wären, bräuchte es auch keine Regeln.

„Warum sollte ich jemanden anderen durch einen Vertrag oder durch ein Versprechen binden, mir einen guten Dienst zu erweisen, wenn ich weiß, dass er ohnedies schon von der intensivsten Neigung bewegt wird, mein Glück zu fördern und den gewünschten Dienst von sich aus zu leisten? … Unter dieser Voraussetzung wäre jeder Mensch dem anderen ein zweites Ich und vertraute alle seine Interessen dem Belieben jedes anderen an: ohne Eifersucht, ohne Rückhalt, ohne Unterschied. Und die ganze Menschheit bildete eine einzige Familie, wo allen alles gemeinsam gehörte und frei zu gebrauchen wäre, ohne Rücksicht auf Eigentum; aber doch mit Bedacht, mit ebenso aufrichtiger Beachtung der Bedürfnisse jedes einzelnen, als ob unsere eigenen Interessen aufs innigste betroffen wären.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 103)

Aus dem Zusammenwirken von Knappheit der Güter und Eigennutz des Handelnden erwächst die Gefährdung des Besitzes. Das Recht ist nützlich, wo Eigentum besteht. Eigentum erwächst aus der gesellschaftlichen Zusammenarbeit. Recht ist daher ein gesellschaftlicher Faktor, der dem Erhalt des Eigentums dient.

„Die Rechtsordnung hat nur in der Selbstsucht und der beschränkten Großmut der Menschen, im Verein mit der knappen Fürsorge, die die Natur für die Bedürfnisse getragen hat, ihren Ursprung. (T, Buch III, 2. Teil, 2. Abschn., Der Ursprung von Rechtsordnung und Eigentum, S. 575)

Der Affekt des Eigennutzes wird durch die Regel, die die Sicherheit des Besitzes begründet, in Schranken gehalten.“ (ebd., S. 572)

Das Rechtsbewusstsein entspringt nicht der menschlichen Natur, sondern durch Kunst und menschliche Übereinkunft“. (ebd., S. 576)

Es hängt von der Bildung und vom Verstand der Menschen ab, ob sich die Rechtsordnung erstmals herausbildet und auch erhält. Denkende Menschen können den Vorteil erkennen, den sie aus einer arbeitsteiligen Gesellschaft ziehen. Geht dieses Bewusstsein aber verloren, sind die Grundlagen der Kultur gefährdet.

„Ohne Rechtsordnung würde die Gesellschaft sich alsbald auflösen und jedermann würde in jenen wilden und vereinsamten Zustand zurückfallen, der unendlich schlimmer ist als die denkbar schlechteste Lage in der Gesellschaft. Sobald darum die Menschen genugsam erfahren haben, dass, welche Folgen auch ein einzelner, von einer einzelnen Person ausgeübter rechtlicher Akt haben mag, doch das ganze System von Handlungen, wofern die ganze Gesellschaft zu seiner Verwirklichung sich vereinigt, unendlich vorteilhaft für das Ganze und für jeden einzelnen Teil ist, so kann es nicht lange dauern, und Rechtsordnung und Eigentum müssen Geltung gewinnen.“ (ebd., S. 377)

IV. Gesellschaftsordnungen

Zwei Zustände und zwei Handlungsweisen

Im Normalfall befinden wir uns in einer Lage, in der die Güter knapp sind und der Nutzen gerechten Verhaltens gegeben und einsehbar ist. Im Normalfall werden Eigentumsrechte sinnvoll und nützlich für alle, werden Konventionen gebildet und können stabilisiert werden, kann Recht gesetzt und auf diese Weise ein Rechtsstaat begründet werden. Gleichzeitig können wir im Umgang mit unseren Freunden, speziell innerhalb der Familie andere Gewohnheiten annehmen, die vom Egoismus absehen und uns die Sorge um das Wohl des anderen zu eigen machen. Zwei Handlungsweisen bestehen nebeneinander: die unparteiische, egoistische aber faire, auf gerechte Lösung zielende und die parteiische, selbstlose auf das Bedürfnis des anderen zielende Weise.

„Die übliche Situation der Menschen hält die Mitte zwischen allen diesen Extremen. Wir sind von Natur aus für uns und unsere Freunde voreingenommen, sind aber fähig, den Vorteil zu erkennen, der sich aus einem unparteiischen Verhalten ergibt. Wenige Genüsse empfangen wir aus der offenen und freigebigen Hand der Natur; aber durch Geschicklichkeit, Mühe und Fleiß können wir sie in großer Anzahl gewinnen. Dadurch werden aber die Eigentumsideen unentbehrlich; von hier leitet die Gerechtigkeit ihre Nützlichkeit für die Öffentlichkeit ab; und darauf allein beruht ihr Wert und ihre moralisch verpflichtende Kraft.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 107)

Der Mythos vom Goldenen Zeitalter und der Naturzustand

Die Fantasie vom Goldenen Zeitalter verabsolutiert die familiärfreundschaftliche Handlungsweise und verbindet sie mit der Vorstellung des Güterüberflusses. Sie verlegt diese Fantasie an den Anfang der Menschheitsgeschichte und schreibt ihr den Charakter eines ursprünglichen Naturzustandes zu. Einer der Urheber dieses Mythos war Platon, im zweiten bis vierten Buch seiner Politeia. Gegen diese irrtümliche Sichtweise erinnert Hume an die philosophische Fiktion des Naturzustandes. Nicht Hobbes, Cicero macht er als ersten Autor aus, der den Naturzustand negativ beschreibt. Er sei das gerade Gegenteil einer goldenen Zeit gewesen.

„Im Urzustand der Menschheit, sagt man uns, waren Unwissenheit und Wildheit so übergroß, dass man sich gegenseitig kein Vertrauen schenken konnte, sondern jeder sich auf sich selbst und auf seine eigene Kraft und Schlauheit verlassen musste, wenn es galt, sich zu schützen und abzusichern. Von Gesetzen hatte man nicht gehört; eine Gerechtigkeitsregel war unbekannt; kein Eigentumsunterschied wurde beachtet; und ein immerwährender Krieg aller gegen alle war die Folge der ungezähmten Selbstsucht und Grausamkeit der Menschen.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 108)

Doch Hume beglaubigt diese fiktive Beschreibung nicht. Er zitiert sie nur als Gegenentwurf zur positiven Fiktion des Goldenen Zeitalters. Die Wahrheit lag aus seiner Sicht wohl eher in der Mitte.

„Ob ein solcher Zustand der menschlichen Natur jemals existieren konnte und, falls er existierte, ob er so lange andauern konnte, um die Bezeichnung Staat zu verdienen, mag mit Recht bezweifelt werden. Menschen werden notwendigerweise zumindest in eine Familien-Gesellschaft hineingeboren und von ihren Eltern zu gewissen Formen des Betragens und Benehmens angehalten.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 109)

Diese Mitte nennt er Zivilisation oder Kultur. Im

„unkultivierten Naturzustand“ gibt es kein Recht auf Eigentum, weil es überhaupt weder Recht noch Konvention gibt. (T, Buch III, 2. Teil, 2. Abschn., Der Ursprung von Rechtsordnung und Eigentum, S. 567)

Familie als Ursprung der Gesellschaft

Da auch im Naturzustand kein Mensch sich selbst genügt, schon zur Fortpflanzung den Partner benötigt, ist die Familie die natürliche Voraussetzung jeder Gesellschaft, sowohl funktionell als auch historisch. Aus der Verbindung der Geschlechter zur Fortpflanzung bildet sich die Familie, das

„erste und ursprünglichste Fundament der menschlichen Gesellschaft“... In dieser regieren die Eltern vermöge ihrer höheren Kraft und Klugheit; sie werden gleichzeitig in der Ausübung ihrer Herrschaft durch die natürliche Zuneigung, die sie für ihre Kinder haben, in gewissen Grenzen gehalten.“ (T, Buch III, 2. Teil, 2.. Abschn., Der Ursprung von Rechtsordnung und Eigentum, S. 565)

In der Familie werden auch Gewohnheiten entwickelt und tradiert, die die Selbstbezogenheit der Menschen zugunsten einer Sorge für die Angehörigen überwinden.

„Weit entfernt zu glauben, dass die Menschen nur für ihr eigenes Selbst Interesse haben, bin ich der Meinung, dass wenn man auch selten jemand finden mag, der eine einzelne fremde Person mehr liebt als sich selbst, man doch ebenso selten jemand begegnet, dessen wohlwollende Regungen zusammen genommen nicht seine selbstischen Neigungen überwögen. Man frage nur die alltägliche Erfahrung. Seht Ihr nicht, dass, obgleich in der Familie alle Aufwendungen gewöhnlich von dem Familienoberhaupt bestimmt werden, es nur wenige gibt, die nicht den größten Teil ihres Vermögens für das Vergnügen ihrer Frauen und die Erziehung ihrer Kinder ausgeben, und nur den kleinsten Teil für ihren eigenen Gebrauch und ihre eigene Unterhaltung zurückbehalten.“ (T, Buch III, 2. Teil, 2. Abschn., Der Ursprung von Rechtsordnung und Eigentum, S. 565f.)

Aus der gedanklichen Verbindung mehrerer Familien rekonstruiert Hume die Entstehung der Gesellschaft.

„Nehmen wir an, dass sich mehrere Familien zu einer Gesellschaft zusammenschließen, die von allen anderen vollkommen abgeschieden ist, so würden sich die Regeln, die Frieden und Ordnung sichern, bis auf die äußeren Grenzen dieser Gesellschaft erstrecken; einen einzigen Schritt darüber hinaus verlieren sie sogleich ihre Geltung, da sie vollkommen nutzlos werden. Nehmen wir aber weiter an, dass mehrere verschiedene Gesellschaften zum gegenseitigen Nutzen und Vorteil einen gewissen Umgang miteinander pflegen, dann erweitern sich die Grenzen der Gerechtigkeit in dem Maße, wie sich der Blickwinkel der Menschen erweitert und ihre gegenseitigen Verbindungen stärker werden.“ (UPM, 3. Abschnitt, S. 111)

Auf diese Weise gelingt es ihm, den Ursprung des Staates, des Rechts und der fairen gesellschaftlichen Zusammenarbeit als naturwüchsigen, sich zwanglos legitimierenden Vorgang herzuleiten.

Quellen:

Die Zusammenfassung folgt und zitiert aus:

Jens Kulenkampff: David Hume, Becksche Reihe Denker, 2. Auflage, München, 1989. (Seitenangaben zwischen Schrägstrichen)