Mythos Anarchokapitalismus - Helmut Krebs - E-Book

Mythos Anarchokapitalismus E-Book

Helmut Krebs

3,8

Beschreibung

Anarchokapitalismus ist in. Die philosophische Melange aus Anarchismus und Kapitalismus kommt bei jungen Menschen gut an. Handelt es sich gar um eine konsequente Fortentwicklung der Freiheitsidee? Die vorliegende perspektivenreiche Untersuchung prüft zentrale Argumente und zeigt: Der Liberalismus besitzt einen wahren Kern. Anarchokapitalismus und Liberalismus sind zwei unvereinbare Weltanschauungen. Die Überwindung von Staat und Gesellschaft kann nicht zu mehr Freiheit führen. Vielmehr wären Räume der Gewalt und feudale Herrschaften eine unausweichliche Folge. Anarchokapitalistischer Anspruch und Realität klaffen auseinander.

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Inhaltsverzeichnis

V

ORWORT

E

INLEITUNG

T

EIL

A · G

RUNDLAGEN

Gibt es einen festen Kern des Liberalismus?

Freiheit, Moral und Recht

Die Doppelnatur des Menschen

Das egoistische Handeln

Zweckrationales Handeln

Handeln in Kleingruppen

Die offene oder Großgesellschaft

Zusammenfassung

Unordnungen

Freiheit

Klassischer Liberalismus – Neoliberalismus – Scheinliberalismus

Klassischer Liberalismus

Neoliberalismus

Scheinliberalismus

T

EIL

B · A

NARCHISMUS

Sicherheit durch Gewaltmonopol oder Gewaltwettbewerb?

Anarchokapitalismus, der Gott, der keiner ist. Über Gustave de Molinaris Produktion der Sicherheit

Zeitgenössischer Kontext

Allgemeine Kritik – im Überschwang

Textkritik – haltlose Aussagen

Ökonomistische Fehlschlüsse

Die Privatisierung der Sicherheitsproduktion ist überflüssig

Die anarchokapitalistische Monopoltheorie ist unhaltbar

Anarchokapitalistische Zukunft – eine Dystopie

Politik oder keine Politik – ist das die Frage? Kritische Anmerkungen zu Michael Huemer

Huemers Standpunkt

Irrungen und Wirrungen

Moral oder nicht Moral, das ist hier die Frage

Klassisch-liberale Perspektiven auf den Staat

Wider die Anmaßung der Politik

Gibt es ein Recht, Schusswaffen zu besitzen?

Amerikas ungerechter Krieg gegen die Drogen

Gibt es ein Recht auf Einwanderung?

Fazit: Wo Schatten ist, da ist auch Licht

Die unüberbrückbaren Gegensätze von Anarchismus und Liberalismus

Eine Epochenwende der Menschheitsgeschichte

Die Merkmale der Herrschaftsverbände

Der Begriff der Herrschaft

Gegensatz: Stellung zur Herrschaft

Gegensatz: Gesellschaft als ideeller Ausgangs- oder Endpunkt

Gegensatz: Legitimität

Feindschaft in Kernfragen

Gegensatz: Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse vs. Fundamentalopposition

Gegensatz: Politisches Handeln vs. Sektierertum

Gegensatz: Extremismus vs. Ausgewogenheit

Gegensatz: Verteidigung vs. Isolation

Gegensatz: Recht vs. Selbstjustiz

Gegensatz: Differenzierende vs. simplifizierende Analyse

Die innere Widersprüchlichkeit der Idee des Libertarismus

Können Anarchismus und Liberalismus gemeinsam für gleiche Ziele kämpfen?

T

EIL

C · S

TIMMEN VON

L

IBERALEN

Die Position Ludwig von Mises’

Die Position James M. Buchanans: Das Utopia der Anarchisten

Nichtstaatliche Schlichtungsverfahren sind instabil

Fazit

Die Position weiterer Denker in Form von Zitaten: „Anarcho ergo bumm“

T

EIL

D · D

IE

D

YNAMIK DER

G

EWALT

Gewaltmärkte forcieren Staatenbildung

Anarchokapitalistische Postulate

Merkmale von Gewaltmärkten der Frühen Neuzeit

Einige Ergebnisse der Forschung

Gewaltmärkte und Gewaltunternehmer gestern, heute und morgen

Räume der Gewalt

F

AZIT

Mythos Anarchokapitalismus

Schlussbetrachtungen

VORWORT

Die Erneuerung und Weiterentwicklung des klassischen Liberalismus ist eine umfassende Aufgabe. Im Zentrum stehen die Überprüfung zentraler Prinzipien und die Auseinandersetzung mit verwandten, konkurrierenden, aber auch unvereinbaren Weltanschauungen. Auf den Anarchokapitalismus treffen alle drei Adjektive zu. Das Verhältnis des klassischen Liberalismus zum Anarchokapitalismus gilt es zu klären. Darum geht es in dem vorliegenden Buch. Daher werden Axiome des Anarchokapitalismus überprüft und mit den Prinzipien des Liberalismus kontrastiert.

Die nachfolgenden Texte sind meist überarbeitete Fassungen von Beiträgen, die auf der Internetplattform Forum Freie Gesellschaft (www.forum-freie-gesellschaft.de) erschienen sind. Zu den Originalen zählen Positionspapiere und Working Paper, Rezensionen und Analysen. Diskutiert wurden einzelne Aspekte unter anderem in der Facebook Gruppe „Liberale Debatte“. Für die nachfolgenden Erkenntnisse und Irrtümer tragen allein die beiden Autoren die Verantwortung.

Heidelberg und Berlin, im Dezember 2015

EINLEITUNG

Anarchokapitalismus ist in. Das gilt zumindest für die wenigen Menschen, die im Staat die größte und entscheidende Bedrohung der Freiheit verkörpert sehen. Aufmerksamkeit und Zustimmung erlangen Anarchokapitalisten durch die kompromisslose Klarheit ihrer einfach verständlichen Axiome. Insbesondere junge Menschen fühlen sich von den polarisierenden Aussagen angezogen. Aber auch ältere Anarchisten halten den Anarchokapitalismus zuweilen für eine konsequente Fortsetzung des liberalen Programms, also für die Vervollkommnung einer Ordnung der Freiheit. Es ist die Bereitschaft, weiter zu gehen, als es Liberale tun, die die Gegner von Staat, Aggression und Herrschaft verbindet.

Unter Freiheitsfreunden ist ein Wohlwollen gegenüber Anarchisten und insbesondere Anarchokapitalisten verbreitet. Von Anthony de Jasay bis Henry Hazlitt finden sich verständnisvolle Bemerkungen. In der Substanz ist in das unangebracht wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen. Anarchokapitalisten haben den Liberalismus nicht weiterentwickelt, sondern überwunden. Anarchokapitalismus ist illiberal. Anarchokapitalisten sind nur scheinbar Freunde der Freiheit, weil ihre Weltanschauung auf Unfreiheit, Selbstjustiz, Gewalt und geschlossene Gemeinschaften hinausläuft. Diese Urteile mögen hart klingen; sie sind jedoch lediglich die Konsequenz der nachfolgenden Analysen anarchokapitalistischer Dogmen.

Um einen Überblick zu bekommen, wer dem Anarchokapitalismus anhängt, ist es hilfreich, dessen Anhänger in verschiedene Gruppen zusammenzufassen:

Wie erwähnt begeistern sich vor allem junge Menschen für die Klarheit und Kompromisslosigkeit anarchokapitalistischer Prinzipien. Dazu zählen das

Nichtaggressionsprinzip

als alles überragende Maxime. Ferner die eindeutig zuordnenbare Gewalt – schließlich hat der Staat das Gewaltmonopol inne. Ein staatlich geschaffenes Monopol ist ohnehin inakzeptabel. Das ist eine der frühen Lektionen, die jeder Schüler begreifen kann. Schließlich sei der Dualismus von gut und böse, von richtig und falsch, von einfachen Prinzipien und komplexer, kompromissbehafteter Realität erwähnt.

Einer weiteren Gruppe lässt sich das Etikett Utopie aufprägen. Naiv wäre als Bezeichnung auch treffend. Altersunabhängig handelt es sich um Menschen, die zuweilen weltfremd sind, weil sie nur ihren kleinen Ausschnitt ihrer Lebenswelt zum impliziten Maßstab machen, zuweilen auch abgeleitet aus Bücherwelten. Die politische und ökonomische, aber auch sicherheitlich zuweilen harte und durch Kompromiss gekennzeichnete Alltagswelt scheint ihnen letztlich fremd zu sein.

Schließlich gibt es eine Gruppe führender Anarchokapitalisten, die unbewusst oder bewusst Vertreter des Feudalismus sind. Hinter der Prämisse unbeschränkter Freiheit für jedermann, ungestört durch Recht, Gewalt und Herrschaft, verbergen sich Rudimente gesellschaftlicher Neuordnungen, die zurück in die Vergangenheit weisen. Monarchie, Gottesglaube, Gewaltunternehmer und segregierte Lebensweisen stehen der liberalen – offenen, pluralistischen – Gesellschaft entgegen. Noch unangenehmere Organisationsbezeichnungen wären treffend, um zu beschreiben, was hier im Verborgenen lauert.

Mit Anarchokapitalismus verhält es sich in gewisser Weise so wie mit romantischer Liebe. Die entflammte Leidenschaft schafft eine Welt, die die herkömmlichen Grenzen des Daseins zu sprengen scheint. Plötzlich ist viel mehr möglich als in der schnöden, begrenzten Welt zuvor. Es steigt eine Erkenntnis auf, die sich als tiefere Einsicht gebärdet: Ein vollständigere Entfaltung der eigenen, bisher vernachlässigten und verschütteten Fähigkeiten ist möglich. Ein besseres Leben scheint dauerhaft zum Greifen nah. Doch wenn die Flamme nachlässt, der romantischen Liebe nicht die tiefere, alltäglichere, realistische Liebe folgt, dann erweisen sich die Empfindungen und Gedanken der Zeit des Überschwangs als schöne, naive, intensive Erfahrung, der ein dauerhafter Platz in der Geschichte des Lebens gebührt – als Ausnahmezeit. Anarchokapitalismus gleicht einer solchen Schwärmerei. Wer erwachsen geworden ist, kann der Utopie einen gerechten Platz zu weisen. Wer den rosaroten Tunnelblick durch nüchternes Einbeziehen der Realität erweitert, der mag mitunter Zeit seines Lebens schwärmen, aber nur mit einem Zwinkern, vielleicht auch einem Seufzer.

Leider fällt es nicht nur schwer mit Anarchokapitalisten zu diskutieren. Weit überwiegend ist ein bereichernder Austausch nicht möglich. Das hat verschiedene Gründe. Dogmatismus und mangelnde Offenheit, Vehemenz und problematische Persönlichkeiten, ferner Abspulen von auswendig gelernten Anti-Staazi-Sätzchen gehören dazu. Das mag auch der Welt sozialer Medien geschuldet sein. Dort fällt es nicht zuletzt aufgrund der Anonymität und mangelnden Sanktionierung schlechten Benehmens manchem schwer, die Contenance zu wahren. Keineswegs gelten diese Erfahrungen für alle Anarchokapitalisten, zumal sich nicht alle als solche bezeichnen. Der weltfremde Dogmatismus mit Hang zum Sektierertum ist jedoch ausgeprägt. Manche Institution erinnert an eine Sekte. Das wirft indes eine weitreichende Frage auf: Wie würden sich Menschen in einem ähnlich herrschaftsfreien Raum in der realen Welt verhalten? Im schlimmsten Fall so, wie es Jörg Baberowski analysiert hat und diesem Buch nachzulesen ist. Letztlich scheitert der bereichernde Austausch indes an der Unvereinbarkeit von Anarchokapitalismus und Liberalismus.

Anarchokapitalismus mutet mondän an. Anarchie als Herrschaftsfreiheit scheint der letzte Schritt für die Zivilisation in die Moderne zu sein. Kapitalismus war der erste Schritt und sollte konsequent verwirklicht für vollkommene Wohlfahrt sorgen. Tatsächlich ist Anarchokapitalismus ein Pleonasmus. Anarchie und Kapitalismus gehen nicht zusammen. Es gab keinen Kapitalismus ohne Staat. Vielmehr ist der Kapitalismus erst im Zuge der modernen Staatsbildung entstanden. Kapitalismus ist zudem ohne Recht nicht denkbar. Und Recht erfordert den Staat zur Durchsetzung. Schließlich findet die Anarchie des Marktes im Rahmen des Rechts statt. Es ist ein Irrtum zu glauben, Anarchie als Staatsfreiheit sei identisch mit der spontanen Ordnung des Marktes. Entscheidend ist: Sicherheit ist kein Gut wie jedes andere auch. Gewaltmärkte und Gewaltunternehmer blühen in staatsfreien und staatsfernen Zonen. Wozu Staatsverfall und Staatsversagen führt, lässt sich im Nahen und Mittleren Osten sowie weiten Teilen Afrikas seit Jahren verfolgen. Unsägliche Gewalt wird zum Alltag. Der Staat ist immer noch der einzige Garant der Rechte der Bürger und bleibt, nicht nur ins Absolute gesteigert, eine Bedrohung für die Bürger. Heute fordern supranationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen den (National-)Staat heraus.

Selbst motivierte, engagierte Freunde der Freiheit sympathisieren zuweilen mit Anarchie und Anarchokapitalismus. Freiheit für jedermann, überall, jederzeit erscheint attraktiv zu sein. Warum nicht Freiheit auf immer weitere Bereiche ausdehnen, für die bisher der Staat zuständig ist? Geldwettbewerb statt Zentralbanken. Sicherheitsunternehmen statt Polizei und Streitkräfte. Private Schlichter statt staatlicher Gerichte. Tatsächlich ist Gewalt kein Gut wie Schokoriegel oder Urlaubsreisen. Und Gewalt lauert überall. Unter dem Schutz des Staates scheint das in Deutschland und weiten Teilen der westlichen Welt zuweilen in Vergessenheit zu geraten.

Wer sich intensiver mit Anarchokapitalismus und Anarchie beschäftigt, der findet Herrschaftsfreiheit bald weitaus weniger attraktiv als es intellektuell zuweilen suggeriert wird. Es gibt keinen Denker, der überzeugend darlegt, dass Anarchie eine realistische Lebensweise darstellt, die tatsächlich ohne Herrschaft bleibt oder auch nur mehr unversehrte Freiheit bietet. Anarchokapitalismus zielt auf die Überwindung von Staat und Gesellschaft wie wir ihn kennen und erleben. Liberale streben nach einer verbesserten Welt, in der wir weiter leben, mit einem kleineren Staat und einer viel größeren Freiheits- und Verantwortungssphäre für alle Menschen. Noch einmal: Anarchokapitalisten streben nach einer Überwindung der bestehenden Gesellschaft und einer Abschaffung des Staates. In Deutschland gehört diese politische Haltung zum Extremismus. Extremisten lehnen den demokratischen Verfassungsstaat ab. Anarchokapitalisten wenden sich zweifellos gegen eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung.

Nun ließe sich fragen: Warum ein Buch über Anarchokapitalismus schreiben, wenn es sich nicht erkennbar lohnt, darüber nachzudenken, wenn Anarchokapitalisten nichts zur Fortentwicklung unserer Gesellschaft beizutragen haben, sondern diese überwinden wollen? Eine Antwort lautet, um den Anarchokapitalismus als das zu entlarven, was er ist: ein gefährlicher Mythos. Diejenigen, die den Glaubenssätzen der Anarchisten folgen, haben die Chance, die nachfolgende facettenreiche Kritik zu lesen und sich ein eigenes, differenziertes Bild zu machen. Diejenigen, die dem Anarchokapitalismus weiter anhängen sind aufgerufen, ihre Argumente zu schärfen, um die nachfolgende Kritik zu entkräften.

TEIL A · GRUNDLAGEN

Gibt es einen festen Kern des Liberalismus?

von Helmut Krebs

Von der Antwort auf diese Frage hängt für die liberale Bewegung eine Menge ab. Wenn es diesen Kern nicht gibt, dann handelt es sich beim Liberalismus lediglich um ein historisch vergängliches Phänomen. Ein Beispiel für eine mehr zufällige Strömung ist der Konservatismus. Niemand vermag den Begriff in einer Weise zu definieren, dass damit ein erheblicher Teil derjenigen, die sich als Konservative verstehen, einverstanden ist. Die Strömung eint nichts Bestimmtes, sie ist eher Ausdruck eines vagen Lebensgefühls, einer Abneigung gegen Veränderung. Ist Liberalismus in ähnlicher Weise arbiträr, vielleicht als Ausdruck eines bestimmten Freiheitsimpulses? Dann wäre eine Abgrenzung gegen andere Strömungen, die sich die Freiheit auf die Fahnen schreiben, einschließlich religiöser Bewegungen, unmöglich. Die Wandervögel des ausgehenden 19. Jahrhunderts sangen das Lied von der Freiheit und meinten damit doch das Gegenteil dessen, was ich darunter verstehe.

Kernlose Ideen zerfallen oder mutieren beliebig. Ist der Liberalismus längst in ein Delta von tausend Flüssen zerfasert, die niemals wieder zueinander finden können? Ist es ein Wieselwort geworden, für bestimmte Kreise attraktiv, doch beliebig mit Inhalt zu füllen. Gibt es also, wie der Schweizer Monat es Karen Horn (Ausgabe Juli/August 2015, S. 3) in den Mund gelegt hat, den „wahren“ Liberalismus gar nicht?

Wenn es nun doch gute Gründe gibt für die Annahme, dass ein fester Kern existiert und damit ein „wahrer“ Liberalismus, stünden wir vor folgender Situation: In einer sehr zergliederten ideologischen Landschaft würden sich unterschiedliche Strömungen darum streiten, ob – gemessen am Kerngedanken des Liberalismus – bestimmte politische Programme, Maßnahmen oder Tatbestände kritikwürdig sind oder zustimmungsfähig. So viele Stimmen und Meinungen auch vorhanden wären, es gäbe doch einen gemeinsamen Maßstab. Der Kern bliebe ein Kern, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für Varianten und Abweichungen in ungewissen Projekten wäre Raum. Der Kern wäre gegenüber vielen Standpunkten indifferent, weil viele Wege nach Rom führen. Es gäbe weiterhin Vielfalt und zuweilen auch Streit, aber es gäbe doch die Möglichkeit, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. Ein Nenner, der auch Wesensfremdes ausschließen würde.

Wie kann man sich der Antwort auf die Frage nähern, ob es einen festen Kern des Liberalismus gibt? Wir müssen den Begriff als einen sowohl historischen als auch philosophischen auffassen. Philosophisch bedeutet das, Liberalismus hat sich in einer Denktradition herausgebildet, die bestimmte unverrückbare Grundsätze kennt. Historisch bedeutet es, dass Liberalismus nur konturiert werden kann, wenn wir seinen historischen Bezugsrahmen nicht zu weit und nicht zu eng fassen.

Tatsächlich ist der Liberalismus als eine Strömung der Aufklärung seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden. Er fußt weltanschaulich auf dem neuzeitlichen Rationalismus, der bereits seit dem 16. Jahrhundert vor allem im Zuge der Ausprägung der Naturwissenschaft entwickelt wurde (und weit zurück in die Antike reicht). Der Liberalismus war eine Ideologie, die die merkantilistische Wirtschaftspolitik durch Freihandel ersetzen wollte und eine verfassungsbasierte demokratische Regierung anstrebte. Aus diesen historischen und philosophischen Fäden formten die klassischen Liberalen – namentlich Hume und Smith – ein Denkgebäude, das drei zentrale Werte in sich einschloss:

Die freie Marktwirtschaft mit Sondereigentum an den Produktionsmitteln, basierend auf einer spezialisierten Arbeitsteilung in offenen Großgesellschaften.

Der besondere Schutz von Freiheit und Eigentum als Grundrechte.

Die Herrschaft des Rechts und die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz in einem Rechtsstaat mit Gewaltmonopol.

Dies sind die drei Kernideen des Liberalismus in historisch klassischer Sicht. Viele weitere Denker sind bis heute dabei, diese Gedanken weiter zu spinnen. Nun stellt sich die Frage: Sind das noch immer die Kernideen oder haben sie sich überholt?

ad 1. Zur freien Marktwirtschaft heißt die Alternative Planwirtschaft oder in einer gemäßigten Form Interventionismus. Es gibt kein Drittes dazwischen: Entweder die einzelnen unternehmenden Menschen entscheiden oder eine staatliche Behörde entscheidet über Investitionen, Einkommen, Preise usw. Nun gibt es niemals eine konkrete Gesellschaftsform, in der diese Extreme absolut und rein ausgeprägt sind. Es geht also praktisch immer um das Mehr oder Weniger. Der Liberalismus ist für mehr Entscheidungsfreiheit der Individuen und für weniger Staat.

ad 2. Zu den Grundrechten gibt es keine andere Alternative als Despotie und Sozialismus, als Willkürherrschaft und Staatseigentum. Der zweite Punkt hängt natürlich eng mit dem ersten zusammen. Ist die Frage heute eine andere als vor zweihundert Jahren? Wohl kaum.

ad 3. Die Alternative zur Herrschaft des Rechts ist die Herrschaft von Menschen über Menschen, von Führern über Untergebene. Auch heute stellt sich die Problematik keineswegs anders dar. Die Aushöhlung des Rechtsgedankens ist eine immerwährende Gefahr, wo es staatliche oder private Machtkonzentration gibt. Hochaktuell ist dieser dritte Punkt angesichts zahlreicher Krisen, in denen Recht gebrochen wird.

Wir nähern uns nun dem philosophischen Aspekt des Problems. Der Liberalismus fußt auf Wissenschaft, in erster Linie auf der Ökonomie. Der Liberalismus ist eine Lehre vom Sollen. Wissenschaft lehrt über das Sein. Aus dem Sein lässt sich nicht auf das Sollen schließen. Aus der deskriptiven Wissenschaft bezieht der normative Liberalismus sein Tatsachenwissen. Aus den historischen Kernideen seine Werte.

Wissenschaft ist eine Errungenschaft des rationalen Denkens. (Es musste erst die Idee der Physik durchgesetzt werden, dass sensorisch wahrnehmbare Phänomene strenge Regelmäßigkeiten aufweisen, nicht zufällig und schwankend trügerisch sind, wie die Platonische Schule es vertritt.) Die Anforderungen an Rationalität von Wissenschaft sind:

a) plausible Kategorien als Prämissen (z.B. dem Begriff der Masse in der Mechanik, dem Begriff des Handelns in der Ökonomik)

b) klare Definitionen der Begriffe, logische Konsistenz der Schlussfolgerungen

c) Realitätshaltigkeit und eindeutige Bestimmung der Bedingungen, unter denen Sätze Gültigkeit haben.

Das Gegenteil, der Irrationalismus, stützt sich auf mystische Prämissen, Intuition der Erkenntnisse und Nichtwiderlegbarkeit. Die Beispiele dafür nehmen wir aus dem Denken von Marx: die „materiellen Produktivkräfte“ als historische Beweger (unplausible Prämissen), den Klassenbegriff in Anlehnung an die feudalistischen Kasten (unklare Definitionen), die Behauptung, dass sich Geschichte ohne bewusstes Handeln der Menschen vollzieht, dass aber eine führende Partei notwendig sei (Inkonsistenzen), die Verelendungstheorie (mangelnder Realitätsgehalt).

Eine haltbare Lehre kann nur rational konstruiert werden. Daher bildet die Ökonomie die erste theoretische Grundlage des Liberalismus. Das Verstehen der Geschichte, das Verstehen der Bedingungen des zivilisatorischen Prozesses ist die zweite Grundlage, auf der die Werte basieren.

Ich denke, die drei genannten Kerne des Liberalismus sind einerseits abstrakt genug, um alle Liberalen zu einen, ohne einer offenen suchenden Bewegung eine Orthodoxie überzustülpen, an der sie erstarrt. Kern und Mantel bilden ein zusammenhängendes Begriffspaar. Der Liberalismus liefert ein Ideengut, das sich in der geschichtlichen Entwicklung immer wieder mit anderen Ideologien amalgamiert hat. Daraus entstanden die teilweise feindselig zueinander stehenden Richtungen der Sozial-Liberalen, Konservativ-Liberalen, gar der National-Liberalen. Es wäre viel erreicht, wenn der liberale Kern prioritär verstanden würde und nicht die changierenden Mäntel.

Nehmen wir als Beispiel die Familienpolitik. Ist die Schwulenehe aus liberaler Sicht abzulehnen? Schwule und Ehe gilt es zu analysieren. Schwulsein wird heute als Tatsache einer biologischen Variante gesehen, deren Norm die Heterosexualität ist. Es wurde und wird von fundamentalistischen Anhängern religiöser Glaubensgemeinschaften noch heute als Krankheit bzw. als Sünde betrachtet. Nun ist die Frage, ob es sich um eine Krankheit oder eine Variante handelt, eine Frage der Wissenschaft. Dazu hat der Liberalismus nichts beizutragen. Und zur Frage der Ehe als Sakrament haben die Theologen zu sprechen. Die Ehe als gesetzlicher Stand ist ein rechtliches und damit ein liberales Problem. Nach dem Gesichtspunkt der Gleichheit vor dem Gesetz und der größtmöglichen Freiheit der Bürger empfiehlt der Liberalismus, die Lebensweise der Menschen ihrer Selbstbestimmung zu überlassen, insoweit sie auf Freiwilligkeit beruht. Die steuerliche und sonstige gesetzliche Privilegierung von heterosexuellen Ehen verstößt gegen das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Es müssen schon sehr schwerwiegende Gründe vorgetragen werden, um sie zu rechtfertigen. Dennoch können Liberale im Rahmen ihrer persönlichen Lebensführung praktizierende Christen sein. Sie können nur nicht die Vorschriften, die ihr Glauben ihnen auferlegt, anderen auferlegen und sie können nicht – als Liberale – eine religiöse Familienpolitik betreiben. Die Leugnung biologischer Tatsachen im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung ist andererseits von der Wissenschaft zu bekämpfen, deren haltbarste Ergebnisse der Liberalismus sich zunutze macht.

Die Kerngedanken des Liberalismus anzuerkennen bedeutet, die Einheit der Liberalen für möglich zu halten. Es bedeutet ferner, dass auf argumentativer Basis Meinungsverschiedenheiten benannt werden, dass aber der Gesprächspartner als Zugehöriger der einen liberalen Bewegung mit Respekt behandelt wird, wie meiner Meinung nach jeder Bürger behandelt werden sollte. Beschimpfungen und Stigmatisierungen sind ebenso wenig hilfreich wie Sezessionen und öffentliches Zerschneiden von Tischtüchern.

Freiheit, Moral und Recht

von Helmut Krebs

Zweck dieser Untersuchung ist es, die Regeln der Gesellschaft in Klassen zu zerlegen und ihre jeweilige Funktion zu bestimmen. Krokodile jagen Artgenossen und fressen auch eigenen Nachwuchs. Möglicherweise dient ihr Kannibalismus dazu, das Populationswachstum zu begrenzen und damit dramatischen Hungerkatastrophen vorzubeugen – insofern lässt es sich als funktionell zweckmäßig interpretieren. Uns Menschen schaudert der Gedanke, wir würden ähnlich verfahren. Menschlicher Kannibalismus ruft heftigen Ekel, Entrüstung und kompromisslose moralische Verurteilung hervor.1 Ein sprechendes Krokodil würde anders urteilen. Delfine sind auch Raubtiere. Als reine