Liberalismus im Zeitalter der Globalisierung - Helmut Krebs - E-Book

Liberalismus im Zeitalter der Globalisierung E-Book

Helmut Krebs

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Beschreibung

Das 21. Jahrhundert steht im Zeichen der Globalisierung. Der Welthandel entwickelt sich exponentiell. Die Mobilität von Waren, Kapital, Menschen und Ideen nimmt stetig zu. Die Menschheit wächst zu einer Weltgesellschaft zusammen, in der das Wohl der einzelnen Nation von dem aller anderen abhängt. Dabei hebt sich der Lebensstandard der meisten Menschen in den meisten Ländern in einer geschichtlich einmaligen Weise. Grundlage dieser epochalen Veränderungen ist der Liberalismus. Das vorliegende Buch soll einer scheinbar verstaubten Idee aus vorigen Jahrhunderten eine neue Perspektive in einem weiteren Horizont geben.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Für einen modernen Liberalismus

Der historische Horizont

Der Liberalismus heute im weiteren historischen Kontext

Philosophische Probleme

Die liberale Gesellschaftstheorie im Spiegel der Vier Elementaren Beziehungsmodelle

Die Erweiterung der Praxeologie zu einer wahrhaft allgemeinen Theorie des Handelns

Die innere Widersprüchlichkeit der Minimalstaatsidee, Teil 1

Die innere Widersprüchlichkeit der Minimalstaatsidee, Teil 2

Über die Verarmungstheorie im Rahmen des Interventionismus

Entwicklungsprobleme

Der Kosmopolitismus der klassisch Liberalen

„Warum Nationen scheitern“

Sonderwirtschaftszone statt Wagenburg

Europa

Die Vereinigten Staaten von Europa

Europa weitergedacht

Schlussbetrachtungen

EINLEITUNG

Wir legen eine Sammlung von Aufsätzen der Öffentlichkeit vor, die in einem lockeren Diskussionszusammenhang nach und nach entstanden. Sie bewegen sich um ein gemeinsames zentrales Thema, nämlich um die Frage, wie der Liberalismus heute in unserer Zeit der Globalisierung begriffen werden kann. Die Texte sind Zeugnisse einer Verständigung und eines Lernprozesses. Einige wurden aus unterschiedlichen Anlässen und für eine wechselnde Leserschaft geschrieben. Einige stilistische Unebenheiten blieben stehen und zeugen von unseren Lernfortschritten. Sie wurden von uns absichtlich nicht zu einem einheitlichen Essay verschmolzen, weil wir in der individuellen Differenz einen Wert des Liberalismus sehen. Der Leser wird womöglich nicht nur Unterschiede, sondern auch Widersprüche in unserer Argumentation entdecken. Um so besser! Widersprüche regen zum eigenen Denken an. Um Denkanstöße für eine Weitung des Horizonts soll es uns vor allem gehen. Diese seien ein Anfang auf dem Weg zu einem besseren Verständnis der Gegenwart.

In den vorderen Teilen des Buches unterziehen wir die philosophischen Sichtweisen des heutigen Liberalismus einer kritischen Überprüfung. Die hinteren Teile wenden sich eher praktischen Fragen zu. Die Unterentwicklung des größeren Teils der Menschheit ist das zentrale Problem. Die internationale Integration der hochentwickelten Länder wirft neue, bis dato noch ungelöste und theoretisch noch nicht ausgeleuchtete Fragen auf.

Für einen modernen Liberalismus

von Maximilian Tarrach

Wir Menschen verdanken den Ideen des Liberalismus unser Überleben. Die Marktwirtschaft, die Gewaltenteilung, der Rechtsstaat, das Menschenrecht und die Freiheit bilden das Fundament unserer Gesellschaft. Ohne die theoretische Durchdringung und Aufarbeitung dieser Institutionen wäre der unglaubliche Fortschritt der letzten 200 Jahre von der Agrargesellschaft zur modernen, industriellen, voll vernetzten, reichen Zivilisation niemals gelungen. Doch wir dürfen nicht bei einem starren Dogma des Liberalismus stehen bleiben. Der klassische Liberalismus und der Libertariemus sind blind geworden für die Veränderungen unserer Zeit. Sie erheben die Fahnen für eine Realität des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie sind stecken geblieben im Kalten Krieg, im Antagonismus zwischen Freiheit und Knechtschaft. Als der Eiserne Vorhang fiel, waren ihre großen Denker bereits tot oder nicht mehr in der Lage, ihre Theorien anzupassen und neu zu formulieren. In den neuen Problemen unserer Zeit suchen sie vergeblich Sozialismus und Planwirtschaft, Totalitarismus und Staatsgewalt gegen Individuum und Freiheit auszuspielen. Doch die Ernte muss misslingen, da die Bedingungen nun andere sind. Ein neuer Liberalismus muss die Lebenswirklichkeit unserer Zeit anerkennen, an ihr ansetzen und von ihr aus neue Ideale formulieren.

Der neue Liberalismus muss sich als global verstehen. Er denkt und lebt im globalen Dorf der Erde. Er hat eine Ökumene zum Ziel und im Auge, welche die Verwirklichung der Freiheits- und Friedensideale für alle Menschen qua Menschsein vorsieht. Er denkt humanistisch, verengt sich damit nicht auf wirtschaftliche Prosperität. Kulturelle Vielfalt und Verschiedenheit der Lebensstile sind ihm ebenso wichtig, wie restlose Gleichstellung und Akzeptanz aller Menschen, sowohl rechtlich als auch gesellschaftlich. In der rechtlich-politischen Sphäre des Lebens grenzt er sich vom Irrationalismus ab, begreift sich daher als laizistisch. Der Versuch eines nur halbgaren Säkularismus muss als gescheitert angesehen werden. Die Zukunft gehört der Trennung zwischen Staat, Öffentlichkeit und Glauben. Alle Bekenntnisse sind und bleiben irrational und daher müssen sie in Bereichen, welche der rationalen Untersuchung zugänglich sind, weichen. Die Lehren der abrahamitischen Religionen gehören ins Hinterzimmer, in die private Stube und die Herzen der Einzelnen. Der neue Liberalismus verlangt ihnen gegenüber ständige Aufmerksamkeit und grundsätzlichen Argwohn. Dieser Argwohn speist sich aus der Maxime, dass diese niemals zur Richtschnur des politischen Handelns werden dürfen.

Der neue Liberalismus steht hinter der repräsentativen Demokratie. Pegida und Straßenmob sind nicht der umzusetzende Volkswille, sie sind zersetzende Kräfte fehlgeleiteter orientierungsloser Menschen. Die repräsentative Demokratie tut gut daran, nicht jedem schnellen Stimmungswechsel der Massen zu folgen, sich langfristig zu orientieren, das Vertrauen in Personen durch Vertrauen in Institutionen zu ersetzen. Die Straße dagegen denkt nicht, sie pöbelt, die Straße diskutiert nicht, sie brüllt nieder, die Straße wägt nicht verantwortungsvoll ab, sie erhängt ihre Gegner am selbst gebastelten Galgen.

Der neue Liberalismus hingegen ist nicht staatsfeindlich. Er begrüßt die Friedenswirkung des Rechts, der milden Politik, der Zivilgesellschaft. Er unterstützt die Initiativen zu internationalen Abkommen, ob Handel oder Frieden, ob Verteidigungsbündnis oder Staatengemeinschaft. Er begreift die Notwendigkeit von sozialem Zusammenhalt, von Sicherheit der Ordnung um jeden Preis. Daher steht er hinter einer aktiven Renten-, Energie- und Wirtschaftspolitik. Er will öffentliches Leben und öffentliche Güter. Er duldet und akzeptiert nicht nur den Aufbau eines umfassenden Gemeinwesens zum Nutzen aller, er fordert und fördert ihn eindringlich. Menschen sind auf ihre Gemeinschaft angewiesen, der Zusammenhalt gehört in die Politik, steht ihr nicht entgegen. Der Tribalismus der Kleingruppe muss nicht aus der Großgesellschaft verbannt werden, er bildet ihre unsichtbare Klammer. Das unveräußerliche international gedachte Menschenrecht ist Zeugnis dieser Tatsache.

Der neue Liberalismus steht den Konflikten und Kriegen dieser Welt nicht gleichgültig oder gar höhnisch gegenüber. Als Teil der Ökumene geht Untergang eines Teiles jeden anderen Teil der Ordnung an, besteht untrennbare Interdependenz. Hilfe und Aufbau an der Zivilisation anderer ist Hilfe an uns selbst. Nationalismus und Abschottung müssen überwunden, Fremdenfeindlichkeit als schlechte Ausrede für das eigene Versagen und die eigenen Abstiegsängste entlarvt werden.

Der neue Liberalismus steht hinter dem Westen. Er hat in ihm seinen Ursprung und findet seine Ideale in ihm am meisten verwirklicht. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind kein Reich des Bösen, sind keine neue Supermacht der Unterdrückung. Sie sind der einzige Grund für eine Nichtinvasion freiheitsfeindlicher Schergen in Europa und immer noch das Land der Freiheit.

Den Terror begreift der neue Liberalismus als ernstliche aber bekämpfbare Bedrohung der Ordnung. Der neue Liberalismus steht mit ihm im Krieg, befindet sich daher aktuell im Notstand. Stärkere Überwachung und polizeiliches Handeln sind daher nicht illiberal, sondern einzig richtige Antworten auf die menschenverachtenden Ideologien des Terrorismus.

Der neue Liberalismus trennt sich von dem blinden Vertrauen in die besseren Ideen der Aufklärung. Er weiß, dass eine freiheitliche Ordnung bewusst erschaffen, erhalten und befördert werden muss. Freiheit erkämpft sich nicht von selbst, große Teile der dritten Welt werden nicht von allein zum besseren Glauben finden. Wenn das weltweite Abschlachten ein Ende haben soll, brauchen wir eine aktive Befriedungspolitik. Der Isolationismus früherer Zeiten ist mit einem global gedachten Liberalismus daher unvereinbar. Darüber hinaus muss die heutige westliche Welt nicht erst untergehen, bevor liberale Reformen ergriffen werden können: Wir leben bereits im Liberalismus. Was der neue Liberalismus will, ist schrittweise auf diesem Pfad weiterzugehen.

Frau Merkel ist aus seiner Sicht keine Volksverräterin und Deutschland kein Unrechtsstaat, Inklusion von Minderheiten kein Feind der offenen Gesellschaft, Steuern sind kein Raub, Flüchtlinge keine Invasoren oder Parasiten, Recht und Gesetz kein Widerspruch zur Freiheit.

Der neue Liberalismus durchdringt vielmehr alles und jeden. Er ist Gesellschaftstheorie, politische Lehre, Zukunftsvision und humanistisches Ideal in einem. Er braucht weder ein Parteibuch, noch eine Schule, weder doktrinäre Anhänger, noch populistische Meinungsmache. Alles, was er benötigt, sind der intellektuellen Redlichkeit verpflichtete Denker, welche sich an seinem Aufbau beteiligen möchten. Er hat einen klaren Kern und eine klare Botschaft: Die Selbstzwecklichkeit des Menschen und zwar aller Menschen.

DER HISTORISCHE HORIZONT

Der Liberalismus war ursprünglich eine revolutionäre, zukunftsgewandte Philosophie. Die frühliberalen Rationalisten (Hobbes, Grotius u.a.) sprengten die geistige Welt des Mittelalters, die klassischen Liberalen (Hume, Smith, Kant u.a.) sodann die des Merkantilisimus und Absolutismus. Doch befindet er sich seit dem 19. Jahrhundert in einer Defensivposition. Sein Kampf gegen den Sozialismus und die Gegenaufklärung, der großen zerstörerischen Kraft, fokusierte den Blick zurück auf den klassischen Liberalismus, der dogmatisiert und radikalisiert wurde. Im Sozialismus wurde eine Renaissance des Staatsabsolutismus erkannt, im Sozialreformismus eine Renaissance des spätabsolutistischen Wohlfahrtsstaates, die es abzuwehren galt. Doch sind die gesellschaftlichen Veränderungen des letzten Halbjahrhunderts mit den Theorien des 19. Jahrhunderts nicht adäquat zu beschreiben. Der sogenannte Dritte Weg, auf dem sich unsere heutige Gesellschaft befindet, wenn es denn einer ist, führt nicht in eine planwirtschaftliche Diktatur. Es ist an der Zeit, den Horizont zu weiten und eine breitere Perspektive zu gewinnen.

Der Liberalismus heute im weiteren historischen Kontext

von Helmut Krebs

Enger und weiter Begriffsumfang des Liberalismus

Die westlichen Länder sind liberale Demokratien. Wir leben in liberalen Verhältnissen. Um das Wesen unserer westlichen Welt zu verstehen, ist es zweckmäßig, die Gegenwart in einen Bezug zur Abfolge der historischen Fortschritte der Moderne zu stellen. Seit dem Niedergang des sozialistischen Imperiums und der Reform des maoistischen Systems hat sich weltweit der liberale Wesenskern der westlichen Länder als historische Haupttendenz durchgesetzt. Das kommunistische Dogma der Gleichheit aller Lebensverhältnisse wich der Einsicht, dass ohne Privateigentum und ohne Streben nach Glück und Wohlstand Nationen nicht prosperieren können. Wir wollen die heutigen Gegenkräfte nicht unterschätzen, insbesondere nicht die Islamofaschisten und die Despotien aller Art. Russland bietet ein anschauliches Beispiel für die weiterhin bestehende Möglichkeit, dass auf eine Liberalisierung autoritärer, exkludierender Gesellschaften eine Gegenreaktion erfolgen kann, die zur Restauration der Oligarchie oder gar zu einem Staatsabsolutismus führen kann. Doch die globalen Kräfteverhältnisse sind eindeutig: Der Westen ist der Leitstern der meisten Menschen weltweit, insbesondere für die unterentwickelten Länder und für die oppositionellen Gruppen in den Diktaturen der islamischen Welt. Die Migrationswellen nach Norden zeigen dies.

Aus der heutigen Gesellschaft in den westlichen Ländern lässt sich ein liberaler Wesenskern herausschälen. Nennen wir ihn Liberalismus im weiteren Sinn. Vorläufig verstehen wir darunter eine parlamentarische Demokratie mit umfassenden Menschen- und Bürgerrechten plus eine Marktwirtschaft, die durch egalitäre Umverteilungen und Regeln sowie einige staatsdirigistische Elemente durchsetzt ist. Der Begriff des Liberalismus im engeren Sinn fällt zusammen mit dem klassischen Liberalismus. Viele Spielarten der diversen liberalen und oder libertären Lager lassen sich aus der Inkongruenz dieser beiden Begriffe ableiten. Wenn ich im Folgenden von „Liberalismus“ spreche, meine ich den weiten Begriff, bzw. die geschichtliche Realität, die durch ihn geprägt ist.

Vergleich des heutigen Liberalismus mit der Zeit davor

Die Merkmale der vormodernen, mittelalterlichen Verhältnisse waren folgende:

Agrargesellschaft mit schwachem Handel und unterentwickelter Infrastruktur

Kleinstädte mit Regionalmärkten

Dezentralisierung der Gewalt im Landadel

große Zahl von Kleinstaaten (in Europa etwa 5000)

schwache Zentralgewalt der Könige und des Kaisers

ständige Fehden und Kriege der Fürsten und Barone

Ideologische Hegemonie der Kirche

Rivalität der katholischen Kirche mit den weltlichen Herrschern

Leibeigenschaft und Feudalwesen

starre Klassengesellschaft mit einer strengen hierarchischer Ordnung

geringe Lebenserwartung, niedrige Bevölkerungszahlen Armut, hohe Kinderzahl, unhygienische Verhältnisse, hohe Gewaltrate (nach Pinker

1

etwa 50 bis bis 100 pro 100.000 p.a.)

Am Ende einer Entwicklung, die vor fünfhundert Jahren anhob, änderten sich alle diese Variablen. Wir leben heute in Verhältnissen die sich durch folgende Merkmale auszeichnen:

hoher Grad an Mechanisierung und Automatisierung der Produktion

hohe Mobilität von Waren, Kapital, Menschen und Ideen

globale Arbeitsteilung und starker Welthandel

Hebung des Lebensstandards für alle Menschen auf ein Niveau, das über dem der mittelalterlichen Oberschicht liegt

Dienstleistungsgesellschaft mit hochentwickelter materieller und kultureller Infrastruktur

Gewaltenteilung und demokratische Kontrolle der Gewalten

Zentralisierung der Gewalt in einem staatlichen Monopol

Befriedigung der Gesellschaft nach innen und außen (Gewaltrate 1 bis 10 pro 100.000 p.a.)

Menschenrechte für alle und geistige Freiheit, religiöse Toleranz, Humanisierung aller Bereiche

Durchlässigkeit und Inklusion aller Gesellschaftsgruppen, Tendenz zur Mittelstandsgesellschaft

hohe Lebenserwartung, hohe Bevölkerungszahlen, niedrige Kinderzahl, hochentwickelte Hygiene und medizinische Vorsorge, Umwelt- und Tierschutz

Dies ist es, was wir unter den Vorzügen der westlichen Lebensweise verstehen. Die Ideen, die diese Verhältnisse begründen, nennen wir Liberalismus.

Die Genetik des Fortschritts

Kapitalbildung: Der große Wohlstand unserer Zeit erwächst aus dem, was wir Kapitalismus nennen können. Das Wort wird häufig pejorativ verwendet. Doch drückt es ein Prinzip aus, das für alle Gesellschaften und alle Wirtschaftssystem gültig ist. Kapital sind Produktionsfaktoren, die die Arbeit ergiebiger machen. Es sind die sachlichen Kapitalgüter (Rohstoffe und Maschinen) und das liquide Betriebskapital, die in Marktwirtschaften beide privatwirtschaftlich und frei sind. Der zweite Faktor ist die Arbeit. Zu ihm gehört eine gut ausgebildete Facharbeiterschaft, was eine hoch entwickelte Kultur von öffentlichen Gütern und Solidargemeinschaften voraussetzt (Bildung, Datenbestände, Forschung, Recht, Polizei und Militär, Versorgung und Entsorgung mit Wasser und Strom, Notfall- und Katastrophenhilfe, Verkehrssysteme und Datennetze sowie Sozialversicherungen usw.). Eine reiche Wirtschaft muss ständig weitere Rohstoffe erschließen, die Produktion mechanisieren und automatisieren, die Fachkenntnisse der Produzenten ausbilden, Wissen erweitern und – dies ist Voraussetzung all dieser Bedingungen – ständig neues Kapital einschießen. Dies kann nur aus den eingesparten Werten entstammen, die erzeugt wurden. Ein Teil des Gesamtprodukts darf nicht konsumiert werden, sondern muss in Geldform zurückgelegt werden, um es als Kredit investiv einsetzen zu können. Gesellschaften mit hohen Sparquoten sind progressiv, mit niedrigen sta-gnativ. Außerdem kann es zum Kapitalverzehr kommen. Dann haben wir rückläufige Entwicklungen. Eine Wirtschaftsordnung, die die Quote der Kapitalgüter pro Kopf der Bevölkerung ständig vermehrt, kapitalisiert sich. Wir nennen sie daher Kapitalismus.

Arbeitsteilung: Neben der Kapitalbildung ist die sich ausbreitende Arbeitsteilung in Verbindung mit Spezialisierung eine zweite Quelle des Wohlstands. Durch Arbeitsteilung mit anschließendem Austausch der Produkte können sich die Produzenten spezialisieren. Sie produzieren das, was sie am kostengünstigsten und besten können. Dieses einfache Prinzip vermehrt das Gesamtprodukt. Arbeitsteilung und Handel breiten sich in der Tiefe der Produktion aus (in den Produktionslinien) oder expansiv (in der Fläche). Immer mehr Gebiete verbinden sich zu einem zusammenhängenden Wirtschaftsraum. Bei jeder Ausweitung sind Produktivitätszuwächse zu gewinnen.

Der wirtschaftliche Wohlstand ist das Fundament des zivilisatorischen Fortschritts. Kapitalismus braucht zuversichtliche Unternehmer, die Kapital riskieren. Zuversicht setzt den Schutz vor Gewalt durch andere Menschen und vor staatlicher Willkür voraus. Die gesellschaftliche Ordnung ist die Voraussetzung für die Wirtschaftsordnung und umgekehrt. Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln sich in wechselseitiger Bedingtheit. Wie sich diese wohlhabende, friedliche und humane Ordnung aus einem Chaos an Gewalt und Kurzlebigkeit herausbilden konnte, ist die Geschichte der Entwicklungsphasen, die im Folgenden skizziert werden sollen. Marktwirtschaften setzen durchsetzbare Rechtsordnungen voraus. Dazu sind staatliche Gewaltmonopole sowie eine Kultur der Vertragstreue notwendig.

Abriss der Entwicklungsphasen

Am Beispiel Englands (bzw. Großbritanniens) soll ein Schema dargestellt werden, das zeitversetzt in allen westlichen Ländern mehr oder weniger in ähnlicher Weise ablief. Das Schema folgt einer inneren, strukturellen Logik. Es ist nicht zufällig in dieser Reihenfolge entstanden. Ausgangspunkt war die oben beschriebene mittelalterliche Feudalgesellschaft.

1. Schritt: Durchsetzung des Zentralstaates

Die Rosenkriege in England (1455 bis 1485) war der Kampf zweier Adelsgeschlechter (Lancaster und York) um die Königskrone. Sie endeten mit der Vernichtung fast aller Hochadligen der beiden Geschlechter und sehr vieler ihrer Vasallen. Am Ende konnte sich eine Nebenlinie der Lancaster an die Spitze des geschwächten Königreiches setzen: Heinrich VII. Tudor. Er bestieg 1509 den Thron.

Die Tudors begründeten eine Dynastie, die mit dem Tod von Elisabeth I., der Enkelin Heinrichs des VII. und Tochter Heinrichs VIII. endete. Sie wurde von ihren Nachfolgern fortgesetzt. Die frühmodernen Monarchen formten aus dem feudalen, darniederliegenden, mittelalterlichen Land einen modernen Nationalstaat. Die mit ihnen konkurrierenden Hochadligen und die Kirchenfürsten wurden in ein Parlament integriert (das auf uraltem Recht seit der Magna Charta fußte) und blieben damit einerseits Teil des Herrschaftsmechanismus, andererseits standen sie unter der obersten Führung des Königs und waren letztlich subordiniert. Die katholische Kirche wurde entmachtet und die Klöster enteignet. Mit Hilfe der anglikanischen Staatskirche wurde eine flächendeckende Verwaltung aufgebaut und die Landadligen neutralisiert. Stehendes Parlament, stehende Verwaltung und stehendes Heer sind die ersten institutionellen Errungenschaften des Zentralstaates. Sein Wesen ist die Durchsetzung des Gewaltmonopols unter dem obersten Willen des Souveräns. Um das stehende Herr zu einem Machtfaktor zu machen, das in die hintersten Gebiete des Reiches wirken kann, mussten Chausseen angelegt und die Flüsse schiffbar gemacht werden. Die außenpolitische Macht stützte sich im Fall Englands auf die Flotte und den Ausbau der Häfen. Nach der Entdeckung Amerikas beuten spanische Eroberer die Bodenschätze der Neuen Welt mittels Sklaverei aus. Sklavenhandel, die Einfuhr von Gold nach Europa und Piraterie stehen am Anfang der Kapitalbildung. Die Infrastrukturmaßnahmen begünstigten die spätere Industrialisierung und den Handel. In vielen frühen absolutistischen Staaten Europas wurde ein obligatorisches Schulwesen landesweit schon im Zeitalter des Absolutismus eingesetzt, so etwa in Preußen. Der Landesfürst entscheidet über die Religion seiner Untertanen. Abweichende Glaubensgemeinschaften werden unterdrückt und zur Emigration gezwungen.

In systemischer Sicht wurden viele Kleinhierarchien in eine Zentralhierarchie gezwungen. Die Gewalt durfte nur noch von der Zentralmacht ausgeübt werden. Dies führte zu einem Absenken der Mortalität. Durch die Zentralisierung der Macht und Verwaltung waren die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Gestaltung der Machtausübung an einer zentralen Stelle zu beeinflussen.

Die Konfliktlinien verlagerten sich aus dem Innern nach außen. Statt Dauerfehden wurden Kriege der Nationen geführt.

Die wichtigsten Denker des frühen Staatsabsolutismus waren die Kirchenreformatoren, die Humanisten, sowie Jean Bodin, Hobbes und Grotius. Leitideen: Souveränität (gleichbedeutend mit Obrigkeit und identisch mit Nation, l’état c’est moi!), Völkerrecht.

In Frankreich kommt Henry IV. eine ähnliche Bedeutung zu wie in England Heinrich VIII. In Deutschland sind es die protestantischen Landesfürsten, etwa Friedrich der Weise von Brandenburg.

2. Schritt: Durchsetzung des Rechtsstaates

Die Idee eines Rechtsstaates bildete sich im Zeitalter des Absolutismus (1600 bis 1750) heraus. Er führte am Ende zum Leitbild des aufgeklärten Absolutismus, für das in Deutschland Friedrich II. von Preußen und Kaiser Josef II., in Russland Katharina die Große stehen. Die Willkürherrschaft eines einzigen Menschen musste an Prinzipien einer klugen Staatsführung gebunden werden, die die Launenhaftigkeit, die individuellen Schwächen und Ungerechtigkeiten des Despoten kanalisieren. Schon Ludwig XIV. war für rationale Prinzipien zugänglich. Die Frühaufklärer und Frühliberalen wirkten neben den Jesuiten lange als Fürstenberater und -erzieher, bis schließlich die Idee einer Verfassung entstand, auf die der Monarch schwören sollte. Die Konstitutionelle Monarchie steht am Ende der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols als Höhepunkt eines Prozesses der ersten Zivilisierung roher Gewalt. Der Übergang war in der Regel revolutionär. In England setzte ihn die Glorious Revolution (1689) durch, in Frankreich die Revolution von 1789 bis 1803.

Eine konstitutionelle Monarchie stellt das staatliche Gewaltmonopol auf die Grundlage verbindlicher Regeln, die am Gemeinwohl orientiert sind. Der Rechtsstaat entsteht. Diesem muss sich der Monarch beugen. Sie werden damit von persönlicher Willkür befreit und über die Wechselfälle der Regierungen auf Dauer gestellt. Die Gewalt wird geteilt und letztlich vom Parlament kontrolliert (Primat der ersten Gewalt). Die Justiz ist anfangs noch der Exekutive unterstellt. An die Stelle der obrigkeitlichen Souveränität tritt die Idee der Volkssouveränität. Die politischen Parteien üben die Macht abwechselnd aus, ohne sie zur Vernichtung ihrer Gegner zu missbrauchen. Diese Idee des Pluralismus ist die Voraussetzung der Demokratie. Diese drückt sich in Wahlen aus. Bürgerrechte sind aber nur einer besitzenden Elite vorbehalten. Es handelt sich folglich um eine aristokratische Demokratie oder eine demokratische Oligarchie. Die Glaubensbekenntnisse werden nebeneinander bestehend toleriert. Staat und Kirche sind mehr oder weniger voneinander getrennt (Laizismus). Die Religion des Herrschers kann von der der Oberschicht und des Volkes abweichen. Die Rechtsidee wird naturrechtlich begründet. Doch bleibt sie an den Willen des Herrschers gebunden.

Kapitalistisches Unternehmertum und Märkte entwickelten sich stetig aber langsam. Die vorherrschende Doktrin ist der Merkantilismus und der Wohlfahrtsstaat. Der Merkantilismus orientiert sich an einem möglichst hohen Staatseinkommen, das Grundlage für den Prunk der Herrscher und deren Kriege ist. Die Gewinne der Bürger werden weitgehend abgeschöpft, was die Kapitalbildung verzögert. Die Wohlfahrtsstaatsdoktrin verpflichtet den Herrscher dazu, für das Wohl seiner Untertanen zu sorgen. Untertanentreue und herrschaftliche Fürsorge bedingen einander. Ein ausuferndes Ämterwesen vermittelten Einkommensquellen für das reiche Bürgertum durch Herrschergunst auf Kosten der Bauern. Die Bekämpfung der Raubritter und Räuber, die am Handel schmarotzen, die Abschaffung der kleinstaatlichen Zölle und die Durchsetzung landesweiter Standards senken die Transaktionskosten. Die Eintreibung der Steuern durch Kommisäre lastet vor allem auf der Masse der Bauern. Die Landbevölkerung verarmt. Die Anlage von befestigten Straßen und schiffbaren Wasserwegen ermöglichen ein florierendes Post- und Transportwesen. Die Mordrate sinkt in England von 50 im Jahr 1300 auf unter 10 pro 100.000 p.a. bis zum Jahr 1600.