Kleine jüdische Geschichte - Michael Brenner - E-Book

Kleine jüdische Geschichte E-Book

Michael Brenner

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Beschreibung

Die Geschichte der Juden von der Antike bis heute

Klar, anschaulich und mit Blick für das Wesentliche erzählt Michael Brenner die wechselvolle Geschichte der Juden, die sich über 3000 Jahre und fünf Kontinente erstreckt. Der Holocaust, die Geschichte Israels und das amerikanische Judentum kommen ebenso zur Sprache wie die Anfänge in biblischer Zeit. Neue Einblicke vermitteln auch die zahlreichen Abbildungen, die mehr sind als nur illustrierendes Beiwerk.
Die Geschichte der Juden wird heute oft auf Verfolgungen, die tragischen Geschehnisse des Holocaust und die politischen Ereignisse im Nahen Osten verengt. Dieses Buch will den Blick öffnen für ein vielseitigeres und farbigeres Bild, zu dem vor allem auch der fruchtbare Austausch mit anderen Kulturen gehört. Obwohl sie immer eine kleine Minderheit waren, haben die Juden ihre Spuren in zahlreichen Kulturen hinterlassen, die großen Weltreligionen mitgeprägt und eigene Lebenswelten entwickelt. Michael Brenner schildert prägnant und anhand treffender Beispiele die facettenreiche Geschichte einer Nation und einer Religion. Er nimmt den Leser mit auf eine Weltreise vom Vorderen Orient über die griechische und römische Welt, das maurische Spanien und Mitteleuropa bis nach Osteuropa, Israel und Amerika. So entsteht das faszinierende Panorama einer Geschichte, die gerade wegen der vielen Brüche und erzwungenen Neuanfänge durch ihre Kontinuität und Treue zu den eigenen Wurzeln beeindruckt.

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Michael Brenner

Kleine jüdische Geschichte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

 

Zum Buch

Die Geschichte der Juden wird heute oft auf Verfolgungen, die Verbrechen des Holocaust und die politischen Ereignisse im Nahen Osten verengt. Dieses Buch will den Blick öffnen für ein vielseitigeres und farbigeres Bild, zu dem vor allem auch der fruchtbare Austausch mit anderen Kulturen gehört. Obwohl sie immer eine kleine Minderheit waren, haben die Juden ihre Spuren in zahlreichen Kulturen hinterlassen, die großen Weltreligionen mit geprägt und eigene Lebenswelten entwickelt. Michael Brenner schildert prägnant und anhand treffender Beispiele die facettenreiche Geschichte einer Nation und einer Religion. Er nimmt den Leser mit auf eine Weltreise vom Vorderen Orient über die griechische und römische Welt, das maurische Spanien und Mitteleuropa bis nach Osteuropa, Israel und Amerika. So entsteht das faszinierende Panorama einer Geschichte, die gerade wegen der vielen Brüche und erzwungenen Neuanfänge durch ihre Kontinuität und Treue zu den eigenen Wurzeln beeindruckt.

Über den Autor

Michael Brenner, geb. 1964, ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München und Direktor des Center for Israel Studies an der American University in Washington, D. C. Er ist Internationaler Präsident des Leo Baeck Instituts und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates» (2. Aufl. 2016), «Geschichte des Zionismus» (5. Aufl. 2019) sowie «Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart» (als Hg., 2012).

Inhalt

Vorwort

1. Von Ur nach Kanaan: Ein Volk auf Wanderschaft

2. Vom Exil zurück in die Heimat: Priester und Propheten

3. Vom Hebräischen ins Griechische: Verachtung und Bewunderung

4. Von Modein nach Jerusalem: Ein jüdischer Staat steht und fällt

5. Von Jerusalem nach Jawne: Die Diaspora legitimiert sich

6. Von Medina bis Bagdad: Unter islamischer Herrschaft

7. Von Sura nach Cordoba: Sefarad – jüdische Kultur auf der Iberischen Halbinsel

8. Von Lucca nach Mainz: Aschkenas – die Wurzeln des mitteleuropäischen Judentums

9. Von Lissabon nach Venedig: Folgen der Vertreibung

10. Von Chaibar nach Rom: Messianische und mystische Bewegungen

11. Von Westen nach Osten: Ein neues Zentrum in Polen

12. Von Dessau nach Berlin: Landjuden, Hofjuden und Aufklärer

13. Vom Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft: Politische Emanzipation und religiöse Reform

14. Von Posen nach New Orleans: Neuanfang in Amerika

15. Von Płońsk in die Lower East Side: Ostjüdische Träume und amerikanische Realität

16. Von Budapest nach Tel Aviv: Altneuland in Zion

17. Von Tetuan bis Teheran: Die Europäisierung der Juden in der islamischen Welt

18. Von Czernowitz nach Cernăuti: Politische Krise und kulturelle Blüte zwischen den Kriegen

19. Von überall nach Auschwitz: Vernichtung

20. Von Julius Streichers Hof in den Kibbuz: Die jüdische Welt nach dem Holocaust

Anhang

Jüdische Geschichte in Zahlen

Literaturhinweise

Bildnachweis

Namenregister

Geographisches Register

Vorwort

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wird die Geschichte der Juden immer wieder anders erzählt. Der erste Historiker, der eine ausführliche nachbiblische Geschichte der Juden verfasste, war ein französischer Hugenotte im niederländischen Exil. Jacques Basnage und viele andere christliche Autoren nach ihm wollten zeigen, dass das Exil eine göttliche Strafe dafür war, dass die Juden den wahren Glauben, nämlich das Christentum, nicht erkannten. In ihrer Deutung ist die jüdische Geschichte Teil eines christlichen Heilsplans. Jüdische Historiker, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit wissenschaftlichen Methoden der jüdischen Geschichte widmeten, schrieben sie wiederum mit anderen Motiven. Viele deutsch-jüdische Wissenschaftler des frühen 19. Jahrhunderts wollten nachweisen, dass die Juden ihrer eigenen Zeit die Emanzipation verdienten. Daher erzählten sie die jüdische Geschichte als die Geschichte einer religiösen Minderheit, die sich dem Staat, in dem sie lebte, anpasste und zu dessen Wohl beitrug. Spätere jüdische Historiker in Osteuropa stellten die Juden dagegen als eine eigenständige Nation unter anderen Nationen dar – eine Nation jedoch, die kein eigenes Territorium hatte und auch keines brauchte und deren politische Autonomie in der Institution der jüdischen Gemeinde zum Ausdruck kam. Zionistische Historiker schließlich stellten das Land Israel in den Mittelpunkt. Für sie bildete die Zerstreuung der Juden unter andere Völker nur ein Zwischenstadium. Wo immer sie lebten, haben ihnen zufolge die Juden auf die Rückkehr in ihre angestammte Heimat Israel gewartet.

Angesichts so unterschiedlicher Deutungen der jüdischen Geschichte wäre es vermessen, nun endlich eine «wahre» Geschichte der Juden schreiben zu wollen. Jeder Historiker weiß heute, dass man nicht, wie Leopold Ranke im 19. Jahrhundert meinte, erzählen kann, «wie es eigentlich gewesen» ist. Historiker sind, wie alle Menschen, von ihrer Zeit, ihrer Herkunft, ihren Lehrern, ihrer Umgebung und ihren politischen Überzeugungen geprägt. Sie mögen eine Quelle als zuverlässiger betrachten als eine andere. Wichtig ist, dass sie die Fragen wahrnehmen, die die Generationen vor ihnen gestellt haben, und auch solche Quellen betrachten, die ihrer eigenen Interpretation widersprechen, dass sie selbstkritisch erkennen, wo ihre eigene Sicht auf die Geschichte in den Dienst politischer oder religiöser Interessen zu treten droht.

Die Geschichte der Juden zu erzählen ist nicht einfach, weil Menschen in fast allen Teilen der Erde nicht nur irgendetwas über die Juden gehört, sondern auch irgendeine Meinung zu ihnen haben. Für eine Gruppe, die niemals mehr als 1 Prozent der Weltbevölkerung ausgemacht hat, mag dies keine geringe Ehre sein. Für den Historiker erschwert es jedoch den notwendigen distanzierten Blick, wenn von den Juden als dem Volk Gottes oder den Gottesmördern die Rede ist, wenn der «jüdische Intellekt» beschworen oder das «internationale Finanzjudentum» an den Pranger gestellt wird, wenn Israel als Bastion der Zivilisation inmitten einer Welt der Barbarei gepriesen oder als brutales Regime inmitten einer friedliebenden Welt verdammt wird.

Für viele Juden, Christen und Muslime ist die Bibel – und damit der Ursprung der Juden – göttliches Wort, an dem nicht zu zweifeln ist. Auch viele nichtreligiöse Menschen, die in der jüdischen, christlichen oder muslimischen Welt aufgewachsen sind, kennen Geschichten und Aussagen der Bibel – oft in einer säkularisierten, von ihrem ursprünglichen religiösen Gehalt losgelösten Form – und haben so ebenfalls ein bestimmtes Bild von der frühen Geschichte der Juden. Die spätere Geschichte der Juden wird insbesondere nach dem Holocaust oft als eine einzige Anreihung von Verfolgungen wahrgenommen, in der die Juden stets Opfer waren. Der Völkermord an den Juden im 20. Jahrhundert erscheint so als logische Konsequenz des vorausgehenden Antisemitismus. Schließlich überschattet heute die Medienpräsenz zum Thema Israel jede Beschäftigung mit den Juden. Sie werden häufig vor allem aus der Perspektive des Nahostkonflikts betrachtet, und ihre Geschichte wird dann als Ursache für die Eskalierung dieses Konflikts verstanden.

Eine Geschichte der Juden muss den Horizont über solche Themen hinaus erweitern. Im vorgegebenen Rahmen können manche Kapitel dieser dreitausendjährigen Geschichte jedoch nur vorsichtig angetippt werden, andere müssen ganz unerwähnt bleiben. Auf einige Themen kann dafür beispielhaft ausführlicher eingegangen werden. Der rote Faden, der sich durch dieses Buch zieht, ist die Migration. Juden waren nicht immer auf Wanderschaft, aber Wanderschaft hat die jüdische Geschichte über sämtliche Epochen und Kontinente hinweg charakterisiert. So wird jedes Kapitel mit der Geschichte einer Wanderung eingeleitet. Jedes Kapitel enthält eine Illustration aus der Pessach-Haggada. Jene oftmals reich bebilderte Zusammenstellung von Bibeltexten, Legenden und Gebeten wird am Sederabend, dem Auftakt des Pessachfestes, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, im Kreise der Familie gelesen. Jede Zeit und jeder Raum hatten und haben ihre eigenen Bilder hierfür gefunden. Die ausgewählten Abbildungen stehen stellvertretend für die Vielseitigkeit der jüdischen Geschichte.

Kein Historiker kann angesichts der Fülle von Literatur heute Experte in sämtlichen Epochen und geographischen Gebieten der jüdischen Geschichte sein. So bin ich besonders dankbar, dass eine Reihe von Kollegen sich die Zeit nahmen, einige Kapitel dieses Buches kritisch durchzusehen. Mein besonderer Dank gilt Eli Bar-Chen, John Efron, Jörg Frey, Eva Haverkamp, Matthias Lehmann, Christoph Levin, Jürgen Matthäus, Michael A. Meyer, Ken Moss, Marcus Pyka, Jonathan Sarna, Daniel Schwartz, Avinoam Shalem, Stephen Whitfield und Israel Yuval sowie meinem Lektor Ulrich Nolte für die kritische und wohlwollende Durchsicht. Schließlich möchte ich mich bei dem United States Holocaust Memorial Museum dafür bedanken, dass ich als Fellow während des akademischen Jahres 2007/08 Abstand vom regulären Lehrbetrieb nehmen und dieses Buch in Ruhe fertigstellen konnte.

1

Von Ur nach Kanaan: Ein Volk auf Wanderschaft

Am Anfang war die Wanderschaft. Die ersten Menschen, Adam und Eva, werden aus Gan Eden, dem Paradies, verbannt. Der Begründer des Monotheismus, Abraham, folgt Gottes Befehl «Lech lecha» («Geh hinweg») und begibt sich auf die Wanderschaft von seiner Heimat Ur in Mesopotamien in das Land Kanaan, von dem sein Urenkel Josef wiederum nach Ägypten ziehen wird. Viele Generationen später führt Mose die Juden zurück in die ihnen zugewiesene Heimat, in jenes Land, das nunmehr den gleichen Namen erhalten wird wie das Volk selbst, den Namen Israel, den zweiten Namen von Abrahams Enkel Jakob.

So zumindest erzählt es uns die Hebräische Bibel, das wohl erfolgreichste und zweifellos einflussreichste Buch der Weltliteratur. Seine Erfolgsgeschichte ist umso erstaunlicher, als dieses Dokument nicht von einer der bedeutenden Nationen des Altertums wie den Ägyptern oder Assyrern, den Persern oder Babyloniern, den Griechen oder Römern verfasst wurde, sondern von einer kleinen Nation, die im Laufe ihrer Geschichte von all den genannten Völkern beherrscht wurde. Und doch war es gerade jene Hinterlassenschaft der Juden, die mit der Verbreitung des Christentums und des Islams zum Grundstock des literarischen und religiösen Erbes des Großteils der Menschheit wurde. Mit ihr sind auch die sagenhaften Ursprünge der Juden, von denen die Bibel berichtet, zu weltweitem Ruhm gelangt.

Zur Hebräischen Bibel, die später im Christentum als Altes Testament bezeichnet werden sollte, gehören neben Rechtsvorschriften, Weisheitsliteratur, Moralpredigten, Liebesliedern und mystischen Visionen auch Bücher, die uns über geschichtliche Vorgänge unterrichten wollen. Um historisch verifizierbare Berichte handelt es sich hierbei in der Regel nicht. Es war auch nicht die Absicht der Autoren, die historischen Vorgänge möglichst authentisch zu beschreiben. Sie stellten vielmehr ihre theologische Interpretation in den Mittelpunkt. Wann man begann, sich Legenden wie die erwähnten Wanderungen zu erzählen, ist ebenso wenig bekannt wie das genaue Datum ihrer Niederschrift. Der Kern der historischen Überlieferung geht zweifellos auf die Zeit der Königtümer Israel und Juda zurück, ihre endgültige Form aber erhielten die Bücher der Hebräischen Bibel erst in persischer und hellenistischer Zeit. Ihre Texte sind vor allem aufschlussreich für die Verfassung der israelitischen und judäischen Bevölkerung während dieser Jahrhunderte und müssen aus deren Kontext heraus verstanden werden. Erst seit dieser Zeit kann man von einer Geschichte der Juden sprechen. Wenn unser Bericht dennoch früher einsetzt, so hat dies einen einfachen Grund: Die Bücher der Bibel haben, ganz unabhängig von ihrem historischen Wahrheitsgehalt, in solch vielfältiger Weise das Bewusstsein der Juden in nachfolgenden Jahrhunderten und Jahrtausenden geprägt, dass unsere Kenntnis von ihnen für das Verständnis der jüdischen Geschichte von ganz entscheidender Bedeutung ist. Dieses Kapitel handelt daher größtenteils nicht von historisch gesicherten Ereignissen, sondern von Mythen und Legenden, die weit über das Judentum hinaus von Bedeutung sind.

Mythische Anfänge

Die Bibel beginnt nicht mit der Geschichte Israels, sondern mit den Ursprüngen der Menschheit. Adam und Eva sind nicht die ersten Juden, sondern die ersten Menschen. In der Urzeit gab es gemäß der biblischen Weltvorstellung keine Völker. Erst der frevelhafte Bau des Turms zu Babel, mit dessen Hilfe die Menschen zu Gott aufsteigen wollten und sich damit selbst maßlos überschätzten, führte zu jenem göttlichen Eingriff, der die bis dahin vereinte Menschheit in verschiedene Nationen mit unterschiedlichen Sprachen aufspaltete. Auch die Figur des Abram, der nach seiner Wandlung zu Abraham wurde, steht in Judentum, Christentum und Islam für den Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus und damit für die vielleicht größte Revolution der antiken Welt. Aus Abrahams Familie stammen auch jene Völker, die zu den Nachbarn und Feinden Israels wurden. Hier ist vor allem an seinen ältesten Sohn Ismael zu denken, der nach islamischer Tradition zusammen mit Abraham die Kaaba in Mekka gebaut haben soll.

Es mag die eigene Situation des oftmals zum Spielball zwischen den mächtigen Assyrern, Babyloniern und Ägyptern werdenden Israel widerspiegeln, wenn die Bibel in der Regel die jüngeren Söhne zu den legitimen Erben macht. Isaak folgte seinem älteren Halbbruder Ismael nach, Jakob seinem Zwilling Esau, Jakobs Sohn Josef war der Elftgeborene und David der jüngste von acht Brüdern. Der wichtigste Protagonist der gesamten biblischen Erzählung ist aber weder einer der oben genannten Helden noch Mose, der sein Volk aus der ägyptischen Knechtschaft befreite, noch einer der Propheten, die wie Jesaja und Jeremia zweifellos zu den mächtigsten Stimmen der Bibel gehören. Der Hauptakteur findet erstmals bei Jakobs Kampf mit einem Engel Gottes Erwähnung. Jakob wird in diesem Kampf zu Israel, dem «Gottesstreiter». Im Gegensatz zu dem Jesus des Neuen Testaments und zu dem Mohammed des Korans steht im Zentrum der biblischen Erzählungen ein Kollektiv, das Volk Israel. Dies unterscheidet die Bibel auch von den zeitgenössischen griechischen Sagen, die um einzelne Helden wie Aeneas oder Odysseus kreisen.

Jede Kultur hat ihre eigenen Geburtsmythen. Im Falle Israels sind diese komplex und vielfältig. Was wir heute «Religion» bzw. «Nation» nennen, ist hier von Anfang an untrennbar miteinander verbunden. Dies gilt für das Bewusstsein vieler Juden bis in die moderne Zeit: Die Bibel dient ihnen als autoritative Quelle für einen religiösen Lebenswandel wie als Geschichtsbuch ihrer vermeintlichen Vorfahren.

Eine Haggada aus Mantua (1560) zeigt unter Anspielung auf eine Text-passage aus Josua 24,2 («Eure Väter wohnten in früheren Zeiten jenseits des Flusses»), wie Abraham in einer Gondel einen Fluss überquert. Das Bild spielt damit auf die Ursprünge der Patriarchen in Mesopotamien und auf die lange Geschichte ihrer Wanderschaften an.

Bereits Abraham, der der jüdischen Tradition zufolge mit dem Götzendienst seines Vaters Terach brach und einen einzigen und unsichtbaren Gott verehrte, ist zugleich Adressat «nationaler» Verheißungen Gottes: Aus seinem Samen soll ein großes Volk hervorgehen, das von Gott selbst auserwählt ist. Diese Erwählung ist im späteren Selbstverständnis der Juden keine moralische Erhöhung über andere Völker, sondern bedeutet vor allem besondere Pflichten, die im religionsgesetzlichen Teil der Tora, der Fünf Bücher Mose, ausgeführt werden. Jener biblische Mose, dem Gott am Berg Sinai die Gesetzestafeln anvertraut, steht am Beginn eines neuen Religionsverständnisses und ist gleichzeitig die zentrale Figur, die die hebräischen Sklaven aus Ägypten herausführt und zu einem Volk formt.

Der Exodus, für den es – wie für alle in den Fünf Büchern Mose geschilderten historischen Ereignisse – keine außerbiblischen Belege gibt, ist als entscheidendes Erlebnis, gleichsam als «zweite Geburt» des Volkes Israel und der jüdischen Religion, in das kollektive Bewusstsein nachfolgender Generationen eingegangen. Bis heute gedenken die Juden in aller Welt an verschiedenen Festtagen jener Wanderung. Am Pessachfest essen sie ungesäuertes Brot, als ob sie sich auf der Wüstenwanderung befänden, und am Sukkotfest bauen sie Laubhütten, die daran erinnern sollen, dass die Israeliten während ihrer Wanderung in Zelten lagerten. Am eindrucksvollsten ist wohl die jedes Jahr am Sederabend des Pessachfestes ausgesprochene Beteuerung, jeder Jude müsse das Ereignis der Befreiung aus der Knechtschaft so auf sein eigenes Dasein beziehen, dass er selbst das Bewusstsein habe, aus Ägypten in das Land Israel gekommen zu sein. So wurde im Laufe der Jahrhunderte die biblische Geschichte zu einem Paradigma für das historische Empfinden nachfolgender Generationen.

Der jüdische Jahreszyklus trägt zu diesem an den biblischen Ereignissen orientierten Geschichtsverständnis bei. Jedes Frühjahr erleben die Juden den Auszug aus Ägypten von neuem, wenn sie die Geschichte des Exodus verlesen. Jeden Winter zünden sie die Chanukkalichter an, die sie an die Wiedereinweihung des Tempels von Jerusalem im zweiten Jahrhundert v. d. Z. erinnern. Jedes Jahr gedenken sie der Errettung der persischen Juden, wie sie im Buch Esther beschrieben ist. Wichtiger noch sind die im wöchentlichen Rhythmus in der Synagoge vorgetragenen Abschnitte der Tora. Da jedes Jahr im gleichen Zeitraum in allen Synagogen der Welt dieselbe Passage vorgetragen wird, erleben sozusagen alle Juden im Herbst die Erschaffung der Welt, im Winter die Biographien der Patriarchen, im Frühjahr die Wanderung durch die Wüste.

Im traditionellen jüdischen Geschichtsverständnis sind sämtliche Ereignisse der nachbiblischen Jahrhunderte von zweitrangiger Bedeutung. Das nächste wichtigste Ereignis ist in die Zukunft verlagert: das Kommen des Messias, der seit Jahrhunderten sehnsüchtig erwartet wird und eine Epoche des friedvollen Zusammenlebens aller Menschen einleiten soll. Die Zeit zwischen der biblischen Vorzeit und jener messianischen Utopie – von wenigen Ausnahmen wie der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 abgesehen – wird dagegen nur als lange Zwischenzeit gewertet, deren Ereignisse es kaum wert waren, aufgeschrieben, geschweige denn kollektiv erinnert zu werden.

Die biblische Geschichte zeigt ein Volk auf Wanderschaft. Die beiden Begriffe «Volk» und «Wanderschaft» markieren die zentralen Elemente des biblischen Geschichtsverständnisses, die das jüdische Selbstverständnis bis in die Moderne bestimmen. Die Berichte kreisen um die Bereiche Heimat und Exil und sind von der Zerstörung Israels durch die Assyrer oder vom babylonischen Exil der Judäer gekennzeichnet. Auf jeden Fall spendeten sie den Juden späterer Zeitalter in deren eigener Exilserfahrung Trost und Hoffnung.

Das Land Israel ist Abraham und seinen Nachkommen im biblischen Bericht zwar verheißen, aber so einfach erfüllt sich die Verheißung nicht: Abraham zog vom mesopotamischen Ur über die aramäische Stadt Haran in das Land Kanaan, ging dann aber weiter nach Ägypten und erst später wieder zurück in das verheißene Land. Sein Enkel Jakob verbrachte zwei Jahrzehnte bei seinem Schwiegervater Laban in Aram, kehrte dann zurück und folgte im Alter mit der gesamten Familie seinem Sohn Josef nach Ägypten. Erst vierhundert Jahre später führten Mose und Aaron die mittlerweile versklavten Hebräer erneut in das Land Israel. Doch ist diese Rückkehr keineswegs ein Triumphzug. Das Volk Israel murrt unterwegs und sehnt sich zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens. Das Land, in dem Milch und Honig fließen sollen, ist zunächst ein fremdes, unwirtliches Land, in dem es Riesen und wenig gastfreundliche Menschen gibt. Die frühere Heimat ist zur Fremde geworden, und zehn der zwölf zur Erkundung ausgesandten Späher wollen lieber zurück in jenes Land, aus dem Pharao sie mit zehn Plagen vertrieben hatte. Schließlich erobern die Israeliten unter der Führung Josuas die unbekannte Heimat, doch weder Mose selbst noch die Generation derjenigen, die vierzig Jahre zuvor die Reise antraten, dürfen den Jordan überqueren. Wie Odysseus erst nach zahlreichen Beschwernissen in seine Heimat Ithaka zurückkehrt, gleicht auch hier die Heimkehr einem Hindernislauf.

Von Jakob zu Israel

Das zwiespältige Verhältnis zwischen Heimat und Exil hat die jüdische Existenz auch weiterhin bestimmt. Seit jeher besteht ein emotionales Verhältnis zum Land Israel, und doch lebte bereits in biblischer Zeit ein großer Teil der «Kinder Israel» in Ägypten und Babylonien unter persischer, griechischer und römischer Herrschaft. Manche Bücher der Bibel wurden von der Sicht der Diaspora geprägt.

Der Begriff «Israel» ist mehrdeutig. Ursprünglich war er die Selbstbezeichnung des Nordreichs «Israel». Folgt man hingegen der Bibel, so bezeichnet er zunächst Jakob/Israel und seine Nachkommen, die «Kinder Israel», im wörtlichen Sinne. Dazu gehören die zwölf Stämme, die sich – so die biblische Überlieferung – nach der Eroberung das Land westlich und teilweise auch östlich des Jordans aufteilen und einzelne Richter, dann auch Könige an ihre Spitze berufen. Nach dem Tod König Salomos, so die Bibel weiter, spaltet sich das Land in das Nordreich Israel und das Südreich Juda um die Hauptstadt Jerusalem. Von nun an steht der Staat Israel nur noch für einen Teil der «Kinder Israel». Dieses Nordreich Israel fällt im Jahr 722 zudem den assyrischen Eroberern zu, seine Bewohner werden ins Exil geführt oder versklavt. Über das Schicksal dieser zehn «verlorenen Stämme» kursieren bis heute zahlreiche Legenden. Man will ihre Nachkommen von Ostasien bis Westafrika und Südamerika ausgemacht haben. Nach dem Verschwinden des Königreichs Israel von der Landkarte eignet sich das Südreich Juda dessen Traditionen und dessen Selbstverständnis an und definiert sich als «Israel». Auf diese Weise bleibt der Begriff «Israel» auch zweieinhalb Jahrtausende später in Gebrauch, als ein moderner Staat Israel gegründet wird.

Mit dem vorläufigen Weiterbestehen des Südreiches Juda gewann aber zugleich der Begriff «Judäer» bzw. «Jehudim», der Juden, an Gewicht. Langsam verschmolzen die beiden Begriffe. Daneben begegnet gelegentlich der ebenfalls biblische Begriff Hebräer (ivrim), nach dem auch die Sprache des Volkes Israel bzw. der Juden benannt ist.

Für das Territorium Israels gibt es eine ähnliche Begriffsvielfalt. Der ursprüngliche Name war Kanaan. Die Israeliten nannten das Land Israel bzw. Juda. Die Assyrer machten aus dem eroberten Nordreich Israel die Provinz Samaria, benannt nach ihrer gleichnamigen Hauptstadt. Nachdem auch Juda mit der Eroberung durch den babylonischen König Nebukadnezar und der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 als selbständiger Staat untergegangen war, wurde es zunächst zur babylonischen, dann zur persischen Provinz «Jehud». Erst in römischer Zeit setzte sich der nach den Philistern benannte Begriff «Palästina» durch, um die besiegten Juden zu demütigen.

Die Herausbildung eines Volkes aus verschiedenen Stammesgemeinschaften geht immer mit Abgrenzungen von der Umwelt einher; bei den Juden führten sie zu einer im Laufe der Jahrhunderte zunehmenden Absonderung. Der wohl gravierendste Unterschied zu den anderen Völkern der Alten Welt war der Monotheismus (einzige Ausnahme: Ägypten in der kurzen Phase unter Echnaton). Der Glaube an einen einzigen und noch dazu unsichtbaren Gott, der sich in einem langen Prozess entwickelte und durch die Exilserfahrung wohl erst seine reine Prägung erhielt, stieß unter den Israel umgebenden Völkern auf Unverständnis und häufig auch auf handfeste Ablehnung. Andere in der Bibel beschriebene Abgrenzungen mögen früher und konsequenter erfolgt sein. Von den zahlreichen Speisegesetzen ist insbesondere die frühe Tabuisierung von Schweinefleisch zu erwähnen, die die Israeliten von ihren Nachbarvölkern unterschied, in deren Siedlungen Archäologen zahlreiche Schweineknochen fanden. Solche alltäglichen Besonderheiten halfen in späteren Zeiten, als andere Völker ebenfalls monotheistischen Religionen anhingen, eine eigene Identität zu bewahren. Bereits in der Bibel wird mehrfach auf die besondere Rolle der Juden unter den Völkern hingewiesen, am deutlichsten wohl im Buch Numeri (23,9–10), in dem der fremde Seher Bileam Israel «ein Volk, das sich absondert und sich nicht zu den anderen Völkern zählt» nennt.

Nicht zuletzt der Bibel selbst kam eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung einer eigenen Tradition zu. Der Glaube an die Geschichte vom Auszug aus Ägypten in das Gelobte Land, von der gewaltsamen Landnahme unter Josua und von einem mächtigen vereinten Königreich unter David verdichtete sich im Mythos von einem vergangenen «Goldenen Zeitalter», zu dem man dereinst zurückkehren könne. Diese biblische Erzählung wurde zum gemeinsamen historischen Erbe der Juden, das ihr Bewusstsein, aber auch ihre Wahrnehmung durch die Umwelt über Jahrtausende bestimmen sollte. Erstmals sollte sich eine Religion bzw. ein Volk durch Texte, durch eine heilige Schrift, definieren. Im Laufe der Zeit wurde die biblische Geschichte dann zur paradigmatischen Erzählung in den unterschiedlichsten Kulturen. Ob die Anhänger des osmanischen Sultans Süleiman in ihm die Weisheit Salomos wiedererkannten, ob die puritanischen Siedler in Neuengland ihr «New Canaan» errichteten oder ob die schwarzen Sklaven in ihren Gospels auf den Plantagen Virginias vom Auszug aus Ägypten sangen – mit der Rezeption der Hebräischen Bibel durch Christentum und Islam wurde die Geschichte des frühen Israel zum Geschichtsmodell eines großen Teils der Menschheit.

Von der Legende zur Geschichte

Wir kennen die frühesten Anfänge des Volkes Israel nur aus seinen eigenen, den biblischen Quellen. Nur äußerst spärliche Dokumente anderer Völker erwähnen Israel während der ersten Jahrhunderte seiner Existenz, und aus der biblischen Erwähnung allein können wir keine Historizität ableiten. Anders ist es, wenn ein in der Bibel geschilderter Vorgang durch externe Quellen und archäologische Funde gestützt wird. Aber welch unglaubliche Ironie liegt in dem ersten außerbiblischen Dokument, das Israels Existenz erwähnt! Auf der Stele des Pharao Merenptah aus dem 13. Jahrhundert wird von der Auslöschung des Volkes erzählt, dessen jahrtausendelange Geschichte zu jener Zeit eben erst begonnen hatte. Was genau damals unter Israel verstanden wurde, ist rätselhaft, doch ist damit die Existenz einer sich mit diesem Namen bezeichnenden Gruppe von Menschen in Kanaan bezeugt. Wie können deren Ursprünge ausgesehen haben?

Die archäologischen Funde am Ende des 20. Jahrhunderts geben ein nüchternes Bild von den Anfängen Israels. Die Patriarchenerzählungen mögen auf Ursprünge im fruchtbaren mesopotamischen Raum hindeuten oder aber auf die spätere Wunschvorstellung, in der berühmten Stadt Ur seine Ursprünge zu finden. Der Aufenthalt in Ägypten mag mit der ständigen Zuwanderung semitischer Völker in das von Hungersnöten weniger bedrohte Land am Nil zusammenhängen. So wurde diese Episode mit der Einwanderung der Hyksos in Zusammenhang gebracht, die seit dem 18. Jahrhundert auch aus Kanaan gekommen waren, die Herrschaft über Ägypten erlangten und etwa gegen 1570 wieder von dort vertrieben wurden. Die neuere Forschung beurteilt die Zusammenhänge zwischen den Hyksos oder den später in ägyptischen Quellen auftauchenden Apiru (soziale Randgruppen, deren Namen Ähnlichkeit mit dem der Hebräer hat) und dem biblischen Exodus eher skeptisch. Ob es diesen überhaupt gab, ist fraglich. Auf eine massenhafte Einwanderung im 13. Jahrhundert deuten jedenfalls keinerlei Funde hin.

Die Forschung geht heute meist nicht von einer gewaltsamen Landnahme aus, sondern nimmt an, dass sich das Volk Israel in Kanaan selbst herausgebildet hat. Einzelne Gruppen mögen in der Tat aus Ägypten eingewandert oder zurückgekehrt sein. Die archäologischen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die ersten Israeliten Hirten und Bauern waren, die meisten lebten um die Jahrtausendwende in weitgehend autarken Dorfgemeinschaften. Einige biblische Stämme gehen wohl auf solche erweiterten Familiengemeinschaften zurück, die sich nach geographischen Punkten in ihrer unmittelbaren Umgebung benannten. Das religiöse Verständnis unter den Israeliten jener Zeit muss man sich weit entfernt von dem später idealisierten Monotheismus vorstellen.

Die Geschichte Israels bis zu Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends ist weitgehend unbekannt. Die Heldentaten der Richter, das mächtige Reich Davids, der prächtige Tempel Salomos können weder durch archäologische Ausgrabungen noch durch außerbiblische Quellen gestützt werden. Selbst für die Existenz eines vereinten Königreichs Israel und Juda im 10. Jahrhundert gibt es keinerlei Belege. Erst ab dem 9. Jahrhundert kommt mehr Licht in das Dunkel. Außerbiblische Quellen deuten auf ein erstarkendes Reich Israel im Norden hin, das im 8. Jahrhundert zunehmend unter assyrischen Druck geriet und im Jahr 722 seiner Souveränität beraubt wurde. Ab diesem Zeitpunkt bestand nur noch das Südreich Juda weiter, das bis dahin ein dünn besiedelter und militärisch unbedeutender Staat mit wenig städtischen Strukturen gewesen war. Unter König Hiskia (727–698) vervielfachte sich die Bevölkerung Judas und vor allem seiner Hauptstadt Jerusalem, die nun erstmals zu einem bedeutenden politischen und kultischen Zentrum wurde.

Der politische Aufstieg Judas wurde jedoch brutal unterbrochen durch die Feldzüge des assyrischen Königs Sanherib (705–681), der große Teile des Landes verwüstete und hohe Tributzahlungen von Hiskia und dessen Nachfolgern verlangte. Die folgenden Könige, vor allem der über ein halbes Jahrhundert regierende Manasse (698–642), waren gehorsame Vasallen des Assyrischen Reiches, und erst dessen Niedergang am Ausgang des 7. Jahrhunderts verschaffte Juda wieder politischen und religiösen Spielraum. Die Ägypter übernahmen nun die Vorherrschaft in der Region Kanaan, interessierten sich aber vor allem für die Küstenregion.

Unter König Josia (639–609) stieg Juda zu einer bedeutenden regionalen Größe auf. Josia versuchte, die Macht Judas durch die Konzentration des offiziellen Kultes in Jerusalem zu konsolidieren. Das religionspolitische Programm erklärte die einstmals bedeutenden Könige des Nordreichs als für dessen Untergang verantwortlich, da sie den Gott Israels in den Tempeln von Beth El und Dan verehrt hatten. Damit sollten auch die von Exil und Versklavung verschont gebliebenen Israeliten zu Anhängern des Tempelkults von Jerusalem gemacht werden. Eine mögliche historische Interpretation ist, dass durch die Verklärung eines vereinten Königreichs in ferner Vorzeit die Vorherrschaft Judas als des Nachfolgers Israels unterstrichen werden sollte. David, der legendäre Begründer des judäischen Königshauses und Stammvater Josias soll über beide Königreiche zugleich geherrscht haben.

Dem einstmals unbedeutenden Ort Jerusalem wurde eine lange und reiche Geschichte zugeschrieben. Das damals konzipierte religiöse Programm wurde später, zur Zeit des Zweiten Tempels, zur Grundlage eines Geschichtsbildes, das die Verehrung des Gottes Israels in Jerusalem als einzigen und unsichtbaren Gott in den Mittelpunkt stellt. Der Abfall des Volkes Israel von diesem Gott hatte, von der Verehrung des Goldenen Kalbs während der Wüstenwanderung bis zum Götzendienst der letzten Könige Israels, Strafen nach sich gezogen. Dagegen hatten der Gehorsam gegenüber dem Gott Israels und dessen exklusive Verehrung in Jerusalem immer Belohnung zur Folge gehabt.

Über drei religiöse Reformen Josias berichtet ein Abschnitt im 2. Buch der Könige. Im 18. Regierungsjahr Josias, dem Jahr 622, sei bei einer Renovierung des Tempels von Jerusalem das Buch der Tora gefunden worden, das Josia zur Grundlage eines von ihm neu geschlossenen Bundes zwischen seinem Volk und Gott dienen sollte (2 Kön 23, 2–3). Bei diesem «gefundenen» Buch handelt es sich nach verbreiteter Annahme um eine Vorform des Buches Deuteronomium, des Fünften Buches Mose, das die Grundlage des biblischen Monotheismus bzw. der biblischen Monolatrie (der Verehrung eines einzigen Gottes bei gleichzeitiger Anerkennung anderer Götter) mit der exklusiven Verehrung Gottes in Jerusalem, den Vorschriften für die biblischen Festtage und zahlreichen sozialen Gesetzen sowie moralischen Regeln enthielt. Ob wöchentlicher Ruhetag oder Befreiung der Sklaven nach sechs Jahren, ob Nächstenliebe oder Eigentumsrecht – viele der hier festgelegten Grundsätze wurden zum Erbe der modernen Welt und Grundlage zahlreicher bis heute geltender Gesetze.

Aus nicht bekannten Gründen wurde Josia im Jahre 609 von Pharao Necho II. in Megiddo getötet. Seine vier Nachfolger, drei Söhne und ein Enkel, konnten die bedrohliche neue Macht aus dem Osten, Babylonien, nicht aufhalten. König Jojachin wurde nach der ersten Einnahme Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar II. mit der judäischen Oberschicht ins Exil geführt, sein Onkel Zedekia als Vasallenkönig eingesetzt. Unter Einfluss der mit den Babyloniern verfeindeten Ägypter versuchte Zedekia, sich von seiner Schutzmacht zu lösen. Dies endete im Desaster. Der Prophet Jeremia hatte vor diesem selbstmörderischen Unternehmen gewarnt, das mit dem Untergang des Reiches Juda enden sollte. Im Jahr 586 belagerte Nebukadnezar Jerusalem, machte das blühende Zentrum Judas mitsamt seinem Tempel dem Erdboden gleich, ließ den illoyalen König Zedekia blenden und – wie bereits seinen Vorgänger Jojachin – ins Exil führen. Als auch noch der Statthalter Gedalja einem Attentat zum Opfer fiel, flüchteten zahlreiche Judäer nach Ägypten, wo sie sich auf eine dauerhafte Existenz einrichteten. In ähnlichem Sinne schreibt Jeremia an die babylonischen Juden (Jer 29, 5–6): «Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.»

Jeremias Devise diente jüdischen Gemeinden in der Diaspora während nachfolgender Jahrhunderte immer wieder als Ermutigung, außerhalb ihrer angestammten Heimat Fuß zu fassen und Wurzeln zu schlagen. Dagegen wurde eine andere Bibelstelle aus dem Psalm 137 als Beleg für die auch im Exil unveränderte Treue zum Herkunftsland aufgefasst und später von den Zionisten als eine der Grundlagen zur Rückkehr in das Land Israel zitiert: «An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.» Zwischen diesen beiden Polen, der Verbundenheit mit der alten Heimat und der Loyalität zur neuen Heimat, sollte sich ein Großteil jüdischer Geschichte während der nächsten zweieinhalb Jahrtausende abspielen.

2

Vom Exil zurück in die Heimat: Priester und Propheten

An einem Tag des Monats Nissan im 20. Jahr der Regierung des Königs Artaxerxes I. fasste sich Nehemia, einer der in der persischen Hauptstadt Susa exilierten Judäer, der in die Dienste des Hofes aufgestiegen war, ein Herz und wandte sich an seinen König. Während er ihm ein Glas Wein reichte, flehte er ihn an: «Gefällt es dem König und hat dein Knecht Gnade gefunden vor dir, so wollest du mich nach Juda reisen lassen, in die Stadt, wo meine Väter begraben sind, damit ich sie wieder aufbaue.» Nicht ohne vorher die Königin prüfend anzusehen und sich zu vergewissern, dass Nehemia wieder zum persischen Hofe zurückkehren würde, ließ der König seinen Bediensteten ziehen. Beschützt von königlichen Soldaten und mit Geleitbriefen an die Statthalter der Provinzen jenseits des Euphrats ausgestattet, machte Nehemia sich auf den Weg. Im zerstörten Jerusalem ging er alsbald an den Wiederaufbau der Stadtmauern. Um diese Zeit verließ auch Esra sein Exil und ordnete nach seiner Rückkehr strikte Gesetze zur Trennung der jüdischen von der nichtjüdischen Bevölkerung an.

Restauration

Die Rückkehr ins Gelobte Land steht am Anfang der beiden biblischen Bücher Esra und Nehemia (beide Mitte des 5. Jahrhunderts). Die detaillierte Ausschmückung dieser Rückkehrberichte aus der Hebräischen Bibel mögen ins Reich der Legende gehören, ein historischer Kern freilich ist nicht in Abrede zu stellen. Im Gegensatz zu assyrischen oder babylonischen Herrschern verfolgten die neuen Herrscher der Region, die Könige Persiens, eine Politik der Kultfreiheit und der politischen Befriedung der unterworfenen Provinzen. Mehr noch, zentrale Heiligtümer wie der Jerusalemer Tempel sollten in voller Pracht restauriert werden. Laut biblischem Bericht befahl der persische König Kyros bereits im ersten Jahr seiner Herrschaft (538) den Wiederaufbau und übernahm dafür auch die Kosten. Schließlich soll er ein Edikt erlassen haben, dem zufolge nicht nur die Kultgeräte des Tempels zurückgebracht werden, sondern auch die exilierten Judäer selber wieder in ihre Heimat zurückkehren durften.

Nicht alle Judäer waren ins Exil geführt worden. Diejenigen, die in Juda zurückgeblieben waren, hatten an der Ruine des Tempels gottesdienstliche Zusammenkünfte gepflegt. In der späteren Darstellung der Rückkehrer aus dem Exil wären allerdings die in Juda Verbliebenen weitgehend an ihre Umwelt assimiliert worden, wenn die Führung der Exilgemeinde nicht größten Wert auf die Bewahrung ihrer ethnischen und religiösen Eigenheiten gelegt hätte. In diesem Sinne sollten auch die neuen Machtverhältnisse in Juda geregelt werden. Die Nachkommen des Nordreichs wurden von den Rückkehrern nicht mehr als Teil eines Volkes und einer Kultgemeinschaft betrachtet. Als «Samaritaner» errichteten sie über der Stadt Samaria ihr eigenes Heiligtum auf dem Berg Garisim, wo Gott gemäß der Tradition des Deuteronomiums (11,29) das Volk Israel gesegnet hatte. Hierdurch wird der – nicht erfüllte – Anspruch der Samaritaner deutlich, Teil desselben Volkes und desselben Kultes zu sein wie die Judäer im Süden.

Anders verhielt es sich mit den Juden Ägyptens. Zwar gab es beispielsweise in der jüdischen Militärkolonie im ägyptischen Elephantine seit dem 6. Jahrhundert v. d. Z. einen Tempel, doch erkannten die dortigen Juden die Autorität des Zentrums in Jerusalem an. Wie ein Brief aus dem Jahre 408 zeigt, betrachteten die Juden von Elephantine freilich auch die Samaritaner noch als Glaubensgenossen. In anderer Hinsicht hatten sie sich ihrer Umgebung angepasst. Ihre Sprache war nicht mehr Hebräisch, sondern Aramäisch, die Lingua franca der späten persischen Welt. Sie sprachen den Segen für den Gott Israels ebenso wie für den ägyptischen Gott Chnum. Im Gegensatz zu den Juden des Vorderen Orients und im Einklang mit ihrer ägyptischen Umgebung verboten sie die Polygamie und verliehen auch der Frau das Recht auf Scheidung. Die räumliche und kulturelle Nähe zur ägyptischen Umgebung bewahrte sie allerdings nicht vor Konflikten. Diese gipfelten im Jahr 411 in der Zerstörung des Tempels von Elephantine, der nie wieder aufgebaut wurde. Doch die dortige jüdische Militärkolonie blieb bestehen und wurde später von Alexander dem Großen übernommen.

Wir wissen nicht, wie viele der Exilanten aus den verschiedenen Zentren der Diaspora zurückgekehrt sind, doch blieb ein großer Teil von ihnen im Persischen Reich oder in Ägypten zurück, auch als der Zweite Tempel in Jerusalem fertig war. Andere, wie Nehemia selbst, gingen wieder nach Babylonien zurück, als ihre Arbeit getan war. In Juda ergriff die neue Elite unter Esra drakonische Maßnahmen, um den synkretistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Esra wird im biblischen Bericht mit der Mission vertraut, das «Gesetz des Himmelsgottes» in Kraft zu setzen. Neben der Forderung, Speisegesetze und den siebenten Tag als Ruhetag einzuhalten, stand dabei die Trennung von der restlichen Bevölkerung im Mittelpunkt. Die Beschneidung als Zeichen der Zugehörigkeit zum Bund mit Gott mag hier eine Unterscheidung von manchen Völkern der Umgebung, vor allem den Philistern, dargestellt haben. Wichtiger aber war Esras Forderung, alle Ehen zwischen Judäern und Angehörigen anderer Völker zu scheiden. Dass diese bis in die obersten Ränge des Volkes üblich waren, zeigte die Ehe des Hohepriesters Jojada mit der Tochter des samaritanischen Gouverneurs Sanballat. Nehemia ließ Jojada deswegen aus Jerusalem vertreiben. Ob Esra sich allerdings mit seinen rigorosen Forderungen durchsetzen konnte, ist zweifelhaft.

In der Zeit des Zweiten Tempels änderte sich nichts an der zentralen Stellung des Mannes gegenüber der Frau. Zwar sind auch Frauen an die zentralen Gesetze gebunden, doch besitzen sie nicht die den Männern vorbehaltenen Pflichten, Opfer darzubringen, zu beten und zu studieren. Die Zugehörigkeit zum Bund mit Gott wird in erster Linie durch das den Männern vorbehaltene Zeichen der Beschneidung demonstriert. Gerade aufgrund dieser in zahlreichen Kulturen verankerten Verteilung der Geschlechterrollen ist es nicht zu unterschätzen, dass in einer von Männern dominierten Welt Frauen herausragende Rollen einnehmen konnten. Biblische Heldinnen, die ihr Volk durch List oder Gewalt erretteten, waren nicht selten, wie die Taten der Richterin Debora verdeutlichen. Ganze biblische Bücher wurden nach Frauen wie Esther und Ruth benannt. So muss das Judentum auch und vielleicht gerade auf Frauen eine gewisse Anziehungskraft gehabt haben, denn den Quellen zufolge gab es in späteren Jahrhunderten relativ viele weibliche Konvertiten zum Judentum.

Der unter persischer Herrschaft wieder aufgebaute Tempel dient als Vorlage zahlreicher illuminierter Handschriften. Dabei spiegelt er immer die Architektur der jeweiligen Umgebung wider. In der 1350 in Barcelona entstandenen Sarajevo-Haggada erinnert er an ein mittelalterliches spanisches Schloss.

Der mit dem Wirken Nehemias verbundene Wiederaufbau Jerusalems und das Esra zugeordnete Inkrafttreten der auf Absonderung von der Umwelt bedachten Gesetze waren entscheidende Schritte in der Neuformierung Israels. Im Gegensatz zu vielen anderen besiegten Nationen haben die Juden die Katastrophe der Zerstörung ihres Heiligtums und der Zerschlagung ihres Staatswesens nicht zuletzt durch die Konstruktion einer wirkmächtigen Geschichtserzählung überlebt. Die Bibel selbst, die zu großen Teilen unter dem Eindruck der Katastrophe niedergeschrieben wurde, bildete eine wichtige Überlebensbasis. In den früheren Generationen biblischer Helden, die selbst Vertreibung und Exil überlebt hatten, spiegelte sich das eigene Schicksal wider. Wie diese immer wieder in das ihnen verheißene Land zurückgekehrt waren, so würde man selbst auch mit Hilfe des allmächtigen Gottes wieder ein eigenes Staatswesen errichten können. So bildete sich bereits in der Zeit nach der Zerstörung des Ersten Tempels eine jener Strategien heraus, die es Juden auch späterer Jahrhunderte ermöglichte, weitere Katastrophen zu überleben.

Ein neues Selbstverständnis

Bereits im Exil hatte sich eine neue Identität herausgebildet, die auch die Selbstbezeichnung prägte. Flavius Josephus hatte wohl nicht unrecht, wenn er ein halbes Jahrtausend später bemerkte, die Rückkehrer aus dem Babylonischen Exil sollten «Juden» (oder «Judäer») und nicht länger Israeliten genannt werden (11.5.7. §173). Diese Namensänderung spiegelte eine tiefgreifende Entwicklung in ihrem Selbstverständnis wider. Die Überreste Judas formierten sich unter der Führung der zurückgekehrten Elite und den äußeren Zeichen einer Blutsgemeinschaft zum neuen Israel. Dessen eigentliche Charakteristik war jedoch weniger die gemeinsame Abstammung als das Prinzip einer theokratischen Gemeinde mit einem nur für sie verpflichtenden kanonischen Gesetz. «Juden» oder «Judäer» bedeutete nicht nur die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe innerhalb ihres Territoriums, sondern bezeichnete nun auch die von Babylonien bis Ägypten verstreut lebenden Anhänger eines bestimmten Kultes – einer Religion.

Selbst wenn die nachexilischen Juden in ihrem Selbstverständnis bewusst auf die Kontinuitäten gegenüber dem vorexilischen Israel hinwiesen, gab es erhebliche Unterschiede. Statt der Könige in einem unabhängigen Staat waren nun, unter fremder politischer Oberherrschaft, die Priester die entscheidenden Kräfte innerhalb der Gesellschaft. War das vorexilische Israel eine Bevölkerung gewesen, in die man hineingeboren wurde, so entwickelten die Juden der nachexilischen Zeit Mechanismen, durch die man sich der Gemeinschaft anschließen konnte oder ihr gewaltsam angeschlossen wurde. Eheschließungen mit Fremden waren nun verboten. Zum Tieropfer im Tempel kam – zunächst in der weit entfernten Diaspora – das kollektive Gebet in der Synagoge hinzu. Aber auch individuelles Gebet, Meditation und Studium der heiligen Schriften erhielten einen höheren Stellenwert. Das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels entwickelte sich zu einer Buchreligion; der Prozess der Kanonisierung der heiligen Schriften begann. Zudem formierten sich entscheidende Grundlagen der späteren Religion: so die Idee einer zukünftigen Welt nach dem Tode, in der die Gerechten ihren Lohn und die Bösen ihre Strafe zugeteilt bekommen würden.

Bis zur Zerstörung des Tempels waren die Priester Beamte des Königs gewesen. Nun waren die Hohepriester, die sich auf die Abstammung von Moses Bruder Aaron beriefen, als die obersten religiösen Würdenträger gleichzeitig die wichtigsten Repräsentanten einer neuen Theokratie. Da sie als politische Repräsentanten um gute Beziehungen zu den umliegenden Staaten und Völkern bemüht waren, gab es bei ihnen immer eine Tendenz zur Assimilation, die sich auch in der Heirat mit nichtjüdischen Frauen bemerkbar machte. In seiner religiösen Funktion musste der Hohepriester dagegen die Eigenständigkeit des jüdischen Kults überwachen, sodass gleichzeitig Tendenzen zur Abgrenzung von der Umwelt vorhanden waren.

Schenkt man dem Propheten Maleachi Glauben, so legten sich Begeisterung und Glaubensstärke der Rückwanderer bald und schlugen in Nachlässigkeit um. Der Prophet bemängelt, dass man kultisch ungeeignete Tiere opferte, dass «Mischehen» geschlossen und Ehen mit älteren Frauen aufgelöst wurden, um jüngere zu heiraten.

Propheten

Wir verfügen auch für die Zeit nach der Rückkehr nur über äußerst spärliche außerbiblische Quellen. Der Großteil unseres Wissens stammt aus der Bibel selbst, und hier insbesondere aus historischen Schriften wie den Büchern Esra und Nehemia und den sogenannten Chronikbüchern. Sie entstanden ebenso in der frühen nachexilischen Zeit wie die Prophetenbücher Haggai, Sacharja und Maleachi. Abschnitte aus der Prophetenliteratur werden jede Woche nach der Toravorlesung in der Synagoge verlesen. Somit ist der Blick, den Juden seit Jahrhunderten auf diese nachexilische Epoche zurückwerfen, wesentlich durch die Propheten bzw. die Redaktoren der Prophetenbücher geprägt.

Den Propheten wurde die Gabe zugeschrieben, den Menschen die Stimme Gottes zu vermitteln. Ähnliche Figuren gibt es in der gesamten altorientalischen Literatur, doch nirgendwo sonst nehmen sie einen so direkten Einfluss auf die politischen Geschehnisse. Einigen frühen Propheten wie Elia oder Elischa wurden Wunder zugeschrieben, vor allem jedoch betätigten sie sich als Mahner der politischen Herrscher. Während in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts Amos und Hosea im Nordreich Israel vor dessen Zerstörung wirkten, trat Jesaja, der vielleicht größte aller Propheten, im Südreich Juda auf. Wie bei Amos und Hosea steht die soziale Botschaft auch bei ihm im Vordergrund. Schließlich wird Jesajas Botschaft immer mit dem Weltfrieden am Ende der Tage verbunden bleiben, wenn «Schwerter zu Pflugscharen» (2,4) geschmiedet werden und kein Volk das Kriegshandwerk lernen wird. Aus dem Hause David wird gemäß dieser Prophezeiung dann ein gerechter König erstehen, unter dem der Wolf mit dem Lamm friedlich zusammenleben wird (11,6). Ein radikaler Ausdruck des Ideals des Weltfriedens und der universellen Gerechtigkeit.

Bei Jeremia stand ein Jahrhundert später die Selbstkritik im Mittelpunkt. Das gesamte Volk hatte gesündigt, daher sei es Gottes Plan, Jerusalem zu zerstören. Widerstand gegen Nebukadnezar sei deswegen vergebens. Erst nach einem langen Exil werde das Volk geläutert und könne dann wieder zurückkehren. Jeremia selbst blieb während der Belagerung Jerusalems in der Stadt, überlebte die Einnahme durch die Babylonier und wurde nach Ägypten verschleppt, wo sich seine Spur verliert.

In den nachexilischen Prophetenbüchern begegnen uns wiederum andere Motive. Ezechiel (Jecheskiel) tröstet das Volk. Die Kinder sollen nicht wegen der Sünden ihrer Eltern leiden. Wie die trockenen Knochen aufgesammelt und zu neuem Leben erweckt werden, so wird auch das Volk Israel in sein Land zurückkehren und den Tempel wieder errichten. Ezechiels Vision des göttlichen Throns mit den vier Cherubim, die Maße des Thronwagens und die anthropomorphe Darstellung Gottes sollten später Grundlage für zahlreiche kabbalistische Spekulationen werden.

Die Entstehung eines Kanons

In der persischen Zeit entstand nicht nur die bis heute gebräuchliche hebräische Quadratschrift, es wurden auch die wichtigsten Schriften der Hebräischen Bibel kanonisiert. Dieser Prozess dauerte bis in die hellenistische Zeit. Damit waren sowohl die theologischen wie auch die legislativen Grundlagen für eine autonome jüdische Gemeinde gelegt, die sich ohne staatliche Autorität von der umgebenden Kultur abzugrenzen wusste und doch Teil einer übergeordneten Gesellschaftsordnung blieb.

Die Zerstörung des Tempels und die Vertreibung wurden, im Gegensatz zu ähnlichen Vorgängen bei anderen Völkern, nicht als Niederlage des eigenen Gottes gegenüber anderen Göttern interpretiert, sondern als Folge des Abfalls der Juden von dem alleinigen Gott. Der unbedingte Glaube an diesen unsichtbaren Gott, wie er bereits im Ersten Gebot festgelegt ist, wurde nun zum Ausgangspunkt der durch die Zerstörung des Staatswesens geprägten Religion. Die Exilserfahrung der babylonischen Juden prägte die Tora mit. Hält man sich diese unmittelbare Erfahrung vor Augen, so wird verständlich, warum die Darstellung mit der Verbannung aus dem Paradies beginnt, mit der mehrmaligen Vertreibung aus dem Gelobten Land fortfährt und mit der Rückkehr aus der ägyptischen Knechtschaft in das Land Israel endet. So wie Mose vor seiner ersehnten Rückkehr in das Land gestorben war, so blieb auch die Errichtung eines neuen Staatswesens für die Rückkehrer aus dem babylonischen Exil ein ferner Traum.

Angesichts der Herausbildung einer jüdischen Diaspora erschien es als besonders wichtig, dass die Juden eine gemeinsame Schrift miteinander verband, wenn schon das gemeinsame territoriale Band zerrissen war. Es entstand so nach jüdischer Zählung ein Werk von 24 Büchern, was angesichts der Verdoppelung der immer wieder auftauchenden Zahl 12 gewiss auch als Symbolwert gedeutet werden muss. Diese Zahl kommt nur deshalb zustande, weil die Bücher Samuel, Könige und Chronik nicht aufgeteilt und die Bücher Esra und Nehemia wie auch die zwölf Kleinen Propheten als Einheit verstanden werden. An dieser Einheit sollte nicht mehr gerüttelt werden.

Gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. d. Z. wurde der endgültige Kanon des Tanach festgelegt. Dabei wurden die beiden Makkabäerbücher, die Bücher Judith, Tobit, Sirach und andere Schriften nicht mehr in den jüdischen Bibelkanon, aber noch in die griechischen und lateinischen Sammlungen aufgenommen, die die Grundlagen für den christlichen Kanon bildeten. Diese später als «verborgene» Schriften gekennzeichneten «Apokryphen» enthalten oftmals historisch wertvolle Informationen zur Geschichte der Juden.

Weitere jüdische Quellen, die Pseudepigraphen genannt werden, da sie nach ihren angeblichen biblischen Autoren, wie Abraham, Mose oder Henoch bezeichnet wurden, sind in einigen Fällen durch die östlichen Kirchen überliefert worden. Manche waren sogar verschollen und wurden erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt. In den Ostkirchen blieb die Septuaginta (siehe Kap. 3) Basis des Kanons, in den Westkirchen diente die im 5. Jahrhundert angefertigte lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus, die Vulgata, als Grundlage. Die protestantische Reformation kehrte zur hebräischen Textquelle zurück. Wenn man vom «Alten Testament» spricht, meint man daher nicht unbedingt immer das gleiche Textkorpus.

Für gläubige Juden ist bis heute der im 1. Jahrhundert endgültig festgelegte biblische Text das Wort Gottes, und daher kommt keinerlei Textveränderung infrage. Die genaue Textüberlieferung beruht weitgehend auf den «Masoreten», die zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert am See Genezareth den ursprünglichen Konsonantentext vokalisierten und mit Akzentuierungen versahen. Die beiden ältesten heute vorhandenen Texte sind der in St. Petersburg liegende Codex Petropolitanus (früher Codex Leningradensis), der 1008 in Kairo geschrieben wurde, sowie der (seit 1948 unvollständige) Codex von Aleppo. Die älteste Handschrift der Tora der Samaritaner stammt aus dem 12. Jahrhundert. Eine weitere wichtige Quelle sind die ab 1947 in den elf Höhlen von Qumran am Toten Meer entdeckten Texte, die alle Bücher des Tanach mit Ausnahme des Buches Esther enthalten und größtenteils aus den ersten beiden Jahrhunderten vor der Zeitenwende stammen.

Die über das griechische biblion gebildete lateinische Bezeichnung Biblia deutet bereits eine Mehrzahl an: Es geht nicht um ein Buch, sondern um eine Büchersammlung. Das «Buch der Bücher» ist in diesem Sinne auch wörtlich ein Buch, das aus einer Vielzahl von Büchern besteht.

3

Vom Hebräischen ins Griechische: Verachtung und Bewunderung

Erste Bibelübersetzung

«Ein wandernder Aramäer war mein Vater, und er zog hinunter nach Ägypten», heißt es im Buch Deuteronomium (26,5). In der Septuaginta, der griechischen Version der Tora, wird dies frei übersetzt als: «Mein Vater gab Syrien auf und zog hinunter nach Ägypten.» Diese erste Übersetzung der Hebräischen Bibel in eine fremde Sprache fertigten der jüdischen Legende zufolge 72 jüdische Gelehrte in Alexandria in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. d. Z. auf Initiative des Königs Ptolomäus II. an. Sie war auch ein politisches Dokument. Judäa war als Teil des gesamten Nahen Ostens von Alexander dem Großen erobert worden. Nach dessen Tod 323 kam es zu Nachfolgekämpfen unter seinen Generälen, die im Jahre 301 zur Dreiteilung des Reiches führten: Neben dem mazedonischen Reichsteil in Europa regierte im Mittleren Osten mit dem Zentrum Syrien die Dynastie der Seleukiden, in Nordafrika mit dem Zentrum Ägypten die der Ptolemäer. Das kleine, bisher unauffällige Judäa stand nun mitten im Konfliktfeld dieser beiden Reichsteile – zunächst bis zum Jahre 200 unter ptolomäischer, danach unter seleukidischer Herrschaft. Wenn nun die Septuaginta davon spricht, dass der Vorvater der Juden Syrien verließ und nach Ägypten zog, so mochten ihre Leser darin auch die neue Vormachtstellung des ptolomäischen (ägyptischen) Reiches über das seleukidische (syrische) erkennen. Ganz ähnlich wurde nun Laban, der böse Schwiegervater Jakobs, zum Symbol für Syrien, Josef dagegen fand seine Rettung in Ägypten.

Dass die wichtigste Schrift der Juden, die Fünf Bücher Mose, und bald darauf weitere biblische Bücher ins Griechische übersetzt wurden, war außergewöhnlich. Vergleichbare Übersetzungen religiöser Quellentexte anderer Religionen besitzen wir aus der Antike nicht. Vielleicht erhielten ja gerade deshalb die Juden den Namen «Volk des Buches»; ihre Bücher und damit ihre Religion wurden deshalb auch bei anderen Völkern zunehmend bekannt.

Die Übersetzung der Bibel war aber kein Zufall. Im Gegensatz zu polytheistischen Kulten geht es dem Monotheismus immer um universale Anerkennung. Völker, die selbst eine Vielfalt von Göttern verehrten, hatten in der Regel kaum Probleme damit, die Götter anderer Völker zu tolerieren und zu respektieren. Anders ist dies im monotheistischen Selbstverständnis der Juden, wie auch später der Christen und Muslime: Wenn nur ein einziger Gott existiert, so muss dies der wahre Gott sein, den im idealen Zustand alle Völker erkennen sollten. Die Religion sollte unter anderen Völkern verbreitet werden, der Fremde konnte ein Proselyt werden, also jemand, der hinzugekommen ist. Erstmals ist diese universalistische Idee der Religion wohl bei Jesaja 56,7 formuliert: «So spricht der Ewige: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden.» Die meisten Völker der Alten Welt dagegen, darunter auch die Athener, behielten den Kult ihrer Götter dem eigenen Volk vor. In der Bibel selbst gibt es für die nachexilische Zeit keine durchgängig konsequente Position gegenüber Fremden. Belege lassen sich sowohl für Abgrenzung wie auch für Integration finden. Die biblischen Gesetze schreiben mehrfach vor, den Fremden in die eigenen Gesetze mit einzubinden, wie einen Teil der eigenen Gemeinschaft zu behandeln und ihn «zu lieben wie dich selbst» (Lev 19,34). Esra trat zwar rigoros für die Scheidung der «Mischehen» und für eine ethnisch reine Gemeinschaft ein, doch die meisten prophetischen Bücher lassen keinen Zweifel daran, dass auch Nichtjudäer zu Juden werden konnten. Aber erst im Talmud wurde ein formales Verfahren für den Übertritt zum Judentum geregelt.

Bedeutete der Monotheismus mit seiner Überzeugung, die Wahrheit des einen unsichtbaren Gottes erkannt zu haben, dass damit Angehörige anderer Völker und Religionen keinen Anspruch auf Gottes Gnade hatten? Dass dies nicht der Fall sein musste, zeigt das biblische Buch Jona. Hier ist es die sündige Stadt Niniveh, die Reue zeigt und der daraufhin von Gott vergeben wird. Der jüdische Autor kritisiert die Figur des Jona, der die Stadt des Frevels vernichtet wissen will, und zeichnet das Bild eines Gottes, der auch mit jenen Seelen Mitleid zeigt, die ihm nicht opfern.