Kluft und Liebe - Josephine Apraku - E-Book

Kluft und Liebe E-Book

Josephine Apraku

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Beschreibung

Ob in Liedern, Filmen oder Büchern: Liebe wird zu etwas Ungreifbarem, Zufälligem, Schicksalhaftem verklärt. Sie entzieht sich unserem Einfluss und überwindet alle Grenzen. Aber ist das wirklich so? »All you need is love«? Was ist mit Rassismus, Behinderung oder tief verankerten patriarchalen Strukturen und Verhaltensmustern? Was passiert, wenn in einer Liebesbeziehung die eine Person durch ihr Aussehen oder ihr Auftreten von unserer Gesellschaft diskriminiert wird und die andere nicht? Spielt das in dieser Beziehung wirklich keine Rolle? Josephine Apraku sagt: Doch! Denn soziale Ungleichheit macht auch vor unseren Beziehungen keinen Halt – im Gegenteil. Unsere intimsten zwischenmenschlichen Verbindungen sind im Prinzip Petrischalen unserer Gesellschaft: Was da draußen im Großen passiert, geschieht auch im Kleinen zwischen uns und unseren Lieben. Auch in der Paartherapie wird Diskriminierung als Herausforderung in Beziehungen noch nicht genug Beachtung geschenkt. »Kluft und Liebe« zeigt, wie Diskriminierung uns in der Liebe voneinander trennt, wie wir trotzdem zusammenfinden und daran gemeinsam wachsen können. 

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Seitenzahl: 310

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Für Ì. – ich liebe dich so sehr

Für meine Geschwister

It is for this reason that love is so desperately sought and so cunningly avoided. Love takes of the masks that we fear we cannot live without and know we cannot live within. I use the word ›love‹ here not merely in the personal sense but as a state of being, or a state of grace – not in the infantile American sense of being made happy but in the tough and universal sense of quest and daring and growth.1

James Baldwin

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Einleitung

Liebe

Macht

Verlangen

Emotionen

Körper

Konflikt

Ökosystem

Arbeit

Zukunft

Epilog

Prolog

bell hooks – eine Vision von Liebe, die bleibt

Es ist der Abend des 15. Dezember 2021, kurz vor sechs. Das Kind turnt noch etwas aufgedreht um mich herum, während ich in der Küche stehe und einen Keksteig vorbereite, damit ich später, während ich an diesem Buch weiterschreibe, in der winterlichen Stille ein paar Schokoladen-Haselnuss-Kekse essen kann. Der kleine Mensch soll Zähne putzen, möchte aber nicht, versteckt sich zwischen meinen Beinen und blickt immer wieder vor Freude glucksend zu mir auf.

Als ich den Teig von meinen Händen wasche, leuchtet das Display meines Handys auf. Es ist eine Nachricht von einer Freundin aus den USA, die einen Link zu einem Artikel in einer US-amerikanischen Tageszeitung mit der Überschrift »›The world is a lesser place today without her.‹ Acclaimed author bell hooks dies at 69« enthält.

Wie immer, wenn mich die Botschaft über den Tod einer Person erreicht, die ich zwar nicht persönlich kenne, die mich aber in meinem Denken, Handeln und Fühlen beeinflusst hat, macht sich ein eigenartiges Gefühl in mir breit. Vielleicht weil ich nicht recht weiß, was genau es ist, das ich fühle. Was ich jedoch weiß, ist, dass bell hooks’ Lebenswerk und ihre Vision bleiben werden.

Ihr Lebenswerk – es besteht aus vielen Büchern, Essays, Poesie und Kinderliteratur, Vorträgen, Diskussion und Lehre – hat nicht nur mich, sondern auch viele andere berührt, inspiriert und ermutigt. Grundlegend für bell hooks’ Schaffen war eine feministische wie solidarische Haltung, die die durch Unterdrückung geschaffene Trennung in unserer Gesellschaft reflektierte und kritisierte, um gemeinsam als Verbündete Wege in die Freiheit zu schlagen.

Mich hat das Lesen einiger ihrer Bücher, darunter Breaking Bread: Insurgent Black Intellectual Life* und The Will to Change: Men, Masculinity, and Love,** nachhaltig berührt. Es ist, als wäre bell hooks eine wohlwollende Mentorin für mich gewesen – wie ich sie in den Professorinnen Maisha-Maureen Auma, Nivedita Prasad und Natasha A. Kelly habe erleben dürfen –, die mich aufrichtig bestärkt und ebenso aufrichtig und liebevoll Kritik geübt hat. Eine Person, die im Angesicht meiner eigenen Unsicherheit gesagt hat: »Mach es, du schaffst das!« Eine Person, die mich mit den Worten in ihren Büchern dazu angetrieben hat, mehr Raum einzunehmen, als mir zugestanden wurde – so viel Raum, wie ich brauche.

Für mich ist es vor allem bell hooks’ Vision von Liebe als eine revolutionäre Praxis, die mich und mein Schaffen so nachhaltig beeinflusst hat. Was auch in diesem Buch immer hindurchschimmert, ist die von ihr proklamierte revolutionäre Zärtlichkeit, die keineswegs allem gleich gegenübersteht, sondern sich durchaus klar positioniert. Sie war in allen ihren Werken von großer Bedeutung – und sie wird bleiben und weiter ihre Spuren in der Welt hinterlassen.

*Übersetzung: Brot brechen: Schwarzes intellektuelles Leben im Aufstand

**Deutsche Fassung erschienen unter dem Titel: Männer, Männlichkeit und Liebe: Der Wille zur Veränderung

Einleitung

Ja, wir brauchen mehr Bücher über Liebe

Hast du dich schon mal ernsthaft damit beschäftigt, was das Wort »Liebe« für dich bedeutet? Ich möchte behaupten, dass es viele Menschen gibt, die das nicht tun. Das ist normal, schätze ich. Es gibt vieles, was uns alltäglich erscheint und was wir nicht hinterfragen oder genauer betrachten. So wissen wir selten, nach wem die Straßen benannt sind, die uns zum nächsten Supermarkt führen, oder aus welcher Stilepoche die Bauwerke stammen, die wir auf dem Weg dorthin passieren. Mein Punkt ist, dass es in unserem Leben vieles gibt, was wir nicht wissen oder kennen. Sich Wissen anzueignen, erfordert Motivation und Neugier – ein Ausmaß an Energie, das wir im Alltag nicht immer aufbringen können.

Mit diesem Buch will ich jedoch genau das tun: Ich möchte die Energie aufbringen, der Frage nachzugehen, was Liebe ist. Mehr noch, ich möchte dieser Frage aus einer bestimmten Perspektive nachgehen – einer, die sich damit auseinandersetzt, wie Unterdrückungsmechanismen sich auf unsere Liebesbeziehungen aus- und in ihnen weiterwirken. Denn für mich ist Liebe in allem, was ich tue, insbesondere aber für meine Perspektive auf die Welt und – noch wichtiger – meine Perspektive auf soziale Gerechtigkeit, grundlegend. Gleichzeitig weiß ich – schließlich erlebe ich es persönlich –, wie die Lieblosigkeit, die durch Unterdrückung geschaffen wird, aussieht und vor allem wie sie sich in den Beziehungen anfühlt, die wir uns doch eigentlich als Orte der Zuflucht wünschen. Liebe – das ist meine persönliche Erfahrung – ist nicht für alle gemacht. Aus diesem Grund habe ich diesem Thema ein ganzes Buch gewidmet. Ich möchte auf den folgenden Seiten soziale Gerechtigkeit und Liebe zusammendenken. Wie Diskriminierung uns in der Liebe voneinander trennt und wie wir trotz dieses Umstandes zusammenfinden und gemeinsam wachsen können, als Liebende in einer intimen Beziehung* wie auch als Gesellschaft im Ganzen, davon handelt dieses Buch.

Bevor ich tiefer einsteige, möchte ich dir etwas gestehen: Ich finde, dass Bücher über Liebe, besonders mit Blick auf Unterdrückung, ein schwieriges Unterfangen sind. Das fängt für mich schon mit dem Begriff »Liebe« an. Denn obwohl ich, ohne hier zu weit vorzugreifen, Liebe als eine bewusste Entscheidung und schließlich als beständiges Handeln betrachte, geht es auf den folgenden Seiten um ein bestimmtes Phänomen. Ich meine mit allem, was ich hier schreibe, nicht alle zwischenmenschlichen Verbindungen gleichermaßen. Dieses Buch ist dem Phänomen gewidmet, das bereits in der griechischen Philosophie als »eros«, die sinnlich-erotische Liebe, gegenüber »agape«, der selbstlosen, und »philia«, der freund*innenschaftlichen Liebe, abgegrenzt wurde. Eine Liebe also, die weder ausschließlich in einem freund*innenschaftlichen Gefühl begründet noch selbst- oder bedingungslos ist.

Im Grunde beginnt die Herausforderung schon hier: Schließlich werden nicht selten Romantik und Sex als feste Bestandteile von Liebesbeziehungen verhandelt, und das, obwohl es Menschen und Beziehungen gibt, in denen weder das eine noch das andere von Bedeutung ist. Sprich, es finden in Bezug auf die Liebe viele Menschen mit der Art und Weise, wie sie ihre Liebesbeziehungen gestalten, in gängigen Narrativen keine Erwähnung.

Ist die Liebe ein Gefühl? Eine Entscheidung? Ist sie ein – im Kern simpler – biochemischer Prozess? Ist sie die Summe vieler kleiner Momente? Ist sie einfach da? Geht sie wieder? Müssen wir um sie kämpfen? Oder: Sind wir schlicht die Marionetten unserer Hormone und haben selbst kaum Mitspracherecht? Warum lieben und begehren wir, wen wir lieben und begehren? Warum lieben und begehren wir andere nicht? Lieben wir verschiedene Menschen unterschiedlich? Können wir mehrere Menschen gleichzeitig lieben? Gibt es unterschiedliche Formen der Liebe? Macht Liebe uns frei? Engt Liebe uns ein? Oder gehört beides unweigerlich zusammen?

Überall um uns herum, egal ob in Liedern, Filmen, Serien, Büchern, Talkshows oder Radiobeiträgen, wird die Liebe zu etwas Ungreifbarem, Zufälligem und Schicksalhaftem verklärt. Entweder sie ist da oder eben nicht. Sie entzieht sich vermeintlich unserem Einfluss. Und am Valentinstag wird herzförmige Tiefkühlpizza in ihrem Namen verkauft. Liebe ist das Größte – Liebe überwindet alle Grenzen – love conquers all: Liebe besiegt alles. Die Beatles sangen einst verheißungsvoll All You Need Is Love. Ist das so? Die sehr kurze Antwort lautet: Nein. Die so weit verbreitete romantisierte Überhöhung der Liebe wird dieser nicht gerecht und nimmt ihr zugleich ihr visionäres Potenzial. Denn die realen Herausforderungen, die mit der Liebe in einer diskriminierenden Gesellschaft einhergehen, werden und bleiben so verschleiert. Dabei treiben besagte Probleme mich und dich und eigentlich alle um, die Liebesbeziehungen eingehen – auch wenn wir uns dessen nicht immer gewahr sind. Und obwohl in diesem Kontext vor allem die Verteilung von Sorgearbeit in heterosexuellen Beziehungen, häufig jenen mit Kindern, diskutiert wird, beginnt und endet soziale Ungleichheit in der Liebe nicht dort. Vielmehr wirken alle Formen der strukturellen Diskriminierung in unseren Beziehungen fort.

Unsere intimsten Beziehungen sind im Grunde Petrischalen unserer Gesellschaft: Was da draußen im Großen passiert, geschieht auch im Kleinen zwischen uns und unseren Lieben. Gesellschaftliche Machtverhältnisse, sprich die unterschiedlichen Formen von Diskriminierung, sind ein beständiger Teil unserer Beziehungen – unabhängig davon, ob wir es wollen oder wissen. Genau hier liegt der Hund oder besser gesagt die Liebe begraben: Strukturelle Diskriminierung wirkt wie ein schleichendes Gift. Mit einer kleinen, kaum spürbaren Dosis jeden Tag aufs Neue treibt sie uns beständig auseinander. Genau das ist es, was Unterdrückung schafft: Trennung. Diese Trennung zeigt sich an vielen unterschiedlichen Stellen, so zum Beispiel in Konflikten, in denen die Wut der Schwarzen Partnerin Stereotypen folgend als »unangebracht« und »aggressiv« wahrgenommen wird, obwohl sie eine angemessene Reaktion im Rahmen eines Streites darstellt. Sie zeigt sich darin, dass Menschen aus Arbeiter*innenfamilien versuchen, Teile ihrer Herkunft zu verbergen. Die Trennung, die Diskriminierung in unser Lieben bringt, zeigt sich aber auch darin, wen wir daten oder – besser gesagt – wen wir für uns als Partner*in von Anfang an gar nicht in Erwägung ziehen. Das mag etwa daran liegen, dass wir diskriminierende Vorstellungen über marginalisierte Gruppen verinnerlicht haben, oder daran, dass unsere Gesellschaft so segregiert ist, dass sich unsere Wege mit strukturell benachteiligten Menschen gar nicht erst kreuzen. Soziale Ungleichheit äußert sich darin, wem in Beziehungen die emotionale Arbeit zugeschrieben wird, sprich, wer vermeintlich »besser« geeignet ist, um sich um die Beziehung zu kümmern. Mit dieser Kluft, die durch systematische Benachteiligung und Ausgrenzung geschaffen wird, schadet soziale Ungleichheit unserer Verbundenheit in Beziehungen und damit letztlich uns selbst.

Wir brauchen mehr Bücher über Liebe. Konkreter brauchen wir – davon bin ich überzeugt – Bücher über Liebe, die es uns ermöglichen, uns voller Neugier und kritischer Selbstreflexion der komplexen gesellschaftlichen Strukturen anzunehmen, die in unserem Leben und in unseren Beziehungen wirken. Damit meine ich soziale Ungleichheit. Dennoch: Ich habe dieses Buch nicht geschrieben, um einmal mehr aufzuzeigen, dass unser Leben und unser Lieben im Grunde ein unentrinnbares Jammertal menschlichen Elends sind. Nein, ich bin fest davon überzeugt, dass wir es anders machen können – wir können die Liebe mit mehr Gegenseitigkeit leben. Ich bin davon überzeugt, dass es – gerade in unseren innigsten Beziehungen – in unserem eigenen Interesse ist, uns nicht von gesellschaftlichen Systemen der Unterdrückung trennen zu lassen. Genau deshalb ist es wichtig, dass wir für Gleichberechtigung einstehen und uns gegen Unterdrückung positionieren – auch im Privaten. Gerade da, weil es einer der wenigen Räume ist, die wir durch unser Handeln nachhaltig verändern können. Ein Ort, der stärker als andere in unserer Verantwortung liegt.

Dieser Punkt ist insbesondere mit Blick auf soziale Ungleichheit wichtig, denn sie ist Bestandteil unserer Sozialisierung und damit unweigerlich ein Teil von uns. Und obwohl diskriminierende Strukturen nicht unsere persönliche »Schuld« sind, wiederholen wir sie durch Unwissen oder unreflektiertes Verhalten in unseren Beziehungen. Deshalb ist es an uns, Verantwortung dafür zu übernehmen, Unterdrückungsmechanismen in unserem eigenen Verhalten zu erkennen und sie zu unterbrechen. Solang wir uns der Diskriminierung, die in unseren Beziehungen wirkt, nicht bewusst sind, solang wir nicht wissen, warum,wo und wie sie wirkt, solang gibt es wenig, was wir ihr entgegensetzen können. Auch deshalb betrachte ich Diskriminierungskritik als eine Art Paartherapie für die Gesellschaft. Mit ihr stellen wir die Fragen, die nicht nur für unsere intimsten Beziehungen, sondern für unser gesamtes soziales Miteinander von Bedeutung sind: Wie wollen wir miteinander leben, und wie kann das gleichberechtigt geschehen? Was brauchst du, was brauche ich, was brauchen wir?

Für wen ich dieses Buch geschrieben habe? Das Buch richtet sich an Menschen, die lieben. Konkreter richtet es sich an Menschen, die in ihren Beziehungen immer wieder das Gefühl beschleicht, dass es Sollbruchstellen gibt, die nicht ihre eigenen sind. Es richtet sich an alle, die ahnen, dass die soziale Ungerechtigkeit, die uns tagtäglich begleitet, Einfluss auf unsere intimsten Beziehungen hat. Und es soll für jene sein, die bereits wissen, dass Systeme der Unterdrückung der Liebe nicht zuträglich sind, sondern uns im Gegenteil voneinander trennen. Dabei ist es nicht von Bedeutung, in welcher Beziehungskonstellation eine Person sich befindet – ob nicht-monogam oder monogam – oder ob sie gegenwärtig überhaupt in einer Beziehung ist, denn wie Diskriminierung beispielsweise unsere Partner*innenwahl oder unsere Konflikte beeinflusst, wirkt in Teilen unabhängig davon.

Ich habe dieses Buch keinesfalls aus einer vermeintlich »neutralen« oder »objektiven« Perspektive geschrieben – das Gegenteil ist der Fall. Meine Arbeit als Autor*in und Bildungsreferent*in und die Wissbegier, die mich dabei beständig begleitet und dazu inspiriert, unser Miteinander in der Gesellschaft und in Beziehungen gleichberechtigter zu gestalten, sind untrennbar mit meiner Lebensrealität verbunden: Schließlich finde ich mich in meinem Alltag, als Kind eines Schwarzen Vaters aus Ghana und einer weißen Mutter aus Deutschland, als Schwarze Person, die neben Rassismus andere Formen von Diskriminierung erlebt, aber auch in vielerlei Hinsicht privilegiert ist, als Mama und Mensch in Beziehung mit anderen, selbst verwoben mit dem Stoff, der mich so zum Nachdenken anregt. Ich betrachte alles aus dieser, meiner Perspektive – es geht gar nicht anders.

Diese Perspektive – wie etwa die Möglichkeit, mich selbst als Schwarze Person zu bezeichnen – entspringt einer kollektiven Auseinandersetzung. Denn das Eintreten für Gleichberechtigung, für Freiheit ist eine gemeinsame, eine kollektive Anstrengung. Eine solche kollektive Anstrengung bedeutet im Fall dieses Buches, dass es sich auf Menschen stützt, die vor mir über diese Themen nachgedacht und mich in meinem eigenen Denken beeinflusst haben. Entsprechend sind viele der Gedanken, die ich hier aufschreibe, kollektive Gedanken: Es sind Gedanken, die sich besonders jene machten und machen, die jenseits gesellschaftlicher Normen existieren und sich dessen gewahr sind. Mir ist es wichtig, das so zum Ausdruck zu bringen, denn Kämpfe gegen Unterdrückung sind immer gemeinschaftliche Kämpfe. Sie sind das Gegenstück zu der Trennung, die soziale Ungleichheit schafft – auch in der Liebe.

Für dieses Buch verbinde ich unterschiedliche Aspekte miteinander: zum Beispiel meine Leidenschaft für gesellschaftskritische Psychologie und sozialwissenschaftliche Forschung im Zusammenhang mit Diskriminierung. Dafür habe ich mit einigen Menschen gesprochen, die in diesen Bereichen forschen, als Berater*innen in diesem Feld arbeiten oder als Psycholog*innen im Bereich der Paartherapie tätig sind. Diese Expert*innen haben theoretische und praktische Erfahrung im Umgang mit diskriminierungsrelevanten Themen im Kontext von Beziehungen. Stellenweise fließen in dieses Buch auch Gedanken von Paartherapeut*innen ein, die zwar nicht zwingend Diskriminierung als Herausforderung für Liebesbeziehungen benennen, deren Perspektiven dennoch wertvoll sind: etwa weil sie das Potenzial haben, uns dazu anzuregen, eine eigene Haltung und – wichtiger noch – Möglichkeiten für ein verändertes Verhalten in Beziehungen zu finden. Ich lasse außerdem Erzählungen von mir selbst einfließen. Das sind einerseits Gedanken, die im Hinblick auf meine Arbeit bedeutsam sind, und andererseits persönliche Erfahrungen in und mit der Liebe und meine Reflexion derselben. Daraus ergibt sich, dass meine Erfahrungen etwa mit Rassismus und Sexismus als Grundlage für dieses Buch dienen und der Fokus dementsprechend ausgerichtet ist. Nicht weil alle anderen Formen von Diskriminierung diesen untergeordnet wären, sondern weil ich hierzu persönliches Erfahrungs- und Fachwissen habe.

Dieses Buch ist kein Ratgeber. Das kann es aus vielen unterschiedlichen Gründen nicht sein. Ein wesentlicher Grund ist – und das gilt für einen kritischen Umgang mit Diskriminierung aus meiner Sicht grundsätzlich –, dass es keinen Zehn-Punkte-Plan gibt, dem wir folgen können, damit irgendwann alles gut wird. Glaub mir, wenn es diesen Plan gäbe, würde ich ihn nicht geheim halten wollen. Diskriminierung zu kritisieren und sich ihr zu widersetzen, ist anstrengend und bedeutet Arbeit – auch an uns selbst. In diesem Sinne bezieht sich alles, was ich hier aufwerfe, auf die individuelle Ebene von Unterdrückung, also unser eigenes Verhalten. Das ist nicht etwa der Fall, weil ich davon überzeugt bin, dass sich Gesetzgebungen und gesellschaftliche Vorstellungen rund um Liebesbeziehungen nicht ändern müssten – das müssen sie dringend, wenn wir strukturellen Wandel erleben wollen. Vielmehr ist mir bewusst, dass all diese unterschiedlichen Ebenen miteinander verbunden sind und Veränderung an der einen auch Veränderung an der anderen Stelle zur Folge hat.

Die persönliche Ebene in den Blick zu nehmen, bedeutet auch, dass ich davon überzeugt bin, dass es überhaupt keinen detaillierten Zehn-Punkte-Plan braucht. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass Menschen wie du und ich dazu fähig sind, in einem andauernden Lern- und Reflexionsprozess zu erkunden, was konkrete und realistische Handlungsoptionen für uns sind, mit denen wir im Alltag – auch verinnerlichten – Unterdrückungsmechanismen entgegentreten können.

Ein anderer wichtiger Aspekt, weshalb es sich bei diesem Buch nicht um einen Ratgeber handelt, ist, dass es bisher deutlich zu wenig wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Unterdrückung und deren Auswirkungen auf Beziehungen gibt. Das haben mir die Gespräche bestätigt, die ich etwa mit Ronald F. Levant, einem emeritierten Professor der Psychologie, der zu Männern und Männlichkeit arbeitet, oder auch mit Mona ElOmari, einer systemischen Paarberaterin, geführt habe. Das ist nicht überraschend, schließlich wurde im Kontext der Psychologie zunächst verstärkt dazu beigetragen, diskriminierende Vorstellungen zu medikalisieren. Damit ist es vergleichsweise neu, dass die psychologische Forschung und Praxis um kritische Perspektiven erweitert werden.

Es ist wie überall sonst in unserer Gesellschaft: Wer sich mit sozialer Ungleichheit beschäftigt, sie verstehen will und Mittel sucht, um gegen sie anzugehen, ist auf sich und die eigene Ausdauer, eine Suchmaschine im Internet oder eine Bibliothek angewiesen. Es ist ein individueller Prozess, der niemals aufhört und für uns alle anders aussieht. Dennoch denke ich, dass ich dir einige Anregungen mitgeben kann, und sei es, weil ich den Fragen zu Liebesbeziehungen und Diskriminierung, die vielleicht auch dich beschäftigen, anders nachgehe, als du es tun würdest. Die folgenden Seiten sind demnach eine Einladung zum inneren Dialog und zur Selbstreflexion.

Ich denke, dass dieses Buch für dich insbesondere dann bereichernd sein kann, wenn du es in seiner Gesamtheit liest. Überspring nicht den Teil, in dem es um Konflikte geht, weil du gegenwärtig in einer Beziehung bist, in der es wenig Auseinandersetzungen gibt. Ignorier nicht das Kapitel, in dem es um Aushandlungsprozesse in der Liebe geht, weil du gerade in keiner Liebesbeziehung bist. Ebenso wenig bedeutungsvoll ist, mit wem du gerade zusammen bist – oder auch nicht –, mit wem du bisher zusammen warst und ob dein Leben oder das Leben dieser Person(en) kaum oder von mehreren Formen der Unterdrückung beeinflusst wird. In diesem Buch geht es darum, wie jene Muster, die von Diskriminierung geschaffen werden, sich in unserem Lieben äußern – ganz unabhängig davon, ob oder in was für einer Liebesbeziehung du dich gerade befindest. Ich schlage deshalb vor, dass du mit dem Lesen am Anfang beginnst und dich chronologisch durch die einzelnen Kapitel, die alle aufeinander aufbauen, hindurcharbeitest.

Wenn du dich bisher eher weniger mit Systemen der Unterdrückung beschäftigt hast, bemerkst du auf den folgenden Seiten vielleicht einige Begriffe und fragst dich, was sie bedeuten. Mir ist wichtig, diese Begriffe parallel zum Text zu erklären, denn es sind zentrale Begriffe, die uns durch das gesamte Buch begleiten. Wir brauchen sie für ein differenziertes Verständnis von Diskriminierung, um die Ungleichberechtigung, die diese schafft, sichtbar zu machen. Weil es schon so viele hilfreiche Definitionen gibt, werde ich im Folgenden auf einige Erklärungen aus anderen Texten zurückgreifen und sie an entsprechender Stelle mit dir teilen.

Zuletzt möchte ich dich um eine Sache bitten: Mach dir dieses Buch zu eigen. Behandele es wie einen alltäglichen Gebrauchsgegenstand, eine Tasse etwa, aus der du morgens deinen Tee trinkst. Nutze es wie einen Notizblock, auf dem du notierst, was du noch für das Gericht kaufen musst, das du einer Freundin kochen willst – du verstehst, was ich meine. Benutze es. Wende es an. Klebe Post-its an die für dich wichtigsten Stellen, unterstreiche, was dich nachdenklich macht, und schreibe deine Gedanken an den Rand. Leg dir auch einen Stift und ein paar leere Blätter dazu, damit du die Fragen, die ich aufwerfe und über die du bisher vielleicht noch gar nicht nachgedacht hast, beantworten kannst.

*Anmerkung: An vielen Stellen im Buch schreibe ich von »Beziehung« in der Einzahl. Ich mache das nicht, weil mir nicht bewusst ist, dass Menschen mit mehreren Menschen gleichzeitig in Liebesbeziehungen sein können, sondern weil es mir wichtig erscheint, auch diese jeweils für sich im Hinblick auf die sozialen Positionen der Menschen in ihr zu betrachten.

Liebe

Ein Satz: Ich liebe dich.

Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem wir uns das erste Mal sahen. Oder besser: als ich dich das erste Mal sah. Ob ich dir aufgefallen bin? Ich weiß es nicht, aber ich bezweifle es. Du warst so vertieft in dein Buch, deine Gedanken.

Es war ein Sommerabend nach einem erbarmungslos heißen Tag. Ich hatte ihn an einem Waldsee verbracht, mich im Schatten der Bäume unterhalten, tiefrote Erdbeeren gegessen und den ruhigen Duft der Nadelbäume eingesogen. Auf dem Weg nach Hause saß ich in der S-Bahn und sah dich: Du saßest allein, ein Buch in der Hand, vollkommen eingetaucht. In meinem Kopf pochte leise die Frage: Wer bist du? Wer bist du? Dann magisches Denken: Wenn du drei Stationen später noch immer nicht ausgestiegen bist, dann spreche ich dich an – ich muss. Der nächste Halt, die Türen gehen auf, mein Herz klopft schneller. Du bleibst sitzen, ich bin beruhigt. Noch eine Station, du schaust einen kurzen Moment von deinem Buch auf, bleibst aber sitzen. Eine letzte Station, dein Blick findet die richtige Zeile wieder, und du versinkst in einer entfernten Welt. Ich glaube, ich fand deine Konzentration anziehend.

Ich bin aufgeregt. Obwohl ich nicht weiß, wie ich dich am besten ansprechen soll, stehe ich auf, gehe auf dich zu und setze mich zu dir. »Wie heißt du?«, frage ich fast ein bisschen zu hastig. Du schaust von deinem Buch auf – ein bisschen verwirrt – und antwortest. Ich mag deinen Namen, ich mochte ihn schon als Kind, und deshalb mag ich irgendwie auch dich. Wir beginnen ein Gespräch, in dem ich mich über deine Grübchen freue und darüber, mit wie viel, fast kindlicher Begeisterung du von deinem Buch erzählst. So sitzen wir eine Weile. Halblaut frage ich dich, ob wir noch ein wenig zusammen durch den Abend spazieren wollen, unser Gespräch fortsetzen, vielleicht ein Eis essen. Dein Schmunzeln, als du »Ja« sagst, mag ich auch.

Mit dir durch die Nacht zu ziehen, fühlt sich vertraut an und gleichzeitig fremd. Eine gute Mischung, die beste vielleicht. Wir machen hier und da halt, trinken am Späti eine Brause, sitzen am Kanal und überlegen, wo wir noch etwas essen könnten. Eilig scheinen wir es beide nicht zu haben. Ich unterstelle dir, dass du diesen Abend genau wie ich nicht beenden willst. Und so kommen wir auf immer neue Themen, über die wir uns austauschen, auf neue Ideen, welche Orte wir gemeinsam erkunden wollen, und finden neue Wege, auf denen wir gemeinsam durch die Nacht schweifen.

Als wir vor einem Imbiss auf der Bank sitzen und auf unser Essen warten, legst du zu gleichen Teilen zögerlich und absichtsvoll deine Hand auf meine Wange und küsst mich. Ich küsse zurück, weil ich dich die ganze Zeit schon küssen will. Dass unser Essen längst fertig ist, bemerken wir spät. Wir bemerken es erst, nachdem wir schon mehrfach aufgerufen wurden. Du lachst, lässt deine Stirn kurz auf meiner Schulter ruhen, küsst meinen Hals und gehst rein. Ich beobachte dich durch die geöffnete Tür: Wie freundlich du auf Türkisch antwortest und dazu spitzbübisch lachst. Dann gibst du etwas Trinkgeld. Wir ziehen weiter.

Wir setzen uns an einen Kanal, richtig essen können wir beide nicht. Unser Gespräch wird ruhiger, intimer, so als ob wir bisher unausgesprochene Geheimnisse teilten. Aus der Ferne dringt leise Musik zu uns und auch das schwache Licht einer Bar. Du hältst inne: »Was ist das?«, fragst du und hörst angestrengt zu. Auf deinem Gesicht der konzentrierte Blick aus der Bahn. Dein Ausdruck verändert sich, als du entschieden »Maria, Maria!« sagst. Wir kichern, ich ziehe dich an mich. Mehr Küsse, tiefere Küsse. Ich bin völlig im Moment. Hinter uns bruchstückhafte Lichtkegel, Autoscheinwerfer. Ein Polizeiauto hält an. Der Polizist blickt zuerst zu uns, dann zum Himmel. »Ist das nicht eine wunderschöne Nacht?«, sagt er euphorisch in dem vollen Wissen, uns zu unterbrechen. Er fährt an und setzt wieder zurück. Er grinst uns an. »Nein, wirklich, diese Nacht ist aber auch schön!« Er fährt weiter und hält seine Finger zu einem Peace-Zeichen geformt aus dem offenen Fenster. In der Zwischenzeit habe ich mein Gesicht in dein Haar gegraben. Meine Augen sind geschlossen, ich atme tief ein. Sanft legst du eine Hand auf meinen Oberschenkel. »Wollen wir zu mir gehen? Einen Tee trinken?« Ich hebe kurz meinen Kopf, sehe dich an und nicke langsam.

Dieses Gefühl, diese Mischung aus Gefühlen. Lust, ich habe so viel Lust auf dich: Ich will deine Stimme hören, will wissen, wie sich dein Grübchen anfühlt, wenn du lachst, will die Härchen auf deinem Unterarm küssen, die wie kleine glänzende Sonnenstrahlen von deiner Haut abstehen. Ich will neben dir sitzen und deinen Geruch in meiner Nase haben, deine warmen Fingerkuppen in meinem Nacken. Ich will deine Gedanken kennen und dich fragen, so viele Dinge fragen.

Die erste Nacht. Ich schlafe bei dir und wundere mich am nächsten Morgen darüber, wie erholt ich bin. Wir sitzen noch ein paar Momente im Bett. Morgenküsse, bevor wir aufstehen und uns unten an einem Obst- und Gemüsestand frisch gepressten Granatapfelsaft holen. Wir verabschieden uns und verabreden uns für den Abend. Noch eine Nacht zusammen. Und dann noch eine. Dann ein Tag und eine Nacht allein. Ich denke viel an dich und weiß diese Zeit allein dennoch zu schätzen.

Auf diese ersten Tage folgen erste Wochen. Für mich ist die Zeit mit dir bestimmt von Vorfreude. Die einfachen Dinge des Alltags funkeln plötzlich. Meine Emotionen, die schon bei unserer ersten Begegnung aufblitzten, als wären sie grelle mehrfarbige Leuchtreklame, die zum Kauf antreiben will, werden etwas ruhiger. Es setzt eine friedliche Langsamkeit ein. In unserer Zweisamkeit beginnen wir ein »Wir« zu werden. In dem Café, in dem wir immer frischen Minztee trinken, gibt es diese eine Bank – unsere Bank –, auf der wir am liebsten sitzen. Unser Lied, 93 ’Til Infinity, hören wir an unserem ersten Abend in deinem Schlafzimmer, das Fenster ist geöffnet und trägt die Melodie zärtlich in die Nacht. Es hat eine rohe Romantik, finden wir beide.

Dass ich dich liebe, weiß ich längst. Ich habe keine Angst, es dir zu sagen, oder davor, dass du mich zurückweisen könntest. Ich sage es trotzdem nicht, nicht gleich zumindest. Ich möchte diesen Moment auskosten. Den Moment, in dem die Liebe schon da und doch unausgesprochen ist.

Und da ist er, plötzlich und ungeplant, nach diesen ersten kurzen Wochen, der Augenblick, in dem ich es dir doch sage. Du holst mich von der U-Bahn ab. Als ich die Treppe hochsteige, zu der Stufe, auf der du sitzt – zusammengekauert und mit einem Buch in der Hand –, blickst du auf. Dein Blick ist, wie so oft, wenn du liest und aus der einen in die andere Welt zurückkommst, etwas überrascht. Du sagst: »Da bist du ja!«, und lachst. Ich beuge mich zu dir herunter und küsse dich. »Setz dich noch kurz neben mich. Die Stufen sind angenehm warm.« Du reichst mir eine der beiden Glasflaschen, die zu deinen Füßen stehen – Johannisbeerschorle. »Wie war dein Tag?«, fragst du, wie wir das inzwischen tun. Ich habe nicht viel zu erzählen und erwidere die Frage. Du antwortest kurz, um deine Augen zeichnen sich Lachfalten ab, und du sagst glücklich: »Nicht spannend, aber es waren heute alle so nett zu mir!« – »Ich liebe dich«, gebe ich lächelnd zurück.

Und du?

Wie war das bei dir? Erinnerst du dich daran, wie du dich das letzte Mal verliebt hast? Ich nehme an, dass du dieses Buch liest, weil auch du schon Menschen getroffen hast – über eine App, auf der Arbeit, im Club oder im Freund*innenkreis –, zu denen du eine tiefere Verbindung aufgebaut hast. Eine Verbindung, die deinem Alltag etwas mehr Glanz verliehen hat. Ein »Wir« zu werden – es selbst zu kreieren, sich und gleichzeitig die Verbindung zueinander kennenzulernen –, ist magisch, finde ich. Wenn ich jetzt also für unsere Zwecke einer machtkritischen Reflexion unserer Liebesbeziehungen von der Notwendigkeit einer Definition von Liebe spreche, dann sei unbesorgt: Selbst wenn ich es wollte – ich kann ihr Leuchten nicht schwächen. Denn wie Jeanette Winterson passend in ihrem Roman The PowerBook* schreibt: »Nichts ist uns vertrauter als die Liebe. Nichts entzieht sich uns so vollständig.«2 Und soweit ich es auf der Grundlage von allem, was ich bisher dazu gelesen habe, beurteilen kann, gibt es tatsächlich keine Definition von Liebe, die wirklich befriedigend ist. Keine, die die Liebe in all ihren kleinen Teilen greifbar machen könnte. Das ist okay. Für uns ist es nicht notwendig, ein adäquates Verständnis von Liebe zu haben, das über alle Zweifel erhaben ist. Wir brauchen lediglich eine Grundlage, etwas Gemeinsames, etwas, worauf wir aufbauen können und auf das wir uns innerhalb dieses Buches immer wieder beziehen können – das ist gut genug.

Was ist deine Definition von Liebe? Ernsthaft: Hast du Liebe für dich definiert? Wenn ja, was bedeutet sie für dich und deine Beziehungen? Wenn nein, warum hast du diesen Begriff bisher nicht für dich definiert? Frei heraus: Weißt du, was genau du meinst, wenn du sagst: »Ich liebe dich«? Oder andersrum: Weißt du, was »Ich liebe dich« für dich nicht bedeutet? Ich verstehe, wenn du es schwierig findest, auf beide Fragen eine Antwort zu finden. Denn obwohl es mir wichtig ist, diese Fragen für mich beantworten zu können, fällt es mir trotzdem schwer. Einige Teile kann ich benennen, andere nicht.

Vielleicht fangen wir am besten da an, wo meine gesellschaftliche Prägung begonnen hat: Ich denke an meine Kindheit zurück. Ich denke an den ersten Liebesbrief, den meine Mutter für mich schreiben und großzügig mit Parfüm besprühen musste – weil ich zu Beginn der ersten Klasse weder schreiben konnte noch ein Eau de Toilette besaß. Liebe bedeutete für mich damals, eine Person zu mögen und gern Zeit mit ihr verbringen zu wollen. Außerdem lebten in meinem Kinderzimmer Barbie und Ken. Ein unzertrennliches heterosexuelles Paar – was sonst –, das in meinem Fall nur deshalb nicht weiß war, weil meine Mama mir Schwarze Barbies und Kens aus den USA mitbrachte. Liebe war für mich auch die willensstarke und eigensinnige Pocahontas, deren eigentlicher Name Matoaka war und die, wie ich heute weiß, eine antikoloniale Widerstandskämpferin war.3 Im Disney-Film bewahrte sie John Smith vor einem Tod durch seine eigene Ignoranz, die zwei verlieben sich. Die Kolonisierung ihrer Region, für die er in die Amerikas, die vermeintliche »Neue Welt«, gekommen ist, wird daraufhin zur Nebensache. Musikalisch untermalt wurde mein Leben damals von den Spice Girls, die »If you wanna be my lover, you gotta get with my friends« sangen. Das leuchtete mir ein, denn wer mich liebt, versteht sich auch mit meinen Freund*innen – alles erschien mir noch recht einfach. Und so plante ich, entweder Nick oder Brian von den Backstreet Boys zu heiraten – eigentlich lieber Brian, weil ich fand, dass er besser singen konnte, und das schien mir eine mitunter wichtige menschliche Qualität zu sein.

Ich wurde etwas älter. Britney Spears läutete mit Baby One More Time meine Jugend ein. Wenn ich an meine Teenagerzeit zurückdenke, dann denke ich an Carrie Bradshaw aus Sex and the City, deren Beziehung zu Mr. Big mir damals etwas kompliziert und vielleicht deshalb als erstrebenswert erschien: Echte Liebe ist nicht einfach, wir müssen dafür kämpfen. Die Beziehungen, die ich in diesen Jahren im Fernsehen sah und die mein Bild von Liebe prägten, waren alle, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, irgendwie schwierig. Mit meinen ersten Beziehungen wurde für mich deutlich, wie herausfordernd es sein kann, gleichzeitig individuell und gemeinsam zu wachsen.

Zu Beginn meiner Zwanziger sind es vor allem Gespräche mit Freund*innen, in denen ich mich mit ihnen abgleiche. Einige sind ständig frisch verknallt, andere sind über Jahre hinweg mit der gleichen Person zusammen. Was Liebe für uns bedeutet, besprechen wir wenig. Vielleicht auch weil es scheint, als gäbe es eine stille Übereinkunft darüber, was Liebe ist.

Wenn ich das Wort »Liebe« in eine Suchmaschine eingeben würde, dann würde sie Begriffe wie »Hingabe«, »Begehren«, »Leidenschaft«, »Hochzeit«, »Lust« oder »Happy End« ausspucken. Eine Bildersuche würde viele rote Herzen und Paare wahlweise vor einem Sonnenuntergang oder am Strand zeigen – glückliche Menschen. Das realitätsferne Bild, das unsere Gesellschaft von Liebe zeichnet, ist eines, das in unendlichem Glück verhaftet ist. Wer, so wie ich, schon längere Liebesbeziehungen geführt hat, weiß, wie wenig der Alltag in einer Beziehung mit Spaziergängen am Strand zu tun hat. Auffällig ist an dieser Karikatur zwischenmenschlichen Miteinanders auch, dass in ihr insbesondere dominante gesellschaftliche Gruppen repräsentiert werden – dazu an einigen anderen Stellen des Buches mehr.

Allerdings wird Liebe in unserer Gesellschaft nicht ausschließlich mit positiven Dingen assoziiert: Wenn ich in meine Suchmaschine die Worte »Mord aus« eingebe, dann lautet der erste Vorschlag zur Vervollständigung »Leidenschaft« und bereits der zweite »Liebe«. Außerdem finde ich Schlagzeilen zu Stalking »aus Liebe«. Mir kommt auch der Spruch »Schlüssel zu meinem Herzen« in den Sinn, dessen Ausgangspunkt das verschlossene Herz, also Abgrenzung ist.

Schon von klein auf sind wir von Darstellungen davon umgeben, was Liebe – vermeintlich – ist. Ich möchte einen Moment bei diesem Gedanken bleiben: Wir können uns diesen Bildern nicht verwehren. Das ist es, was sie so mächtig macht. Egal ob es uns bewusst ist oder nicht, ob wir es wollen oder nicht, wie Liebe in unserer Gesellschaft repräsentiert wird, geht an uns nicht spurlos vorbei. Die Gesellschaft ist mit ihren normierten Vorstellungen in unser Inneres gesickert und wirkt sich so auf unsere Beziehungen aus. Hinzu kommt – auf diesen Aspekt möchte ich hier nur kurz eingehen, weil ich ihn später noch mal ausführlicher aufgreife –, dass die Vorstellungen, die uns prägen, sehr einheitlich sind. Dazu gehört, dass Liebesbeziehungen Paarbeziehungen sind. Sie bestehen in dieser Perspektive, die auf einer binären Vorstellung von Geschlecht beruht, aus zwei Personen, einem (cis)* Mann und einer (cis) Frau, die als Menschen erst »komplett« sind, wenn sie ihr »Gegenstück« gefunden haben. All das wird in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der wir mit Werbung überflutet werden, dann genutzt, um uns wieder und wieder zu suggerieren, dass wir der Liebe erst würdig sind, wenn wir konsumieren – im besten Fall viel. Ich denke hier an jene Influencer*innen, die ihre »privaten« Momente mit uns teilen und deren Lebensausschnitte nicht selten an besser inszenierte Dauerwerbesendungen mit klar verteilten vergeschlechtlichten Rollen erinnern. Die ruhige Hintergrundmelodie untermalt das allzu bekannte Versprechen von sozialem Aufstieg und Selbstoptimierung durch Konsum. Das ebenfalls ewig währende Versprechen von Werbung suggeriert uns dabei, dass unser Kaufverhalten dazu beitragen kann, dass wir liebens- und begehrenswert werden – vorausgesetzt, wir entscheiden uns für das richtige Parfüm oder das richtige Lebensmittel. Die mitschwingende Botschaft ist, dass wir als Menschen nicht einfach so liebenswert sind, wir müssen es uns mit Lohnarbeit erarbeiten, im besten Fall mit einem gut bezahlten Job – denn Sorgearbeit zählt nicht als Arbeit. Oder so: Wer viel konsumiert, ist attraktiv, denn wer konsumieren kann, hat Geld. Und wer attraktiv ist, ist der Liebe würdig. Damit wird die Liebe zum Ziel einer schier unendlichen Herausforderung, die wir nur erfolgreich meistern können, wenn wir hart genug an uns arbeiten, um der Liebe würdig zu werden.

Bei all diesen Botschaften, die unausgesprochen den Rahmen unseres Liebens abstecken und denen wir uns nicht konsequent entziehen können, könnte es fast überflüssig erscheinen, Liebe für sich selbst zu definieren. Immerhin gibt es schon genug sozial konstruierte Definitionen, die uns in die Enge treiben. Doch das Gegenteil ist der Fall: Denn dieser enge Rahmen darf gesprengt werden. Und unsere eigene Definition kann uns Freiheit in der Liebe zurückgeben.

Liebe – eine pragmatische Definition

Ich plädiere mit diesem Buch dafür, dass wir uns das Wort »Liebe« zu eigen machen, um so den Rahmen für unsere Liebesbeziehungen selbst zu stecken. Schließlich ist es so, dass unser Verständnis davon, was Liebe beinhaltet, gleichzeitig auch definiert, was Liebe für uns nicht sein kann. Es impliziert, wie wir uns in Beziehungen verhalten und welches Verhalten wir von anderen tolerieren. Unsere Definition von Liebe wird damit zu unserem persönlichen Kompass, an dem wir uns orientieren können. Ich finde, es bietet sich an, eine klare Definition der Liebe für sich selbst zu haben. Für dieses Buch wähle ich eine andere Definition von Liebe, die im Kontrast zu den gesellschaftlichen Vorstellungen derselben steht. Dabei beziehe ich mich vor allem auf M. Scott Peck und Erich Fromm. Ihre Ansätze, die zeitweise sehr ähnlich sind, haben mich dazu inspiriert, Liebe als Werkzeug gegen soziale Ungerechtigkeit zu denken. Ihre Definitionen, die ich innerhalb des Buches ergänzen und weiterdenken möchte, fallen vor allem dadurch auf, dass sie pragmatisch sind. Gleichzeitig liegt hierin ihre Schönheit: Sie sind nicht unendlich weit von der alltäglichen Realität zwischenmenschlicher Beziehungen entfernt.

Beginnen wir mit meiner liebsten Definition. Sie stammt von M. Scott Peck, einem US-amerikanischen Psychiater und Psychotherapeuten. In seinem bekannten Buch The Road Less Traveled: A New Psychology of Love, Traditional Values and Spiritual Growth*schreibt er, dass er im Rahmen seiner Arbeit immer wieder auf Menschen traf, die Handlungen anderer als Liebe interpretierten, obwohl deren Verhalten sie beschnitt, kontrollierte, unfrei oder unselbstständig machte. Wenn wir uns vor Augen halten, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Phrasen wie »Mord aus Liebe« gängig sind, ist es wenig verwunderlich, dass Menschen Liebe mit anderen Motiven verwechseln, darunter auch Verhaltensweisen, die ich als das Gegenteil von Liebe betrachten würde. Für Peck ergab sich daraus die Notwendigkeit – ganz ähnlich wie ich sie empfinde –, Liebe zu definieren. Seine Definition lautet folgendermaßen: