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Ana Dee

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Beschreibung

Vor zehn Jahren ist Anna, eine junge Studentin aus Göteborg, spurlos im Norden Schwedens verschwunden. Sie soll an einem Wasserfall verunglückt und von den Fluten mitgerissen worden sein. Dann werden in dieser Gegend Knochenfragmente gefunden, die Annas Tod bestätigen. Kristin Thalberg, eine ehemalige Kommissarin, soll Licht ins Dunkel bringen und herausfinden, was an diesem Tag tatsächlich geschehen ist. Sie macht sich auf den Weg nach Gällivare, um mit den Nachforschungen zu beginnen. Aber nicht jeder ist erfreut darüber und ihr schlägt erbitterter Widerstand entgegen. Die Bewohner des Ortes hüllen sich in Schweigen und zeigen sich wenig kooperativ. Irgendwann spitzt sich die Lage so dramatisch zu, dass Kristin um ihr Leben fürchten muss. Sie begreift den Ernst der Lage und stimmt ihrer Auftraggeberin zu – Annas Tod kann kein Unfall gewesen sein.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Knochenspur

SCHWEDEN-KRIMI

ELIN SVENSSON

ANA DEE

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

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Impressum

Anmerkung

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

Kristin Thalberg – PrivatdetektivinJan Thalberg – Kristins BruderAlva Helmstedt – AuftraggeberinArne Jensen – TourguideCalle Jonson – Tourguide

KapitelEins

Kristin saß in ihrem Büro, einem kleinen, schäbigen Raum im zweiten Stock eines heruntergekommenen Altbaus. Die gelbliche Tapete wellte sich an einigen Stellen und die Decke war von feinen Rissen übersät, ein ziemlich trostloser Anblick. Aber mehr hatte sie sich im Moment nicht leisten können. Das einzige Fenster, das auf die graue, regennasse Straße zeigte, war mit Schlieren bedeckt, sodass das spärliche Tageslicht kaum den Raum erhellte.

Ihr Schreibtisch, ein abgenutztes Holzstück mit Wasserflecken und einer Schublade, die nur mit Mühe zuging, war bis auf eine alte Kaffeetasse und ein zerknittertes Notizbuch leer. Der alte Drehstuhl, dessen Polsterung an den Kanten aufplatzte, quietschte leise, wann immer sie sich hin- und herbewegte. Direkt über der Tür hing eine altmodische Uhr, deren monotones Ticken die Stille im Raum nur verstärkte.

Kristin, in einem grauen Pullover und Jeans, hatte das Gefühl, mit diesem Raum regelrecht zu verschmelzen. Erfolg sah anders aus. Ununterbrochen starrte sie auf das Telefon auf dem Schreibtisch, das seit Tagen nicht mehr geklingelt hatte. Kein einziger Kunde in Sicht. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu einem schief stehenden Aktenschrank, an dessen oberster Schublade ein Briefumschlag klemmte – die letzte Mahnung für die Miete. Es hatte den Anschein, als ob die Welt sie vergessen hätte.

Mit einem Seufzer erhob sie sich und griff nach dem Tuch, das auf dem Fensterbrett lag. Sie betrat den Flur und polierte hingebungsvoll das winzige Messingschild, dessen Schrift sehr klein und deshalb kaum lesbar war. Es sei denn – man stand direkt davor und berührte es mit der Nasenspitze. ‚Kristin Thalberg – Privatdetektivin‘ war auf dem Schild zu lesen und sie hatte all ihre Hoffnung darauf gesetzt, schon bald richtig durchstarten zu können.

Aber wie hätte es auch anders sein sollen, das war definitiv nicht der Fall. Heutzutage war es leicht, einen untreuen Ehebrecher seiner Taten zu überführen. Ein pikanter Chatverlauf hier, dort ein paar Likes für freizügige Fotos und zack, schon hatte die brave Ehefrau alles zusammen, was sie brauchte, um endlich die Scheidung einreichen zu können. Obwohl Kristin sich nur zu gern auf die Lauer gelegt hätte, um die noch ausstehende Monatsmiete bezahlen zu können. Anscheinend wollte niemand sie buchen, völlig unverständlich in ihren Augen. Wo doch heutzutage die Kriminalitätsstatistik eine riesige Kurve nach oben machte.

Als das Telefon dann doch überraschenderweise klingelte, stürzte sie zum Schreibtisch. „Kristin Thalberg – Privatdetektivin“, rief sie atemlos in den Hörer.

„Hallo Kris, Alfredo hier. Du wolltest doch gestern die Rechnung von letzter Woche …“

„Schon gut, schon gut“, unterbrach sie ihn. „Ich komme nach der Arbeit gleich bei dir vorbei, versprochen.“

„Aber bring genügend Kronen mit, ansonsten gibt es keine Pizza mehr.“

„Ja, alles klar.“

Frustriert warf sie den Hörer auf. Sie würde sich einen ganz normalen Job suchen müssen, um sich aus der finanziellen Misere zu befreien. Aber einen Versuch war es wert gewesen, dort anzuknüpfen, wo sie beruflich aufgehört hatte. Sie war auf dem besten Weg gewesen, eine überaus erfolgreiche Kommissarin zu werden. Aber sie hatte mit Holgersson, ihrem ehemaligen Chef auf Kriegsfuß gestanden. Sie waren wie Feuer und Wasser, Hund und Katze oder Sonne und Schnee gewesen. Zu zweit in einem Raum war wie Sprengstoff mit einer ganz kurzen Zündschnur.

Unehrenhaft aus dem Dienst entlassen – diese Worte hallten noch immer schmerzhaft in ihren Ohren wider. Ihre unkonventionellen Ermittlungsmethoden waren Holgersson schon immer ein Dorn im Auge gewesen und als sich die Gelegenheit bot, hatte er Nägel mit Köpfen gemacht und sie gefeuert. Adé, ihr lieben Bezüge, mit denen es sich richtig gut gelebt hatte.

Ihr war zum Heulen zumute, aber taffe Frauen weinten nun einmal nicht. Aufstehen, Krönchen richten und weitermachen, lautete ihre Devise. Als das Telefon wiederholt klingelte und die Stille durchbrach, zuckte sie zusammen.

„Hallo?“, meldete sie sich völlig untypisch.

„Spreche ich mit Kristin Thalberg?“

„Ja, die bin ich“, bestätigte sie und spürte, wie sie vor lauter Aufregung feuchte Hände bekam. Sie kannte die Stimme nicht und hoffte inständig auf einen neuen Auftrag. Um wenigstens die rückständige Miete bezahlen zu können. Und die Schulden bei Alfredo, ihrem Lieblingsitaliener.

„Gut, dass ich Sie erreiche.“ Die Stimme klang energisch und duldete keinen Widerspruch.

„Was ist der Grund Ihres Anrufes und mit wem spreche ich überhaupt?“, fragte Kristin und versuchte, so professionell wie möglich zu klingen.

„Alva, Alva Helmstedt und ich habe einen lukrativen Auftrag für Sie.“

Jetzt wurde Kristin hellhörig. Ein neuer Fall wäre für sie wie ein Rettungsanker. „Gut, was kann ich für Sie tun?“

„Haben Sie noch Kontakte zur Polizei?“

Die Frage überraschte sie. „Ja … ich pflege zu einigen Kollegen privat ein lockeres Verhältnis.“

„Sehr gut. Ich möchte, dass Sie heute noch Ihre Tasche packen und nach Göteborg fahren. Ein Hotelzimmer ist bereits für Sie reserviert. In einem anschließenden Gespräch können wir über den Auftrag und die Bezahlung sprechen.“

„Aber …“

„Kein Aber …“

„Einen Moment bitte.“ Diesmal war es Kristin, die sich entschieden Gehör verschaffte. „Ich kann nicht einfach meine Zelte abbrechen und nach Göteborg reisen.“

„Warum nicht? Was hält Sie davon ab?“

Zum Beispiel, dass ich mir kein Hotelzimmer leisten kann, dachte sie im Stillen.

„Das Hotelzimmer ist bereits bezahlt, falls Ihnen das Sorge bereitet.“

Sie räusperte sich verlegen. „Worum geht es denn überhaupt?“

„Das würde ich morgen gern in Ruhe mit Ihnen besprechen.“

„Ein bisschen vage das Ganze“, erwiderte sie. „Normalerweise kommen die Kunden in mein Büro, um die Verträge zu unterschreiben.“

„Wenn Sie kein Interesse haben, dann …“

„Nein, so war das nicht gemeint. Ich würde nur gern erfahren, um was für einen Auftrag es sich handelt, bevor ich in Richtung Göteborg aufbreche.“

„Es würde sich finanziell für Sie lohnen, sehr sogar.“

„Ich möchte trotzdem wissen, was mich erwartet“, sagte sie. Sie würde Jan anpumpen müssen, um sich das Benzingeld überhaupt leisten zu können, und hatte gleichzeitig Angst, dass sich dieser Fall als Flop erweisen würde. Wiederum war das der erste Anruf seit Tagen und sie wusste nicht, wie es für sie weitergehen sollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich zurück in die Teenagerzeit versetzt, als sie noch keine klaren Ziele in Richtung Zukunft vor Augen gehabt hatte.

„Ich möchte den Auftrag nicht am Telefon mit Ihnen besprechen.“

„Tut mir leid, aber das klingt alles andere als seriös.“

„Geben Sie meinen Namen in eine der zahlreichen Suchmaschinen ein und entscheiden Sie dann, ob ich seriös genug bin. Ich erwarte Sie morgen um vierzehn Uhr in meinem Haus zum Tee.“

Alva Helmstedt nannte ihr die Adresse und die des Hotels, dann legte sie auf. Kristin starrte auf das Telefon und schüttelte den Kopf. Was war denn das gewesen? Ja, der Auftrag kam ihr sehr gelegen. Aber nicht zu wissen, worum es überhaupt ging, ließ sie nachdenklich zurück.

Alva Helmstedt schien eine resolute, durchsetzungsstarke Frau zu sein, die genau wusste, was sie wollte und selten Widerspruch duldete. Um mehr herauszufinden, holte Kristin den Laptop aus der Tasche und klappte ihn auf. Sie gab den Namen ihrer neuen Klientin ein und staunte nicht schlecht. Alva Helmstedt war eine hochbezahlte Managerin gewesen, die mehrere Unternehmen wirtschaftlich zum Erfolg geführt hatte. Kristin wusste, dass Frauen in dieser Position das Doppelte und Dreifache leisten mussten, um in dieser Männerdomäne anerkannt und respektiert zu werden.

Was sie jedoch erschütterte, war ein Artikel, der davon berichtete, dass Alva Helmstedt seit einem halben Jahr mit einer Krebserkrankung zu kämpfen hatte. Und die Behandlung sah nicht sonderlich erfolgversprechend aus.

Noch im selben Moment beschloss Kristin, diesem Auftrag eine Chance zu geben, klappte den Laptop wieder zu und fuhr nach Hause. Sie bügelte ein Kostüm und eine Bluse, um angemessen gekleidet zu sein. Anschließend zog sie die Reisetasche unter dem Bett hervor und begann zu packen. Ihre Nervosität steigerte sich im Laufe des Abends. Am Ende des Tages lag sie im Bett und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Sie hoffte so sehr auf einen lukrativen Auftrag. Wenn Alva Helmstedt sie weiterempfehlen würde, dann wäre sie wieder im Rennen …

Nach einer ziemlich unruhigen Nacht und zwei Tassen starken Kaffees brach sie in Richtung Göteborg auf. Der Verkehr hielt sich in Grenzen und sie kam gut voran. Mit jedem Kilometer, dem sie sich ihrem Ziel näherte, steigerte sich ihre Anspannung. Nicht zu wissen, was genau Alva Helmstedt von ihr wollte, machte sie nervös.

In Vässingsö, einem exklusiven Stadtteil Göteborgs, wohnten die Menschen, die sich eines dieser hübschen Strandhäuser leisten konnten mit einem unverbauten Blick aufs Meer. Es gab Badeanstalten, Clubhäuser, Yachthäfen und einiges mehr. Eine beschauliche Gegend, in der Kristin sich niemals ein Haus würde leisten können.

Die Villa von Alva Helmstedt befand sich auf einer felsigen Anhöhe und bot einen atemberaubenden Panoramablick auf das Meer und den nahegelegenen Yachthafen. Die Küste war gesäumt von Schären und kleinen Inseln, die wie verstreute Edelsteine ​​im Wasser lagen. Einfach nur traumhaft, dachte sie neidvoll. Ein wenig mehr Kronen auf dem Konto würden das Leben erträglicher machen.

Im gemächlichen Tempo fuhr sie weiter. Die Umgebung war für Stadtverhältnisse ruhig und exklusiv, geprägt von einer Mischung aus unberührter Natur und gepflegten Gärten. Der Zugang zur Villa erfolgte über eine geschwungene Auffahrt, die von alten Kiefern und knorrigen Wacholdersträuchern flankiert wurde. Vor einer der Garagen kam ihr Wagen zum Stehen und sie stieg aus. Nicht schlecht, dachte sie beim Anblick der Villa.

Eine grauhaarige Frau erschien in der Tür und winkte sie zu sich heran. „Kristin Thalberg?“

„Ja, steht vor Ihnen.“

„Treten Sie ein, Alva erwartet Sie bereits.“ Sie lief voraus, blieb kurz stehen und drehte sich wieder zu ihr um. „Ach ja, ich bin Helene Jansson, quasi das Mädchen für alles“, sagte sie mit einem Augenzwinkern.

Kristin lächelte verhalten. Sie folgte Helene und ließ die Räumlichkeiten auf sich wirken. Nobel ging die Welt zugrunde, dachte sie. Die Villa wirkte mit ihren großen Fenstern sehr modern, wobei der Einrichtungsstil nüchtern, wenn auch hochwertig wirkte. Helene Jansson führte sie zu einer verglasten Terrasse, die wie ein Aussichtspunkt inszeniert war. Von hier aus ließ sich der Sonnenuntergang über dem Meer genießen, ein perfekter Ort, der Natur, Luxus und skandinavische Gelassenheit harmonisch vereinte.

Alva Helmstedt saß bereits in einem der Sessel, schaute hinaus aufs Meer und nippte an ihrem Tee. Als Helene und Kristin den Raum betraten, schaute sie auf.

„Sie haben es also einrichten können“, stellte sie fest, ohne aufzustehen, um sie zu begrüßen. „Haben Sie im Hotel gut genächtigt?“

„Ja, vielen Dank.“ Kristin setzte sich zu ihr.

„Helene, schenken Sie doch unserem Gast eine Tasse ein“, bat Alva Helmstedt. „Sie können jetzt auch das Gebäck holen.“

Helene nickte lächelnd und verschwand im Flur.

Kristin nippte brav am Tee, der mit einer ordentlichen Portion Honig gesüßt war. Der graue, tiefhängende Himmel schmälerte nicht die fantastische Aussicht aufs Meer.

„Ein herrlicher Anblick, nicht wahr?“, sagte Alva Helmstedt und versuchte, sanft und freundlich zu klingen.

Aber Kristin wusste, dass alles nur Fassade war und es sich bei Alva Helmstedt um eine knallharte Businesswoman handelte. Sie war eine charismatische Frau in den frühen Siebzigern, deren Erscheinung trotz ihrer Krankheit Würde und Stärke ausstrahlte. Ihr schmaler Körper zeigte die Spuren der Krankheit, aber sie trug sie mit bemerkenswerter Haltung. Feine Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen und einer schlanken, leicht spitzen Nase. Alva Helmstedts Haut war blass, fast durchscheinend, was ihre blaugrauen Augen umso lebendiger wirken ließ und ihre innere Entschlossenheit widerspiegelte.

Die einst so dichten, dunkelbraunen Locken waren nun grau-weiß und wirkten wie ein silberner Rahmen. Trotz ihres Alters waren ihre Bewegungen präzise und kontrolliert und die Kleidung in gedeckten Farben unterstrich ihre Autorität und den scharfen Intellekt. Obwohl Kristin ihr die Krankheit ansehen konnte, bewahrte Alva eine aufrechte Haltung, die sowohl Disziplin als auch Resilienz zeigte. Sie verkörperte eine Mischung aus Verletzlichkeit und Stärke – eine Frau, die trotz ihrer gesundheitlichen Herausforderungen weiterhin Würde und Führungsqualitäten ausstrahlte.

„Sie wollten mir den Auftrag näher erklären“, kam Kristin ohne Umschweife zum Grund ihres Besuches.

„Können wir dieses unverbindliche Siezen nicht lassen?“ Sie streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Alva.“

„Kristin.“

„Angenehm, so lässt es sich besser plaudern.“

„Gut. Also, warum bin ich hier?“

Genau in diesem Moment erschien Helene in der Tür mit einem Tablett in den Händen. Sie servierte das Gebäck und verteilte die Teller.

„Helene, würdest du mir den Karton aus dem Arbeitszimmer holen?“, bat Alva.

„Selbstverständlich“, erwiderte Helene und verließ erneut den gläsernen Wintergarten.

Schweigend warteten sie auf Helenes Rückkehr und Kristin schob sich ein süßes Teilchen in den Mund. Es schmeckte buttrig, war mit zarter Creme und Kokosraspeln gefüllt und schmolz auf der Zunge. Es war das beste Gebäck, das sie je gegessen hatte.

Helene stellte den Karton auf dem Tisch ab.

„Danke.“ Alva nickte ihr zu und wartete, bis sie den Raum wieder verlassen hatte. „So, jetzt können wir uns voll und ganz auf das Wesentliche konzentrieren.“

„Sehr gut“, erwiderte Kristin.

Alva hob den Deckel an und nahm eine Polizeiakte heraus. Allmählich begriff Kristin, warum Alva sie nach Kontakten zur Polizei gefragt hatte.

Bedächtig strich Alva über den schmalen Aktenordner und schaute wieder auf. „Meine Enkelin, Anna Helmstedt, wird seit zehn Jahren schmerzlich vermisst. Ich habe das Mädchen aufgezogen, nachdem mein Sohn und seine Frau bei einem Flugzeugabsturz in Alaska ums Leben gekommen sind. Sie waren beide geschäftlich unterwegs, als ein unberechenbarer Blizzard aufgezogen ist und die Cessna vom Himmel geholt hat.“ Alva schluckte schwer.

„Das ist sehr bedauerlich, ich kann deinen Schmerz verstehen“, sagte Kristin.

„Niemand kann diesen Schmerz verstehen, der ihn nicht schon einmal durchlebt hat. Die Einsamkeit ist kaum zu ertragen, kein Wunder, dass sich dieser verdammte Krebs in mir eingenistet hat.“

Kristin hielt es für das Beste, zu schweigen und Alva weiter zuzuhören.

„Es ist niemand aus meiner Familie mehr da, der das Erbe antreten könnte. Ein Leben lang habe ich geschuftet, um das alles aufzubauen, und mit einem läppischen Fingerschnippen wurde alles zerstört. Man könnte fast schon an einen Fluch glauben.“ Sie lachte verbittert auf.

„Das tut mir sehr leid“, sagte Kristin leise.

„Das muss es nicht, es ist nicht dein Schicksal.“

Alva Helmstedt hatte eine sehr nüchterne Art mit allem umzugehen und dabei andere Menschen vor den Kopf zu stoßen. Kristin fühlte sich in ihrer Gegenwart befangen und zog voller Unbehagen die Schultern hoch.

„Worum geht es bei diesem Auftrag?“, fragte sie deshalb nach, um der Situation zu entkommen.

„Immer schön der Reihe nach, wir haben Zeit“, antwortete Alva.

Kristin nickte stumm und hoffte, dass Alva ihr nicht ansah, dass sie nicht gerade von den Umständen begeistert war.

„In diesem Ordner befindet sich unter anderem die DNA-Analyse, die zweifelsfrei bestätigt, dass die Knochenfragmente des linken Fußes meiner Enkelin zugeordnet werden konnten. In den Medien wurde kurz über den Fund berichtet, vielleicht hast du davon etwas mitbekommen.“

„Leider nein.“

Diesmal verzichtete Kristin darauf, ihr Bedauern über den Tod von Alvas Enkelin mitzuteilen, um nicht erneut zurechtgewiesen zu werden. Wahrscheinlich schaffte man es nur mit diesen Wesenszügen bis ganz nach oben, was ihr zu denken gab. Verfügte sie überhaupt über den nötigen Biss, um ihre Detektei zu pushen? Diese Geschäftsidee war nur aus der Not heraus geboren worden, weil sie unehrenhaft aus dem Dienst entlassen worden war und nichts anderes gelernt hatte.

„Kristin?“

„Entschuldigung.“

„Gibt es irgendein Problem?“

„Nein, nein, ich habe nur über die Fakten nachgedacht“, erwiderte sie.

„Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“

„Zu gar keinem.“

„Nun gut, weiter im Text.“ Alva griff nach der Tasse und trank einen Schluck. „Bis jetzt konnte nicht geklärt werden, was genau Anna zugestoßen sein könnte. Die Bewohner von Gällivare sind nicht bereit, ihr Schweigen zu brechen. Aber ich bin mir sicher, dass sie etwas wissen müssen. Anna ist in den Norden gefahren, um Landschaftsaufnahmen zu machen, Fotografie ist ihr Studienfach gewesen.“

Alva schaute versonnen aus dem Fenster, bevor sie weitersprach.

„Anna war nicht aus demselben Holz geschnitzt, wie ich es bin. Sie war sensibel, verträumt und immer in ihrer eigenen Welt lebend. Das harte Business wäre nichts für sie gewesen. Sie wollte wundervolle Momente einfangen und Menschen damit zum Träumen bringen. Und ich muss ganz ehrlich gestehen – sie hatte wahnsinnigen Erfolg damit. Ihre Fotos wurden in einigen namhaften Galerien ausgestellt und sie hat einige Preise erhalten. Nach ihrem Tod wurden die Fotografien zu Sammlerobjekten stilisiert, die die Preise in die Höhe getrieben haben. Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass Anna mit ihrer Fotografie einmal so viel verdienen könnte.“

Kristin bemerkte den verbitterten Zug um Alvas Mund.

„So jung, sensibel und doch schon erfolgreich …“ Alva schüttelte fassungslos den Kopf. „Anna hätte niemandem etwas zuleide tun können. Ja, sie war eine Einzelgängerin und in meinen Augen viel zu introvertiert, aber sie ist ein Herzensmensch gewesen.“

Eine kurze Pause entstand und in Alvas Augen schimmerten Tränen.

„Nun ja, ich möchte jedenfalls herausfinden, wer ihr das angetan hat, und ich stelle mir jeden Tag die Frage, warum meine Enkeltochter hat sterben müssen.“

„Ist offiziell bestätigt worden, dass es sich um Mord handelt?“, fragte Kristin vorsichtig nach.

„Nein, natürlich nicht. Aber wie soll Anna sonst gestorben sein?“

„Ich brauche mehr Details, um mir ein Urteil bilden zu können. Wie hat sich das Ganze überhaupt zugetragen?“

„Anna hat an jenem verhängnisvollen Tag beschlossen, allein zu diesem abgelegenen Wasserfall zu wandern, um in aller Ruhe fotografieren zu können. Sie war fasziniert von der unberührten Natur und der malerischen Landschaft dieser Region, die bekannt ist für ihre tiefen Wälder und wilden Flüsse. Die Fotografie lag ihr besonders am Herzen und deshalb suchte sie oft die Einsamkeit, um sich von der Natur inspirieren zu lassen.“

Alva legte wieder eine kurze Pause ein, um sich zu sammeln. Sie schien starke Schmerzen zu haben und presste die Lippen fest zusammen. Aber nach ein paar Sekunden hatte sie sich wieder gefangen.

„Der ermittelnde Beamte hat vermutet, dass Anna auf dem rutschigen und felsigen Gelände in der Nähe des Wasserfalls gestürzt sein könnte. Die Umgebung sei bekannt dafür, gefährlich zu sein, insbesondere bei nassem Wetter, wenn die Felsen glitschig werden und der Wasserstand durch die Regenfälle steigt. Hinweise auf den genauen Unfallhergang fehlen, da Anna allein unterwegs war, und es keine Zeugen des Vorfalls gibt. Ihr Verschwinden hat man erst bemerkt, als sie nicht wie vereinbart zurückgekehrt war und eine Suchaktion eingeleitet wurde.“

Alva wirkte während des Gesprächs sichtlich betroffen und beschrieb, wie herausfordernd es für die Rettungskräfte war, in der abgelegenen Wildnis nach Anna zu suchen.

„Letztendlich sind Spuren gefunden worden, die darauf hindeuten, dass sie in den reißenden Fluss gefallen und möglicherweise von der Strömung mitgerissen wurde. Aber es handelt sich um reine Spekulationen, ich gehe von einem anderen Tatbestand aus.“

Alva klang genauso resolut wie am Anfang. Aber Kristin sah ihr die Sorge und Trauer an, weil die genauen Umstände unklar geblieben waren.

Kristin wandte den Blick vom Meer ab und richtete ihn auf Alva. „Was lässt dich so sicher sein, dass es anders gewesen ist, wo doch alles auf einen Unfall hindeutet?“

„Weil ich Anna kenne. Sie hat sich doppelt und dreifach abgesichert, wenn sie auf eine ihrer Fototouren gegangen ist. Ja, es existieren spektakuläre Aufnahmen, für die sie einiges riskiert hat. Aber dann nur mit Hilfe eines Bergsteigers oder eines erfahrenen Guides.“

„Aber diesmal war sie allein unterwegs“, sagte Kristin. „Vielleicht hat sie die reißenden Fluten unterschätzt.“

„Ich habe doch gerade gesagt, dass Anna mit Sorgfalt an diese Ausflüge herangegangen ist.“ Alva klang ein wenig ungehalten.

„Und was erwartest du von mir?“ Kristin musste sich immer wieder dazu überwinden, Alva zu duzen.

„Du wirst in den Norden fahren, am besten noch vor dem Wintereinbruch, um Annas Tod restlos aufzuklären.“

„Ich …“ Kristin wurde von Alva unterbrochen.

„Du bist genau die Person, die am besten für diese Mission geeignet ist.“ Alva nannte ihr die Summe, die sie bereit war, zu zahlen. Und einen Bonus obendrauf, wenn es ihr gelingen würde, den möglichen Täter ausfindig zu machen.

Kristin lehnte sich zurück und wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Honorar war wirklich fürstlich und sie würde für einige Zeit unbeschwert davon leben können. Aber sie ahnte, wie enttäuscht Alva sein würde, wenn es keinen Schuldigen gab. Und Kristin wollte mitnichten die Überbringerin der schlechten Botschaft sein.

„Was ist? Du sagst ja gar nichts.“ Alva musterte sie aufmerksam.

„Ich kann diesen Fall nicht annehmen“, sagte Kristin bestimmt.

„Warum nicht? Ist das Honorar nicht hoch genug? Dann würde ich noch etwas drauflegen.“

„Oh Gott, nein, so habe ich das nicht gemeint.“

„Was ist es dann, was dich davon abhält?“

„Die Aussicht auf Erfolg. Ich glaube nicht, dass ich die Richtige dafür bin.“

„Glaubst du wirklich, ich wäre nicht mit der nötigen Sorgfalt an die Suche herangegangen? Es hat eine knallharte Auswahl unter all den infrage kommenden Personen gegeben und du bist am Ende übriggeblieben.“

„Warum?“

„Allein dieser Blick …“ Alva lachte amüsiert. „Du wirkst so zartbesaitet, aber deine Augen verraten dich. Immer wachsam, immer auf dem Sprung. Dein engelsgleiches Aussehen kann nicht über deine Kompetenz hinwegtäuschen, über deinen Elan und deine Verbissenheit, jeden Fall knacken zu wollen, und sei er noch so kompliziert. Dein ehemaliger Chef wird sich noch im Grabe umdrehen, dass er dich so schamlos gefeuert hat. Nicht jeder ist bereit, über seinen Schatten zu springen, um Gerechtigkeit walten zu lassen.“

Alvas Augen funkelten und Kristin konnte die Begeisterung darin sehen.

„Du bist hartnäckig und stur. Wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast, dann gibst du nicht auf und bleibst so lange an der Sache dran, bis sich alles aufgeklärt hat. Das Ego deines Vorgesetzten war zu klein, um deinen Enthusiasmus zu ertragen. Wie oft hat er mit seinen Analysen falsch gelegen, während du schon den wahren Täter gejagt hast, nicht wahr?“

„Ja, aber …“

„Nichts aber. Meine Informanten arbeiten zuverlässig, eine Bessere als dich werde ich nicht finden. Und jetzt wird dir auch sicher klar, warum das Honorar so großzügig ausfällt.“ Sie beugte sich leicht nach vorn und fixierte sie. „Wenn jemand etwas über Anna herausfinden kann, dann du.“

Kristin schüttelte den Kopf. „Du hast ein völlig falsches Bild von mir. Ich bin nicht die Rebellin, die sich wie ein Terrier in ihre Fälle verbeißt.“

„Oh doch, und ob du das bist. Ich habe schließlich deine Akte bei der Polizei gelesen.“

„Aber die ist doch unter Verschluss …“

„Ach was.“ Alva winkte ab. „Ich habe genügend Kontakte und Geld.“

Kristin spürte die Hitze, die ihr in die Wangen schoss, so groß war die Scham.

„Ich mag Leute wie dich, die ein Ziel vor Augen haben und sich nicht scheuen, einen steinigen Weg zu beschreiten. Also, was muss ich zahlen, damit du einwilligst?“

„Das Einzige, was ich will, ist Bedenkzeit.“

„Mädchen, du machst es mir besonders schwer, denn das, was ich nicht mehr habe, ist Zeit.“

„Bitte, nur achtundvierzig Stunden, um in Ruhe alles zu überdenken.“

„Habe ich eine andere Wahl als einzuwilligen?“ Alva ließ resigniert die Schultern sinken.

„Ich fürchte nicht. Wenn, dann will ich gut vorbereitet sein.“

„Nun gut, ich erwarte deinen Rückruf in zwei Tagen und wünsche dir eine gute Heimreise.“

Alva rief Helene zu sich. „Würdest du unseren Gast bitte nach draußen begleiten? Ich brauche ein wenig Ruhe.“

„Sehr gern.“

Helene nickte Kristin freundlich zu und sie folgte ihr in den Flur.

„Alva ist sehr geschwächt in letzter Zeit. Sie hatte immer darauf vertraut, dass Anna noch am Leben sein könnte, hatte sich Hoffnungen gemacht. Der Knochenfund ist ein herber Rückschlag für sie gewesen.“

„Das kann ich nur zu gut verstehen“, antwortete Kristin.

„Niemand aus der Familie ist mehr übriggeblieben, und das wird auch der Grund für ihre Erkrankung gewesen sein. Alva hat es satt zu kämpfen, sie will nur Gewissheit, was Annas Schicksal betrifft.“

Kristin nickte verständnisvoll.

„Ich hoffe für Alva, dass Sie den Fall angenommen haben.“

„Ich werde darüber nachdenken.“

„Erfüllen Sie ihr diesen einen letzten Wunsch.“

„Danke für Ihre Mühe“, sagte Kristin, ohne auf Helenes Worte einzugehen. Sie öffnete die Tür und verließ die Villa, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Wagen rollte die Einfahrt hinunter und sie atmete auf, als sie auf die Straße bog. Ihre Sachen hatte sie schon gepackt und würde nicht ins Hotel zurückkehren. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause, um mit Jan über dieses Angebot zu reden. So viel Geld war der helle Wahnsinn. Aber die Chancen standen schlecht, etwas anderes herauszufinden als das, was Alva sowieso schon wusste. Dieser Auftrag könnte ihren Ruf schädigen, sie aber auch nach oben katapultieren. Was sie jedoch bezweifelte, in Anbetracht der Ausgangslage.

Sie hielt kurz an, um Jan eine Nachricht zu schicken, und fuhr dann ohne Pause weiter. Als sie endlich angekommen war, atmete sie auf. Seit einer halben Stunde plagten sie starke Kopfschmerzen, weil sie so angestrengt auf die Straße gestarrt hatte. Eine regennasse Fahrbahn und jede Menge Blätter forderten sie jedes Mal aufs Neue heraus. Und der Schneefall konnte jederzeit einsetzen, das Wetter war um diese Jahreszeit unberechenbar.

Sie schloss die Eingangstür auf, ließ im Flur die Reisetasche fallen, zog sich Mantel und Stiefel aus und lief auf Socken in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu kochen. Jan hatte versprochen, gleich vorbeizukommen, und so schaute sie immerzu aus dem Fenster, weil sie seine Ankunft kaum erwarten konnte. Zu Teenagerzeiten hatte es zwischen ihnen ordentlich gekracht, aber jetzt war Jan ihr engster Vertrauter. Ihre zwei besten Freundinnen hatten bereits eine Familie gegründet und waren weggezogen, eine sogar ins Ausland. Nachdem sich Jan von seiner Partnerin getrennt und jemanden zum Reden gebraucht hatte, waren sie einander wieder nähergekommen.

Endlich hörte sie seinen Wagen vorfahren und lief zur Tür. „Hej, hej, schön, dass du kommen konntest.“

„Na ja, du hast ziemlich aufgewühlt geklungen.“

„Habe ich das?“

„Jetzt tu bloß nicht so. Du nutzt doch gnadenlos aus, dass ich freischaffender Künstler bin, obwohl auch ich meine festen Arbeitszeiten habe. Von acht bis fünfzehn Uhr wird gemalt.“

„Ja, ich weiß …“

„Also, warum hast du mich herbestellt?“ Er zwängte sich an ihr vorbei in den Flur. „Immerhin hast du Kaffee aufgesetzt, das ist schon mal ein großer Pluspunkt.“

Sie knuffte ihn in die Seite. „Du bist unmöglich.“

„Das musst ausgerechnet du sagen.“ Er lachte.

Sie schenkte den Kaffee in die Tassen und setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Und jetzt schieß los, warum hast du mich herbeordert?“

Sie erzählte ihm von Alvas Angebot und als sie die Summe nannte, stieß er einen anerkennenden Pfiff aus.

„Halleluja, das nenne ich mal großzügig“, sagte er und runzelte noch im selben Augenblick die Stirn. „Und wo ist jetzt das Problem?“

Sie erklärte es ihm ausführlich und goss Kaffee nach.

„Ich versteh dich nicht. Wenn es ein Unfall war, dann hat sie die Bestätigung dafür. Mach dir nicht so viele Gedanken.“

„Du kennst sie nicht. Alva wird mich einen Kopf kürzer machen und keine Empfehlung aussprechen. Ohne Zeugen wird es schwer, etwas herauszufinden.“ Sie seufzte leise. „Ich traue mir ja eine Menge zu, aber ohne Anhaltspunkte bin ich aufgeschmissen.“

„Jetzt hör schon auf, du bist eine gute Ermittlerin. Etwas unkonventionell vielleicht, aber verdammt ehrgeizig. Dein Chef ist ein Blödmann, aber das muss ich dir sicher nicht sagen.“

„Nein, das habe ich schon selbst herausgefunden.“ Sie ließ frustriert die Schultern sinken.

„Du solltest den Auftrag annehmen“, sagte Jan. „Momentan läuft dein ‚Business‘ sowieso nicht so gut und du hättest anschließend genügend Zeit und Geld, um alles neu zu überdenken.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Jetzt mal ehrlich, diese heruntergekommene Bruchbude, die du angemietet hast, verschreckt doch eher die Kunden.“

„Na, vielen Dank auch. Wenn das nicht motivierend ist, was dann?“

Jan tätschelte ihren Arm. „Du weißt doch, wie ich es meine. Momentan hast du kaum eine Perspektive und vielleicht würde es deinen Horizont erweitern, wenn du diese Reise in den Norden antrittst.“

„Horizont erweitern?“

„Im Sinne einer Geschäftsidee.“

„Ach so …“

„Es kann sicher nicht schaden, gegen den Strom zu schwimmen und kreativ seinen eigenen Weg zu gehen.“

„Du hast gut reden, wo deine Bilder immer Höchstpreise erzielen.“

„Es ist nicht immer so gewesen. Du hast doch mitbekommen, wie unsere Eltern rumgemosert haben, dass ich etwas ‚Vernünftiges‘ lernen soll, um später einmal gutes Geld zu verdienen.“

„Oh ja, ich kann mich noch gut daran erinnern.“ Sie atmete geräuschvoll aus. „Gut, dann ist es also beschlossene Sache?“

„Das will ich doch hoffen“, antwortete Jan. „Das ist die Chance, auf die du so lange gewartet hast. Lass sie nicht ungenutzt verstreichen und zeige dein Können.“

„Danke, dass wenigstens einer von uns an mich glaubt.“ Sie lächelte verhalten.

„Stell dein Licht nicht unter den Scheffel und starte endlich durch. Dieser Auftrag wäre perfekt dafür geeignet, um deinem Chef den Mittelfinger zu zeigen.“

„Deine Worte geben mir wieder Auftrieb.“

„Nichts zu danken, dafür bin ich ja da.“ Er lachte und schaute auf seine Uhr. „Schwesterherz, ich muss mal wieder. Der Kunde will morgen sein Bild abholen und ich muss es noch einrahmen.“

„Danke, dass du gekommen bist“, sagte sie.

„Ich hoffe, ich konnte ein wenig bei der Entscheidungsfindung helfen.“

„Was habe ich schon für eine Wahl? Schließlich stehe ich mit dem Rücken zur Wand.“

„Das wird schon, vertrau auf deine Fähigkeiten.“ Jan umarmte sie zum Abschied. „Sehen wir uns noch, bevor du aufbrichst?“

„Nein, ich glaube nicht. Es gibt noch eine Menge zu tun, Flug, Hotel und Mietwagen buchen, Koffer packen, und, und, und …“

„Pass gut auf dich auf, Schwesterchen, und viel Erfolg.“

„Danke, Großer.“

Er winkte ihr noch einmal zu, dann war er auch schon zur Tür hinaus.

Sie lief ins Schlafzimmer, zerrte den Koffer vom Schrank und ließ sich mit einem Seufzen auf die Bettkante sinken. Hatte sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen?

KapitelZwei

Kristin warf einen letzten prüfenden Blick auf die Liste, die sie sorgfältig zusammengestellt hatte, bevor sie den dunkelblauen Koffer zuklappte. Dicke Wollpullover, zwei wetterfeste Jacken, Thermounterwäsche, Wanderstiefel, Handschuhe und eine Mütze – alles für die kalten Temperaturen im Norden Schwedens. Das Gefühl von Aufregung machte sich breit, gemischt mit einer leichten Nervosität, als sie zum Flughafen aufbrach.

Nach einem unkomplizierten Check-in und einer kurzen Wartezeit am Gate bestieg Kristin das kleine Propellerflugzeug, das sie nach Gällivare bringen würde. Der Innenraum war beengt, die Reihen schmal, und das Summen der Triebwerke war deutlich lauter als bei den großen Jets, die sie gewohnt war. Als das Flugzeug abhob, spürte sie ein leichtes Kribbeln in der Magengegend, aber danach konnte sie den atemberaubenden Ausblick auf die schneebedeckte Landschaft genießen.

Etwa eine Stunde nach dem Start begann das Flugzeug zu ruckeln, als es in eine Zone mit Turbulenzen geriet. Die Kabine vibrierte leicht, und das leise Murmeln der Passagiere verstummte. Kristins Finger gruben sich in die Armlehnen, während der Kapitän ruhig über die Lautsprecher erklärte, dass es keinen Grund zur Sorge geben würde. Mit einer Mischung aus Erleichterung und einem schnell schlagenden Herzen spürte sie schließlich, wie das Flugzeug auf die Landebahn aufsetzte. Sie hatte es tatsächlich geschafft.

Am Flughafen angekommen, machte sie sich sofort auf den Weg zur Mietwagenstation. Der Raum war schlicht, mit einer hölzernen, altmodisch wirkenden Theke. Sie wurde vom Personal freundlich begrüßt und nachdem sie die Formalitäten erledigt hatte, erhielt sie den Schlüssel für einen robusten Allradwagen – perfekt für die verschneiten Straßen, die vor ihr lagen.

Als Kristin den Mietwagen erreichte, inspizierte sie ihn aufmerksam. Es war ein silberner Geländewagen, dessen Motor sanft brummte, als sie ihn startete. Sie stellte das Navigationssystem ein, machte die Sitzheizung an und fuhr los. Die Straßen waren von einer dicken Schneeschicht bedeckt, aber der Wagen lag ruhig auf der Fahrbahn. Vor ihr erstreckte sich die verschneite, stille Weite des Nordens, und Kristin fühlte sich mehr als bereit, diesen Auftrag zu erfüllen. Auch wenn es in ihren Augen unmöglich war, aus einem Unfall einen Mord zu konstruieren, und sie die Befürchtung hegte, Alva zu enttäuschen.

Die schmalen Straßen, gesäumt von endlosen Wäldern aus Kiefern und Birken, schlängelten sich durch die verschneite Landschaft. Kristin genoss diesen Anblick. Ihr Ziel war ein gemütliches Ferienhaus, das sie sich für den Aufenthalt gemietet hatte. Es lag abgeschieden am Ufer eines zugefrorenen Sees, der im Winterlicht glitzerte wie ein mit Diamanten übersäter Teppich.

Sie hatte sich bewusst gegen ein Hotelzimmer entschieden. Sie wollte dem Lärm und der Betriebsamkeit der Zimmerservice-Mitarbeiter entkommen, die ständig das Zimmer gereinigt hätten. Jetzt hatte sie einen Ort, an dem sie sich frei ausbreiten konnte – ein Refugium, das nur ihr allein gehörte. Sie wollte Notizen an die Wände pinnen, Akten offen liegenlassen, ohne befürchten zu müssen, dass Fremde ihre Nase hineinstecken würden. Und falls sie einmal mit den Ermittlungen feststecken würde, dann könnte sie eine Pause einlegen und eine Runde um den See spazieren, um den Kopf freizubekommen. So zumindest war der Plan.

Sie trat abrupt auf die Bremse, als ein Rudel Rentiere die Straßenseite wechselte. Das Heck des Wagens driftete leicht nach rechts, während ihr Herz einen Takt schneller schlug. Das war verdammt knapp gewesen und sie würde sich mehr auf die Straße konzentrieren müssen. Als sie kurz das Fenster öffnete, weil die Scheiben beschlagen waren, wehte ihr die eisige Luft ins Gesicht. Der Schneefall hatte in diesem Jahr besonders zeitig eingesetzt, aber die Wetter-App hatte schon wieder Tauwetter angekündigt.

Kurz darauf hatte sie das Ferienhaus erreicht, ein einladender, roter Holzbau mit weißen Fensterrahmen und einem spitzen Dach, auf dem eine dicke Schneedecke lag. Als Kristin in die schmale Auffahrt bog, spürte sie eine Welle der Erleichterung. Vor ihr lag das Haus, umgeben von hohen Bäumen, deren weiße Last die Äste nach unten drückte. Ein kleiner Holzsteg führte von der Terrasse hinunter zum See, wo man im Sommer baden konnte.

Sie parkte den Wagen neben dem Haus und stieg aus. Die Stille war überwältigend – kein Verkehr, keine Stimmen, nur das Knirschen des Schnees unter ihren Sohlen und das gelegentliche Geräusch, wenn Schnee von den Bäumen rutschte. Sie schloss die Haustür auf, die unter ihrem Griff leicht nachgab, und trat in einen warmen, holzvertäfelten Wohnraum mit einem großen Kamin, vor dem ein gemütliches Sofa und zwei Sessel standen, die mit weichen Decken und Kissen dekoriert waren.

Die Küche war klein, aber gut ausgestattet. Holzschränke, ein gusseiserner Herd und eine kleine, aber solide Arbeitsfläche erinnerten an vergangene Zeiten, als moderne Geräte noch keine Rolle gespielt hatten. Vom Küchenfenster aus hatte sie einen Blick auf den schneebedeckten Garten, in dem ein paar Vogelhäuser aufgestellt waren.

Kristin brachte ihr Gepäck ins Schlafzimmer, das mit einem großen Bett und flauschigen Decken auf sie wartete. Die Fenster waren mit dicken Vorhängen verschlossen, und auf der Fensterbank standen einige Kerzen, die eine heimelige Atmosphäre versprachen. Sie atmete tief durch, ließ sich auf das Bett sinken und spürte, wie die Anspannung der letzten Tage von ihr abfiel. Hier, in diesem stillen Paradies, würde sie endlich zur Ruhe kommen und vielleicht ihren Horizont erweitern. So, wie Jan es ihr prophezeit hatte.

Bei dem Gedanken an ihn musste sie lächeln. Die zwei Tage vor ihrer Abreise waren sehr zeitintensiv gewesen. Sie hatte ihre ‚Bruchbude‘ gekündigt, die Schulden bei Alfredo beglichen und einmal klar Schiff im Haus gemacht. Frei von all dem Ballast hatte sie die Reise angetreten und war schon gespannt darauf, wie sie enden würde. Hoffentlich nicht in einem Desaster, dachte sie und ärgerte sich noch im selben Atemzug über ihre negativen Gedanken. Sie würde noch an ihrem Mindset arbeiten müssen.

Sie stand auf, verstaute die Kleidung in den Fächern des alten Kiefernschrankes und räumte anschließend die Lebensmittel in den Kühlschrank. Zeit für einen Tee und eine Pause. Sie stellte sich mit der dampfenden Tasse vor die Fensterfront im Wohnbereich, wo sie einen perfekten Blick auf den See hatte. Einfach traumhaft. Sie hätte die Zeit auch so verbringen können, ohne einen Auftrag. Aber schon morgen hatte sie einen Termin mit dem Guide, der Anna die besten Plätze für die Fotoshoots gezeigt hatte.

Sie beobachtete die Vögel, die sich an den Futterhäuschen bedienten und sah einen Fuchs, der über den gefrorenen See lief und erste Spuren im Schnee hinterließ. Was für eine Idylle, dachte sie. Der einzige Nachteil war, dass es tagsüber kaum richtig hell wurde und ihr nur ein minimales Zeitfenster zur Verfügung stand, um sich ein Bild von der Unglücksstelle zu machen.

Sie stellte die leere Tasse in die Spüle und nahm sich noch einmal Alvas persönliche Notizen vor. Anna war mit ihrer besten Freundin Elina in den Norden aufgebrochen, nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hatte. An besagtem Tag hatte Elina mit Fieber und Magen-Darm-Beschwerden im Bett gelegen, weshalb Anna allein aufgebrochen war. Bis jetzt hatte Kristin noch nicht die Zeit gefunden, Elina persönlich zu befragen, aber das würde sie jetzt nachholen.

Vor dem Fenster senkte sich bereits die Dämmerung herab und ließ die scharfen Konturen der Umgebung verschwimmen. Außerdem hatte es wieder begonnen zu schneien. Obwohl die Elektroheizung auf vollen Touren lief, zog Kristina fröstelnd die Schultern hoch und stand auf, um die schweren Vorhänge zuzuziehen. Ihr Blick fiel auf den Kamin und sie ärgerte sich, dass sie kein Holz aus dem Schuppen geholt hatte, der sich direkt neben dem Carport befand.

Bevor sich auch das letzte Tageslicht verabschieden würde, zog sie sich rasch die Stiefel und die Jacke über, schnappte sich den Weidenkorb und stapfte durch den Schnee. Ein eisiger Wind fuhr ihr unter die Kleider und sie beeilte sich, den Korb zu füllen. Das Heulen des Windes, der an Stärke zugenommen hatte, klang unheimlich.

„Willkommen in Nordschweden“, murmelte sie und schleppte den schweren Korb zurück zum Haus.

Die Dielen der Veranda ächzten leise unter dem zusätzlichen Gewicht. Kristin stellte den Weidenkorb im Flur ab, um die Tür zu schließen und den Riegel vorzulegen. Dann atmete sie auf. Ja, sie hatte sich Einsamkeit gewünscht, aber das stürmische Wetter trug seinen Teil dazu bei, dass sie sich ein wenig unwohl fühlte. Dieses Gefühl kannte sie noch aus ihrer Kindheit, wenn sie mit ihren Eltern und Jan die Weihnachtsferien in einer Skihütte in den Bergen verbracht hatte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als einmal der Strom ausgefallen war, und sie im Dunkeln dringend auf die Toilette gemusst hatte. Das Haus hatte unter dem Sturm geächzt, während sie sich nicht aus dem warmen Bett getraut hatte. Ein Stromausfall könnte sich hier durchaus wiederholen.

Sie schichtete das Holz auf und entfachte ein Feuer, das leise knisternd an den Scheiten emporzüngelte. Als sie das vertraute Knacken hörte, fühlte sie sich wohler. Mit dem Smartphone in der Hand ließ sie sich in den Sessel sinken. Dieser Auftrag würde ihr einiges abverlangen und sie hoffte so sehr, mit neuen Erkenntnissen nach Göteborg zurückzukehren. Man musste schon aus einem besonderen Holz geschnitzt sein, um den Witterungsverhältnissen des Nordens zu trotzen und nicht in den deutlich milderen Süden abzuwandern.

Sie legte Papier und Stift bereit, um sich während des Gespräches mit Elina Notizen machen zu können. Alva hatte von sich häufenden Ungereimtheiten gesprochen, aber keine genaueren Details dazu erwähnt. Jetzt galt es herauszufinden, was wirklich geschehen war.

Sie wählte Elinas Nummer. Schon nach dem zweiten Klingelton meldete sie sich mit einer sanften, aber etwas nervösen Stimme.

„Guten Abend, ich bin Kristin Thalberg, Privatdetektivin, und untersuche den Tod Ihrer Freundin Anna. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?“

Elina zögerte, bevor sie antwortete. „Ja, natürlich. Aber ich bin damals nicht dabei gewesen.“

„Genau deswegen rufe ich an“, erklärte Kristin ruhig. „Sie haben Anna gut gekannt, und manchmal ist es hilfreich, mit jemandem zu sprechen, der außerhalb der Situation stand.“

Es folgte eine kurze Pause, bevor Elina ihre Zustimmung gab.

„Anna ist ein Freigeist und so ganz anders als der Rest ihrer Familie gewesen“, begann sie schließlich. „Sie hat das Leben geliebt, war aber manchmal zu impulsiv. Wissen Sie, sie hat sich oft mit Leuten angelegt, wenn sie fand, dass es ungerecht zugegangen ist.“

Kristin machte sich erste Notizen. „Hat sie vor ihrem Unfall jemals erwähnt, ob sie Probleme mit einer oder mehreren Personen hatte? Vielleicht ein Streit oder eine unangenehme Begegnung?“

Elinas Stimme wurde leiser. „Ja, da gab es etwas … Aber ich habe mir nie vorstellen können, dass es wirklich so weit kommen würde.“

Kristin spürte ein nervöses Prickeln im Nacken. „Erzählen Sie mir davon.“

„Drei Tage vor ihrem Verschwinden sind wir auf einer Party gewesen, wobei das nicht unbedingt das richtige Wort dafür ist. Es war mehr so ein Abend mit Livemusik. Anna war mitten im Geschehen, hat getanzt und gelacht. Ihre Lebenslust wurde oft mit Flirten verwechselt, aber so eine war sie nicht. Irgendwann hat sich dieser Mann zu ihr auf die Tanzfläche gestellt und sie bedrängt. Er war groß, dunkelhaarig, irgendwie einschüchternd. Ich habe seinen Namen nie erfahren, aber Anna hat gesagt, dass es einer dieser Männer vom Pub gewesen wäre. Als sie ihn zurückgewiesen hat, ist er wütend geworden.“

„Wütend? Wie genau?“ Kristin griff nach dem Stift, bereit, jedes Detail festzuhalten.

„Er hat sie bedrängt, ihr gesagt, sie solle sich nicht so arrogant verhalten. Er hatte so einen Blick, als würde er es nicht gewohnt sein, dass jemand Nein sagt. Anna hat am Ende Klartext gesprochen, und dann er ist abgezogen. Aber seitdem hatte sie immer wieder seltsame Begegnungen. Einmal meinte sie, dass er sie auf einer Wanderung verfolgt hätte. Ich habe ihr gesagt, sie solle zur Polizei gehen, aber sie hat nur gelacht und gesagt, sie käme schon allein zurecht.“

Kristin hielt kurz inne, um ihre Gedanken zu ordnen. „Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ein Foto von ihm sehen?“

„Vielleicht … aber ehrlich gesagt hoffe ich, dass ich ihn nie wiedersehen muss. Er hat sich an diesem Abend total danebenbenommen.“

Kristin nickte, auch wenn Elina es nicht sehen konnte. „Danke, das ist schon sehr hilfreich. Noch eine Frage: Hat Anna jemals erwähnt, dass sie jemanden am Wasserfall treffen wollte?“

Elina schien zu überlegen. „Nein, soweit ich weiß, wollte sie dort allein hingehen. Sie hat diesen verwunschenen Ort gemocht.“

Kristin spürte, dass Elina etwas zurückhielt, also hakte sie nach. „Elina, ich muss alles wissen. Gibt es irgendetwas, das Sie bisher nicht erwähnt haben?“

Ein tiefer Atemzug war zu hören, bevor Elina weitersprach. „Es ist wahrscheinlich nichts, aber am Tag vor ihrem Tod hat sie mir geschrieben, dass dieser Typ wieder aufgetaucht ist. Sie meinte, er hätte sie angeschaut, als würde er auf etwas warten. Ich habe sie gebeten, vorsichtig zu sein, aber sie hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen.“

„Das klingt doch alles sehr besorgniserregend. Haben Sie damals auch mit der Polizei gesprochen?“

„Ja, aber die Beamten haben meiner Vermutung keinerlei Bedeutung beigemessen. Sie meinten nur, dass er sich immer so benahm, wenn er zu viel getrunken hatte, und dass es ihm spätestens am nächsten Morgen leidtun würde.“

„Ihren Erzählungen nach, kann ich mir das kaum vorstellen. Schade, dass Sie seinen Namen nicht kennen.“

„Nein, ich hätte gern geholfen.“

„Was ist Ihre persönliche Meinung zu Annas Verschwinden – Unfall oder Mord?“

„Glauben Sie mir, darüber habe ich mir nächtelang den Kopf zerbrochen. Aber ich weiß es einfach nicht. Manchmal träume ich sogar von ihr und dann wirkt alles so real, als ob sie noch am Leben wäre.“

„Ich kann Ihre Trauer verstehen“, sagte Kristin voller Mitgefühl. „Sie haben sich sehr gut verstanden, nicht wahr?“

„Oh ja, und während unserer gemeinsamen Schulzeit wurden wir immer die Zwillinge genannt. Ich vermisse sie sehr.“

„Tut mir leid.“

„Ich hoffe, dass sie etwas über Annas Verbleib herausfinden können. Ich mache mir immer noch Vorwürfe, ausgerechnet an diesem Tag krank gewesen zu sein.“

„Sie trifft keine Schuld“, versicherte Kristin.

Elina seufzte „Ich fühle mich dennoch schuldig.“

„Das müssen Sie nicht. Ich würde Ihnen meine Telefonnummer hinterlassen, falls Ihnen noch etwas einfällt.“

„Sehr gerne, aber ich habe bereits alles gesagt.“

Kristin beendete das Gespräch, nachdem sie Elina beruhigt und ihr versprochen hatte, sie auf dem Laufenden zu halten. Ihre Gedanken wanderten zu dem unbekannten Mann. Sie musste herausfinden, wer er war, und ob sein Zorn auf Anna ihn dazu getrieben hatte, sie am Wasserfall zu treffen. Aber das dürfte nicht allzu schwer werden, hoffte sie zumindest.

Es schien ein dunkler Schatten über der Wahrheit zu liegen, und Kristin kamen erste Zweifel, ob Annas Tod tatsächlich nur ein Unfall gewesen war. Wie tief würde sie graben müssen, um noch mehr zutage zu fördern? Zumindest hatte dieser Anruf die ersten Zweifel genährt.

Sie stand auf und ging in die Küche, um sich das Abendessen zuzubereiten. Nach dem anstrengenden Flug sehnte sie sich nach Schlaf. Sie suchte sich das Geschirr zusammen, belegte ein paar Brote und lümmelte sich auf die Couch. Dann klappte sie den Laptop auf, um einen Film zu schauen. Nach einer kurzen Dusche verkroch sie sich im Bett. Normalerweise hatte sie Schwierigkeiten, in einer fremden Umgebung in den Schlaf zu finden. Aber sie war so erschöpft, dass es diesmal sicher nicht lange dauern würde.

Aber der Wind rüttelte an den Fensterläden, was ein lautes Geräusch verursachte. Schon beim Einschlafen spürte sie, wie sehr die fremde Atmosphäre auf ihre Sinne einwirkte, und sie wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Der Mond warf ein diffuses Licht durch den Spalt der Vorhänge, das manchmal von den vorbeiziehenden Wolken verschluckt wurde. Immer wieder tanzten die Schatten der Zweige auf den Wänden, als würden sie mit den Bewegungen eine unheilvolle Botschaft übermitteln.

Na wunderbar, dachte sie und das schon in der ersten Nacht. Ihr Blick wanderte immer wieder durch den Raum, an die Decke, die Holzbalken, zu den Schatten an den Wänden. Der Anblick beruhigte sie nicht, sondern nährte ihre Fantasie. Für einen Moment glaubte sie sogar, Schritte auf dem Dachboden zu hören, obwohl sie wusste, dass es nur der Wind sein konnte. Irgendwann döste sie ein und fuhr unvermittelt wieder aus dem Schlaf. Hatte sie gerade das Zuschlagen einer Autotür gehört? In dieser Nacht verlor sie jedes Gefühl für Zeit und Raum. Minuten summierten sich zu Stunden und sie sehnte sich nach dem Morgengrauen, das sie aus diesem seltsamen Zustand des Seins erlösen würde.

KapitelDrei

Am nächsten Tag brach Kristin am späten Vormittag auf, um sich mit Arne, Annas damaligem Guide, zu treffen. Der stürmische Wetterwechsel hatte wärmere Temperaturen mitgebracht und überall tropfte es von den Dächern und Bäumen. Die Straßen waren voller Schneematsch und Kristin musste höllisch aufpassen, damit der Wagen nicht ins Rutschen geriet. Schon jetzt hatte sie die Nase gestrichen voll vom Norden und war noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier.

Sie stellte den Wagen in einer Seitenstraße ab und legte die wenigen Meter zum Pub zu Fuß zurück. Sie trat ein und ließ den Blick über den Innenraum schweifen. Arne war noch nicht da und sie setzte sich an einen der hinteren Tische, um dort in Ruhe mit ihm reden zu können. Hoffentlich hatte er sie nicht versetzt.

„Was darf es denn sein?“, fragte der bärtige Hüne, der zu ihr an den Tisch gekommen war.

„Ein Tee wäre gut.“ Sie rieb die klammen Finger aneinander, um sich aufzuwärmen.

„Schwarz, grün oder etwas Fruchtiges?“, fragte er. „Mit oder ohne Zucker?“

„Fruchtig, aber ohne Zucker“, antwortete sie.

„Kommt sofort.“

Nur wenige Minuten später stand die dampfende Tasse vor ihr. Sie probierte einen Schluck und zuckte zurück. Natürlich viel zu heiß. Immerhin konnte sie ihre kalten Hände aufwärmen und schaute sich um.

An der niedrigen Decke, die von massiven Holzbalken gestützt wurde, hingen handgeschmiedete Laternen. Neben dem Kamin gab es zwei rustikale Bänke, die mit Rentierfellen bedeckt waren, und auf den Tischen standen Kerzen in altmodischen Kerzenhaltern, die das flackernde Licht verstärkten und den Raum in warme, goldene Töne tauchten.

An der Stirnseite befand sich ein wuchtiger Tresen aus massiver Eiche und darüber ein Regal, in dem Glasflaschen mit selbstgebrautem Bier und kräftigem Schnaps standen. Überall an den Wänden hingen verwaschene Bilder von Fischerbooten, alten Hütten und Winterlandschaften, die den Geist des hohen Nordens in sich trugen. Altbacken, aber gemütlich, dachte Kristin und allmählich begann ihr der Norden zu gefallen.

Ein weiterer Gast trat ein. Sie erkannte Arne und winkte ihm zu. Er kam zu ihr an den Tisch.

„Du bist Kristin?“

„Ja, die bin ich.“

Er nahm ihr gegenüber Platz und bestellte sich ein Bier. Ziemlich zeitig am Morgen, für Kristins Geschmack, aber das ging sie nichts an.

„Du wolltest mich sprechen?“

Sein wettergegerbtes Gesicht war ernst, und der Blick seiner hellblauen Augen ruhte auf ihr. Sein raues Äußeres passte zu seiner Rolle als Guide – ein Mann, der die Wildnis besser zu kennen schien als die Menschen, die sie bewohnten.

„Ja, es geht um Anna.“

„Ach, das liegt doch schon so lange zurück.“

„Schon, aber du hast doch sicher von dem Knochenfund gehört.“

„Natürlich, das hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet.“ Er trank einen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen und stellte das Glas wieder ab.

„Dann ist es doch nur allzu verständlich, dass die Vergangenheit wieder aufgewirbelt wird.“

„So gesehen, schon“, erwiderte Arne. Er betrachtete sie abschätzend.

„Du hast sie auf mehreren Touren begleitet und ich würde gern wissen, wie ich Anna einschätzen muss.“

„Sie war erfahren und keine Anfängerin“, erklärte er. „Die Ausrüstung war top, gut gewählt und teuer.“

„Also hat Anna gewusst, worauf sie sich einlässt?“

Er nickte. „Auf jeden Fall. Aber Fehler sind menschlich.“

„Also gehst du von einem Unfall aus?“

„Selbstverständlich.“

„Sind dir nie Zweifel gekommen?“

„Nein. Auch wenn Anna genau gewusst hat, worauf sie sich einlässt, die Stromschnellen sind unberechenbar. Ein falscher Schritt – und das war es dann. Man wird vom Wasser einfach mitgerissen.“

„Hast du sie davor gewarnt?“

Er bedachte sie mit einem verständnislosen Blick. „Es gehört zu meinen Aufgaben, sie darauf hinzuweisen. Ich habe ihr den schnellsten und einfachsten Weg zum Wasserfall gezeigt.“

„Ich habe nicht gewusst, dass es mehrere Wege gibt“, sagte sie. „Wie genau seid ihr zum Wasserfall gekommen?“

„Anna wollte nicht den offiziellen Wanderweg nehmen, weil sie dann ungefähr drei Stunden unterwegs gewesen wäre“, begann er. „Sie wollte auf dem schnellsten Weg den Wasserfall erreichen, weil sich das Wetter in dieser Gegend innerhalb von Minuten wieder ändern kann.“

Erneut griff er zum Bierglas, als wolle er sich Mut antrinken. Kristin wartete geduldig, ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um sich zu sammeln. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, eine Kulisse, die den düsteren Ton der Unterhaltung noch verstärkte.

„Der Pfad war schon schwierig, das gebe ich zu“, fuhr Arne schließlich fort. „Ich habe ihr gesagt, dass es riskant sei, besonders nach dem Regen. Aber sie wollte unbedingt dorthin, in dieser Hinsicht war sie …“ Er hielt inne, suchte nach den richtigen Worten. „Viel zu impulsiv und zu ungeduldig, würde ich sagen.“

Kristin nickte.

„Natürlich habe ich mir Vorwürfe gemacht, als ich noch am selben Abend davon erfahren habe.“

Seine Hände zitterten leicht, was ihr sofort aufgefallen war. Der Schmerz und die Schuld in seinen Worten waren spürbar, und doch blieb sie ruhig. Sie war fest entschlossen, die Wahrheit zu erfahren – alle Details, egal, was sie dafür auch würde tun müssen.

Der Moment hing schwer im Raum, während Arne in sein Glas starrte und Kristin versuchte, die Puzzleteile in ihrem Kopf zusammenzusetzen. Das Klirren der Gläser hinter der Bar katapultierte sie wieder zurück in die Realität.

„Erzähl mir von eurer Wanderung zum Wasserfall“, bat Kristin.

„Muss das wirklich sein?“, fragte Arne gequält.

„Wie soll ich mir sonst ein Bild davon machen?“

„Es wird nichts bringen, in der Vergangenheit herumzustochern.“

„Woher willst du das wissen? Immerhin wurden nur Knochenfragmente gefunden.“

„Was eindeutig beweist, dass ihr Körper am Gestein zerschellt ist. Diese Ansicht vertritt auch die Polizei, daran gibt es nichts zu rütteln. Sie haben von Anfang an ihren Tod als Unfall eingestuft.“

„Aber ich bin nun einmal hier, um alles genauer zu hinterfragen.“

„Lass mich raten, du erhältst eine Menge Kronen dafür?“

„Unter anderem“, antwortete sie. „Aber mir sind einige Dinge aufgefallen, die ich unstimmig finde.“

„Die da wären?“

„Ich muss erst einmal allen Ungereimtheiten auf den Grund gehen, bevor ich irgendeine These ausspreche, die sich am Ende als falsch herausstellt.“

„Du willst dir nicht in die Karten gucken lassen.“

„Auf gar keinen Fall“, erwiderte sie lächelnd.

„Was dagegen, wenn ich mir noch ein Bier bestelle?“

„Nein, warum sollte ich?“

Arne war unglaublich nervös und sie hatte das Gefühl, ihm die Schuldgefühle ansehen zu können. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, warum das so war.

„Hatte Annas Tod unmittelbare Auswirkungen auf deinen Job?“, fragte sie.

„Nein, ich bin nach wie vor gebucht worden.“

„Gut“, sagte sie und schaute sich um. Die meisten Tische um sie herum waren inzwischen besetzt und es herrschte gedämpftes Stimmengemurmel. Wahrscheinlich würde sie sich nach dem Gespräch mit Arne auch einen Happen gönnen. Sie wandte sich ihm wieder zu. „Würdest du mir trotzdem erzählen, wie die Wanderung zum Wasserfall abgelaufen ist?“

„Du lässt nicht locker, oder?“

„Niemals.“

Der bärtige Hüne stellte das Bierglas vor Arne ab. „Soll ich es anschreiben lassen?“

„Klar, so wie immer.“ Arne nickte ihm zu, hob das Glas und setzte es an die Lippen.

„Bist du bereit?“, fragte Kristin, nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte.

Er nickte. „Anna ist voller Energie gewesen, als wir aufgebrochen sind. Der Pfad war nicht leicht zu finden – kaum mehr als eine schmale Spur, die sich zwischen den Bäumen entlangschlängelte. Aber ich kannte den Weg gut, als Guide habe ich ihn unzählige Male genommen.“ Er beschrieb ausführlich, wie sie einen kleinen Hügel erklommen hatten, von dessen Kuppe aus sie ins Tal blicken konnten. „Von dort oben haben wir den Wasserfall schon in der Ferne gesehen.“

Arne sprach ruhig, während sein Blick gedankenverloren auf das knisternde Feuer gerichtet war, das sich in seinen Augen flackernd spiegelte.

„Die Landschaft wurde rauer, je näher wir dem Ziel gekommen sind. Große, vom Gletscher geschliffene Felsblöcke lagen verstreut, und an manchen Stellen mussten wir über Bäche springen, die von den schmelzenden Schneefeldern gespeist wurden. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Harz und feuchtem Moos, und die Sonne, die im Westen unterging, hatte die Umgebung in ein warmes, goldenes Licht getaucht.“

„Du lebst gern hier?“ Sie musterte ihn fragend.

„Auf jeden Fall“, bestätigte er und lächelte versonnen. „Es ist der perfekte Job für mich.“

„Erzähl weiter.“

„Wir sind nur mäßig schnell vorangekommen, weil sie ständig die Kamera ausgepackt und Fotos gemacht hat. Irgendwann haben wir unser Ziel erreicht. Das Wasser stürzte tosend in die Tiefe, umgeben von einem Nebel aus feinen Tröpfchen. Anna war begeistert, sie blieb lange stehen, schaute und atmete. Es war, als würde sie jeden Moment in sich aufsaugen.“

Er hob seinen Blick und schaute sie an, bevor er weitersprach. „Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als wir zurückgelaufen sind. Anna hat alles genau erkundet und viele Fragen gestellt. Sie wollte auf Nummer sicher gehen, aber wie schon erwähnt, nichts ist in der Wildnis berechenbar.“ Seine Miene verdüsterte sich und Schmerz wurde sichtbar.

„Hat sie dich immer gebucht?“

„Ja, das hat sie. Sie war sehr zufrieden mit mir, weil ich ihr so viel erzählen konnte.“

„Stimmt, du hast ein Händchen dafür, es ansprechend zu formulieren“, sagte sie.

„Danke, aber ich muss mich von der Konkurrenz abheben.“

„Das verstehe ich.“

„Gute Jobs sind im Norden rar, da muss man erfinderisch sein, um zu überleben.“

„Stimmt, es verlangt einem sicher einiges ab, hier zu leben.“

„Wohl wahr. Am schlimmsten sind die langen, dunklen Winter, wenn die Selbstmordrate aufgrund des Lichtmangels wieder in die Höhe schnellt.“

Dieser Aspekt war nicht zu unterschätzen, dachte Kristin. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch und sah dem bärtigen Hünen zu, wie er ein paar Holzscheite nachlegte. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder Arne. „Hast du eine Schwäche für Anna gehabt?“, fragte sie frei heraus.

„Was soll das denn jetzt?“ Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und ging auf Abwehrhaltung.

„Du bist derjenige gewesen, der genau gewusst hat, wo sie an diesem Tag hinwollte.“

„Stopp!“ Er hob seine Hände. „Ich ahne, worauf das hier hinausläuft, und lasse mich nicht von dir beschuldigen.“

„Ich beschuldige dich nicht. Aber so, wie du über Anna sprichst, braucht man nur eins und eins zusammenzählen.“

„Was soll das?“ Zorn funkelte in seinem Blick. „Du kommst her und stellst aberwitzige Thesen auf, nur weil du das schnelle Geld kassieren willst.“

„Da täuschst du dich. Ich bin nur an der Wahrheit interessiert, so schmerzhaft sie auch für jeden einzelnen sein sollte, der Anna gekannt hatte.“

„Heutzutage kann sich doch jeder Detektiv nennen und in den Dingen anderer herumschnüffeln.“

„Ich bin Kommissarin gewesen“, erwiderte sie.

„Auch das noch, ein Bulle.“ Er stand auf. „Es wird das Beste sein, wenn wir das Gespräch an dieser Stelle beenden. Ich habe jedenfalls nichts mehr zu sagen.“ Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu, drehte sich um und lief zur Tür.

Sie wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Erneut musste sie zugeben, dass Alva mit ihrer Vermutung recht haben könnte.

„Möchten Sie noch etwas bestellen?“

Irritiert hob sie den Blick. Der bärtige Hüne stand neben ihr und schaute auf sie herunter.

„Nein danke, ich möchte zahlen.“

Er machte keinerlei Anstalten, um zu kassieren. „Wir mögen es hier nicht, wenn man im Dreck anderer Leute herumwühlt.“

„Sagt wer?“

„Ich zum Beispiel.“

Sie hielt seinem Blick stand und dachte nicht daran, klein beizugeben. Die Arbeit als Kommissarin hatte sie abgehärtet. Sie war einiges gewohnt, unter anderem auch die Einschüchterungsversuche der Kriminellen, die gern drohten, um sie von weiteren Ermittlungen abzuhalten. Aber da hatten sie sich getäuscht. Gerade das stachelte sie an, umso tiefer zu graben.

„Fein, dann hätten wir das auch geklärt.“ Sie schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Dürfte ich jetzt meine Rechnung begleichen? Oder geht der Tee aufs Haus?“

Jetzt war er es, der irritiert wirkte. Treffer versenkt, dachte sie und zückte ihre Geldbörse. Er nannte den Betrag und sie drückte ihm die Kronen in die Hand. Dann wünschte sie ihm noch einen schönen Tag, zog sich den Mantel wieder über und verließ den Pub. Der Himmel über ihr war eine düstere Mischung aus kaltem Grau und Blau und es wollte selbst tagsüber kaum richtig hell werden. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch und lief los.

Hier lag so einiges im Argen, da war sie sich sicher. Sobald sie im Ferienhaus angekommen wäre, würde sie Alva Bericht erstatten. Sie stieg in den Wagen und erledigte noch einige Besorgungen. Dann trat sie den Rückweg an. Sie fuhr langsam und vorsichtig, aber der Wagen geriet immer wieder ins Schlingern. Das Profil der Reifen war ziemlich abgenutzt, darauf hatte sie bei der Übergabe nicht geachtet. Das rächte sich jetzt, weil sie in jeder Kurve vom Gas gehen musste.

Zum Glück herrschte kaum Verkehr um diese Tageszeit und als hinter ihr ein Fahrzeug auftauchte, fuhr sie betont langsam, damit der geländegängige Jeep problemlos überholen konnte. Aber das tat er nicht. Stattdessen fuhr er immer dichter auf, sodass sie von seinen grellen Scheinwerfern im Rückspiegel geblendet wurde.

Es handelte sich um einen großen, massiven Jeep mit getönten Scheiben und einer Frontpartie, die einem Raubtier ähnelte. Wahrscheinlich hatte der Fahrer ein zu geringes Selbstwertgefühl, dass er mit diesem Fahrzeug pushen musste. Ein Sportwagen war im hohen Norden schlechter geeignet, um sein Image aufzupolieren. Da musste halt ein protziger Jeep mit verchromten Hirschfängern herhalten.

Die schmale Straße wand sich durch eine endlose Weite von Nadelwäldern, deren noch immer verschneite Baumkronen sich unter dem Gewicht der Last nach unten bogen. Der tauende Schnee auf der Fahrbahn war inzwischen zu einer tückischen, glatten Schicht zusammengepresst worden, und die Hinterreifen ihres Wagens drifteten in der Kurve erneut zur Seite. Sie fuhr vorsichtig und hatte die Geschwindigkeit den Straßenverhältnissen angepasst. Ihre Gedanken wanderten zum heimeligen Ferienhaus, das nur noch wenige Kilometer entfernt lag. Sie würde drei Kreuze machen, sobald sie angekommen war.