KNUT - Michaël Moritz - E-Book

KNUT E-Book

Michael Moritz

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Beschreibung

KNUT, ein grotesker Individualist inmitten grotesker Ereignisse, und ein mysteriöser Papagei mischen sich zu einem Cocktail aus Wirklichkeit und Phantasie. Ausgewählte Kapitel aus Knuts Tagebuch liefern die Rezeptur für diesen Roman in den Farben eines bunten Sprachspektrums.

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Für Janny

Michaël Moritz

KNUT

© 2019 Michaël Moritz

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Titelgrafik: iStock.com/cleristonribeiro

Grafiken im Innenteil: © Michaël Moritz

Verlag&Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN 978-3-347-07130-8

INHALT

Vorwort

Bildteil

01 Auf der Bank

02 Auf dem Alex

03 Die Umfrage

04 Der Fehlerfreie

05 Der Ordner

06 Emilio

07 Die Ikubolaiev und die Frau Müller

08 Montezuma II

09 Herr Knochenhauer passt auf

10 Wert und Würde

11 Treffpunkt Rippe

12 Die Bestellung

13 Der Botschafter

14 Serviert wie bestellt

15 Who's Who?

16 Töne einer anderen Welt

17 Abgeholt und schon bezahlt

18 Zwischenfall im Späti

19 Der Besucher

20 Die Quittung

21 Wer ist das, was er sagt, was er sei?

22 Knut entscheidet

23 Knut meldet sich an

24 Knut bei Doktor Flusensatz, Teil 1

25 Knut bei Doktor Flusensatz, Teil 2

26 Knut bei Doktor Flusensatz, Teil 3

27 Ein offener Punkt

28 Lipf und Repf

29 Eine leere Mine

30 Der Auftrag

31 PANTALEON

32 Der Fleck

33 Im Barcomi's

34 Tessa

35 Don Mavunsti

36 Das Alphatier

37 Das Angebot

38 Die beiden Arme des Gesetzes

39 EEEs lebende Kunst

40 Die Mauer

41 Soll ich, soll ich nicht?

42 Klickes Macht

43 Die KKK-Therapie

44 Der Weg zur Oma

45 Oma Ewaras Geschichte

46 Der mystische Pfad des Todes

47 Die AEK-Theorie

48 Der Denunziant

49 Der Dankbare

50 Der Weg zur Löwenhöhle

51 Flaschenbeißer

52 Flaschenbeißer reicht es

53 Knut kann auch anders

54 Ein Paket für Don Mavunsti

55 Rätselraten um Gießer-Gustav

56 Auftrag zur Ansage

57 Falscher Stolz

58 Iffi

59 Ratschlag einer Freundin

60 Knuts Telefonat mit Frau Rodrian

61 Klatuntranami

62 Lauschangriff

63 Knut, der Wikinger

64 Beute

65 Frau Müller und der Eisweiße

66 Widerrechtliche Gerechtigkeit

67 Ein Auge für Käthe

68 Im Angesicht der Rechtsgewalt

69 Zwei, die sich nicht verstehen

70 Verfluchter Späti

71 Chaos, Plan und offene Tür

72 Abflug

73 Auszug und Ausziehen

74 KloedenKlön und Harmonie

75 Die Themen und das Thema

76 Der Artifex Magnificus

77 Die Kündigung

78 Musik im Widerstand

79 Die Besucherin

80 Schauplatz Kloedenstraße

81 Wo alles begann

Nachwort

Dank

Glossar

Direktreale Personen

Parallelreale Personen

Quasireale Personen

Vorderhaus-3A-Kloedenser

Hinterhaus-3A-Kloedenser

Personen ohne Kloedenstraßen-3A-Hintergrund

Tiere

Lokationen

Benennungen

Allgemeine Eisweißer-Klicktheorie

KKK-Therapie nach Doktor Flusensatz

VORWORT

Die Idee zu KNUT kam von Knut. Bei zwei Tassen Kaffee im Barcomi's in Kreuzberg an einem 26. Mai, dem Tag der grauen Farbe.

Er saß mir gegenüber. Mit seinem recht dicken, kleinen, schwarzen Tagebuch, das er sein KleinDickes nennt.

Er schob es mir rüber und sagte: »Mach ein Buch draus, nur aus dem Angekreuzten!«

Ich blätterte es durch und fragte: »Ich, ich oder er?«

Als Denksprecher wissen wir immer, was nicht gemeint ist. Und aus dem Rest bauen wir unsere Antworten.

So er auch jetzt: »Nein, du im Ich, ich im ER, aber dennoch ich!«

Dreieinhalb Stunden später begann ich mit KNUT, in dem ich in Knuts Rolle erzähle, was Knut in seinem KleinDicken angekreuzt hatte.

Auf die Frage, ob sich alles so zugetragen hat, wie Knut es geschrieben hat, habe ich die einzig wahre Antwort parat: Außerhalb von Kirchen und Gerichten werde ich stets antworten: Ja natürlich, das hat es! Und wie es das hat! Sonst hätte ich es doch nicht geschrieben und man brauchte es nicht zu lesen. Oder?

Michaël Moritz, Berlin, 20. Juni 2020

Abb 1: Seite aus Knuts Tagebuch Kleindickes

Abb 2: Klingelbrett, Kloedenstraße 3 A, Vorderhaus

Abb 3: Klingelbrett, Kloedenstraße 3 A, Hinterhaus

Lieber ein Narr sein auf eigene Faust,als ein Weiser nach fremdem Gutdünken!

Friedrich Nietzsche

1 | Auf der Bank

Zweiter Eintrag im KleinDicken

Am frühen sonnigen Nachmittag des 26. Mai vor 13 Jahren saß ich auf einer Bank am Maybachufer des Landwehrkanals in Berlin Kreuzberg. Vom Westende der Bank aus wollte ich ihre Umgebung genießen.

»Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen auf die Bank setzen?«

Der, der das fragte, war ein grauer Mann, der vor mir stand. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, da ich für wenige Augenblicke beide Augen geschlossen hatte.

Der graue Mann schaute mich an. Ich schaute den grauen Mann an.

Er trug einen grauen Hut, grauen Anzug, ein graues Hemd mit Stehkragen, eine graue Brille, graue Handschuhe, graue Socken, graue Slipper. Ein ganz und gar grauer Mann.

»Ich bin die Wahrheit und komme von da draußen!«, behauptete er überzeugend und wies auch gleich mit seiner rechten Hand gen Himmel.

Er musste erkannt haben, dass meine sensible Seele nicht nur beeindruckt war, sondern auch unter dem Gewicht seiner Worte einzuknicken drohte.

»Die Wahrheit ist allein für den Chef vom Ganzen!«, belehrte ich den Grauen, der sich deutlich selbst überschätzte, und wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger senkrecht in den Himmel über mir.

»Sie müssen wahrlich einen weiten Weg hinter sich haben. Setzen Sie sich und kommen Sie an und zur Ruhe!«

Der graue Mann befolgte meine Worte. In der linken Hand hielt er eine zum Rechteck doppelt gefaltete Zeitung, deren Titelkopf mir fremd erschien. Außer einem kleinen Foto, das möglicherweise den Mond zeigte, konnte ich ihr Erscheinungsdatum erkennen. Und das hatte es in sich. Die Zeitung war von heute! Also von dem Tag, der damals 13 Jahre in der Zukunft lag! Der Graue musste mir wohl meinen Schock angemerkt haben. Er entschuldigte sich sofort.

»Sorry, ich vergaß sie einzustecken. Ich darf sie nicht liegenlassen. Keinesfalls! Sie bedeutet mir viel!«

Eine lähmende Kraft hinderte mich daran, sofort eine naheliegende Frage zu stellen. Doch als er aufgestanden war, um zu gehen, brachte ich die Energie auf, sie zu stellen: »Darf ich vielleicht einen Blick in Ihre Zeitung hineinwerfen?«

Er schaute mich einen Augenblick an, der mir wie eine gestauchte Ewigkeit vorkam, und sagte monoton: »Er wird Ihnen nichts nützen. Ich werde jetzt gehen. Genießen Sie den Nachmittag. Der Himmel über uns ist mehr als sein Raum. In wenigen Jahren werden wir uns in anderer Atmosphäre wiedersehen. Sie werden dann kurzzeitig einen Job machen, den es kein zweites Mal gibt und Sie werden einen Vogel haben, den es kein zweites Mal gibt. Passen Sie gut auf sich auf und bleiben Sie stets auf dem Boden der Wahrheit!«

Die Sonne brannte mir ins Gesicht. Ich musste für einen Moment die Augen schließen, und als ich sie öffnete, war der mondgraue Mann verschwunden.

2 | Auf dem Alex

Fünfter Eintrag im KleinDicken

Also wenn Sie mich fragen, ob vor dem Ende, das alles ja haben soll, irgendwann mal ein Schluss sein darf, sage ich Ihnen: Ja, irgendwann muss mal Schluss sein!

Dieses Irgendwann war gekommen, als ich einen Fehler gemacht hatte. Ich gebe gerne zu, mir unterlaufen selten Fehler. Ich beschönige nichts. Ich weiß, das ist nichts Besonderes. Die meisten Leute geben gerne Fehler zu. Ich habe sie gefragt. Eines Vormittags. Auf dem Alex.

Mit meiner Umfrageliste für dreizehn Personen hatte ich mich neben einen Würstchenverkäufer gestellt.

»Ich arbeite für das Meinungsforschungsinstitut Die Sammelmeinung. Darf ich während Ihrer Arbeit neben Ihnen stehen, um den jeweiligen Prozentanteil messbarer Fehlerfreiheit Ihrer Kunden zu investigieren? Mein Name ist Knut Feuereis. Hier meine Karte.«

Der Würstchenverkäufer schaute mich bestimmend an. »Lass stecken, Mann. Ist sowieso alles gelogen. Du stellst dich da vorne hin. Ich will mit deiner Fragerei nix zu tun haben. Mein Business geht vor. Und du vertreibst mir nicht meine Kundschaft. Klar?«

Ich ließ aber nicht stecken und der Würstchenverkäufer schaute auf meine Karte.

»Feuereis, was ist das denn für ein Name? Meiner lautet Hans A ohne Punkt Wurst. Passt irgendwie für einen Würstchenverkäufer, oder? Über meinen Namen bin ich auf diesen Job hier gekommen.«

»Und wofür steht Ihr A ohne Punkt?«

»Wofür wohl, wenn wir schon auf diesem Platze sind?«, lachte Hans A ohne Punkt Wurst seinen Grill an, prüfte dessen Betriebstemperatur und meinte: »Jetzt können die ersten kommen!«

»Wenn ich hier durch bin und ein Würstchen übrig ist, darf ich dann Ihr letztes haben, Hans, äh, A ohne Punkt, äh, Wurst?«, fragte ich den punktlosen Hans A Wurst.

Er taxierte mich von oben bis unten.

»Dein ›Äh, A ohne Punkt, äh Wurst‹ kannste dir sparen. Und dein Sie auch. Wir sind ja wohl beide arme Würstchen. Das vorletzte Würstchen kannste haben. Das letzte nehme ich immer Balthasar mit.«

»Deine armen Würstchen akzeptiere ich nicht, denn wir haben Zukunft! Unsere Republik-Ministerin hat mir nämlich gestern Abend über die 19-Uhr-Nachrichten wörtlich versprochen, dass ich meine wohlverdiente Rente erhalten werde, wenn ich immer hart und fleißig arbeite. Und Balthasar will ich selbstverständlich nicht benachteiligen.«

»Das wirst du auch nicht schaffen, dafür stehe ich immer ein, denn Balthasar bedeutet mir mehr als jeder Mensch. Für ihn würde ich mein Leben geben. Er kriegt jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, eine Bratwurst mit doppelter Portion Senf in der Schrippe1«, erklärte mir Hans A ohne Punkt.

1 Für Nicht-Berliner: Schrippen sind Brötchen, also Brötchen auch für Nicht-Berliner

3 | Die Umfrage

Sechster Eintrag im KleinDicken

»Eine Bratwurst bitte mit doppelter Portion Senf in der Schrippe und zwei Servietten bitte!«, lautete die unmittelbare Bestellung des ersten Bratwurstkäufers dieses Tages.

»Dein Arbeitsplatz ist da vorne, hab ich gesagt!«, flüsterte Hans A ohne Punkt mir zu und überreichte dem ersten Würstchenkäufer dieses Tages dessen bestelltes Verzehrgut.

»Danke. Hier. Stimmt schon«, flüsterte der erste Würstchenkäufer dieses Tages und biss in eines der beiden aus der Schrippe herausragenden Bratwürstchenenden.

Nun war mein Augenblick gekommen. Ich trat an den Kauenden heran und hielt meine Frageliste absichtstransparent mit Unterlage und Kugelschreiber bereit.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, fragte ich ihn, als er seinen Schluckvorgang beendet hatte.

»Wenn Sie mir nichts verkaufen wollen, dann gerne!«

»Nein, nein. Ich möchte von Ihnen nur wissen, ob Sie schon einmal einen Fehler gemacht haben.« Ich hielt den Kugelschreiber schreibbereit, um die Antwort des ersten Befragten sofort festzuhalten.

»Fehler hat doch wohl jeder schon mal gemacht. Wars das schon?«, fragte der Erstbefragte antwortend.

»Das wars schon!«, antwortete ich zufrieden und der Erstbefragte tätigte nach seiner Antwort seinen Zweitbiss in die Schrippe und ging.

»Und jetzt stellste dich da vorne hin, hab ich gesagt!«, schimpfte Hans A ohne Punkt.

Ich stellte mich da vorne so hin, dass ich jeden Würstchenkäufer nach seinem Erstbiss und während seines Kauvorgangs, aber noch vor seinem Zweitbiss, gut erreichen konnte. So hatte ich bald dreizehn Würstchenkäufer gefragt, ob sie schon mal einen Fehler gemacht hätten. Und ein jeder hatte mir ähnlich geantwortet. Jedenfalls bis auf einen.

Nach dem dreizehnten Würstchen hatte ich zwölf arme Würstchen, die schon Fehler gemacht hatten.

»So! Nach getaner Arbeit bereite mir bitte eine schmackhafte Bratwurst mit Darm und doppelter Portion Senf in der Schrippe zu. Die Thermoverpackung ist nicht nötig, da ich über eine solche verfüge.«

»Nach deiner oder meiner, Feuereis?«

»Nach meiner, bitte schön, wenns recht ist!«

»Feuereis, du bist seltsam. Ich verfüge über keinerlei Verpackung. Und nicht erst nach meiner getanen Arbeit. Ich verkaufe Wursttogo, wenn du verstehst.«

4 | Der Fehlerfreie

Siebter Eintrag im KleinDicken

Während ich mein Würstchen im Rucksack verstaute, kaute ein befragter Bratwurstkonsument daran, dass er noch nie einen Fehler gemacht hatte. Ich sagte ihm, dass er der erste Mensch wäre, der mir gesagt hat, dass er nie einen Fehler gemacht habe.

Daraufhin lächelte er mich gnädig an: »Sie pflegen wohl nicht den rechten Umgang!«

Also, man muss sich das einmal vorstellen! Ich war außer mir. Habe mich dann aber wieder eingekriegt. Ich habe ihm erläutert, dass er soeben den ersten Fehler gemacht habe, denn er habe meinen rechten Umgang in Zweifel gezogen. Seine Reaktion rührte mein tiefes Gemüt.

»Sagen Sie das bitte niemandem!«, bat er mich. »Niemandem«, sicherte ich ihm zu und fragte ihn, warum ich niemandem davon erzählen solle, dass ich in ihm einen fehlerfreien Menschen kennengelernt habe, der sich im Gespräch mit mir seinen ersten Fehler geleistet habe.

»Mein guter Ruf basiert auf meiner Fehlerfreiheit!«, meinte er.

»Ein einziger nachweisbarer Fehler, der über mich berichtet wird, würde meinen guten Ruf ruinieren. Und damit meine Existenz.«

»Das kann natürlich nicht angehen«, leierte ich runter. »Sie sagen es! Und sagen Sie mal, wie komme ich zu der Ehre Ihres Wissens um meine Persönlichkeit?«, sagte er, während er mit Serviette und Taschenspiegel seine Lippenumgebung von Würstchen-, Senf- und Schrippe-Resten befreite.

»Eine schwierige Frage. Wahren Persönlichkeiten dienen ihre Gesichter als Ausdruck ihres Selbst«, erläuterte ich ihm. Sein linkes Auge suchte einen Papierkorb, während sein rechtes Auge das Spiel meiner linken Hand mit dem Kugelschreiber bewegungssynchron verfolgte.

»Hm, aber trifft das nicht auf jedermann zu?«

Er wollte mir unterstellen, dass ich ihm eine triviale Erkenntnis hatte zukommen lassen! Aber nicht mit mir! Mit der unserem Gesprächsgegenstand angemessenen Wichtigkeit in meinem Duktus2 antwortete ich auf seine despektierliche Frage: »Nicht unbedingt! Den wenigsten sind ihre Gesichter als Diener ihres Selbst bekannt.«

Er faltete seine Serviette zusammen und schob sie in die rechte hintere Hosentasche.

»Jetzt verlassen wir aber den Smalltalk«, provozierte er weiter.

»Sie sollten hier einen Punkt machen. Sie überschreiten eine rote Linie! Es ist Ihr zweiter Fehler, den Sie heute machen.«

2 Persönlicher Sprachstil, wenn man denn einen hat. Sonst Dursun fragen!

5 | Der Ordner

Achter Eintrag im KleinDicken

Der Fehlerfreie blieb gefasst. »Es liegt an der Umgebung. Sie haben recht. Sie hatten aber nach Fehlern der Vergangenheit gefragt!«

Das klang wie eine Entschuldigung und sie stimmte mich versöhnlich.

»Das ist richtig. Und wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie also jetzt, bedingt durch mein erhellendes Interview, einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit gezogen.«

»Sagen Sie mal, wie kommen Sie dazu, mein Leben einzuteilen?«

Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben, und schaltete in den Ton des inneren Oberlehrers.

»Hm, ja, Sie sind ein ordentlicher Mensch. Ihre Serviette schaut übrigens aus Ihrer Hosentasche heraus. Ich denke, dass ein ordentlicher Mensch dankbar für jede Einteilungshilfe ist!«

Zu meinem Erstaunen wurde der Oberlehrer angenommen und sorgte für Nachfragebedarf.

»Gut zu wissen. Und in welchem Lebensabschnitt befinde ich mich also Ihrer Meinung nach?«

»Na ja, Sie haben unter Ihren fehlerfreien Lebensabschnitt einen Schlussstrich gezogen. Demnach befinden Sie sich in der kritischen, fehlerbehafteten Ära Ihres Lebens, sozusagen.«

Das war mehr als lehrerhaft. So schaute er prüfend in mein Augenpaar, zog gestisch überbetont die Papierserviette hervor, rollte sie zu einer fiktiven Zigarette, hielt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger und wies mit ihr auf einen langnasigen, kalkweißen Stelzenmann, der seine einzelnen Gliedmaßen wohl zu einer Kunstfigur arrangieren wollte.

»Wie ist Ihr Name überhaupt?«

»Der der Kunstfigur?«, fragte ich.

»Nicht der«, antwortete er mir. »Der Ihrige!« Jetzt erst schaltete ich. »Sie lesen meine Gedanken?«

»Ich empfange sie, so ich es will. Und bevor Sie mir jetzt das Du anbieten, denn das würden Sie gleich tun, sage ich Ihnen, Knut Feuereis, wir können uns durchaus duzen.

Grundsätzlich sehe ich das Duzen als Zeichen sich verflachender Zeiten, in denen sich jeder mit jedem auf künstliche Weise äußerlich gleich machen will, tatsächlich aber jeder mit jedem in den Ring steigt, um durch Überlegenheit Ungleichheit zu schaffen.

Und diesen Ring finden wir nach wie vor überall: auf der Straße, am Arbeitsplatz, im Privaten! Wie gesagt: überall!

Ja! Ich bin dem Ring entflohen. Ich schaffe mich selbst in meiner Kunst. Abend für Abend. Auf der Bühne. Alleine. Natürlich fehlerfrei.«

Haiko Henk lächelte und ich widersprach.

»Ich sehe es so: Im Duzen sorgen wir für die Wahrnehmung gleicher Startbedingungen. Und der Ring entscheidet, was das Sie vorwegnimmt. Das Sie erzeugt Illusion, der Ring schafft Fakten!«

»Oft ein blutiger Fakt! Zu oft, Knut! Aber, ja, du sagst es selbst: Das Sie erzeugt Illusion. Eine Illusion, die bedeutsamer ist als die Wirklichkeit des auf dem Boden Liegenden!

Du gefällst mir, Knut. Deshalb ja, lass uns duzen. Ich bin Haiko Henk! Und wenn du magst, können wir unser Gespräch morgen in der Rippe zur selben Zeit fortsetzen. Jetzt ruft mich meine Kunst. Später werde ich mich mit dem Strich beschäftigen, den du unter mein Leben gezogen hast. Wir sehen uns dann morgen, wenn du willst!«

Haiko Henk ging.

Da rang eine Menschenseele mit sich, einen Strich unter ihre bisherige Biographie zu ziehen, einen Schlussstrich sozusagen! Und ich hatte den Anstoß dazu geliefert!

»Sehr gerne«, rief ich dem Fehlerfreien hinterher.

6 | Emilio

Zehnter Eintrag im KleinDicken

Es schauten mich die fragenden Augen eines mutmaßlich achteinhalbjährigen, offensichtlich schulschwänzenden, Jungen an, der mit der rechten Hand einen Hirtenstab hielt, dessen Länge die des Jungen um 32,5 Zentimeter übertraf.

»Möchtest du eine Bratwurstschrippe mit doppelter Portion Senf?«, fragte ich ihn.

»Ich bin Emilio. Ich gehöre zu dem übergewichtigen Teil deutscher Kinder ohne Migrationshintergrund, sagt meine Mama. Und eine Bratwurst decke den kalorischen Tagesbedarf eines adulten3 Mannes, sagt meine Mama. Da ich auf meine Ernährung zu achten habe, sagt meine Mama, schlage ich Ihnen vor, dass Sie einem Teilnehmer an der gesellschaftlichen Klasse mit Bedürftigkeitshintergrund Ihr senfiges Bratwurstschrippenangebot unterbreiten.«

»Vorbildlich!«, lobte ich und dachte dabei an mein Antwortverhalten als achteinhalbjähriger und über meine Biographie nach.

»Wie alt bist du?«

»Meine ogygische4 Seele quält sich sisyphosisch in diesem, ihr zur Verfügung gestellten, sterblichen, doch noch jungen, Leib. Nein, ich beziehe mich auf das Datenschutzgesetz und enthalte mich einer Beantwortung.«

»Wer bist du?«, wollte ich von ihm wissen.

»Meine unzeitliche Identität unterliegt keinem Wandel, ihre Form aber schon. Und in ihrer jetzigen zählt sie achteinhalb Jahre. Ich weiß, dass Sie diese Information in Ihrer Verständniswelt nicht einordnen können.«

»Schon ein starkes Stück, was sich die Pimpfe heute aus der Rippe saugen. Das haben sie alles aus diesen amerikanischen TV-Serien!«, meinte Hans A ohne Punkt leichtfertig und suchte meine Bestätigung. Ich nickte ihm zu und dozierte: »Und da sage dann einer, Fernsehen verblöde! Das Gegenteil ist der Fall! Ich, zum Beispiel, schaue …«

»Netflix-Serien«, verriet Emilio. Jetzt wurde ich wütend auf diesen Emilio Allwissend.

»Für mich gilt das Datenschutzgesetz nicht?«, fragte ich ihn drohend.

»Rechte muss man sich erstreiten. Die Wirklichkeit zehrt an Ihnen!«, hielt mir Emilio Allwissend lächelnd entgegen, indem er seinen Hirtenstab um 19,5 Zentimeter anhob.

Hans A ohne Punkt zuckte mit beiden Schultern und wandte sich mir zu.

»Lass uns morgen unsere Striche besprechen. Dann habe ich mehr Zeit pro Stunde. Ich muss jetzt los und bin dann mal weg. Die Rippe ist gut.«

»Das Gasthaus Zur Rippe wird morgen eine Stunde später als üblich öffnen«, sagte der mutmaßliche Achteinhalbjährige kurzhin.

»Das weißt du?«, fragte ich ihn.

»Wissen ist nicht die treffende Vokabel für meine diesbezügliche Wahrnehmung. Aber ja, in Ihrer Sprachwelt würde ich es ebenso ausdrücken.«

Emilio ließ mehr und mehr meine Menschenkenntnis erschüttern.

»Bis morgen in der Rippe zur gleichen Zeit«, sagte Hans A ohne Punkt.

»Gut. Wir treffen uns morgen in der Rippe«, bestätigte ich ihm.

Und während er auf seinem Skateboard unter Nichtbeachtung aller Verkehrsregeln an der Weltzeituhr vorbei Richtung Norden rollte, kommentierte Emilio Allwissend den Fahrstil des Hans A ohne Punkt: »Den Fußgängern ist es wurst! Ihre Wahrnehmung höchsteigner Interessen gegenüber dem öffentlichen Raum ist effektiv wegdressiert.«

»Wer bist du?«, wollte ich noch einmal von diesem mutmaßlich achteinhalbjährigen Dreikäsehoch wissen.

»Auch ich muss jetzt los und bin dann mal weg! Wir sehn uns!«, war seine ausweichende Antwort.

Emilios Faltrad stand sichtweit an einer Bauabsperrung. Den Hirtenstab befestigte er der Länge nach am Rahmenrohr und als er losfuhr, hatte ich das Gefühl, dass er in eine andere Welt zurückkehren würde.

Der Stelzenmann experimentierte mit seinen Bewegungen und ich bewegte mich zu meinem Veloziped, dem ich den Namen Clemens Licht zugeeignet hatte.

Der Grund war der: Am Tag, nach dem ich das Velo von dem Inhaber der kleinen Fahrradwerkstatt in der Schöneberger Crellestraße für kleines Geld gekauft hatte, verschwand es spurlos von seinem Standplatz vor den Hausbriefkästen.

Und das, obwohl ich auf meinem Briefkasten einen Hinweis mit Pfeil in Richtung Velo gemacht hatte, der es als im Besitz von Knut Feuereis befindlich, auswies. So war jegliche Freiverfügbarkeit von vornherein ausgeschlossen.

An dieser Stelle eine knappe Ausführung zu meinem kombinierten Arbeits-, Schlaf- und Wohnzimmer. Immer benannte ich es in Gesprächen korrekt in dieser Langform. Recht früh schon belustigte man sich darüber. Und jedes Mal war ich nicht sehr erfreut. So zog ich die Anfangssilben der drei Zimmerfunktionalitäten Ar, Schla und Wo zur Bezeichnung meines Zimmers zu Arschlawozi zusammen. Von da an lachte keiner mehr über meinen Wohnungsnamen und nahm ihn ernst.

Und eine Bemerkung zur Korrektheit. Korrektheit ist wichtig. Besonders in Zeiten wildwuchernden Wortgemüses. Hülsenfrüchte liefern das Paradebeispiel für eine ideale gentechnische Kreuzung, die sich in Werbung und Politik ganz besonderer Beliebtheit erfreut: die Worthülse. Unser heutiges Leben ist ohne diese Hülsenfrucht nicht mehr vorstellbar.

Ich möchte gerne den Worten ihren Inhalt belassen, Worthülsen kommen nicht und niemals in mein Arschlawozi. Dieses Wort spricht für sich selbst und legt so Zeugnis ab für meine grundsätzlich authentischen Wortanwendungen. Und sie spielen eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben als sprechender Mensch. Ich vermeide unnötige Längen. Ich kürze ab, ohne Entzug der Inhaltsstoffe.

Ich sage heute eben nicht mehr: Ich lade zu einem Umtrunk in meinem Arbeits-, Schlaf- und Wohnzimmer ein. Tue ich nicht mehr. Das abkürzende, zusammenfassende und ansprechende Wort mit Freundlichkeitsfaktor Arschlawozi bringt nicht nur gute Laune in die Herzen meiner Gäste, nein, ich selbst habe durch diese Wortwahl ein distinguiertes Lebensgefühl. Und das darf man ja wohl haben!

Aber zurück zu meinem Arschlawozi, besser: in mein Arschlawozi.

Trotz dieses unfassbaren Schicksalsschlages schlief ich in der Folgenacht fest und tief. In einer Tiefschlafphase nun läutete es Sturm. Ich ließ den nächtlichen Besucher ins Haus. Vor meiner Arschlawozitür erklärte er mir, dass er sich am Vortage mein Veloziped gekrallt habe. Der Grund sei der gewesen: Das Velo habe ungesichert am Wasserturm gestanden. Da sei er von dessen freier Verfügbarkeit ausgegangen. Zuhause habe er meinen eingravierten Hinweis am Rahmenrohr gelesen. Deshalb sei er jetzt hier, um es zurückzugeben.

Ich habe mir sofort seinen Namen, Clemens Licht, geben lassen und ihm gesagt, dass dieses Velo ab 10 Uhr morgens seinen Namen tragen werde. Allmut, die natürlich das Nachtgespräch mitbekommen hatte, kam und fotografierte Clemens Licht und mich hinter meinem Velo.

Doch zurück zum Stelzenmann. Mit einer eindeutigen Geste bat er um eine Spende. Ich bot ihm eine meiner Bratwurstschrippen an, die er aber verachtete.

So schwang ich mich auf Clemens Licht und rollte durch den Verkehr, dessen quirlige Lebendigkeit mich stets von neuem erfreut, hin zu meinem Arschlawozi.

3 Erwachsen, geschlechtsreif

4 Sehr alt

7 | Die de Ikubolaiev und die Frau Müller

Zwölfter Eintrag im KleinDicken

Sechsundzwanzig Schritte vor meinem Arschlawozi dachte ich: Warum muss immer ich derart komischen Menschen begegnen, die mich in ebenso komische Situationen hineinziehen, die meine geplante Lebensgerade mit Sinuskurveneinlagen garnieren?

Einerseits. Andererseits erreichen Ereigniseinschläge, die meine engste Umgebung erbeben lassen, nicht meine Sinne. So musste ich ziemlich hilflos ausgeschaut haben, als ich dreizehn Schritte vor der Haustür zu meinem Arschlawozi Madame Mone de Ikubolaiev traf.

Zugegeben, Eleganz ist kein Qualitätsprädikat in Kreuzberg. Sollte es auch nicht sein. Aber in den Straßen Berlins kann Sehnsucht nach ihr geboren werden.

Madame Mone de Ikubolaiev ist stets dieelegante Dame Kreuzbergs. Ganz in Weiß. Immer. Sommers wie winters.

Unter dem weit ausladenden Panama quellen ihre golden langen Haare hervor, als ob sie die Aufgabe hätten, wellengleich das Gesicht eines Engels im Meer ewiger Schönheit zu umwogen.

Und wenn sie im maßkonfektionierten Hosenanzug und Trenchcoat das vermüllte Kreuzberger Trottoir zu ihrem Catwalk funktionalisiert, macht ihre Pochette5 für die Haute Couture Valentino Garavanis sie zu einem Eyecatcher, selbst in dem smart-casual-aversiv konditionierten Kreuzberg. Nicht nur für Männer. Grand dame en blanc!

Irgendwann steht sie, die Göttin, unvermittelt vor einem. In solch einem Moment, wenn einem der Atem stockt, merkt man, ist die Göttin anders. Ganz anders. Keine aus Schaum geborene Aphrodite! Nein!

In diesem Moment erschien Madame Mone de Ikubolaiev aufgelöst und aufgeregt. Die Geheimnisfülle ihres essentiellen Verschmolzenseins mit weitschwingender, tiefnuancierter Ausstrahlung einer Himmelswächterin hatte sich mit der alles präsentierenden Straßenwelt gemein gemacht. Hektisch und gereizt fragte mich Madame Mone de Ikubolaiev, ob ich Frau Müller gesehen habe! Ich konnte es nicht fassen. Was Madame Mone de Ikubolaiev genau machte, wusste keiner im Hause so genau. Selbst ich nicht, obwohl sie direkt über mir wohnt.

Die einen sagten, sie sei eine Multimilliardärin aus Saint-Tropez, die hier in Kreuzberg unerkannt ein bürgerliches Leben führe, die anderen sagten, dass sie als Double für einen ganz großen Hollywoodstar in den ganz großen Produktionen von Time Warner agiere.

Egal was nun stimmen mochte! Die wenigen Male, die wir uns im oder vor dem Hause getroffen haben, haben sich für immer mit ihrem Flair geistiger Eleganz tiefenphilosophischer Konversationen in meine Erinnerung geschrieben.

»Frau Müller? Ich kenne keine Frau Müller!«, bekannte ich.

»Frau Müller ist so hilflos im Straßenverkehr. Sie meidet doch jeden Kontakt. Ganz im Gegensatz zu ihrer naturgegebenen Art. Sie ist am liebsten mit sich allein. Deshalb wollte ich jetzt mit ihr zum Psychotherapeuten. Ich werde noch einmal auf der Fidicin- und Willibald-Alexis-Straße nach ihr schauen. Sie ist ja zu auffällig, als dass man sie übersehen könnte! Hab Dank, Knut, und bis später. Wenn du Frau Müller sehen solltest, ruf mich sofort an. Bitte, sofort!«

»Aber ich kenne keine Frau Müller!«, wiederholte ich. Doch da hatte sich Madame Mone de Ikubolaiev schon dem weiten Feld der Straße gewidmet. Ihre Mobiltelefonnummer hatte ich nicht. Jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt, in dem sich mein KleinDünnes meldete. Madame Mone de Ikubolaievs Whats-App-Nachricht lieferte mir ihre Mobiltelefonnummer. Ich atmete durch und glaubte in meinem Inneren Tempel der Ruhe, ich nenne ihn nach seinen Anfangsbuchstaben abkürzend Inte Derru, angekommen zu sein.

Ich schloss die Haustür auf. Was dann folgte, ist für mich heute noch die Begegnung der versatilen Art.

Vor mir stand ein Mini-Alpaka. Jetzt wusste ich definitiv, dass ich ein echtes Wirklichkeitsproblem hatte! Ich schüttelte meinen Kopf, um wach zu werden. Das Mini-Alpaka blieb. Ich ging auf es zu und bevor die Haustür ins Schloss fiel, hörte ich Madame Mone de Ikubolaievs Stimme:

»Da sind Sie ja, Frau Müller! Ich war so sehr in Sorge um Sie. Kaum auszudenken, was hätte passieren können! Sie sind doch auf Berlin nicht vorbereitet, Frau Müller! Aber jetzt wird alles wieder gut!«

Sechsundzwanzig Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich Madame Mone de Ikubolaiev hörte, wie sie Frau Müller und mich miteinander bekannt machte.

»Frau Müller, das ist Herr Feuereis!«

Frau Müller drehte ihren Kopf zur Briefkastenwand und versuchte mit Ober- und Unterlippe einen heraushängenden Werbekatalog für Erotikspielwaren herauszuziehen. Madame Mone de Ikubolaiev ging über das thematisch anderweitig orientierte Interesse Frau Müllers hinweg.

»Herr Feuereis, das ist Frau Müller!«

Frau Müllers Bemühen um den Erotikkatalog schlug fehl, so ging sie dazu über, den heraushängenden Teil erst mit der Zunge, dann mit den Zähnen zu bearbeiten.

»Frau Müller steht auf Plaste!«, erklärte mir Madame Mone de Ikubolaiev.

»Wo … wo residiert Frau Müller?«, stotterte ich.

»Übergangsweise hier bei mir!«

»Und das geht einfach so, so vom Gesetzgeber her?«

»Nein, natürlich nicht«, klärte mich Madame Mone de Ikubolaiev auf, »aber Frau Müller ist ein Sonderfall! Sie ist Autistin und leidet unter einer sozialen Phobie. Das hat Doktor Cristobal Zambrano in Cartagena diagnostiziert. Jetzt suche ich für Frau Müller einen Psychotherapeuten mit transaktionsanalytischer Beratungskompetenz. Solange Frau Müller in Therapie ist, bestehen amtsärztlicherseits keine Bedenken gegenüber einem Untermietverhältnis. Allerdings mit der Auflage des täglichen Flaniergangs. Frau Müller bevorzugt den Friedrichwerderschen Friedhof II in der Bergmannstraße 42 bis 44.«

Madame Mone de Ikubolaiev gab Frau Müller ein Handzeichen, dass sie jetzt die Treppe hinaufgehen wolle. Sofort setzte sich Frau Müller, an ihrer Vermieterin vorbei, in Bewegung. Vor der Wohnungstür Allmut Lawottkes allerdings blieb Frau Müller stehen und mühte sich mit angespitzter Zunge, den Klingelknopf zu drücken.

An dieser Stelle ein kurzes Wort zu Allmut. Manche munkelten, dass Allmut im Homeoffice für die Firma Mahizutu arbeiten würde. Andere munkelten dagegen, dass die Firma Allmuts Phantasieprodukt sei und für die Langform Man hat immer zu tun stünde. Wo auch immer der Sitz dieser Firma sein mochte, Mahizutu war und blieb so unsichtbar wie der Geheimdienst des Königreiches Bhutan.

Daher hatte Elwin Egil Erk, bekannt als EEE, aus der zweiten Etage des Hinterhauses einmal die Vermutung gegenüber Hella Nöttge aus der vierten Etage des Vorderhauses geäußert, dass Allmut aus dem Parterre im Vorderhaus im Auftrag des Donnerdrachens in Thimphu als Geheimagentin Seiner Majestät, des Königs von Bhutan, subversiv tätig sei.

Nachweislich aber ist Allmut so etwas wie der gute Geist des Hauses. Und auch die Infozentrale. Sie weiß alles, was im Hause geschieht und besser noch, was noch geschehen wird.

Allmut wohnt wesentlich länger in diesem Haus als ich. Und vom Tage meines Einzuges an verstehen wir uns. Als sie mich das erste Mal sah, sagte sie mir: »Du kommst bestimmt aus dem Pott, warte mal! Genau, aus Bottrop Batenbrock Süd, um genau zu sein. Ich riech das sofort. Was willst du denn in einer so verkorksten Stadt wie Berlin? Im Pott, da tragen die Menschen ihr Herz noch auf dem rechten Fleck. Wenn du aber hier das Wort recht nur denkst, zeigen dir nicht nur die Fahrradfahrer den Stinkefinger. Ich bin die Allmut. Und du bist der Knut?«

»Aber Sie wohnen doch in der interessantesten, offensten, buntesten und vielseitigsten Stadt der Welt. Wie können Sie Berlin nur so runtermachen? Ja, ich bin der Knut.«

»Huch, das ist wieder mal so aufregend! Also, lass mal das Sie. So fein sind wir hier alle nicht. Lern die Stadt kennen, Knut! Dann reden wir weiter!«

»Und vorher nicht?«

»Es sind die Politiker, Knut! Berlin ist nicht mehr das, was es mal war. Die Politiker machen alles kaputt. Das ist meine Meinung. Im Pott hätten sie solche Arschlöcher, die bei uns das Sagen haben, schon längst abgesägt!«

»Politik ist ein No-Go-Thema, Allmut. Der eine denkt so, der andere so. Und wir wollen doch miteinander auskommen, in Berlin, dieser wunderbaren Stadt, oder?«

»Na, das kann ja was werden! Ein Bottroper aus Batenbrock Süd, huch ist das aufregend, muss einer waschechten Berlinerin aus Kreuzberg 61 sagen, wie schön ihre Stadt ist!«

Soweit das kurze Wort zu Allmut. Sie und ich haben seitdem nie mehr über Berlin und Politik gesprochen. Nie mehr! Wenn ich mich richtig erinnere!

Nein! Gezankt, gestritten und gezofft haben wir uns! Und zwar, was das Zeug hielt. Und das Zeug hat gehalten. Jedes Mal, wenn es um Berlin ging. Und weil das Zeug hielt, hielt auch unsere, ja, ich darf das sagen, unsere dicke Freundschaft. Und Freundschaft verbindet.

Fest verbunden mochte auch Frau Müllers Zungenspitze mit dem Klingelknopf unter dem messingenen Vintage-Namensschild Allmuts sein. Erst als Madame Mone de Ikubolaiev Frau Müller bat, dem von ihr so geliebten Klingelmännchen einen Korb zu geben und die Treppe rauf zu gehen, fuhr Frau Müller ihre Zunge zurück in ihren Rachenraum. Offensichtlich hatte Allmut auf genau diesen Augenblick gewartet. Denn unmittelbar danach öffnete sie die Tür und ihr Gesicht wurde durch den Türspalt erahnbar. Sofort hetzte Frau Müller die Treppen hinauf.

»Es ist die Phobie!«, sagte Madame Mone de Ikubolaiev zur Treppe. »Es ist Knut!«, sagte Allmut durch den Spalt.

»Es ist die Gruppe!«, sagte ich zur Decke und stieg unter ihr die Treppe gen Arschlawozi hinauf. Auf den ersten Stufen meines Weges in die erste hörte ich Madame Mone de Ikubolaiev mit Allmut ein Schwätzchen halten. Frau Müller war mir vorausgeeilt und bog in der ersten zu meinem Arschlawozi ab. Auf den Etagenflur hatte ich unmittelbar neben meine Arschlawozitür einen Gründerzeitstuhl mit stabilem Wiener Geflecht gestellt, dazu als Zeitschriften-Ablagetisch den IKEA-Hocker Kullaberg. Ich habe diese Stuhl-Tisch-Kombination gewählt, um meinen Besuchern für die Dauer ihres Wartens auf meine Arschlawozitüröffnung eine Beschäftigungsmöglichkeit zu bieten.

Als ich die erste Etage erreichte, sah ich Frau Müller bäuchlings auf dem Kullaberg liegen. Ihre angewinkelten Beine berührten entspannt den frisch gebohnerten Flurboden, auf dem die Zeitschriften zwischen grünen Lutum-Böhnchen6 verstreut lagen.

»Es ist Alpaka-Gold, der beste Naturdünger, mit dem ich hohe Gewinne erziele!«, klärte mich Madame Mone de Ikubolaiev auf, die mir gefolgt war, um Frau Müller sich nicht selbst zu überlassen. Frau Müller wandte sich interessiert ihrer Vermieterin zu, so als ob sie noch weitere Informationen hören wollte. Und die hatte Madame Mone de Ikubolaiev: »Frau Müller, wir sind zum Kaffee bei Allmut eingeladen!«

»Sicher zu meinem Saramangra?«, bohrte ich neugierig wie Frau Müller.

»Saramangra?«, wiederholte Madame Mone de Ikubolaiev mein Schlusswort mit Fragezeichen.

»Ich kann ihn nur empfehlen. Original genießt man meinen Lieblingskaffee in meinem Lieblingscafé, im Barcomi's in der Bergmannstraße, als Sumatra Arabica Mandheling Grade 1 (Triple picked). Ich gab ihm abkürzend den Namen Saramangra und habe Allmut ausführlich gelehrt, ihn originalnah nachzuempfinden. Und ich muss sagen, sie macht ihn schon ganz gut, aber wenn Sie ihn original, Sie wissen schon, dann in der Bergmannstraße!«

»Ja, interessant, wirklich interessant, Knut, ich werde mir das merken, merken, ja! Aber jetzt zurück aus der Bergmannstraße, Knut, Sie müssen oben bleiben. Zu dritt sind wir eine Gruppe, die Frau Müller nicht verarbeiten kann!«

Frau Müller hob ihren Kopf, schaute mich mitleidvoll an, spannte die Beine an, erhob sich und trottete ihrer Betreuerin hinterher, während ich mein Arschlawozi mit einem weiten Schritt betrat, um eine zu enge Bodenberührung zu vermeiden.

5 Einstecktuch für ein Sakko

6 Kot-Böhnchen

8 | Montezuma II

Fünfzehnter Eintrag im KleinDicken

Seit zwei Jahren habe ich einen Papagei. Und das kam so. Ich lag mal wieder auf meiner Chaiselongue und schaute auf mein Fenster. Plötzlich ließ sich ein Papagei auf dem Fensterblech nieder. Erst lief er aufgeregt von einem Blechende zum anderen. Dann blieb er mittig auf dem Außenblech stehen und hackte mit seinem Schnabel rhythmisch auf das Thermopenglas ein.

Ich gab ihm beidhändig die nach Paragraph 7 der Luftverkehrsordnung weltweit einheitlichen Handzeichen für Flugzeugabfertiger, die den sofortigen Weiterflug anordneten.

Das Unfassbare geschah. Er schüttelte den Kopf und hackte weiter. Ich öffnete den Seitenflügel und der rot-grün Gefiederte hüpfte auf meinen Schreibtisch. Unberingt stolzierte er über die Tastatur meines Notebooks und schaute sich um. Er bemerkte, dass jeder seiner Krallentritte ein Zeichen auf dem Bildschirm auslöste und tippte wahrscheinlich seine Biographie in meinen Klapprechner. Nachdem er ihn runtergefahren hatte, flog er auf meine Schulter und ließ sich nicht bewegen, von ihr zu weichen.

All meine zahlreichen Befragungen in Land und Stadt, die Herkunft des komischen Vogels zu klären, lieferten keine Information. Ich wurde den rot-grün gefiederten Zeitgenossen nicht los. So wanderte ich mit dem komischen Vogel auf der Schulter in die Nostitzstraße zur Tierärztinnenpraxis von Frau Doktor Agathe Stich-Glimm.

Sie erkannte meinen komischen Vogel als einen männlichen Amazonenpapagei aus Mesoamerika. Frau Doktor erläuterte mir die artgerechte Haltung in Privatwohnungen und versorgte meinen komischen Vogel mit allem tiermedizinisch Erforderlichen.

Offenbar musste der herrenlose Papagei nach Transatlantikflug und innereuropäischem Anschlussflug, der Prophezeiung des Mondgrauen gemäß, mein Fensterblech als Flugziel auserkoren haben. Damit aber nicht genug. Der Amazonenpapagei krächzte multilingual. Mal deutsch, mal englisch, mal spanisch. In der Regel aber plapperte er leidenschaftlich in einer mir völlig unbekannten Sprache mit vielen TL- und X-Lauten auf mich ein.

Seine Mitteilungen nahm ich mit dem Klein-Dünnen, so nannte ich vereinfachend immer mein Mobiltelefon, auf und übersandte die Tondateien dem Übersetzungsbüro Wortlaut in der Warthestraße. Eine Woche später wusste ich, dass der komische Vogel Nahuatl sprach.

Nahuatl wurde in vorspanischer Zeit von den Azteken gesprochen und der komische Vogel behauptete auf Englisch von sich, dass er die Reinkarnation deren letzten großen Herrschers sei. So nannte ich den rot grünen Amazonenpapagei Montezuma II.

9 | Herr Knochenhauer passt auf

Achtzehnter Eintrag im KleinDicken

Auf der Chaiselongue musste ich über die Entrüstung Haiko Henks nachdenken, dass mein Strich den Ton einer biographischen Note in seinen Lebensabschnitt gebracht hatte. Als ich überlegte, die Kraft meiner Striche zu meinem Wohlergehen kommerziell in Form eines Strichehandels zu nutzen, unterbrach Montezuma II meinen zukunftsweisenden Ideenstrom: »chipauak kiuak mo kalakoayan!7 «

Also dachte ich über die Reinigungsreihenfolge nach.

Zunächst waren die grünen Lutum-Böhnchen des Mini-Kamels zu entsorgen. Wohin nur damit? In die Biotonne im Hof? Da kam mir eine nützliche Idee, die mich zum sofortigen Verlassen der Chaiselongue motivierte. Ich füllte das goldwertige Kehrgut in einen leeren Bio-Sichtstreifenbeutel mit Pergaminfenster von Gleich-nebenan-Bäcker Alkmund Mehlhorn. Mit rotem Filzstift beschriftete ich die Schrippentüte mit dem Vermerk, der einst für Westpakete in die damalige Ostzone erforderlich war: Geschenksendung – keine Handelsware! Die zweckerweiterte Tüte verschloss ich mit meinem Kokarinax8 so, dass meine Visitenkarte mit Nachbarschaftsgruß angeheftet war.

Während meiner Verpackungstätigkeit hatte mir Montezuma II seinen herrschaftlichen Rücken zugewandt. Als ich an ihm vorbei zur Arschlawozitür ging, drehte er sich so, dass mir stets sein Rücken zugewandt blieb. Ich trug die güldene Handelsware in den dritten Stock und hängte sie an die Tür von Madame Mone de Ikubolaiev.

Zurück im Arschlawozi begrüßte mich mein royaler Asylant mit »teuatl kateh iuik tsintlan tlakatilistli!9«

Unter uns gesagt: Dieser Vogel hatte einen Vogel. Und der wurde allmählich unaushaltbar. Ich räumte den Etagenflur auf. Mein umgestürzter Kullaberg war von Illustrierten bedeckt, die in Teilen von flüssigem Alpakagold durchsetzt waren. Ich packte den gesamten Papierkrempel in einen Müllbeutel und wischte und schrubbte den Flurboden vor meiner Arschlawozitür so lange, bis er nicht nur sauber, sondern rein war.

Müllbeutel, Stuhl und Kullaberg ließ ich vom Fenster aus in einer Plastikwanne an einer Leine in den Hinterhof. Die Illustrierten sollten in die Papiertonne.

Als ich den Tonnendeckel aufgerichtet hatte, gesellte sich, wie aus dem Nichts erscheinend, Hausmeister Egon Rüdiger Knochenhauer zu mir.

»Du willst aber jetzt nicht deinen Dreck in die gemeinschaftliche Papiertonne geben? Das geht gar nicht! Es gibt Vorschriften!«

Ich schaute mich um und ihm genau durch seinen weit aufgerissenen Mund in das Gewölbe des hausmeisterlichen Rachenraumes. Nie zuvor sah ich einen weiter geöffneten Mund!

In Zeiten nur selten praktizierter manueller Mundabdeckung im öffentlichen Raum, zum Beispiel bei spontanen Gähnvorgängen, legte sich mir eine Kurzwortkreation für die Langform von Weit offener Mund, nämlich Wom, auf meine Zunge.

Übertrieben beugte ich mich vor, um deutlich zu machen, dass ich einen bewussten Blick durch den Wom in sein orales Gewölbe warf, weil er mir die Möglichkeit dazu gab.

»Guten Tag, Herr Knochenhauer! Schön Ihr Gaumenzäpfchen zu sehen! Und schön zu wissen, dass Sie sich Mühe geben. Übrigens, mein Mitgefühl haben Sie. Ich habe gehört, dass Ihre Hämorrhoiden wieder bluten. Und das, wo Ihre Prostata sich so vergrößert. Ich weiß, wie das ist!«

Ich richtete mich auf und der Hausmeister regte sich auf. Und dann entlud sich seine Aufregung. Knochenhauer lachte wie damals Ziege Trudildis auf dem Gehöft meines Oheims Humfried Käferböck in der Lüneburger Heide. Nur mit Stimmbandverstärkung.