Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Migränemanagement (MIMA) - Timo Klan - E-Book

Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Migränemanagement (MIMA) E-Book

Timo Klan

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Beschreibung

Die Migräneerkrankung ist eine neurologische Funktionsstörung, deren Verlauf durch psychologische und Lebensstil-Faktoren (z.B. Stresserleben, Umgang mit Symptomen) maßgeblich beeinflusst werden kann. Neben der medikamentösen Migränebehandlung spielen somit verhaltenstherapeutische Verfahren zur Verbesserung der Krankheitsbewältigung und zur Attackenprophylaxe eine wichtige Rolle. Die Evidenz verhaltenstherapeutischer Interventionen zur Reduktion der Kopfschmerzaktivität und für eine Verbesserung der Lebensqualität gilt als gesichert. Das Manual integriert bewährte verhaltenstherapeutische Ansätze (Entspannungstraining, Stressbewältigung) mit geeigneten migränespezifischen Interventionen (Basismaßnahmen, Triggermanagement, Umgang mit Attackenangst, Attackenbewältigung) zu einem umfassenden, systematischen Behandlungsprogramm. Zur störungsspezifischen Psychoedukation wird ein integratives, didaktisch sehr gut geeignetes Entstehungsmodell der Migräne vorgestellt. Zu den sieben, ca. 90-minütigen Modulen stehen zahlreiche Informations- und Arbeitsblätter sowie Fragebögen zur Diagnostik auf der beiliegenden CD-ROM zum Ausdruck zur Verfügung. Der Einsatz dieser Materialien kann flexibel auf die Bedürfnisse der Migränepatienten abgestimmt werden, die Interventionen sind sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting anwendbar. In praxisnahen Durchführungsbeschreibungen der Module wird auf das therapeutische Vorgehen und auf den Umgang mit möglichen Schwierigkeiten eingegangen.

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Timo Klan

Eva Liesering-Latta

Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Migränemanagement (MIMA)

Ein Behandlungsmanual zur Krankheitsbewältigung und Attackenprophylaxe bei Migräne

Dr. Timo Klan, geb. 1970. 1990–1997 Studium der Psychologie an der TU Darmstadt. 1999–2003 Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten/Verhaltenstherapie an der Johannes Gutenberg-Universität (JGU) Mainz. 2001–2012 Verhaltenstherapeut in der Klaus-Miehlke-Klinik Wiesbaden, Abt. Psychosomatik. Seit 2012 Leitung des Behandlungsschwerpunkts Chronische Schmerzen der Poliklinischen Institutsambulanz für Psychotherapie der JGU Mainz. Seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der JGU Mainz. 2016 Promotion.

Dipl.-Psych. Eva Liesering-Latta, geb. 1981. 2000–2007 Studium der Psychologie an der Johannes Gutenberg-Universität (JGU) Mainz. 2008–2013 Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin/Verhaltenstherapie an der JGU Mainz, in diesem Zeitraum u.a. psychotherapeutische Tätigkeit am DRK Schmerz-Zentrum Mainz. Seit 2014 Verhaltenstherapeutin mit Schwerpunkt Spezielle Schmerzpsychotherapie in der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein, seit 2015 Leitende Psychologin. Zusätzlich in privater Praxis für Verhaltenstherapie tätig.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Illustrationen: Carolin Hüttich, Leipzig

Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2020

© 2020 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2851-2; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2851-3)

ISBN 978-3-8017-2851-9

http://doi.org/10.1026/02851-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort der Präsidentin der DMKG

Vorwort

I Grundlagen

Kapitel 1 Einleitung

Kapitel 2 Störungsbild und Diagnostik

2.1 Störungsbild

2.2 Diagnostik

2.2.1 Kopfschmerzklassifikation nach ICHD-3 und ICD-10

2.2.2 Komplikationen der Migräne

2.2.3 Ärztliche Diagnosestellung

2.2.4 Psychologische Kopfschmerzdiagnostik

2.2.5 Psychotherapeutisch relevante Klassifikationssysteme

Kapitel 3 Epidemiologie

3.1 Prävalenzen

3.2 Risikofaktoren

3.3 Auswirkungen, Belastungen und Kosten

3.4 Komorbiditäten

3.5 Versorgung

Kapitel 4 Störungstheorien

4.1 Genetische Faktoren

4.2 Vaskuläre Migränetheorien

4.3 Konzept der neurogenen Entzündung

4.4 Zentralnervöse Prozesse

4.5 Integratives neurophysiologisches Störungsmodell

4.6 Psychologische Konzepte

4.6.1 Die Migränepersönlichkeit

4.6.2 Das funktionale Bedingungsmodell chronischer Kopfschmerzen

4.6.3 Kopfschmerztrigger und die Migräneschwelle

4.6.4 Das Triggervermeidungsmodell

4.7 Diathese-Stress-Modell

4.8 Integratives somatopsychisches Entstehungsmodell

Kapitel 5 Behandlung

5.1 Akuttherapie

5.1.1 Nichtmedikamentöse Akuttherapie

5.1.2 Medikamentöse Akuttherapie

5.2 Prophylaxe

5.2.1 Nichtmedikamentöse Prophylaxe

5.2.2 Medikamentöse Prophylaxe

II Behandlungsmanual

Kapitel 6 Indikationen und Ziele des Behandlungsprogramms

Kapitel 7 Behandlungskonzept

7.1 Zeitmanagement in den Sitzungen

7.2 Die Sitzungsphasen

7.3 Übungsformen zur Bearbeitung von Arbeitsblättern

7.4 Entspannung

7.4.1 Achtsames Atmen – Die Atemmeditation

7.4.2 Progressive Muskelrelaxation – Kurzform mit sieben Muskelgruppen

7.4.3 Halswirbelsäulengymnastik zur Reduktion der Muskelspannung

7.4.4 Qigong – Bewegungsmeditation

7.4.5 Imaginationsübung zur Entspannung – Die Trauminsel

7.4.6 Innere Reizabschirmung – Die Glaskugelübung

7.4.7 Massage der Gesichts-, Hals- und Schultermuskulatur

Kapitel 8 Beschreibung der Sitzungen

8.1 Sitzung 1: Psychoedukation – Vermittlung eines Entstehungsmodells der Migräne

8.2 Sitzung 2: Ausbalancierter Lebensstil

8.3 Sitzung 3: Umgang mit Attackenangst

8.4 Sitzung 4: Bewältigung der Migräneattacke

8.5 Sitzung 5: Triggermanagement

8.6 Sitzung 6: Stressbewältigung

8.7 Sitzung 7: Abschluss – Bilanzierung und Rückfallprophylaxe

Anhang

Überblick über die Arbeitsmaterialien im Anhang und auf der CD-ROM

Arbeits- und Informationsblätter zu den Sitzungen

Sitzung 1: Arbeits- und Informationsblätter

Sitzung 2: Arbeits- und Informationsblätter

Sitzung 3: Arbeits- und Informationsblätter

Sitzung 4: Arbeits- und Informationsblätter

Sitzung 5: Arbeits- und Informationsblätter

Sitzung 6: Arbeits- und Informationsblätter

Sitzung 7: Arbeits- und Informationsblätter

Praktische Übungen zur Entspannung: Übungsbeschreibungen

Gewöhnungstraining

Diagnostik

Literatur

Materialien auf CD-ROM

|7|Geleitwort der Präsidentin der DMKG

Migräne hat viele Facetten – die Therapie der Migräne ebenfalls. Das vorliegende Manual zur verhaltenstherapeutischen Behandlung der Migräne ist ein wichtiges Instrument, das das Spektrum einer auf den ersten Blick scheinbar einfachen und bequemen pharmakologischen Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne um die wichtigen verhaltenstherapeutischen Optionen ergänzt und damit wesentlich erweitert. Verhaltenstherapie ist zumindest bei der ganz überwiegenden Zahl mittelschwer bis schwer betroffener Patientinnen und Patienten unverzichtbarer Teil des therapeutischen Gesamtkonzeptes.

Auch wenn Migräne zum Teil leider noch immer zu Unrecht als primär psychische Erkrankung oder schlimmer noch manchmal sogar nur als billige Ausrede betrachtet wird, mehren sich die Personen, die die Schwere der Erkrankung mit all ihren Auswirkungen auf privates, berufliches und gesellschaftliches Leben erkennen und wissen, dass Migräne eine neurobiologische Erkrankung ist. Allerdings wird diese oft genetisch determinierte neurobiologische Erkrankung in ihrem Verlauf bei den Betroffenen individuell ganz unterschiedlich von diversen modifizierbaren Faktoren mitbestimmt. Auf dieser Erkenntnis gründen die verhaltenstherapeutischen Möglichkeiten bei der Migräne.

Das vorliegende Manual ist besonders hilfreich, als es einen fein abgerundeten Gesamtüberblick über das Krankheitsbild Migräne und dessen Therapieoptionen bietet und damit in seinen ersten Kapiteln bereits den Grundstock für das Verständnis der Verhaltenstherapie liefert. Der praktische Teil verdient den Namen „praktisch“, weil die Autoren mit ihrer klinischen Erfahrung in der Behandlung von Kopfschmerzpatienten die verschiedenen Behandlungskonzepte in einen fein und gut strukturierten Therapieplan eingepasst haben und so das Rüstzeug geschaffen haben, alles direkt in der Praxis umzusetzen. Wer nicht selbst primär verhaltenstherapeutisch tätig ist, kann beim Studium des Manuals viel über die verschiedenen Therapiemöglichkeiten lernen und sich den einen oder anderen Kniff abschauen. Für Verhaltenstherapeuten, die bislang ihren Schwerpunkt noch nicht bei den Kopfschmerzpatienten gesehen haben, eröffnen sich durch das Manual hoffentlich neue Perspektiven und Interesse an einer neuen Patientenklientel.

München, 2019

PD Dr. med. Stefanie Förderreuther

Präsidentin der Deutschen Migräne- und

Kopfschmerzgesellschaft e. V. (DMKG)

|8|Vorwort

„Gibt es eigentlich ein Therapiemanual für Migränepatienten?“ Diese von Ausbildungstherapeuten wie auch schon länger praktizierenden Kollegen wiederholt gestellte Frage hat uns inspiriert, ein solches Manual zu entwickeln. Dabei war der Anspruch, die bei Migränepatienten bewährten verhaltenstherapeutischen Therapieelemente (wie z. B. das Entspannungstraining) mit innovativen Ansätzen (wie z. B. dem Triggermanagement) zu einem migränespezifischen, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogramm in optimaler Weise zu kombinieren. Zudem sollte das Behandlungsprogramm möglichst kurz sein, um dem Zeitgeist und dem Bedürfnis nach einer möglichst kompakten Therapie zu entsprechen. Gleichzeitig war unser Bestreben, den praktizierenden Therapeuten ein möglichst umfassendes Spektrum an für Migränepatienten geeigneten Interventionen an die Hand zu geben. Letztendlich haben wir uns auf sieben – modulartig aufgebaute – Sitzungen festgelegt. Diese sind sowohl für das Einzel- als auch für das Gruppensetting geeignet. Dabei haben wir einen flexiblen Einsatz der beschriebenen Behandlungsbausteine vorgesehen. So ist es durchaus sinnvoll und gewünscht, den Schwerpunkt und Umfang der Sitzungen beziehungsweise den Einsatz der Materialien auf die Bedürfnisse der Patienten sowie das Behandlungssetting abzustimmen. Dementsprechend kann eine an unserem Therapiemanual orientierte verhaltenstherapeutische Migränebehandlung deutlich weniger, aber auch deutlich mehr als sieben Therapiesitzungen umfassen. Die im Grundlagenteil dargestellten Inhalte zum Störungsbild der Migräne und biopsychosozialen Krankheitsverständnis sollen dem Therapeuten Fachkompetenz und Sicherheit im Umgang mit Migränepatienten vermitteln.

Die Verhaltenstherapie gilt als evidenzbasierter Therapieansatz zur Migränebehandlung bzw. -prophylaxe. Durchschnittlich kann eine Reduktion der Kopfschmerzaktivität um 35 % bis 50 % sowie eine Reduktion der Funktionseinschränkung bei verbesserter Lebensqualität erwartet werden. Das heißt, dass einige Patienten mehr, einige aber auch weniger stark profitieren. Mit der gegenwärtig laufenden, als randomisiert kontrollierte Studie konzipierten „Migränestudie Mainz“ (Deutsches Register Klinischer Studien, DRKS-ID: DRKS00011111) untersuchen wir, in welchem Ausmaß eine Optimierung bisheriger Behandlungseffekte mit unserem Therapieprogramm erwartet werden kann. Die bisherigen Erfahrungen im Rahmen unserer Studie zeigen, dass das Behandlungsprogramm von den Patienten sehr gut angenommen wird. Die Praktikabilität der Durchführung konnte in einer Pilotstudie (Klan, Liesering-Latta, Gaul, Martin & Witthöft, 2019) bereits nachgewiesen werden.

Bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei Herrn Professor Paul R. Martin (The Australian National University, Canberra, Australien) für die stets produktive Kooperation und die Einblicke in das Triggermanagement, bei Herrn PD Dr. Charly Gaul (Migräne und Kopfschmerzklinik Königstein) für die fachliche Unterstützung bei der Erstellung von Kapitel 4 (Störungstheorien) und 5 (Behandlung), bei Frau Carolin Hüttich (Leipzig) für die professionellen Illustrationen und die Erschaffung der „Migränebohne“ sowie bei den zahlreichen Teilnehmern der Migränestudie Mainz für viele wertvolle Erfahrungen und Hinweise zur Optimierung unseres Migränemanuals.

Wir hoffen, dass wir mit unserem Behandlungsmanual die Versorgungslage von Migränepatienten nachhaltig verbessern und eine wichtige Ergänzung oder Alternative zu den vorhandenen medikamentösen Therapieoptionen liefern können.

Mainz und Königstein, 2019

Timo Klan und Eva Liesering-Latta

|9|I Grundlagen

|11|Kapitel 1Einleitung

Bitte sehen Sie davon ab, Leuten mit Migräne ständig Ratschläge geben zu wollen. Sie haben keine Ahnung, wie mühsam das für uns ist. Sie haben, mit Verlaub, überhaupt keine Ahnung.

Ute Woltron (2016)

Journalistin, Autorin und Migränebetroffene

Die Migräne ist eine sehr häufige Erkrankung, die mit zum Teil erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität und hohen sozioökonomischen Kosten verbunden ist. Weltweit leidet mindestens jeder Zehnte1 an Migräne, man geht derzeit von über einer Milliarde Erkrankten aus (Vos et al., 2017). Frauen sind dabei deutlich häufiger als Männer betroffen, das Verhältnis beträgt 2:1 bis 3:1 (Woldeamanuel & Cowan, 2017; Yoon et al., 2012). Die Prävalenzraten in den Schwellen- und Entwicklungsländern sind ähnlich hoch wie in den Industrienationen (Woldeamanuel & Cowan, 2017), die Migräne ist also keineswegs eine „Luxuserkrankung“.

Kennzeichen der Migräne sind wiederkehrende Attacken von meist einseitigen, mittleren bis starken Kopfschmerzen in Verbindung mit Begleitsymptomen wie z. B. Übelkeit, Erbrechen sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Die Attacken dauern Stunden bis mehrere Tage an. Während der Attacke sind die Betroffenen oft nicht in der Lage, Alltags- oder Freizeitaktivitäten wie gewohnt nachzugehen. Somit ist die Migräne weit mehr als nur eine „vorübergehende Befindlichkeitsstörung“.

Mittlerweile ist sehr viel über die pathophysiologischen Abläufe der Migräneattacke bekannt. Während die Migräne im 19. Jahrhundert, aber auch später noch als psychosomatische bzw. neurotische Störung angesehen wurde, so ist diese inzwischen als neurobiologische Funktionsstörung anerkannt. Gleichwohl spielen neben biologischen auch psychosoziale Faktoren hinsichtlich Krankheitsschwere und -verlauf eine maßgebliche Rolle, sodass ein biopsychosoziales Störungsmodell zugrunde gelegt werden kann.

Migräneartige Kopfschmerzen wurden vermutlich schon von den alten Ägyptern beschrieben, so finden sich bereits in dem Papyrus Ebers (1550 v. Chr.) Hinweise auf einseitige Kopfschmerzen in Verbindung mit Erbrechen (Karenberg & Leitz, 2001). Konkrete Anzeichen einer Migräne einschließlich Symptomen einer Aura wurden erstmals von Hippokrates (ca. 400 v. Chr.) beschrieben (Rapoport & Edmeads, 2000). Der griechische Arzt Galen, der das von Hippokrates entwickelte Konzept des Ungleichgewichts von Körpersäften im 2. Jahrhundert n. Chr. fortführte, kann als Begründer des Begriffs „Migräne“ angesehen werden. So bezeichnete Galen die entweder links- oder rechtsseitig lokalisierten Schmerzen als „hemikrania“ (altgriechisch für „halber Schädel“), was dann später zu der Bezeichnung Migräne wurde (Rapoport & Edmeads, 2000).

Mit der gegenwärtigen Internationalen Kopfschmerzklassifikation (Headache Classification Committee of the International Headache Society [IHS], 2018) steht ein sehr differenziertes Klassifikationssystem zur Diagnostik von Kopfschmerzerkrankungen einschließlich der Migräne zur Verfügung. In der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI], 2019) ist die Migräne im Kapitel VI (Krankheiten des Nervensystems) unter der Ziffer G43.- verortet. Beim Vorliegen relevanter psychischer Faktoren, die zur Aufrechterhaltung oder Verstärkung der Migräne beitragen, besteht darüber hinaus die |12|Option, zusätzlich eine Diagnose aus dem Kapitel V (Psychische und Verhaltensstörungen) der ICD-10 zu stellen. Hierbei bieten sich die Diagnose „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ (F45.41) oder „Psychische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten“ (F54) an (Nilges & Rief, 2010). Aus den beiden genannten F-Diagnosen kann die Indikation einer interdisziplinären Behandlung, also letztendlich die Integration eines psychologischen Behandlungskonzeptes abgeleitet werden.

Das Spektrum der im Laufe der Menschheitsgeschichte eingesetzten Behandlungsverfahren bei Migräne ist sehr breit, es finden sich teilweise recht skurrile, aber auch brutale Therapiemethoden wie die unten beschriebene „Trepanation“. Im alten Ägypten wurde als eine von zahlreichen Behandlungsmethoden bei Kopfschmerzen das Einreiben des Kopfes mit der zuvor in Öl gekochten Asche von Schädeln des Katzenfisches empfohlen (Karenberg & Leitz, 2001). Als eine andere Behandlungsmethode aus dem alten Ägypten ist das Anbinden eines geweihten, mit Kräutern gefüllten Tonkrokodils an den Kopf des Patienten überliefert (s. Abb. 1, Rapoport & Edmeads, 2000).

Abbildung 1: Behandlungsvariante der Migräne im alten Ägypten (Abbildung nach Ägyptischem Papyrus; in Anlehnung an Rapoport & Edmeads, 2000)

In der Steinzeit, also schon lange vor der Hochkultur der Ägypter, bestand eine praktizierte Behandlungsmethode darin, ein Loch in den Schädel des Patienten zu meißeln (sogenannte „Trepanation“, s. Abb. 2), wahrscheinlich, um dadurch bösen Geistern ein Entweichen zu ermöglichen (Rapoport & Edmeads, 2000). Einige Funde von Schädeln mit Spuren einer Trepanation datieren auf ca. 7000 v. Chr. und Hinweise auf neues Knochenwachstum nach einer Trepanation deuten darauf hin, dass einige der Patienten diese Behandlung sogar überlebt haben (Lillie, 1998).

Abbildung 2: Trepanation (Photograph by Rama, Wikimedia Commons, Cc-by-sa-3.0-fr)

Es kann selbstverständlich nicht rekonstruiert werden, woran die mit dieser Operationsmethode behandelten Patienten aus der Steinzeit litten. Allerdings weiß man, dass die Trepanation bis Mitte des 17. Jahrhunderts tatsächlich auch zur Behandlung von Migränepatienten angewendet wurde (Rapoport & Edmeads, 2000). Hippokrates, der ein Ungleichgewicht von Körpersäften als Ursache vieler Erkrankungen, auch der Migräne ansah, empfahl als Behandlungsmethode das Vermeiden von Aktivitäten, die Kopfschmerzen auslösen (Rapoport & Edmeads, 2000) – ein Ansatz, der auch heute noch Relevanz hat und nicht selten empfohlen wird. Es erscheint zunächst sehr plausibel, kopfschmerzauslösende Aktivitäten zu vermeiden („Vermeide das, was dir nicht guttut.“). Allerdings zeichnet sich in den letzten Jahren diesbezüglich ein Paradigmenwechsel ab (Dresler, Klan, Kraya & Kropp, 2019). Potentielle Kopfschmerzauslöser (sog. „Trigger“) wie z. B. „Stress“, „Wetterwechsel“ oder das Einsetzen der Menstruation, können nicht immer vermieden werden. Außerdem kann der Versuch, Trigger stets zu vermeiden selbst zum Stressfaktor werden und den eigenen Handlungsspielraum auf Kosten der Lebensqualität einschränken. Hiervon ausgehend wird inzwischen statt genereller Vermeidung ein Triggermanagement, also ein individueller und differenzierter Umgang mit Triggern empfohlen (Martin & MacLeod, 2009; Martin et al., 2014). Neben dem Erlernen eines optimalen Umgangs mit Triggern können noch weitere sinnvolle verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze bei Migräne genannt werden (Andrasik, 2007; Fritsche & Gaul, 2013): (1) Entspannungsverfahren (z. B. Progressive |13|Muskelrelaxation, Biofeedback) zur Induktion einer allgemeinen psychovegetativen Entspannung, (2) Biofeedback zur Kontrolle unmittelbar kopfschmerzrelevanter Parameter (z. B. Neurofeedback zur Verbesserung der kortikalen Habituation), (3) kognitive Verhaltenstherapie zur Verbesserung der Stressbewältigung (Stressmanagement), (4) Lebensstilberatung und (5) migränespezifische Techniken (z. B. Umgang mit Attackenangst). Grundsätzlich kann verhaltenstherapeutischen Ansätzen eine gute Evidenz in der Migräneprophylaxe attestiert werden (z. B. Penzien, Irby, Smitherman, Rains & Houle, 2015; Kropp et al., 2016). Jedoch ist noch nicht klar, welches der beschriebenen verhaltenstherapeutischen Verfahren bei welchem Patienten am besten wirkt bzw. zu welchem Patienten passt. Jedes der genannten Verfahren hat seine Vor- und Nachteile. Biofeedback hat sich als sehr wirksam erwiesen (Nestoriuc & Martin, 2007), erfordert jedoch eine gewisse Affinität für technisches Equipment – sowohl beim Patienten als auch beim Therapeuten. Auch das Triggermanagement hat sich als vielversprechender Ansatz erwiesen (Martin et al., 2014). Allerdings gibt es Patienten, die nur wenige oder keine Kopfschmerzauslöser benennen, und hier stellt sich die Frage, ob diese von einem umfassenden Triggermanagement profitieren. Für einige Patienten reicht die regelmäßige Anwendung eines Entspannungsverfahrens möglicherweise aus.

Der klinische Praktiker ist derzeit am besten beraten, seinen Migränepatienten verschiedene verhaltenstherapeutische Verfahren vorzuhalten und die für den Patienten geeigneten Verfahren vertieft anzuwenden bzw. – gemäß des Selbstmanagement-Ansatzes – anwenden zu lassen. Es existieren inzwischen durchaus differenzierte Beschreibungen spezifischer verhaltenstherapeutischer Behandlungstechniken bei Kopfschmerzen (z. B. bei Fritsche & Gaul, 2013). Spezifische, für den Praktiker verfügbare verhaltenstherapeutische Behandlungsmanuale für Kopfschmerzpatienten liegen nach unserem Wissen bislang jedoch nur für Kinder- und Jugendliche vor (z. B. Richter et al., 2018). Das Ziel des vorliegenden Manuals ist es daher, ein Behandlungsprogramm für die Anwendung bei erwachsenen Migränepatienten vorzustellen, welches sich in der psychotherapeutischen Praxis gut umsetzen lässt und die wesentlichen verhaltenstherapeutischen Elemente einer effektiven Migräneprophylaxe abdeckt.

1

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die parallele Verwendung von weiblichen und männlichen Formen verzichtet. Selbstverständlich sind Frauen und Männer immer gleichberechtigt gemeint.

|14|Kapitel 2Störungsbild und Diagnostik

2.1 Störungsbild

Die Migräne zeichnet sich durch periodisch auftretende Kopfschmerzattacken mit einer Dauer von 4 bis 72 Stunden aus, welche in der Regel von vegetativen Symptomen begleitet werden. Typische Merkmale der Kopfschmerzattacke sind

die mittelschwere bis hohe Schmerzintensität,

der pulsierende Schmerzcharakter,

die überwiegend einseitige Lokalisation in der Schläfenregion,

die Verstärkung der Kopfschmerzen durch körperliche Anstrengung und

vegetative Begleitsymptome wie Übelkeit und/oder Erbrechen sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit, gelegentlich auch Geruchsempfindlichkeit.

Während der Kopfschmerzattacke besteht üblicherweise ein Ruhe- und Rückzugsbedürfnis. Die Begleitsymptome können z. T. sehr unterschiedlich ausgeprägt vorkommen, was erklärt, warum es Betroffenen manchmal schwerfällt, eine beginnende Migräneattacke von einem Kopfschmerz vom Spannungstyp abzugrenzen. Ein differentialdiagnostisches Kriterium stellt vor allem die Kopfschmerzzunahme durch körperliche Aktivität dar. Werden die Schmerzen z. B. beim schnellen Treppensteigen stärker, spricht das sehr für eine Migräneattacke. Zum schnellen Erkennen einer möglichen Migräne bietet sich für Betroffene der Kopfschmerz-Schnelltest nach Göbel (2014) mit drei Screening-Fragen zu (1) Kopfschmerzzunahme bei körperlicher Aktivität, (2) begleitender Übelkeit und (3) Beeinträchtigung bei Alltagstätigkeiten an.

Abbildung 3: Typischer Verlauf einer Migräneattacke

Die Migräneattacke ist jedoch mehr als „nur“ eine Kopfschmerzattacke mit vegetativen Begleitsymptomen. Insgesamt lassen sich vier Phasen beschreiben, die zeitlich aufeinander folgen (s. Abb. 3). Die Prodromalphase umfasst verschiedene körperliche und |15|psychische Symptome (sogenannte „Vorboten“), die Stunden oder bis zu zwei Tage vor der eigentlichen Kopfschmerzphase auftreten können. Angaben zur Prävalenz von Prodromalsyndromen bei Migränebetroffenen sind uneinheitlich und reichen von 7 bis 88 % (Rossi, Ambrosini & Buzzi, 2005). Berichtet werden Veränderungen der Stimmung und Vitalität wie Reizbarkeit, Depressivität und Müdigkeit, aber auch Euphorie und Hyperaktivität sowie Konzentrationsprobleme, sensorische Überempfindlichkeit, Nackenverspannungen, Heißhunger, Durst und vermehrtes Gähnen. Bei ca. 15 % der Migränebetroffenen tritt außerdem kurz vor der Kopfschmerzphase eine Aura auf (Fritsche & Gaul, 2017). Bei der Aura kommt es zu neurologischen Reiz- und Ausfallerscheinungen wie vor allem Sehstörungen (z. B. Einschränkung des Gesichtsfelds, Sehen von Zick-Zack-Linien), aber auch Sprachstörungen, körperlichen Missempfindungen oder Lähmungen. Diese Symptome entwickeln sich meist innerhalb von 5 bis 20 Minuten und klingen in der Regel innerhalb von 60 Minuten vollständig wieder ab. Die Kopfschmerzen können bereits während der Aura einsetzen, treten jedoch meistens im Anschluss auf. Selten können Auren auch ohne Kopfschmerzen auftreten (sogenannte „isolierte Aura“). Auf die eigentliche Kopfschmerzphase mit den typischen vegetativen Begleitsymptomen folgt die Erholungsphase (auch Postdromalphase), die bis zu zwei Tage anhalten kann. In einer Studie von Kelman (2006) berichteten 68 % der untersuchten Migränepatienten postdromale Symptome, die häufigsten waren Müdigkeit, leichterer Kopfschmerz, kognitive Defizite und „katerartige“ Beschwerden. Die durchschnittliche Dauer der Erholungsphase lag bei 24 Stunden.

Die Erkrankungsschwere (Häufigkeit, Dauer, Intensität von Migräneattacken) ist interindividuell sehr variabel. Auch intraindividuell können sich Frequenz und Ausprägung der Migräneattacken im Laufe des Lebens stark verändern. Während sich die Migräne in den meisten Fällen mit abgrenzbaren Attacken (Episodische Migräne) manifestiert, kann es bei einigen Patienten zur Chronifizierung mit einer deutlichen Zunahme von Kopfschmerztagen (Chronische Migräne) kommen. Die Chronische Migräne ist hierbei u. a. durch mindestens 15 Kopfschmerztage pro Monat charakterisiert. Hierunter können sich neben migräneartigen Kopfschmerzen auch Kopfschmerzen vom Spannungstyp subsummieren. Die Betroffenen berichten meist von einer Zunahme der Kopfschmerzhäufigkeit über die Jahre bei gleichzeitiger Abnahme der migränetypischen Begleitsymptome. In ca. 50 % der Fälle geht die chronische Migräne mit einem Medikamentenübergebrauch einher (Schwedt, 2014) welcher dann als zusätzliche Diagnose kodiert wird. Als Risikofaktoren der Chronifizierung gelten u.a. Übergewicht, komorbide psychische Störungen, ein Medikamentenübergebrauch, stressbelastete Lebensereignisse und Schlafstörungen (Schwedt, 2014).

2.2 Diagnostik

2.2.1 Kopfschmerzklassifikation nach ICHD-3 und ICD-10

Die medizinische Diagnose von Kopfschmerzen orientiert sich an der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD) der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS). Diese wurde Anfang 2018 in der dritten überarbeiteten Version veröffentlicht (Headache Classification Committee of the International Headache Society [IHS], 2018). Die Klassifikation ist hierarchisch aufgebaut mit Einteilung von Hauptgruppen, Subtypen sowie Unterformen und unterscheidet über 250 Kopfschmerzarten. Sie ist Maßstab für die bisher weniger ausdifferenzierte, aber im klinischen Alltag verwendete Internationale Krankheitsklassifikation ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI], 2019).

Grundsätzlich unterscheidet die IHS-Klassifikation primäre von sekundären Kopfschmerzerkrankungen. Bei den primären Kopfschmerzen stellt der Kopfschmerz selbst die Erkrankung dar, es liegt keine strukturelle oder andere Erkrankung zugrunde. Die häufigsten Formen sind (1) Migräne und (2) der Kopfschmerz vom Spannungstyp. Als weitere Kategorien primärer Kopfschmerzen werden (3) die Trigeminoautonomen Kopfschmerzerkrankungen (zu denen auch der Clusterkopfschmerz zählt) und (4) Andere primäre Kopfschmerzen unterschieden. In der ICD-10 sind die primären Kopfschmerzen im Kapitel VI (Krankheiten des Nervensystems) verortet.

Bei den sekundären Kopfschmerzerkrankungen ist der Kopfschmerz Folge- bzw. Begleiterscheinung einer anderen Erkrankung. Nur etwa 8 % aller Kopfschmerzerkrankungen sind sekundär (Förderreuther & Straube, 2016). Das Spektrum der sekundären Kopfschmerzen ist weit und umfasst lebensbedrohliche Notfälle wie Hirnblutungen oder Infektionen, Kopfschmerzen im Rahmen einer Erkältung, Kopfschmerzen die auf eine Substanz oder deren Entzug zurückzuführen sind oder Kopfschmerzen, die einer psychischen Störung (z. B. Somatisierungsstörung) zugeordnet werden können.

|16|Nachfolgend werden die operationalen Diagnosekriterien gemäß der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen (ICHD-3) für die drei prominentesten Migränetypen aufgeführt (s. Tab. 1).

Tabelle 1: Diagnostische Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS)2

Migränetyp

ICHD-3 Kode

ICD-10 Kode

Migräne ohne Aura

1.1

G43.0

A.

Mindestens fünf Attacken1, welche die Kriterien B bis D erfüllen

B.

Kopfschmerzattacken, die (unbehandelt oder erfolglos behandelt) 4 bis 72 Stunden anhalten

C.

Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden vier Charakteristika auf:

1.

einseitige Lokalisation

2.

pulsierender Charakter

3.

mittlere oder starke Schmerzintensität

4.

Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten (z. B. Gehen oder Treppensteigen) oder deren Vermeidung

C.

Während des Kopfschmerzes besteht mindestens eins der folgenden Symptome:

1.

Übelkeit und/oder Erbrechen

2.

Licht- und Geräuschempfindlichkeit

D.

Die Symptomatik kann nicht besser durch eine andere ICHD-3-Diagnose erklärt werden.

Migräne mit Aura

1.2

G43.1

Mindestens zwei Attacken, die die Kriterien B und C erfüllen

Ein oder mehrere der folgenden vollständig reversiblen Aurasymptome:

visuell

sensorisch

Sprechen und/oder Sprache

motorisch

Hirnstamm

retinal

Mindestens drei der folgenden sechs Merkmale sind erfüllt:

wenigstens ein Aurasymptom entwickelt sich allmählich über ≥ 5 Minuten hinweg

zwei oder mehr Aurasymptome treten nacheinander auf

jedes Aurasymptom hält 5 bis 60 Minuten an

mindestens ein Aurasymptom ist einseitig

mindestens ein Aurasymptom ist positiv2

Die Aura wird von Kopfschmerz begleitet oder dieser folgt ihr innerhalb von 60 Minuten

Die Symptomatik kann nicht besser durch eine andere ICHD-3-Diagnose erklärt werden.

Chronische Migräne

1.3

G43.3

Kopfschmerz (migräneartig oder vom Spannungstyp)3 an ≥ 15 Tagen/Monat über > 3 Monate, welcher die Kriterien B und C erfüllt

Auftreten bei einem Patienten, der mindestens fünf Attacken gehabt hat, welche die Kriterien B bis D für eine 1.1 Migräne ohne Aura und/oder die Kriterien B und C für eine 1.2 Migräne mit Aura erfüllten

|17|An ≥ 8 Tagen/Monat über > 3 Monate, wobei einer der folgenden Punkte erfüllt ist:

Kriterium C und D für eine 1.1 Migräne ohne Aura

Kriterium B und C für eine 1.2 Migräne mit Aura

Der Patient geht bei Kopfschmerzbeginn von einer Migräne aus und der Kopfschmerz lässt sich durch ein Triptan- oder Ergotaminderivat lindern

Die Symptomatik kann nicht besser durch eine andere ICHD-3-Diagnose erklärt werden.

Anmerkungen:1Bei Personen mit weniger als fünf Attacken sollte eine „Wahrscheinliche Migräne ohne Aura“ (ICHD-3 1.5.1) kodiert werden. 2Ein positives Aurasymptom bedeutet eine zusätzliche Wahrnehmung wie beispielsweise das Sehen von Zick-Zack-Linien (sog. Fortifikationen). Ein negatives Aurasymptom ist z. B. ein Gesichtsfeldausfall mit einem Verlust der Wahrnehmung von Strukturen. 3Da sich Kopfschmerzen vom Spannungstyp unter dieser Diagnose subsummieren, kann nicht zusätzlich die Diagnose 2. Kopfschmerz vom Spannungstyp gestellt werden.

2.2.2 Komplikationen der Migräne

Neben der Chronischen Migräne, die bereits als Komplikationsform der „normalen“ Migräne gewertet werden kann, stellt der Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch eine nicht seltene weitere Komplikationsform dar. Durch die häufige Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln kann ein vorbestehender primärer Kopfschmerz, insbesondere die Migräne, zunehmen und chronifizieren. Gemäß den Kriterien der IHS besteht ein Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch, wenn ein Patient mit vorbestehender primärer Kopfschmerzerkrankung an mindestens 15 Tagen pro Monat unter Kopfschmerzen leidet und ein regelmäßiger Übergebrauch von einem oder mehreren Medikamenten zur Behandlung akuter Kopfschmerzepisoden über einen Zeitraum von über drei Monaten vorliegt. Übergebrauch ist definiert als entweder (a) die Einnahme an mindestens 10 Tagen pro Monat von Ergotaminen, Triptanen, Opioiden oder Kombinationsanalgetika oder (b) die Einnahme an mindestens 15 Tagen pro Monat von Monoanalgetika (Diener, Gaul & Kropp, 2018a). Dabei gilt, dass die Grenzwerte immer durch die Anzahl der Einnahmetage gezählt werden und nicht durch die Anzahl der eingenommenen Medikamente pro Tag. Der Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch (ICHD-3-Kode: 8.2) zählt zu den sekundären Kopfschmerzen und kann zusätzlich zu der Diagnose eines primären Kopfschmerzes gestellt werden.

Eine weitere Komplikationsform ist u.a. der Migränestatus („Status migraenosus“), der als über 72 Stunden andauernde schwere Migräneattacke definiert wird. Hierbei sprechen die Betroffenen auf die übliche Migränemedikation meistens nicht oder kaum an (Totzeck & Diener, 2016).

2.2.3 Ärztliche Diagnosestellung

Die ärztliche Diagnose einer Kopfschmerzerkrankung erfolgt anhand einer an den ICHD-Kriterien orientierten Anamnese, ergänzt durch eine körperliche Untersuchung mit neurologischem Befund. Zur Unterstützung der Kopfschmerzanamnese eignet sich der Einsatz von Kopfschmerztagebüchern, welche in der Regel die Schmerzart (Stärke, Dauer, Qualität), den Schmerzort, mögliche Begleitsymptome, potenzielle Auslöser und die Medikamenteneinnahme und -wirkung erfassen (s. Arbeitsblatt 1.3). Die folgenden Warnsignale (sogenannte „Red Flags“) geben Hinweis auf das Vorliegen eines sekundären Kopfschmerzes bei einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung oder Verletzung (Holle & Obermann, 2013).

Warnsignale für das Vorliegen sekundärer Kopfschmerzen bei einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung oder Verletzung (nach Holle & Obermann, 2013)

Auffälligkeiten im neurologischen oder psychopathologischen Befund

neu aufgetretener Kopfschmerz bei älteren Patienten

Kopfschmerz „wie noch nie“

Donnerschlagkopfschmerz (plötzlicher Beginn, max. Intensität)

Kopfschmerzen mit Hinweis auf eine systemische Erkrankung (Fieber, Nackensteife, Ausschlag)

Kopfschmerz mit ungewöhnlichen Begleitsymptomen (z. B. Koordinationsstörungen)

Kopfschmerz nach körperlichem Trauma bzw. Kopfverletzung

Kopfschmerzen bei Patienten mit einem Risiko für HIV oder einer Tumorerkrankung

|18|Im Falle eines auffälligen neurologischen Befunds, unklarer Kopfschmerzen bzw. eines Verdachts auf sekundäre Kopfschmerzen kommen gezielte Zusatzuntersuchungen (z. B. bildgebende Verfahren) zum Einsatz.

2.2.4 Psychologische Kopfschmerzdiagnostik

Neben der im psychotherapeutischen Kontext üblichen Anamnese (z. B. Erfassung der aktuellen Lebenssituation, lebensgeschichtliche Entwicklung) gibt es im Rahmen der kopfschmerzspezifischen Diagnostik einige inhaltliche Besonderheiten, auf die nachfolgend eingegangen werden soll. Außerdem hat die psychologische Exploration neben der Erhebung diagnostischer Informationen eine wichtige Bedeutung für die Schaffung eines tragfähigen Arbeitsbündnisses zwischen Behandler und Patient. Besteht bei dem Betroffen bisher ein einseitig somatisches Krankheitsmodell oder erlebt er den Termin beim Psychologen gar als Infragestellen der Glaubwürdigkeit seines Schmerzerlebens, wird er sich verständlicherweise skeptisch zeigen. Um mögliche Sorgen vor einer Psychopathologisierung zu entkräften, das Vertrauen in die Behandlerkompetenz zu stärken und Aufgeschlossenheit für psychologische Behandlungsansätze zu schaffen, empfiehlt sich ein eigenes medizinisch-somatisches Krankheitswissen, Offenheit für das bisherige Krankheitskonzept des Patienten und die frühe Integration psychoedukativer Inhalte.

Zur Indikationsstellung und Planung einer psychologischen (Mit-)Behandlung werden Informationen zu folgenden fünf Bereichen benötigt:

der Schmerzsymptomatik

den kopfschmerzbedingten Beeinträchtigungen,

dem Ausmaß psychischer Belastung

der Art der Krankheitsverarbeitung und

dem Vorhandensein relevanter Einflussfaktoren auf die Kopfschmerzerkrankung (z. B. Stressbelastung, Lebensstilfaktoren).

Im Folgenden werden Themenbereiche der psychologischen Kopfschmerzanamnese und unterstützende Fragebögen (Selbstbeurteilungsverfahren) vorgestellt (Übersicht s. Tab. 2). Einige ausgewählte kopfschmerzspezifische Verfahren finden sich im und auf der CD-ROM unter Diagnostik – kopfschmerzspezifische Fragebögen. Für eine ausführlichere Darstellung weiterer Verfahren in der psychologischen Schmerzdiagnostik wird auf entsprechende Kapitel in dem Band „Schmerzpsychotherapie“ von Kröner-Herwig, Frettlöh, Klinger und Nilges (2017) verwiesen (Kapitel 11, 12, 13).

Schmerzsymptomatik

Auch die psychologische Anamnese sollte mit der Erfassung der aktuellen Schmerzsymptomatik (Schmerzlokalisation, -stärke, -qualität, -häufigkeit und -dauer) beginnen. Zur Unterstützung eignet sich ein Kopfschmerztagebuch (s. Arbeitsblatt 1.3). Neben dem diagnostischen Nutzen kann ein Kopfschmerztagebuch die Selbstbeobachtungsfähigkeit des Patienten fördern und bereits Basisinformationen zur Analyse auslösender und verstärkender Bedingungen liefern. Dabei sollte ein Kopfschmerztagebuch immer mit Zielsetzung „verordnet“ werden (z. B. Erkennen von Einflussfaktoren, Überprüfung der Wirkung einer Intervention) und in den Sitzungen regelmäßig besprochen werden. Insbesondere wenn sich Hinweise auf die Entwicklung bzw. Verstärkung einer übermäßigen Krankheits- und Triggerfixierung durch das Führen eines Schmerztagebuches ergeben, sollten die Dauer des Einsatzes sowie die Ausführlichkeit der Dokumentation begrenzt werden.

Der Beginn der Kopfschmerzerkrankung und vor allem die Zunahme und Chronifizierung der Symptomatik können häufig mit Phasen erhöhter psychosozialer Belastung in Zusammenhang gebracht werden. Zur Veranschaulichung bietet sich die Erstellung einer Zeitleiste mit Lebensabschnitten und -ereignissen an, entlang derer die Kopfschmerzschwere wie auch ggf. der Medikamentenkonsum und die Ausprägung begleitender psychischer Beschwerden eingetragen werden kann. Hiervon ausgehend können gemeinsam mit dem Patienten Merkmale „guter“ und „schlechter“ Kopfschmerzphasen herausgearbeitet und gegebenenfalls therapeutische Ansatzpunkte abgeleitet werden (z. B. Verbesserung des Stressmanagements, Ressourcenaktivierung). Die Geschichte bisheriger Behandlungsversuche kann erste Hinweise auf das Krankheits- und Gesundheitskonzept des Patienten (z. B. externale Kontrollüberzeugung) liefern.

Kopfschmerzbedingte Beeinträchtigung

Neben der Linderung der Kopfschmerzsymptomatik stellt die Minderung der krankheitsbedingten funktionalen und affektiven Beeinträchtigung eine wichtige Zielvariable psychologischer Schmerztherapie dar. Zur Einschätzung der funktionalen Beeinträchtigung sollten alle Lebensbereiche des Betroffenen wie Arbeit/Schule, Haushalt, Familie, Partnerschaft, Sexualität, Freizeit und Freundschaften einbezogen werden.

|19|Zur psychometrischen Erfassung der funktionalen Beeinträchtigung steht spezifisch für Patienten mit Migräne der MIDAS-Fragebogen (deutsche Übersetzung der Migraine Disability Assessment Scale;Agosti, Chrubasik & Kohlmann, 2008) zur Verfügung. Er bezieht sich auf den Zeitraum der letzten 3 Monate und umfasst 5 Items zur migränebedingten Beeinträchtigung in den Bereichen Arbeit/Schule, Haushalt und Freizeit sowie 2 Zusatzfragen zu Häufigkeit und Intensität der Kopfschmerzen. Die Auswertung erlaubt eine Zuordnung der Beeinträchtigung in einen von vier Schweregraden.

Tabelle 2: Verfahren zur psychologischen Kopfschmerzdiagnostik

Bereich

Verfahren

Quellen

Schmerzsymptomatik

Kopfschmerztagebuch

s. Arbeitsblatt 1.3 auf der CD-ROM/im

Kopfschmerzbedingte Beeinträchtigung

MIDAS (Migraine Disability Assessment Scale)

Dt. Übersetzung der Migraine Disability Assessment Scale von Agosti, Chrubasik & Kohlmann (2008); dt. Fragebogen im Artikel abgedruckt

IBK (Inventar zur Beeinträchtigung durch Kopfschmerzen)

s. IBK auf der CD-ROM/im

HIT-6™ (Headache Impact Test)

Dt. Übersetzung von Gandek, Alacoque, Uzun, Andrew-Hobbs & Davis (2003)

Psychische Belastung

HADS-D (Hospital Anxiety and Depression Scale)

www.testzentrale.de

DASS (Depressions-Angst-Stress-Skalen)

Bestandteil des DSF der DGSS (https://www.dgss.org/deutscher-schmerzfragebogen/)

Krankheitsverarbeitung

FESV (Fragebogen zur Erfassung der Schmerzverarbeitung)

www.testzentrale.de

HTSAQ-G (Headache Triggers Sensitivity and Avoidance Questionnaire)

Dt. Version von Caroli et al. (2019); s. HTSAQ-G auf der CD-ROM/im

HSME-G (Headache Management Self-Efficacy Scale) bzw. FKMS (Fragebogen zum Kopfschmerzmanagement und zur Selbstwirksamkeitserwartung)

s. FKMS auf der CD-ROM/im

Einflussfaktoren

Kopfschmerztagebuch

s. Arbeitsblatt 1.3 auf der CD-ROM/im

Zeitleiste

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