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Ein Jahr. Eine Reise. Ein großer Lebenswandel.
Auf ihrer Suche nach dem kokoro, dem achtsamen Herzen, unternimmt die Japanologin Beth Kempton eine Pilgerreise durch das ländliche Japan und findet Antworten auf einige der größten Fragen des Lebens: Wie können wir die Vergangenheit loslassen und aufhören, uns ständig um die Zukunft zu sorgen? Wie finden wir Ruhe und Schönheit im Chaos?
Sie fährt in den tiefen Norden Japans, wandert durch uralte Wälder, sieht den Mond über mythischen Bergen aufgehen und begegnet unterwegs einer Vielzahl weiser Lehrer: Köchen, Taxifahrern, Kaffeehausbesitzern, Dichtern, Philosophen und den Geistern, die das Land bewohnen. Immer auf der Suche nach dem Kokoro – dem achtsamen Herz, das Körper und Geist verbindet.
Dieses Buch ist eine Einladung, Stille und Zufriedenheit in einer sich ständig verändernden Welt zu entdecken. Wer sich vom Licht des eigenen Kokoro leiten lässt, sieht das Leben mit anderen Augen.
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2025
Beth Kempton
Kokoro
心
Japanische Weisheiten für ein gelungenes Leben
Aus dem Englischen von Sabine Mangold
Insel Verlag
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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Kokoro: Japanese Wisdom for a Life Well Lived bei Piatkus Books, London.
eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025© Beth Kempton 2024
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Umschlaggestaltung unter Verwendung des Originalumschlags von Piatkus/Hachette UK
eISBN 978-3-458-78293-3
www.insel-verlag.de
Dieses Buch ist meiner Freundin Lisa Moncrieff, 1981-2022, und meiner Mutter Christine Nicholls, 1944-2023, gewidmet.
Ich werde euch immer in meinem Herzen tragen.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Hinweise zur Verwendung des Japanischen
Vorwort
Prolog
Einleitung
Teil I: Hagurosan. Begegnung mit der Gegenwart auf dem Schwarzflügel-Berg
Kapitel 1
–
Leben. Die Schriftrolle wird entrollt
Kapitel 2
–
Die Achtsamkeit des Herzens. Blumen arrangieren
Kapitel 3
–
Stille. Beredtes Schweigen
Kapitel 4
–
Zeit. Eine Donnerstimme
Teil II: Gassan. Im Schatten des Todes auf dem Mondberg
Kapitel 5
–
Sterblichkeit. Hier. Nicht hier.
Kapitel 6
–
Fallen. Loslassen. Getragen werden.
Kapitel 7
–
Befreiung. Reisen mit leichtem Gepäck
Kapitel 8
–
Altern. Die Schichten des Lebens
Teil III: Yudonosan. Wiedergeburt auf dem Berg der Heiligen Quelle
Kapitel 9
–
Rückkehr. Werden, was wir sind
Kapitel 10
–
Ernährung. Gutes rein. Gutes raus.
Kapitel 11
–
Aus vollem Herzen. ›Jetzt‹ ist der richtige Zeitpunkt
Kapitel 12
–
Intentionalität. Dieser Tag ist ein Geschenk
Epilog
Anatomie des
kokoro
Reisetipps. Tipps für entschleunigtes Reisen in Japan
Danksagung
Anmerkungen
Hinweise zur Verwendung des Japanischen
Vorwort
Kapitel 1 – Leben
Kapitel 2 – Die Achtsamkeit des Herzens
Kapitel 3 – Stille
Kapitel 4 – Zeit
Kapitel 5 – Sterblichkeit
Kapitel 6 – Fallen
Kapitel 7 – Befreiung
Kapitel 8 – Altern
Kapitel 9 – Rückkehr
Kapitel 10 – Ernährung
Kapitel 11 – Aus vollem Herzen
Kapitel 12 – Intentionalität
Anatomie des kokoro
Informationen zum Buch
In diesem Buch wird das Hepburn-System zur Romanisierung japanischer Begriffe verwendet, einschließlich der Namen von Personen, wobei lange Vokale mit einem Makron versehen sind. Es gibt jedoch einige Ausnahmen bei bekannten Ortsnamen wie Tokio und Kyoto sowie bei den im Deutschen gebräuchlichen Fremdwörtern (z.B. Aikido statt aikidō oder Noh statt nō), wo auf Makrons verzichtet wird.
Japanische Personennamen wurden zur einfacheren Orientierung in der Reihenfolge Vorname gefolgt vom Nachnamen geschrieben, außer bei historischen Persönlichkeiten, die in der traditionellen japanischen Namensreihenfolge (Familienname zuerst) bekannt sind.
Bei Personen wird manchmal das Suffix -san (Herr/Frau) als Ausdruck der Höflichkeit verwendet. Berge können ebenfalls mit -san bezeichnet werden (wie ›Fujisan‹ für den Fuji), wobei in diesem Fall das Suffix für ›Berg‹ steht. Wenn das Suffix -sensei verwendet wird, bezieht es sich auf einen Meister, Lehrer oder Professor. Das Suffix -rōshi nach einem Namen verweist auf einen Zen-Meister.
Für die Kapitelüberschriften der drei Teile dieses Buches habe ich um der Poesie willen die literarische Übersetzung der chinesischen Schriftzeichen verwendet, aus denen sich die Namen der drei Berge von Dewa zusammensetzen: Schwarzer Flügel, Mond, Heilige Quelle, während sie normalerweise nur unter ihren Eigennamen Hagurosan, Gassan und Yudonosan bekannt sind.1
In diesem Text verweise ich mehrfach auf die Werke des Zen-Meisters Eihei Dōgen, der im dreizehnten Jahrhundert in Japan lebte.2 Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, seine Originallehren ausführlicher zu behandeln, die für sich allein ganze Bände einnehmen. Stattdessen gehe ich im Kontext meiner aufgeworfenen Fragen mit persönlichen Antworten auf seine Lehren ein.
Anfang vierzig hatte ich eine seltsame Erfahrung auf Yatsugatake, der vulkanischen Gebirgskette, die sich von Nagano bis Yamanashi im Herzen der Hauptinsel Honshū erstreckt. Es ist die Heimat von Gleithörnchen, Marderhunden, Füchsen und Bären, dessen reiche Flora und Fauna seit der Frühgeschichte Japans (Jōmon-Kultur) das menschliche Leben begleitet, belegt durch Artefakte, die dort gefunden wurden und tausende von Jahren zurückreichen.1
Ich hatte diese Region zuvor schon häufiger besucht. Damals lebte ich in Tokio und flüchtete jedes Mal nach Yatsugatake, wenn ich das Bedürfnis hatte, mein kokoro zu beruhigen. Aber an jenem Tag war es anders.
Als ich so still dastand, die Erde von Yatsugatake unter mir spürend, fühlte ich eine zeitlose Verbindung zu den Menschen, die vor zehntausend Jahren dort lebten, sowie zu all denen, die seither dort gelebt haben, jetzt dort leben und in Zukunft dort leben werden. Durch dieses Gefühl der Verbundenheit begann ich zu begreifen, wie Leben und Tod in der japanischen Kultur auf drei verschiedenen Ebenen betrachtet werden.
Die Oberfläche bildet die moderne materielle Sichtweise des Individuums, nach der man nicht mehr existiert, wenn man stirbt. Auf einer anderen Ebene befindet sich die buddhistische Perspektive, die im sechsten Jahrhundert in Japan Einzug hielt und eine konzeptionelle, abstrakte Idee vertritt, die im Universalen verankert ist. Die einheimische Shintō-Religion als dritte Schicht verbindet sich in einer sehr konkreten Weise mit der Natur. Nach ihrer Auffassung ist die Natur an sich einsichtig, in ihr verschmelzen Sein und Nichtsein. Dieses Konzept ist tiefgreifender als der bloße Kreislauf des Lebens und übergreifender, indem es den Ursprung der Welt miteinbezieht. Der Shintō-Glaube ist verknüpft mit der Energie, die in uns und allem waltet. Er bringt uns zu Bewusstsein, dass der Natur selbst eine Art Spiritualität innewohnt.
Was ich dort erfahren habe, veränderte meine Sicht auf das Sterben, und damit auch die aufs Leben. Ich fühlte mich völlig losgelöst. Mein kokoro war befreit.
Viele Aspekte der japanischen Kultur sind schwer zu vermitteln, aber ein Versuch lohnt sich immer. Mit Beth habe ich viele Stunden über das Leben, den Tod und die Bedeutung des kokoro gesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass sie Ihnen als verlässliche Begleiterin zur Seite stehen wird.
Wir befinden uns nun in einer Phase des Übergangs, in der unser bloßes Dasein vom Wandel materiellen Wachstums zum spirituellen abhängt. Unsere Lebensauffassung hat Auswirkungen auf die Zukunft der menschlichen Gesellschaft. Es ist entscheidend, dass wir darüber nachdenken, wie wir leben, individuell und kollektiv, damit wir das Beste aus unserem Leben machen und Entscheidungen treffen, die der Menschheit und der Natur weit über unsere eigene Existenz hinaus zugutekommen.
Bleiben Sie gesund und munter auf der Reise Ihres Lebens!
Professor Yoshinori HiroiKyoto UniversitätInstitut für die zukünftige Gesellschaft (ehemals ›kokoro-Forschungszentrum‹)
»Hast du geträumt?«, fragt er und zieht die Jalousien hoch, um die frühen Lichtreflexe des Morgens hereinzulassen.
»Ach, nur das Übliche«, sage ich und gieße mir eine Tasse Tee ein.
Aber wenn ich darüber nachdenke, ist das ›Übliche‹ keineswegs banal, es sei denn, man findet es normal, dass ich seit meinem 40.Lebensjahr den immer wiederkehrenden Traum habe, in dem ein glatzköpfiger Mann in einer dunklen Robe erscheint, die aus dem Stoff der Nacht gewebt zu sein scheint. Und dass diese Gestalt eine Kugel aus intensivem goldenen Licht trägt, die nur den jeweiligen Moment vor ihm erhellt, nicht aber den dunklen Raum ringsherum. Und dass ich die Anwesenheit von drei schemenhaften Unbekannten spüre, ohne mich vor ihnen zu fürchten.
Ich nehme meine Tasse Tee mit ins Büro. Ich zünde eine Kerze an, so wie an den meisten Tagen morgens um fünf. Und ich beginne die Geschichte des Mannes aufzuschreiben, und die der Lichtkugel. Schreibe über Leben und Tod – und das Leben danach.
Eine Geschichte über die Entdeckung der Weisheit des Herzens. Eine Erzählung über das Entwirren der Zeit.
Japan schickte mir einen Brief, als ich siebzehn war. Geschrieben in einer der komplexesten und schönsten Schriftsprachen der Welt, habe ich zunächst kein Wort entziffern können. Ich starrte auf den Text, bis die Zeichen verschwammen und um mich herumwirbelten. Sie benetzten meine Haut und verschmolzen mit ihr. So macht das Japan, verstehen Sie? Es kommt leise daher und verlässt einen nicht mehr.
Vor fast drei Jahrzehnten packte ich mein Jugendzimmer samt drei dicken, nagelneuen Wörterbüchern in einen Koffer und reiste für ein Jahr dorthin. Oberflächlich betrachtet, zog es mich in den Fernen Osten, um die Sprache zu erlernen, aber da war noch mehr. Tief in meinem Innern spürte ich eine Anziehungskraft, die Verlockung eines bedeutsamen Geheimnisses, das sich womöglich in den Schichten der japanischen Lebensart verbarg.
Als die Bombe platzte und ich meine angestrebte Laufbahn mit Wirtschaftsstudium und Buchführung an den Nagel hängte, um die Chance eines exotischen Abenteuers wahrzunehmen, schleppte mich meine Mutter in eine Buchhandlung, anstatt mich von dem Vorhaben abzubringen. Wir gingen in die Tourismusabteilung, wo es nur eine Handvoll Bücher über Japan gab. Ich griff nach einem Reiseführer mit einer schneebedeckten Pagode auf dem Titelbild und verspürte ein Kribbeln.
Später, ausgestreckt auf dem Bett, blätterte ich im Buch herum und sah mir die Abbildungen an. Ganz schlicht lag da ein Fächer auf dunklen Holzdielen neben einem geharkten Sandgarten. An anderer Stelle posierte ein Kind vor einer Kulisse aus riesigen daikons (Winterrettiche von einer unfassbaren Größe). Auf einem Foto spannte sich eine rote Bogenbrücke über einen reißenden Fluss. Gegenüber eine Reihe moosbewachsener Statuen, verharrend im Schatten des Waldes. Es war die Rede von Vulkanen, Reisfeldern, tropischen Inseln und verwunschenen Schreinen.
Ich war nur einmal im Ausland gewesen, in Frankreich, auf einer Klassenfahrt. Japan war eine Welt, die bisher nur in meiner Fantasie existierte, aber dennoch spürte ich beim Anblick der Szene, wo zwei Gestalten in einer schattigen Tempelhalle kontemplativ auf den hellen Garten nach draußen schauten, etwas Bedeutsames, das mich nie mehr verließ.
Die verborgene Wahrheit einer gelungenen Lebensweise.
Diese Affinität zu Japan hat mich seitdem wie lockender Sirenengesang begleitet. Indem ich meinem inneren Ruf folgte, sind mir viele Begegnungen mit Menschen beschert worden, deren Ansichten und Lebensweisen mein eigenes Dasein positiv beeinflusst haben. Es sollte also nicht verwundern, dass ich in meiner Midlife-Phase unter der Oberfläche meines durchstrukturierten Alltags von einem neuerlichen Beben erfasst wurde, das mich abermals dorthin zog.
Als ich damals anfing Japanologie zu studieren, war 心 eines der ersten erlernten Kanjis, das zwei unterschiedliche Lesungen kokoro bzw. (sinojapanisch) ›shin‹ zulässt. Ich war fasziniert von seiner Schlichtheit und wie die vier Pinselstriche in ihrer organischen Fügung wie von Zauberhand übers Papier glitten. In direkter Übersetzung bedeutet dieses Zeichen ›Herz‹, lernte ich damals. Im japanischen Alltag ist kokoro allgegenwärtig, sei es als Element von Kalligrafien in Tempeln, auf Plakaten, in der Werbung, in Firmenlogos oder in der Poesie sowie in der Konversation. Dennoch spielt der Begriff auf etwas Unsichtbares und Intimes an. Würde man hundert japanische Muttersprachler*innen danach befragen, würde man vermutlich hundert unterschiedliche Erklärungen erhalten.
Mit der Zeit war mir aufgefallen, dass in der englischsprachigen Literatur über Zen, Noh-Theater, Kampfkünste und dergleichen kokoro – je nach Kontext – auch mit ›Gemüt‹, ›Geist‹ oder ›Seele‹ assoziiert wird. Ich fand es faszinierend, aber auch verwirrend, da sich diese Ausdrücke in meiner Muttersprache auf recht unterschiedliche Bereiche beziehen.
Als mich die Midlife-Krise heimsuchte und mir eine Fülle ungelöster Fragen auf der Seele brannten, ahnte ich bereits instinktiv, dass kokoro einen gehörigen Anteil an der Antwort haben würde.
Selbst jetzt noch, nach fünf Jahren Forschung, fällt es mir schwer, eine eindeutige Definition von kokoro zu liefern, eben weil der Begriff eine so vielfältige Verwendung hat. Trotzdem erlaube man mir einen vorläufigen Versuch.
Kokoro ist das intelligente Herz, das unsere angeborene Weisheit kommuniziert und auf das Hier und Jetzt unserer Umwelt reagiert, was in Form empfundener Impulse geschieht. Es ist die Quelle unserer angeborenen Weisheit – eine tief verwurzelte Weisheit, die von jeglichem gesellschaftlichen Druck, Erwartungen und Meinungen fremder Personen unberührt bleibt.
Kokoro kann uns dabei helfen, einen achtsamen Umgang miteinander zu pflegen und einen unbeschwerten Lebensweg in Freiheit zu beschreiten, indem wir unsere Entscheidungen aktuell in jedem Moment neu treffen.
Imstande zu sein, die Weisheit von kokoro zu erkennen, ist wesentlich für die wachsame, gefühlte Erfahrung von Welt. Im Laufe meiner Reise durch die Lebensmitte habe ich zwölf Prinzipien für eine gute Lebensführung kennengelernt, die von kokoro geprägt sind.
Lassen Sie uns nun gemeinsam diese einzelnen Prinzipien erkunden – je eines pro Kapitel. In manchen Fällen werden die Prinzipien explizit vermittelt, andere wiederum indirekt mittels Geschichten.
Mögen Ihnen diese zwölf Prinzipien bei der Reflexion über Ihr persönliches Dasein zur Seite stehen und Antworten auf all die Fragen liefern, die sich in diesem Zusammenhang auftun, ganz gleich, in welcher Lebensphase Sie sich gerade befinden.
Zwölf Prinzipen für ein gelungenes Leben, inspiriert von japanischer Weisheit
Ein gelungenes Leben ist ein gewissenhaft überprüftes Dasein.
Ein gelungenes Leben ist ein mit Herz und Verstand erfasstes Dasein.
Ein gelungenes Leben ist ein von Stille erfülltes Dasein.
Ein gelungenes Leben ist ein präsentes Dasein.
Ein gelungenes Leben ist eines, das sich der Vergänglichkeit aller Dinge vollends bewusst ist.
Ein gelungenes Leben ist durchdrungen von bittersüßer Liebe.
Ein gelungenes Leben ist eine Serie erklommener Gipfel.
Ein gelungenes Leben ist ein Sediment aus integrierten Schichten.
Ein gelungenes Leben ist eines, das sich uneingeschränkt Ausdruck verschafft.
Ein gelungenes Leben ist ein wohl genährtes Dasein.
Ein gelungenes Leben ist ein steter Weg, gepflastert mit dem, was sich richtig anfühlt.
Ein gelungenes Leben ist ein bewusst gestaltetes Leben, das man in Fülle und Dankbarkeit verbringt.
Dieses Buch gliedert sich in drei Teile – in Anlehnung an die drei heiligen Berge von Dewa (Dewa Sanzan) in Tōhoku, einer abgelegenen, sehr schönen Region im Norden Japans.
In Teil I, inspiriert vom Hagurosan, der die Gegenwart und irdischen Begierden repräsentiert, erfolgt eine Bestandsaufnahme, an welchem Punkt wir uns gerade befinden und was uns in diesem Moment wichtig erscheint.
In Teil II erklimmen wir den Berg Gassan, der den Tod und die Vergangenheit symbolisiert, indem wir uns mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen und darüber nachsinnen, was der Tod für das Leben bedeutet.
In Teil III, wo uns Yudonosan, der Berg der Wiedergeburt und Zukunft, begegnet, reflektieren wir unser vor uns liegendes irdisches Leben, wie lang es auch sein mag.
Das dreifaltige Bergmassiv bildet das Rückgrat meiner Abhandlung, aber die Reise wird uns darüber hinaus in weniger bekannte Regionen des Archipels führen, wo wir auf zeitgenössische Pioniere sowie Geister früherer Denker als auch auf Naturgeister (die das Land bewohnen) stoßen. Vereint werden sie uns lehren, wie wir mit dem wahrhaften Verständnis von kokoro unsere Erfahrung der Welt, unsere Beziehungen und unsere Auffassung eines gelungenen Lebens transformieren können.
Die Menschen, denen wir auf diesem Pfad begegnen, haben ganz unterschiedliche Biografien, Hintergründe und Glaubensrichtungen, und doch besitzen sie eines gemeinsam: sie sind äußerst sensibel für die Weisheit ihres kokoro.
Bei manchen äußert sich das in ihrem Lebensweg, bei anderen prägt es den Umgang mit ihren Mitmenschen oder ihre Beziehung zur Natur. Auch die Hingabe an die Schönheit in Kunst und Kultur mag von kokoro durchdrungen sein.
Die hier versammelten Weisheiten sind wie Blütenblätter herbeigeweht worden, empfangen von meinen geöffneten Händen in all den Gesprächen, die ich während meiner Streifzüge durch Japan geführt habe. In diesem Buch möchte ich diese Blütenblätter sanft in die Richtung meiner Leser pusten. In diesem Buch möchte ich das mit Ihnen teilen, was Japan und seine Kultur mich so großzügig gelehrt haben, in der Hoffnung, dass auch Sie einen Zugang dazu finden.
Es erwarten Sie folgende Lektionen:
Warum die drei heiligen Berge den Schlüssel dazu liefern, sich jederzeit für einen neuen Weg zu entscheiden.
Was uns ein Zen-Meister aus dem 13.Jahrhundert über die Natur der Zeit lehrt und weshalb das alles relativiert.
Was uns die Konfrontation mit dem Tod über ein gelungenes Leben lehrt.
Wie man sich auf sein kokoro einstellt und es pflegt, damit es uns täglich leitet bei der Kultivierung eines gelungenen Lebens.
In diesem Sinne handelt es sich um einen Leitfaden für die Navigation durchs Leben im Allgemeinen sowie für Übergangsstadien im Besonderen. Als eine Art Selbsthilfe-Ratgeber liefert diese Abhandlung jedoch keineswegs kurz gefasste Patentlösungen, die als Standardantwort auf jegliche Problematik anwendbar wären. Vielmehr ist es eine Einladung, mir auf der Pilgerfahrt Gesellschaft zu leisten, um einen neuen Horizont für unsere Fragen zu eröffnen, auf dass zu gegebener Zeit mehr Klarheit entstehen mag.
Ein erschwerender, aber zugleich bedeutsamer Umstand für das Verständnis der japanischen Kultur ist das Vage – auf Japanisch aimai (曖昧) – der Begrifflichkeit und der Antworten auf Fragen. Das Ungefähre ist allerdings kein Mangel an Wissen bei Gesprächspartnern, sondern entspringt ihrem Hang zum harmonischen Ausgleich. Ambiguität gilt meistens als Ausdruck von Respekt. Dieser kulturelle Wert hängt vermutlich mit der geografischen Situation Japans zusammen. Der gebirgige Archipel mit beengtem Lebensraum zwang einst seine Bewohner, in zusammengepferchten Gemeinschaften zu kooperieren, um zu überleben. Noch heute hat die Gruppenharmonie höchsten Stellenwert, was sich bei persönlichen Begegnungen im Taktgefühl niederschlägt.
Um Sie direkt an meinen Erfahrungen in Japan teilhaben zu lassen, habe ich einige Gespräche und Beschreibungen von Interaktionen in authentischen Situationen in den Text eingebettet. Ein Teil der Weisheiten, die sich mir aus diesen Begegnungen erschlossen haben, sind, ganz typisch für Japan, eher implizit als explizit geäußert worden. Deshalb möchte ich Sie dazu einladen, die Passagen mit Muße auf sich wirken zu lassen.
Am Ende jedes Kapitels finden Sie drei Fragen für Ihre persönlichen Aufzeichnungen, die Sie zum Nachdenken anregen sollen. Vielleicht mögen Sie sogar ein separates Tagebuch anlegen, um Ihre Gedanken während unserer gemeinsamen Pilgerreise zu notieren. Wenn wir uns am Ende einen Rückblick erlauben, werden Sie somit besser erkennen, wie weit Sie gelangt sind.
Ich bezeichne diese Aktion als kokoro-Arbeit und möchte Sie ermutigen, Ihre Worte zwischen Gehirn und Papier nicht zu zensieren. Schreiben Sie auf, was immer Ihnen in den Sinn kommt, ohne zu urteilen. Erspüren Sie die Antworten und Sie werden erstaunt sein, was dabei zutage gefördert wird, wenn kokoro den Ton angibt.
(Anmerkung: Eine Vielzahl weiterer Anwendungsbeispiele von kokoro in Alltag und Sprache Japans finden Interessierte am Ende des Buches unter ›Anatomie des kokoro‹.)
Viele Japaner praktizieren mehr als eine Religion, in der Regel eine Mixtur aus Buddhismus und Shintō, dem ethnischen Glauben, der auf Naturgottheiten basiert.
Ich persönlich favorisiere keine bestimmte Religion, geschweige denn in diesem Buch, sondern bin neugierig offen für die Orientierung von Menschen.
Im Rahmen meiner Forschung führte ich vielerorts Gespräche beim Tee, bestieg Berge oder meditierte mit Priestern, Nonnen, Mönchen, Asketen und Laien aus unterschiedlichen Traditionen und Glaubensrichtungen wie Sōtō-Zen, Rinzai-Zen, Tendai-Buddhismus, Shingon-Buddhismus, Jōdo-Buddhismus, Shintō, Shugendō sowie dem Christentum, aber auch mit Atheisten und Agnostikern.
Jene zahlreichen Begegnungen lassen sich an dieser Stelle unmöglich in gleichem Maße darstellen, auch wenn sie alle meine Lebenseinstellung geprägt haben. Stattdessen sollen die Wirkmächtigsten in der Schilderung meiner Erfahrungen zu Wort kommen. Diese Reflexionen, durchsetzt von den Einflüssen der Schriften historischer Persönlichkeiten, liefern einen entscheidenden Beitrag zu meinem Verständnis der ›Japanischen Weisheit‹, die ich in diesem Buch vermitteln möchte.
Darüber hinaus verdankt sich die ›Japanischen Weisheit‹, der wir auf diesem Weg teilhaftig werden, nicht allein den Menschen, sondern auch der Landschaft und Natur, insbesondere den Bergen, die als Heimat der Ahnengeister gelten.
Es existiert auch eine alte Vorstellung, dass den Wörtern selbst eine mystische Kraft innewohnt. Kotodama (言霊), sogenannte ›Wortgeister‹, verleihen der Sprache im rituellen Gebrauch magische Fähigkeiten, die uns auf einer tieferen Ebene zu beeinflussen vermögen.
Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen, als ich bei einer Bergbesteigung unentwegt Mantren rezitierte, worauf ich später noch eingehen werde.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass einige Details des yamabushi-Trainings aus Respekt vor der Jahrtausende alten Tradition dieser geheimen Praktiken verändert wurden.
Die Lektüre soll Sie ermutigen, sich mit mir auf eine abenteuerliche Wanderung zu begeben, um die Weisheit zu erspüren, die unterwegs unter unseren Sohlen aufsteigt, sich zwischen uns ausbreitet und sich implizit in den Äußerungen der Personen verbirgt, denen wir begegnen.
Vielleicht genießen Sie es, nach jedem Kapitel Zeit in der Natur zu verbringen und über das eigene Leben nachzudenken oder Parallelen zu meinen Geschichten zu entdecken.
Während unserer Reise werden wir sanfte Unterweisungen erhalten, die uns zurück zur ursprünglichen Weisheit unseres kokoro führen mögen.
Das kokoro zu erkunden, bedeutet gleichsam, die Essenz des menschlichen Daseins in dieser fordernden, aber unglaublich schönen Welt zu ergründen.
Der Pfad, der sich durch dieses Buch zieht, verfolgt das letzte Jahr als das kritischste meines bisherigen Lebens, in dem eine Reihe unerwarteter Ereignisse auf mich einstürmten, und zwar just in dem Moment, als ich meine statistische Lebensmitte erreicht hatte. Es hat mir wichtige Lektionen bezüglich der Zerbrechlichkeit des Daseins und der mangelnden Kontrolle über das große Ganze erteilt, indem es mich daran gemahnte, das Kostbare zu schätzen und der Weisheit meines Herzens zu vertrauen.
Im Zyklus der Jahreszeiten werden Sie mein Abwägen, meine Neuausrichtung und Erneuerung miterleben, in der Hoffnung, dass meine persönlichen Erfahrungen Ihnen Anregungen bieten, wie Sie Ihre eigenen Übergangsstadien meistern können.
Ich dachte immer, je älter ich werde, desto mehr
Gewissheit würde ich erlangen.
Das war ein Irrtum.
Ich dachte immer, bis zu meiner Lebensmitte würde ich
über alles Bescheid wissen.
Das war ein Irrtum.
Ich dachte immer, der Tod würde nicht an meine Tür klopfen,
solange ich ihn verschweige.
Das war ein Irrtum.
Ich dachte immer, es würde von Stärke zeugen, seine Gefühle zu verbergen.
Das war ein Irrtum.
Ich dachte immer, wenn man genug an den Dingen festhält,
würden sie für immer fortdauern.
Das war ein Irrtum.
Früher hatte ich immer Angst vor Irrtümern.
Inzwischen habe ich keine Angst mehr.
Ein gelungenes Leben beginnt und endet mit dem kokoro. Möge dieses Buch Ihnen zur rechten Zeit dienen, wenn sie es brauchen, und lange in Ihrer Obhut verweilen, während Sie sich auf all das, was geschehen mag, bereitwillig einlassen.
Kyoto 2023Beth Kampton
Begegnung mit der Gegenwart auf dem Schwarzflügel-Berg
Lege dein Ohr an die Erde, um den Berg von Göttern und Geistern künden zu hören.
Schmiege deine Haut an die Borke dieses alten Baums und du wirst von dem Schatten erfahren, der einst an diesem Ort vorbeikam, sowie von dem vermummten Mann, der ihm folgte.
Lausche zum Himmel und du wirst Echos uralter Vogelgesänge vernehmen, die von einem erschlagenen Kaiser, einem fliehenden Prinzen sowie yatagarasu, einer mythischen, dreibeinigen Krähe, die ihn in Sicherheit bringt, berichten.
Folge dem Wispern des Windes und du wirst oben auf dem Gipfel das Grab zu Ehren des Prinzen entdecken, der hier im Wald verblieb und sein Leben dem Bergkult widmete, während die Krähe dem Land ihren Namen verlieh.
Komm als Pilger und hülle dich in Schweigen beim Aufstieg. Dann kannst du vielleicht eine Begrüßung hören.
Yōkoso. Ich bin der Schwarzflügel-Berg.
Als einer der drei heiligen Berge von Dewa repräsentiert Hagurosan (wörtlich: Schwarzflügel-Berg) die Gegenwart und die irdischen Gelüste. Seit hunderten von Jahren pilgern Menschen zu diesem Ort, oft lange Strecken zu Fuß, um für Gesundheit und Glück in ihrem Leben zu beten. Hier beginnt unsere Geschichte.
Die Schriftrolle wird entrollt
In einem strohgedeckten Cottage an der Südküste Englands stand ich im Wohnzimmer, wo ich mit einem Auge einen zerknitterten Rock bügelte und mit dem anderen das Begräbnis Ihrer Majestät Königin Elisabeth II. auf dem Bildschirm verfolgte. Normalerweise würde ich meine Zeit nicht mit Plätten verschwenden, aber an diesem Tag fand ich es tröstlich, die Falten im Baumwollstoff zu glätten, als die feierliche Prozession der Royals in Richtung Westminster Abbey schritt.
Gerade als die Trompeter der Gardekavallerie ›The Last Post‹ spielten, klingelte das Handy meines Mannes. Nach einem Blick aufs Display nahm er den Anruf in der Küche entgegen, während ich mit unseren beiden Töchtern zwei Schweigeminuten einlegte, um eines Lebens in den Diensten des Volkes zu gedenken.
Die Trompeten schmetterten erneut, als mein Mann meinen Namen rief. Sein Tonfall versetzte mir einen Stich. Ich wusste sofort Bescheid. Meine Freundin Lisa war gestorben, mit einundvierzig.
Erst später wurde mir klar, dass an diesem Tag auch etwas in mir gestorben war: mein Urvertrauen, dass, wenn man ein guter Mensch ist und hart arbeitet, seine Vorhaben ausführt und reichlich Gemüse isst, man mit einem langen, glücklichen Leben gesegnet sei.
Dieses Empfinden von Ungerechtigkeit pumpte spürbar durch meine Venen, als ich mich einige Wochen später den Hagurosan hinaufschleppte. In meinen Stiefeln, die mit Trauer geschnürt waren, spürte ich bei jedem Schritt das Gewicht des Verlustes meiner Freundin Lisa, das noch schwerer wog, da sie selbst die Reise ins geliebte Japan nie mehr antreten würde.
Mein Guide vor mir kletterte stetig aufwärts. Er trug die eigenwillige Tracht der hiesigen Bergmönche: an den Knöcheln zusammengebundene hakama-Hosen und darüber einen weitärmligen Kaftan. Shiroshuzoku – das rein weiße Gewand der Toten. An manchen Stellen färbte sich der schwere Baumwollstoff himmelblau, wenn der Schatten der spätherbstlichen Sonne auf ihn fiel.
Meister Hayasaki ist ein yamabushi (wörtlich: ›Die sich in den Bergen niederlegen‹), ein zeitgenössischer Hüter des altjapanischen ethnischen Glaubens Shugendō, was sich in etwa mit ›Asketische Praktiken zur Entwicklung magischer Kräfte‹ übersetzen lässt.1 In dieser synkretistischen Religion finden sich Anklänge an den Buddhismus, Shintōismus, Daoismus sowie den einheimischen Animismus. Es handelt sich dabei um eine Philosophie und Praxis der wahren Naturverbundenheit durch Inkarnation.
Die yamabushi-Praxis wird seit mehr als tausend Jahren im Dewa-Sanzan-Gebiet des heutigen Yamagata ausgeübt. Die verehrten drei heiligen Berge von Dewa gehören zu den wichtigsten Pilgerstätten in Japan.
Die Stille während des schweigsamen Aufstiegs auf den Hagurosan führte bei mir nur dazu, das Tosen in meinem Kopf zu verstärken. Ich versuchte, Ordnung in das Gedankenchaos zu bringen und mich darauf zu besinnen, wozu ich hier war.
Später in der Pilger-Herberge wurde ich von Meister Hayasaki unterwiesen: »Oben auf dem Berg meditieren wir, aber nicht so wie beim Zen. Auf dem Boden sitzend, verweilen wir dort für einige Zeit. Es ist gut, still zu sein, aber genauso erlaubt, sich zu regen. Alles in der Natur ist in Bewegung. Man kann die Augen offen halten oder geschlossen. Das spielt keine Rolle. Bleib einfach ruhig und beobachte, was mit dir geschieht.«
Er wies auf einen Fleck Erde abseits des Hauptpfades, wo ich mich für eine Weile niederlassen sollte. Einfach still sitzen, bis Meister Hayasaki zweimal ins horagai, eine Muscheltrompete, blies und den Wald mit dem eindringlichen Ruf der Wildnis erfüllte.
Ein Sonnenstrahl fiel auf seine jika tabi (zweigeteilte Zehenschuhe), staubig von den unzähligen Pilgerwanderungen auf diesen heiligen Berg. Dagegen erschienen mir meine Wanderstiefel plötzlich klobig und starr, als wären sie zum Schutz vor dem Berg fabriziert worden, dem ich mich doch eigentlich nähern wollte. Ich zog sie sogleich aus mitsamt den Socken und stand für einen Moment barfuß auf dem kalten, feuchten Boden. Goldenes, sich kräuselndes Laub raschelte unter meinen Füßen. Mein Atem ging unregelmäßig. Ich befand mich sechstausend Meilen von zu Hause entfernt, vermisste meine Familie, trauerte um meine Freundin und fühlte mich ausgelaugt nach einem anstrengenden Arbeitspensum.
Sei im Hier und Jetzt. Diese vertraute Aufforderung vieler Weisheitstraditionen gewann an Kraft an diesem Ort unter Zedern. Aber das ist nicht so einfach, hörte ich mich selbst sagen. Den Einwand ignorierend, nahm ich Platz, schloss die Augen und ließ mich vom Berg einatmen.
Laut Berechnung des Statistischen Landesamts würde meine Lebenserwartung siebenundachtzig Jahre und sechs Monate betragen.2 Es handelt sich dabei um einen Durchschnittswert, der von verschiedenen Faktoren, unter anderem Geburtsmonat und -Ort, abhängt. Demzufolge hätte ich dann kurz vor meinem vierundvierzigsten Lebensjahr bereits den Zenit überschritten. In den letzten beiden Jahren, seit Lisas Krebsdiagnose genau auf der Schwelle zu meiner Lebensmitte über mich hereinbrach, verspürte ich, ungeachtet des tief empfundenen Mitgefühls für ihre Familie, ein dumpfes Rumoren unter der Oberfläche meines Alltags. Nachrichten wie diese erschüttern jeden von uns und treffen einen persönlich. Sie lassen uns der eigenen Fragilität und Sterblichkeit innewerden.
Manchmal versuchte ich das Rumoren, vor allem hinsichtlich Lisas Situation, zu ignorieren, indem ich mir sagte: »Du bist am Leben. Du bist gesund. Du kannst dich wahrlich glücklich schätzen. Hör auf zu grübeln!«
An manchen Tagen jedoch, wenn sich ihr Gesundheitszustand verschlimmert hatte, trieben mich derartige Nachrichten in die andere Richtung: »Das Leben ist kurz. Bist du dir sicher, das Beste daraus zu machen?« Falls ich dann die Courage besaß, mich dem Aufruhr in meinem Innern zu stellen, sah ich die Chancen, die einst vor mir lagen, nun vertan hinter mir, außer Reichweite und unwiederbringlich, einfach weil ich zu alt dafür war. Eine neue und erschreckende Erkenntnis für eine Optimistin wie mich, die immer davon überzeugt war, die Welt mit all ihren Möglichkeiten stünde ihr offen. Das Alter schlug mir die Tür vor der Nase zu, eine nach der anderen. Lief ich auf eine zu, schloss sie sich sofort. Und auch die nächste versperrte mir den Weg, als wollte sie mich foppen. Ich fühlte mich wie eine Gefangene in einem grausamen Spiel.
Mit zwanzig hatte ich freie Auswahl, ich musste nur die Gelegenheit beim Schopfe packen. In meinen Dreißigern, als ich Karriere machte, durch die Welt reiste und schließlich Kinder bekam, stand ich zwar ständig unter dem Eindruck, der Tag habe nicht genug Stunden für meine Vorhaben, aber immerhin konnte ich mir noch aussuchen, was ich machen wollte. Aber ab vierzig änderte sich das mit einem Schlag. Ich spürte, dass mir nun nicht mehr alle Zeit der Welt blieb, um sämtliche meiner Pläne zu realisieren, aber auch die Fülle an Möglichkeiten war plötzlich eingeschränkt, bedingt durch bereits getroffene Entscheidungen, die mir nun den Zugang zu früheren Optionen verwehrten. Und das unter der Prämisse, dass ich die zweite Hälfte meines Lebens noch vor mir hatte – eine Annahme, die durch Lisas Erkrankung fragwürdig geworden war.
Eine gewisse Frage heftete sich fortan an jede meiner Überlegungen:
Was müsste ich jetzt tun, um zu gewährleisten, dass ich am Ende meiner Tage, wann immer das sein mag, aus tiefstem Herzen sagen kann, ein gelungenes Leben geführt zu haben?
Nun, das ist die harmlose Version. Manchmal brach es sich heftiger Bahn:
Wie kann man sich mit über vierzig erwachsen wähnen, geschweige denn Selbsthilfe-Bücher verfassen, wenn man sich immer noch nicht im Klaren darüber ist, was man tun will.
Das unentwegte Grübeln hat dann nur noch mehr Fragen aufgeworfen.
Woher weiß ich, ob ich mein Leben richtig lebe?
Wie kann ich meine Zeit besser einteilen?
Wie soll ich mit Geld umgehen? Sollte ich mehr verdienen? Oder sollte mir das nicht so wichtig sein?
Was könnte ich Jahre später bereuen, es jetzt nicht getan zu haben?
Wie kann ich den Drang, etwas Sinnvolles zu leisten, mit meiner Familie in Einklang bringen?
Was, wenn ich eine Entscheidung treffe, die sich als falsch herausstellt?
Und so weiter und so fort … Es war zermürbend.
Ich saß in der Falle, indem ich einen Kampf mit mir selbst ausfocht. Mein Ego wollte die Kontrolle behalten, Pläne in die Tat umsetzen, in den Augen der anderen erfolgreich dastehen und Geld anhäufen, um nach meinem Tod ein beträchtliches Vermögen zu hinterlassen. Ich hatte das Gefühl, dies habe mit tief verankerten Glaubenssätzen zu tun, wie Erfolg zu definieren sei und was in der Welt als Sicherheitsgarantie gelte.
Eine innere Stimme flüsterte mir jedoch zu, ich sollte die Kontrolle abgeben und aufhören, ständig alles durchzuplanen, um mich stattdessen neuen Erfahrungen auszuliefern mit allem, was sie bereithalten. Ich sollte nach meinen Regeln gedeihen und ein Leben führen, dessen Vermächtnis in der Wirkung besteht, die ich Tag für Tag auf andere Menschen ausübe. Oh ja, und vor allem mehr Spaß haben.
Sosehr das innere Flüstern auch nachhallte, am Ende war es doch immer die Stimme der rationalen Hirnhälfte, die die Oberhand gewann.
Die Zeit war reif, um meine tief verwurzelten Überzeugungen auszugraben, mit dem hartnäckigen Gefühl des Bedauerns klarzukommen und herauszufinden, wie ich den Rest meines Lebens bewusst gestalten könnte. Wahrscheinlich musste ich mich einfach bloß von meinem E-Mail-Posteingang und meiner To-do-Liste sowie der ständigen Flut von Nachrichten, dem Getöse der sozialen Medien und fremden Ansichten lange genug fernhalten.