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Großvater hat Geld. Der Schwiegersohn braucht Geld für seine außerehelichen Eskapaden und seinen Hang zu Kokain. Die Tochter möchte das Geld, um endlich der kleinbürgerlichen Welt zu entfliehen, die sie ihren Eltern zu Liebe aufrechterhält und die Großmutter möchte das Geld, um etwas für das Alter zurückzulegen. Jetzt hat sich aber Großvater in den Kopf gesetzt, die Gebeine seiner Vorfahren aus Katowice zu holen und in Essen feierlich beizusetzen. Die Verwandtschaft begehrt auf. Neid und Missgunst keimen auf ... gefolgt von Chaos über Witz zu Wahn, zu Wahnwitz und wieder zurück ...
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Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Matthias Herrmann
KOLLATERALSCHWADEN!
Roman
Engelsdorfer VerlagLeipzig2019
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
Die Welt ist groß genug,
dass wir alle in ihr unrecht haben können!
Arno Schmidt
Cover
Titel
Impressum
1. Großvater
2. Großmutter
3. Schwiegersohn
4. Schmerek
5. Nachbarin
6. Schmerek
7. Tochter
8. Schwiegersohn
9. Schmerek
10. Großmutter
11. Großmutter
12. Großvater
13. Tochter
14. Schmerek
15. Nachbarin
16. Großmutter
17. Schwiegersohn
18. Großvater
19. Schmerek
20. Enkelin
21. Schwiegersohn
22. Schmerek
23. Großmutter
24. Großvater
25. Enkelin
26. Schmerek
27. Tochter
28. Großvater
29. Schwiegersohn
30. Nachbarin
31. Großmutter
32. Schmerek
33. Großvater
34. Schwiegersohn
35. Schmerek
36. Nachbarin
37. Tochter
38. Schmerek
39. Schwiegersohn
40. Enkelin
41. Schwiegersohn
42. Schmerek
43. Tochter
44. Großvater
45. Großmutter
46. Tochter
47. Schmerek
48. Großvater
49. Matthes
50. Nachbarin
51. Enkelin
52. Schmerek
53. Tochter
54. Großvater
55. Josif
56. Matthes
57. Schmerek
58. Matthes
59. Tochter
60. Großvater
61. Matthes
62. Josif
63. Enkelin
64. Nachbarin
65. Großvater
66. Schmerek
Einen alten sturen Bock hat sie mich geschimpft. Was sollst du denn schon in Katowice wollen, mit deinen achtzig Jahren? Vielleicht neu anfangen oder abhauen, hat sie mich gefragt. Dabei versteht sie mich nicht richtig. Dass ich zu den Gräbern meiner Familie will, versteht sie nicht. Die Tochter hat sie auch schon ganz aufgebracht. Dein Vater will mit dem Auto nach Katowice, mit dem Auto. Da hat meine Tochter gesagt, dass der Führerschein bald weg ist, sie braucht da nur einen Anruf zu tätigen, und mit meinem Arzt wollte sie schon lange einmal reden. Ich würde doch gar nicht mehr richtig ticken. Und das, nachdem ich ihr und ihrem Mann das Haus fertig gebaut habe. Letzte Woche erst. Die Kinder hatten doch kein Geld, und der Schwiegersohn hat mit seinen Geschäftsideen doch so viel Pech gehabt, worauf sie aber sofort vor unserer Tür standen und um Geld bettelten.
Gut, dann bin ich halt ein sturer alter Bock, aber dass ich zu den Gräbern meiner Eltern will, dass ich endlich meinen Frieden finden will, das scheint niemandem einzuleuchten. Einen Frieden kann man auch hier finden, in Deutschland, da braucht man doch nicht erst zu ein paar alten Knochen nach Katowice fahren. Und dazu noch mit dem Auto. Geh doch in die Messe und bete für deine Familie, sagen sie mir, und dass ich damit genauso weit käme.
Aber Frieden zu finden, indem man die Gräber seiner Ahnen aufsucht, ist nun mal eine Tradition, und Traditionen haben einen höheren Sinn. Was ich denn jetzt mit Tradition wolle, wo ich die letzten sechzig Jahre auch ohne Wahrung der Tradition in Deutschland gelebt habe. Dass aber die Kinder und seit Neustem auch die Enkelkinder immer wieder unsere Hilfe brauchten, scheinen alle zu vergessen. Jetzt, seit letzter Woche, seit das Haus fertig ist und der letzte Enkel einen Kindergartenplatz hat, seit dem Moment kann ich mich doch erst wieder auf meine Wurzeln besinnen. Vorher stand doch immer die Pflicht vor mir und hat mich hämisch angegrinst. Und sofort werde ich gefragt, ob ich etwas bereue.
Nebbich, nein, sage ich, weil es doch gar nichts zu bereuen gibt, aber es war doch eben keine Zeit, nach Katowice zu fahren und die Gräber meiner Verwandten zu besuchen. Ob mir mein Urlaub dafür nicht gereicht habe, fragen sie mich, und ich stocke kurz. Mir war nicht sofort klar, was mit Urlaub gemeint war. Wir waren doch immer am Arbeiten. Zuerst haben wir unser eigenes Haus gebaut. Dann musste das Geld für die Familie gesammelt werden. Dann mussten die Kinder arbeiten und wir auf die Enkel aufpassen. Dann haben wir deren Häuser gebaut. Ich war seit bestimmt dreißig Jahren nirgendwo anders gewesen als in diesem Schtetl. Was sie also mit Urlaub meine, frage ich da etwas verunsichert. Und dann macht sie mich wütend, als sie sagt, ich hätte ja mal welchen nehmen können, anstatt mich immer in die Leben anderer einzumischen. Es gäbe bestimmt Menschen, die das als Hilfe empfunden haben, wehre ich mich. Nur unselbstständige, verzogene Blagen habe ich dadurch produziert, hält sie dagegen. Ja und mehr noch, jetzt, wo endlich alles mal etwas ruhiger sei, wolle ich auch noch nach Katowice, mit dem Auto!
Mir kocht es hoch, ich bin jetzt wirklich wütend. Was ist denn jetzt hier passiert? Ich soll alle verzogen haben? Habe ich mich doch nur gekümmert. Sind doch alle ein bisschen langsamer und kränklicher, die jungen Leute heut. Und da stellt die alles in Frage, was bisher mein Stolz gewesen ist? Ich drehe mich um und schweige, ich muss hier raus. Ich will mich nicht weiter beschimpfen lassen.
Da geht er wieder in den Keller, die alte Saufnase. Schüttet sich den Schnaps in den Kopp, um dann später besoffen und pöbelnd wieder hoch zu kommen. Ich mag ihn dann nicht. Er war mal ein so guter Mann, aber irgendwie haben ihn die Zeit, die Sorgen ausgehöhlt.
Wenn er betrunken ist, dann ist er nicht mehr mein Mann. Er ist ein brutales Schwein.
Und dann kommt er mir heute auch noch mit Katowice. Will er jetzt abhauen, oder ist er einfach nur übergeschnappt? Zu den Gräbern seiner Ahnen will er, was für ein Müll.
Der soll mal schön hier eine Tradition finden. Stattdessen will er zu diesen Polacken. Nee, so habe ich mir meinen Lebensabend nicht vorgestellt. Ein Haufen schmarotzender Kinder und Kindeskinder, ein fahnenflüchtiger Mann und ich hier alleine zurückgelassen mit diesem Sauhaufen.
Die haben alle kein Gefühl von Zugehörigkeit, von Respekt mehr. Sind alle nur auf sich bezogen. Mama haste mal Geld, Oma haste mal Geld. Die Kleinste von allen, vor Kurzem erst: Oma, ich sag dir das Gedicht auf, wo wir in der Schule gelernt haben, wenns de mir fünf Euro gibst. Und gebrüllt hat sie, als ich ihr gesagt habe, dass sie sich zum Teufel scheren kann, wenn sie Geld dafür will. Da war das Renate dann ganz sauer auf mich. Ich habe kein Gefühl für die Kinder von heute, die seien doch viel sensibler als wie wir früher. Nee, Madame, hab ich gesacht, da kann ich wohl sicher nicht mitreden, weil ich meinen Vater überhaupt nicht gekannt habe und meine Mutter gestorben ist, als ich sieben war. An einer Lungenentzündung nämlich und danach hab ich dann bei Tanten gewohnt, bis ich vierzehn war. Da hat mich jeder nur als Klotz am Bein angesehen. Und dann bin ich mit vierzehn Näherin geworden. Nein, wahrscheinlich verstehe ich die Kinder von heute wirklich nicht. Und dann noch das Kleinste, mit ner Schnauze wie ein altes Weib, belehrt mich, dass heute alles besser is und dass man heute nicht mehr an einer Lungenentzündung stirbt. Aber was soll ich mich aufregen. Is mir eh schon ganz schlecht …
Da will der Depp nach Katowice, mit dem Auto, wo er doch nur einmal die Woche zum Aldi vorne an der Ecke fährt. Was für ein Wahnsinn. Wenn der so weitermacht, dann werde ich ihn entmündigen lassen. Ich will das hier alles auch nicht mehr mitmachen …, aber haue ich ab? Nee, ich bleibe hier. Aber wo soll ich denn auch hin, ich komme ja aus Essen.
Renate ist völlig aufgelöst, als ich nach Hause komme. Es dauert eine Weile, bis ich sie verstanden habe. Sie hat sich mit ihrer Mutter gestritten, aber das passiert häufiger. Ist für mich jetzt kein richtiger Grund, so loszuheulen. Ich hasse das sowieso. Da kommst du abends völlig kaputt von der Schicht, und da sitzt deine Frau auf der Couch und flennt. Kein gemütliches Fernsehen, kein lecker Bierchen. Mühevoll musste dir dann zwischen den Heulern und dem Schluchzen eine Geschichte herleiten. Ich versuche, sie zu beruhigen, und sage, dass sich ihre Mutter schon wieder einkriegen würde, aber da schreit sie plötzlich auf und faselt etwas von Katowice und dass sie das Geld nicht bekommen hat, was sie besorgen wollte, und dass aus der Garage wohl auch nichts werden wird, weil der Alte zu den Gräbern seiner Ahnen will. Ich verstehe erst mal überhaupt nichts. Wobei, dass sie keine Kohle lockergemacht hat, verstehe ich schon, und das wurmt mich. Reicht es denn nicht, dass ihre verheulte Visage mir den Abend versaut? Jetzt werden wir sehr in Bedrängnis kommen, wenn die Alten nicht schnell etwas lockermachen. Ich rede eindringlich auf sie ein. Sie beruhigt sich, und so langsam verstehe ich, wie der Hase läuft. Sich vertragen für die Kohle reicht nicht aus, der Alte will mit der Kohle tatsächlich nach Katowice und nicht nur an den Gräbern seiner Eltern beten, sondern auch noch deren Gebeine nach Borbeck überführen. Und das soll alles fünfundzwanzigtausend Euro kosten, frage ich mich da laut. Sollen diese Knochen denn vergoldet werden? Der Alte hat jetzt wohl sein letztes bisschen Verstand versoffen. Mit der Kohle, die wir brauchen, irgendwelche Gammelknochen aus Katowice nach Borbeck zu schaffen, dafür geht er in die Anstalt. Das Geld brauchen wir nötiger. Das erste Mal heute Abend lächelt sie ein wenig. Ich sage, dass ich das mal in die Hand nehme und dass mir da schon etwas einfallen wird. Dass der die Kohle in Polen fürn paar Knochen verschleudert, dass is nich drin.
Oh, wie sie mich hasst. Dieser Blick, den sie mir zuwirft, wenn sie mir sagt, dass ihr Mann im Keller ist. Sie durchbohrt mich mit ihren Blicken von hinten, wenn ich in den Keller gehe, und ich glaube sie zu hören, wie sie mir hinterherruft, dass ich genauso ein ekeliger Säufer bin wie ihr Mann und dass alles nicht so weit gekommen wäre, wenn ich nicht wäre, dabei weiß sie gar nicht, was wir im Keller machen. Sie glaubt, wir saufen. Gut, das ein oder andere Bier trinken wir, aber keinen Schnaps. Ich fühle, wie sie vor Wut schäumt, in ihrer Stille dabei waren wir mal gut befreundet. Damals, als meine Frau noch lebte, da haben wir regelmäßig Karten gespielt, und so wahr ich Schmerek bin, da hat sie es auch ganz schön krachen lassen. Ich würde heute sogar sagen, dass es damals nicht meine Schuld war, als wir uns im Keller liebten. Sie war mir zwischen die Beine gefahren und hatte mir die Zunge ins Ohr gesteckt. Ich wollte nur neues Bier aus dem Keller holen, sie war angeblich auf der Toilette, und da hatte sie mir aufgelauert. Ganz schön leidenschaftliche Frau, zumindest damals. Natürlich haben wir dann nicht weiter Karten gespielt, als diese Stelldicheins im Keller herauskamen. Puschke hat mir irgendwann verziehen, sie aber nie. Warum sie bis heute so sauer auf mich ist, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich hat sie das alles von damals längst vergessen und glaubt wirklich nur, dass wir im Keller saufen.
Puschke sitzt schon an seinem Schreibtisch. Erfreut lächelt er mich an und fordert mich auf, Platz zu nehmen. Er reicht mir die von ihm gerade geschriebenen Seiten und wartet geduldig ab, bis ich sie fertiggelesen habe. Puschke ist ein sehr höflicher und geduldiger Mensch. Ich fange an zu lesen:
I.
Es war lange nach Mitternacht, in einem der Kellerräume der Glawrepertkom, als Bagajew mit zitternden Fingern einen Umschlag öffnete und ihm ein Manuskript entnahm. Den ganzen Tag hatte er sich auf diesen Moment gefreut. War er doch mit dem Auftrag betraut worden, das neue Theaterstück von Boris Matalewski zu zensieren. Die Behörde wollte freilich, dass Bagajew alles Obszöne, also alles Freigeistige oder humorvoll Ironische aus dem Stück tilgte. Da Bagajew aber ein großer Verehrer von Matalewski war, gedachte er, das Stück in seiner Originalversion zu erhalten und dem Untergrund zur Verfügung zu stellen. So könnte es in der Provinz im Original aufgeführt werden und müsste nicht als verstümmelter Schatten seines Selbst über die Bühnen des Landes huschen. Mit schwitziger Oberlippe überflog er die ersten Zeilen. Sein Herz schlug bis zum Hals.
… Spannend spannend, denke ich, nicke Puschke zu und fahre fort, zu lesen:
Es war wie immer ein großartiges Werk.
Damit aber seine Vorgesetzten keinen Verdacht schöpften, beschloss Bagajew, selber ein Theaterstück zu schreiben, welches er den Vorgesetzten vorlegen wollte.
Aber jetzt war es Nacht, und er sog gierig die Zeilen von Matalewskis Theaterstück auf. Es war ein so gezielter Tritt in den korrupten Bürokratenarsch, dass Bagajew teilweise laut lachend drohte, vom Stuhl zu fallen.
Ich lege die Seiten auf den Tisch. Ob ich es so spannend fände, dass ich weiterlesen wolle, erkundigt er sich. Ich nicke, denke einige Momente versonnen darüber nach und überlege mir, wie die Geschichte weitergehen könnte, da eröffnet Puschke das Gespräch damit, dass er nach Katowice wolle, zu den Gräbern seiner Eltern.
Erstaunt sehe ich ihn an, und er fängt an, zu erzählen.
Da schreien und zetern sie wieder. Ich höre das immer, wenn ich in der Küche sitze. Anstatt dass die beiden glücklich sind, dass sie sich noch haben. Nein, jeden Tag dieser Hass, dieser Kampf. Ganz anders als bei meinem Herbert und mir. Er fehlt mir so. Das, was die beiden an Krach zu viel haben, habe ich an Stille zu viel. Ob ich heute früh zu Bett gehe? Dann liege ich ja doch wieder nur wach da und höre jedes Geräusch im Haus. Die Klospülung vom Nachbarn, die Haustür nach Mitternacht, wenn der junge Mann wieder betrunken aus der Kneipe kommt und sein ganzes Geld verspielt hat. Der muss sich dann meistens in seiner Wohnung übergeben …
Warum bin ich nicht auch schwerhörig wie die anderen Alten? Vielleicht esse ich heute Mittag mal wieder Sauerkraut. Immer diese Verstopfungen. Keiner weiß, wie schwer das ist, nicht jeden Tag auf die Toilette gehen zu können. Solange Herbert lebte, hatte ich nie Probleme. Einsamkeit macht träge, sogar der Darm verweigert seinen Dienst. Manchmal träume ich von ihm, und dann fühle ich mich den ganzen nächsten Tag noch leerer. Kaum dass er die Rente durchhatte, hatte er diese Zahnschmerzen. Er sagte, dass einer seiner Zähne irgendwie scharf sei, und ging zum Arzt. Der hat ihm dann gesagt, dass es nicht der Zahn, sondern der Krebs sei und dass er seine „Belange organisieren solle“. Das hat er dann auch noch gemacht, und dann ist er gestorben. Und jetzt sitze ich hier mit viel Ruhe und einem streikenden Darm und bin abgesichert, wo ich doch lieber tot wäre. Keine Ahnung, wie das die anderen immer so machen, die auf den Schwof gehen und neue Partner kennenlernen. Haben die ihre Liebe dann vergessen? Ich kann keinen neuen Mann kennenlernen, schon gar nicht lieben, ich liebe doch Herbert. Na, und der ist ja tot.
Da ist wieder dieses Stöhnen von dem jungen Ehepaar auf der dritten. Kinder wollen die bekommen, aber so häufig wie die es versuchen, werden die eher wund. Die Frau erzählte mir die Tage, dass ihr Mann mit seinem Chef die Absprache habe, jedes Mal, wenn sie ihren Eisprung habe, nach Hause fahren zu dürfen. Ich hab zwar keine Kinder, aber dass man so oft in der Woche seinen Eisprung hat, das scheint mir, soweit ich mich erinnern kann, etwas sehr fruchtbar zu sein …
Ob ich heute Abend den Krimi im Ersten schaue? Oder höre ich mir alte Schallplatten an? Ich habe schon lange einen Bogen um Beethoven gemacht. Die Musik erinnert mich immer an Herbert. Aber vielleicht tue ich der Musik unrecht. Die junge Frau brüllt gerade, und er grunzt wie ein Boxer im Würgehalsband, dann ist Stille. Genau so eine Stille wie in mir. Nichts lenkt mich von dieser Leere ab.
Vielleicht ist es besser, wenn ich noch einmal versuche, auf die Toilette zu gehen. Vielleicht kann dann irgend jemand anderer meine Klospülung hören.
Völlig verklärt, ja von der Wirklichkeit entfernt, erzählt er mir immer wieder von seinem Vorhaben. Ich höre zu, da ich versuche, ein höflicher Mensch zu sein, aber als sich der Puschke so an die dreizehn Mal wiederholt hat, werde ich etwas ungeduldig. Was denn jetzt mit unserem Projekt sei, frage ich ihn und deute auf den Stapel Seiten auf seinem Schreibtisch. Ja, das wäre zurzeit nicht so wichtig und daher solle ich die paar Seiten mitnehmen und durchlesen. Er habe im Moment keinen Kopf dafür. Das leuchtet mir ein, und daher sage ich, dass ich das Skript mit nach Hause nehme und es dort dann erst mal alleine durcharbeiten werde. Das scheint den Puschke zu entlasten, denn er strahlt mich an. Er holt zwei Bier aus dem Regal hinter sich und prostet mir zu: auf Katowice!
Ich lächele und proste zurück, wobei ich gar nicht weiß, wo dieses Katowice überhaupt liegt, aber so entspannt und beschwingt habe ich den Puschke lange schon nicht mehr gesehen, und daher passt es auch für mich. Solange ich da nicht mit hin muss, denke ich so bei mir, und da fragt der mich doch im selben Atemzug, ob ich da nicht mit ihm hinwill. Ich setze die Flasche ab und sage, dass ich das im Moment nicht entscheiden kann und ihm im Laufe der Woche Bescheid geben werde. Das scheint ihm zu langen, er reicht mir das Skript und ich verlasse ihn. Im Treppenhaus ist es stockdunkel, ich suche den Lichtschalter. Dabei fasse ich auf eine Hand, die sofort zurückschnellt. Ich mache Licht, da steht da eine Frau. Ich bitte um Entschuldigung, da sie so verschreckt wirkt. Aber sie entschuldigt sich auch. Schmerek mein Name, sage ich zu ihr, und sie antwortet, sie müsse in ihren Keller. Damit ist sie irgendwo hinten verschwunden. Für kurz nur wundere ich mich, um dann aber schnell nach Hause zu kommen, ich freue mich auf Puschkes Skript.
Zwei Uhr und fünf Minuten. Ich habe tatsächlich erst vor fünf Minuten auf die Uhr geschaut. Warum vergeht denn heute die Zeit wieder nicht? Ich hasse diese schlaflosen Nächte. Ja, mein Mann, der schnarcht da so vor sich hin. Und mir werden die Minuten lang. Warum nur habe ich vor einem Jahr nicht die Vorsorge übernommen, damals als Vater in tiefer Depression nur noch sterben wollte. Das schaffen wir, da kommen wir durch, habe ich gesagt und ihm erklärt, dass wir ihn nicht entrechten wollen. Und jetzt hat der seine Therapie beim Psychiater hinter sich und will in die Ferne reisen. Warum war ich damals so doof? Wie ich mich dafür hasse … Zwei Uhr und zehn Minuten, ich könnte kotzen … Wir brauchen das Geld, und jetzt kommen wir nicht dran. Wir haben doch unsere Schulden, der Betrieb wirft im Moment nichts ab. Aber nach Marbella in den Urlaub fahren, hat Mutter gehöhnt, immer über die Verhältnisse leben und dann jammern … Nur weil ich nicht so eine abgearbeitete, abgehalfterte Frau wie sie werden will? Ich lasse es mir eben gut gehen, denn ich will fit alt werden, ohne diese ganzen Wehwehchen. Reicht, dass mir die Geburt unserer Großen das Becken versaut hat. Wie eine Plantschkuh laufe ich ab der Hüfte abwärts herum, da will ich mir nicht auch noch den Buckel krumm schuften. Außerdem sind die beiden doch jenseits von Gut und Böse, die brauchen die Kohle doch nicht mehr …
Mit dem Becken ist das schon so eine Sache, bei einigen Frauen ist es ein braves, es schließt sich nach der Geburt wieder so, wie eine leise, kurz geöffnete Tür. Egal, wie viele Kinder sie da durch katapultieren. Da ist nachher immer vorher. Bei anderen Frauen, so wie bei mir, ist das Becken nicht brav, es zieht sich nach der Geburt nicht dezent wieder zurück. Es bleibt so offen wie ein Buch, das aufgeklappt auf der Couchlehne liegt, und brüllt jedem ins Gesicht: Mich sprengte eine Geburt! Da muss ich mich wenigstens im Urlaub erholen, denn wer will denn so eine zänkische Alte werden? Unzufrieden vielleicht, alt vielleicht, aber zänkisch? Nein … Warum habe ich dem alten Sack damals nicht die Selbstbestimmung entzogen? Zwei Uhr fünfzehn, mein Alter schnarcht, im Haus ist es still. Ich werde noch wahnsinnig. Ich spüre, wie mir heiß wird, mein Herz rast, ich bekomme wieder eine Panikattacke …
Ich laufe in die Küche, um mich am Kühlschrank zu vergehen. Danach ist mir wie immer schlecht und ich sitze den Rest der Nacht dösend in der Küche …
Wenn doch schon Morgen wäre. Warum habe ich nur so ein blödes Becken, die Kinder wissen gar nicht, was man für sie aufgibt, blödes Pack. War alles sowieso eine Scheißidee, ich glaub mir wird schlecht … Ich fahre hoch und schaue auf die Uhr über dem Herd. Drei Uhr … Scheiße, Zeit kann so quälend langsam sein in der Nacht, und am Tag fliegt sie dahin … Wir brauchen Geld … Aber wie … Jetzt zeigt die Uhr sechs Uhr, endlich, ich setze den Kaffee auf und mache die Müslischalen für die Kinder fertig …
Bald ist Tag.
Da sitze ich nun beim Harry und hole mir Rat. Was man mit diesem alten Idioten machen kann und wie wir an die Kohle kommen, und da sagt der mir, dass wir gar nichts machen können, ist der Alte doch noch immer geschäftsfähig. Wie denn geschäftsfähig, frage ich mich, der verballert fünfundzwanzigtausend Euro, um alte Knochen aus Polen zu holen, und dann soll der noch bei Sinnen sein?
Nicht bei Sinnen vielleicht, werde ich korrigiert, aber geschäftsfähig, das sei etwas anderes. Da ich eh schon nicht mehr weiß, was ich denken soll, sage ich zu Harry, er soll mich nicht mit seinem juristischen Tamtam verwirren, sondern mir einfach einen freundschaftlichen Rat geben, was passieren muss, dass der alte Spinner nicht mehr geschäftsfähig ist. Darauf lehnt der sich zurück und denkt nach. Er fragt nach Tabletten und Erkrankungen, und da muss ich wiederum nachdenken. Aber der Alte ist einfach nur alt, ansonsten gesund. Dann fragt Harry, wie alt genau der Alte ist. Ich denke erneut nach, da fällt mir ein, dass er so Anfang achtzig sein muss. So alte Menschen reagieren seltsam, immer wieder, meint Harry und greift in die Schublade. Ich soll dem Alten einige dieser Tropfen in ein Getränk tun und dann so eine Stunde warten, ich soll dabeibleiben, und wenn er dann auf dem Teller dreht, den Notarzt rufen, der Rest erledige sich dann von selbst. Ich schaue auf die Flasche, drehe sie auf und rieche daran. Riecht nach nix, denke ich so, und etwas, das nach nix riecht, soll uns helfen? Ich solle mir keine Sorgen machen, alles werde gut. Und da wir Freunde seien, habe dieses Gespräch auch nie stattgefunden, aber ein bisschen von dem Geld, das wolle Harry dann schon sehen. Ich schaue ihn an und freue mich, dass er diebisch lächelt. Mir ist klar, dass er nicht einfach nur ein Bier von mir ausgegeben haben will, aber alles hat heutzutage eben seinen Preis, und so grinse ich zurück und freue mich, dass es weitergeht. Viel Zeit haben wir nicht mehr, dann muss das Geld auf den anderen Konten sein … Harry hat viel zu tun, ich beschließe, später weiterzudenken, und mach mich wieder auf den Weg … Ich soll die Freunde, die einem in der Not geholfen haben. nie vergessen, ruft er mir noch hinterher, und ich denke nur, dass er mich gepflegt einmal hinter dem Mast besuchen kann.
So liebe ich einen Abend, einen Sessel in der Ecke, einen Grog und neue Kapitel von Puschke. Ich werde mich heute nicht mit seiner Katowice-Idee belasten, ich werde einfach nur lesen und genießen:
II.
Während Bagajew sich in den Kellern der Glawrepertkom prächtig amüsierte, betrat Matalewski nach einer Veranstaltung für die Politpropaganda in der Provinz seine Garderobe. Dort erwartete ihn ein säuerlich dreinschauender Kulturkommissar.
„Sie wünschen?“, fragte Matalewski, schloss die Tür und ließ sich auf einen Sessel fallen.
„Warum so feindlich, Genosse Matalewski? Uns beiden geht es doch um die große Sache. Oder sehen Sie Ihre Person als den wichtigeren Teil dieser Veranstaltungen?“
„Weiß nicht?“, zuckte Matalewski die Achseln, „Wenn ich auf der Bühne stehe, dann entferne ich mich manchmal sogar von meiner Kontrolle.“
„Ja, und genau das macht uns Sorgen“, säuselte der Kulturkommissar mit einem eiskalten Blick. „Wissen Sie, wir schätzen Individualität durchaus. Aber nicht auf solchen Veranstaltungen. Sie müssen mit klareren Sprachgesängen die Revolution und ihre Ziele skandieren. Sie müssen den Propagandaschlager des Momentes verkünden, damit er noch Tage später in den Hirnen dieser Kretins erklingt. Sie müssen nur die Hirnwindungen der Begeisterung und der Folgsamkeit in Schwingung versetzen. Aber, was machen Sie? Sie kommen diesen Bauerntölpeln, welche unser Land nach vorne bringen sollen, sie kommen diesen archaischen Urzeitlern mit Ironie!
Nein, nein, Genosse Matalewski, so haben wir uns eine Zusammenarbeit nicht vorgestellt. Ihre Popularität ist schneller vorbei und Sie sind schneller vergessen, als der nächste Tag erwacht ist. Bieten Sie mir mehr griffige Parolen. Peitschen Sie die Menge für die ersten zwei Stunden auf. Geben Sie ihnen das Gefühl, dass sie mit sich und vor allem mit uns nicht alleine sind. Lassen Sie sie in einen Rausch verfallen … Und dann dürfen Sie auch für fünf bis zehn Minuten Ihre bissige Ironie versprühen. Aber erst dann. Sie haben in zwei Tagen einen Auftritt in der Stadt VD 8-23. Dort werden Sie über drei Tage zwischen sieben- und fünfzehntausend Menschen zu beherrschen haben. Wenn das wieder so selbstverliebt wie heute vonstattengeht, dann werden Sie das sicherlich etwas unterkühlte Publikum am Polarkreis davon überzeugen müssen, dass Ironie einen Menschen geradlinig und tatsächlich zum Lachen bringt!“
Matalewski schaute den Kulturkommissar aus glasigen Augen an. In seinem Kopf flogen die Gedanken so wild herum wie losgelassene Luftballons ohne Knoten.
Er versuchte die Kraft aufzubringen, zu widersprechen. Er holte tief Luft, um diesem bornierten, kunstverachtenden Kulturkaderschwein in die Parade zu fahren, als er unterbrochen wurde.
„Vielleicht erinnern Sie sich an jene Dame“, sagte der Kulturkommissar knapp und legte ein Foto auf den Tisch. „Sie kam in den letzten Tage zu uns und äußerte sich besorgt über Ihre künstlerische Entwicklung!“
Matalewski sank in sich zusammen. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und winkte ab.