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Mag es ein kollektives Unterbewusstsein geben. Vielleicht erzählen wir uns gegenseitig subtil neben unseren Alltagsambitionen auch Geschichten. Immer, wenn wir miteinander Schweigen… Eventuell fängt der eine mit einer Geschichte an und ein anderer erzählt sie fort. Wir sind alle ein Teil unserer Geschichte, durchwirken Geschichten anderer und sind die möglich Fortsetzung einer lange vor uns und anderen Menschen begonnenen Geschichte. Einer Geschichte, die solange es Menschen gibt, nie zu Ende erzählt sein wird …
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Matthias Herrmann
WENN WAHN SINN MACHT!
Roman
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2019
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Lektorat: Barbara Lösel (Nürnberg)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
Für Thomas Hardin(Moondog),den Yogivon der sechsten Straße
Bei Hesiod steht geschrieben: Teiresias stieß auf zwei sich begattende Schlangen. Er tötete die weibliche und wurde selbst zur Frau. Ein erfülltes Leben mit Familie, Haus und Hof folgte.
Eines Tages stieß die Frau Teiresias erneut auf zwei sich begattende Schlangen. Sie tötete die männliche und wurde wieder zum Mann.
Ob seines Wissens über die männliche und die weibliche Welt des Vergnügens beim Beischlaf, wurde Teiresias zu Zeus und Hera zitiert.
Zeus sagte Frauen hätten einen neunmal höheren Genuss als Männer und Hera behauptete, es wäre bei den Männern so.
Teiresias musste, aus dem Körper der Frau gerade wieder erwachsen dem Zeus recht geben, dass Frauen neunmal mehr Lust aus dem Beischlaf zögen.
Hera hierauf erbost blendete Teiresias.
Zum Trost erhielt Teiresias die Gabe des Sehers, eine neunmal längere Lebensspanne und man schickte ihn nach New York auf die sechste Avenue.
Teiresias Bitte, ihn auf dem Weg dorthin erneut an zwei kopulierenden Schlangen vorbeizugehen zu lassen, um erneut die weibliche zu töten, wurde abgelehnt.
Zeus reiste wie ein getriebener durch Europa, um einen Schüler von C.G. Jung zu finden, der ihm die weibliche Seite in sich zu entdecken lassen sollte.
Hera gründete einen Priesterinnenkult und schwor der Männlichkeit, die sie all die Jahre vorher zum Narren gehalten hatte, ab.
Die Edda: Odin: wissbegierig, dem Wachstum der eigenen Weisheit verpflichtet, durchreist die Welt. Für einen Schluck aus Mimirs Brunnen, welcher ihm seherische Fähigkeiten verleiht, lässt er ein Auge als Pfand.
Hiernach verschleppt er diverse Wesen, bleibt dabei mit seinem Speer in der Krone von Yggdrasil hängen und ersinnt in dieser Zeit das Runenalphabet. Jenes von tiefer Weisheit geprägtes Mysterium. Danach trägt ihn ein Greiff mit einer Nickelbrille nach New York.
Es gibt zwei kreative Kräfte, die Sonne und den Mond.
Ohne den einen gäbe es die andere nicht und umgekehrt.
Aber wenn die Trommel geschlagen wird, dem Herzrhythmus gleich, der Atmung folgend, dann gibt es nur das ALL-EINE.
Dann sind die wunderbar, leuchtenden Lichter bei Tag und bei Nacht nur das leise Echo dieser Kraft. Dieser Macht.
Der Schlag auf die Trommel, die Pause zwischen den Tönen und die Verehrung für den Rhythmus, das ist das Jetzt, das ALL-EINE, das ist der Klang, aus dem die Demut und der Glauben sind.
Auf dem Schoß des Häuptlings Gelbes Kalb, durfte ich diese Trommel schlagen.
Ich war die aufgehende, ich war die untergehende Sonne. Ich war das Licht drei Tage lang, bevor es mir auf meinem Weg vorübergehend entschwinden sollte.
Ich verlor das Licht von außen, um es in meinen Tiefen wiederzuentdecken und ich konnte es durch die Musik wieder in die Welt strahlen.
Kein Wunder, dass ich in New York landete.
Kein Wunder, dass ich in Recklinghausen ankam.
Kein Wunder, dass ich niemals sterben kann.
Täglich, von morgens früh bis in den späten Abend stand Teiresias auf einem Gehweg in der großen Stadt und beantwortet Fragen. Manchmal verkaufte er auch Gedichte oder sang für die Vorübergehenden ein Lied. Er passte auf sie auf, die Alltagsarmee, die sich in endlosen Schlangen der Hetze an ihm vorbeischob.
Eines Morgens, als wieder einmal die tausend und abertausend gehetzten Füße an ihm vorbeitrappelten, vernahm er wie einer der Menschen mit schnellem Atem, beschleunigtem Puls und einer unendlich- inneren Leere sich aus der Menge löste und auf ihn zuging.
›Ist hier stehen und nichts tun, alles, was du kannst?‹, fragte ihn jener Mensch erbost.
›Ist vor dir selber davonlaufen alles, was du kannst?‹, entgegnete Teiresias.
›Was willst du, Punk? Stehst du hier, lauschst den ganzen Tag in die Welt hinein und glaubst mich auch noch beleidigen zu müssen?‹, ereiferte sich der Mann.
›Nein‹, sagte Teiresias, ›ich wollte dich nicht verärgern. Du hast mein Mitgefühl. Ich wünsche mir für dich, dass du mit weniger Zorn, mit weniger Hetzte und mit weniger Gier leben könntest.‹
›Und du tust das?‹, brüllte ihn der Mann an.
›Wie wirke ich auf dich?‹, fragte Teiresias.
›Wie ein selbstherrlicher Schmarotzer, der auf Kosten von Menschen, wie mir lebt. Der die Disziplin und den Glauben an eine gute Gesellschaft von Menschen wie mir mit Füßen tritt und sich den ganzen Tag ins Fäustchen lacht, während er uns hier vorübereilen lässt‹, kreischte der Mann.
›Ich stehe hier einen jeden Tag von morgens bis abends. Es ist mir dabei gleichgültig, ob es regnet oder die Sonne scheint. Mir ist es einerlei, ob ich Hunger habe, oder satt bin. Ich stehe hier, um allen Menschen gute Wünsche mit auf den Weg zu geben. Ich fühle für sie und denke für sie. Es ist dabei jedem selbst überlassen, ob er meinen Beistand nutzt oder nicht‹, sprach Teiresias sanft. ›Ich werde gebraucht‹, schloss er mit einem Lächeln.
Der Mann japste nach Luft: ›Dir wird deine Überheblichkeit noch im Halse stecken bleiben‹, fluchte er, ›es wird dir noch schlecht ergehen …‹, keifte er Teiresias an und wendete sich wetternd ab.
›Ich wünsche dir, dass du einst Ruhe finden wirst‹, beschloss Teiresias das Gespräch und schwieg für den Rest des Tages.
Der Mann steht in der U-Bahn. Dichtgedrängt mit anderen Menschen. Er riecht die Luft, ist angewidert. Er kann nicht mehr unterscheiden, ob er oder der Mann neben ihm stinkt. Er schaut verstört zu der schönen Frau am Ende des Wagons und fragt sich, ob er jemals von so etwas träumen dürfe.
Dann läuft ihm ein Schauer über den Rücken, da er bemerkt, dass er genau in diesem Moment von einer solchen Frau träumt. Der gerade auf der sechsten Avenue hochgekommene, gallig, brennende, die Gedärme zerfressende Ärger kommt wieder hoch. Tausend Dämonen schlagen in seinem Inneren die Trommel. Seine Schläfen schmerzen und pochen zum Zerbersten. Die Augen flimmern und dieser Strom glühenden Unmutes, sucht nach einem Ventil. Wie in einem Dampfkessel dehnt sich sein Inneres aus. Die Augen treten aus den Höhlen, ein letzter Blick auf die wunderschöne Frau, bevor sie aussteigt und die U- Bahn wieder mit einem Ruck losfährt. Jetzt kann er es genau riechen, der Mann neben ihm ist der Stinker. Altes Bratfett und Schweiß. Darüber ein After Shave aus dem Discount. Tage voller Gift. Wochen voller Leid. Ein Leben voller Unruhe. Der Mann ist kurz davor die nächste Kurve und ihr schwankendes Ruckeln zu nutzen, um den Stinker zu Fall zu bringen, da ist er an seiner Station angekommen.
Der Weg ins Freie … keine Befreiung. Viel zu viele Menschen drängen sich auf dem Bahnsteig. Der Tag ist jetzt schon heiß und die Dunstschwaden der Menschen sammeln sich in den Metrobahnhöfen. In seiner Kehle bildet sich eine Enge aus. Er ringt nach Luft. Er atmet noch schneller, seine Finger und Füße, sein Gesicht fangen an zu kribbeln. Seine Sinne kreisen, schwanken, schwinden.
Er schafft es noch auf eine Bank. Dort sinkt er hernieder.
Eines ist ihm klar geworden. Dieser selbstherrliche Punk von der Straße, dieser Abschaum eines Menschen, dieser Pseudoweise wird sich noch umschauen. Schlecht soll es ihm ergehen, mindestens so schlecht, wie es ihm jetzt ergeht. Er soll spüren, dass dieses Leben ein Kampf voller Niederlagen ist.
Dann sieht er wieder einen Frauenhintern und seine Triebe ziehen ihn fort …
Die Queen Mary kehrt heim. Mit tief- bauchigen Hörnern, einem Weltenurklang, dem Echo des Urknalles, singt sie sich zurück in das Gedächtnis der Menschen. An Bord tausende Menschen, welche das Meer der Illusion überquert haben, um weiteren Illusionen auf den Leim zu gehen. Das sind die Momente, in denen Teiresias mit seiner Flöte über sein Hausdach tanzt. Er spielt zu jedem Dröhnen der Queen Mary eine Melodie und heißt sie auf seine Weise willkommen. Er lässt einen jeden Hornstoß durch sich hindurch schwingen und antwortet dem Ozeanriesen mit einer fast unhörbaren Melodie.
Er spielt eine Musik, die in dem Konzert der überwältigenden Wiederkehr untergeht und doch ein wesentlicher Bestandteil davon ist. Es ist die Musik, die ein Blatt spielt, wenn das Wasser aus ihm weicht und es hernach trocken durch den Herbstwald fliegt. Es ist der Klang, den ein Weizenfeld macht, wenn der Wind von mehreren Seiten durch es hindurch streift.
Es ist der Klang, den ein Herz macht, wenn es in jedem Moment des Schlages auf den Atem der Lunge antwortet.
Erneut stößt die Queen Mary ihr tiefes, zwerchfellerschütterndes Dröhnen aus. Teiresias antwortet mit einzelnen Tönen, die er im crescendo und decrescendo auf den Wind setzt. Der Wind trägt den leisen Klang weit hinaus auf den Hudson-River, lässt die Melodie eins werden mit der Übermacht des Dampfers … Kein Klang, keine Schwingung wird jemals vergessen sein. Alles wird als ein ewiges Echo erklingen und alle stillen Wasseroberflächen in Schwingung versetzen.
Teiresias läuft die Treppen herunter. Er ist heute spät dran. Er muss wieder zu seiner Straßenecke. Aber wenn die Queen Mary einläuft, dann erwartet sie sein Begrüßungskonzert. Alle Menschen aus seiner Alltagsarmee werden das verstehen …
Würde die Hetzte von ihnen abfallen, würden sie zusammenbrechen und zerfallen. Die Hetze ist ihr Ektoskelett. Sie umgibt diese weiche amorphe Masse ohne eine Vorstellung von sich selbst und hält sie davon ab auf den Asphalt zu klatschen und zu zerlaufen. Keine Regung des Geistes wird darauf verwendet, diese innere Masse zu formen. Keine Regung trägt dazu bei, aus dieser geformten Masse die Architektur eines Inneren erstehen zu lassen und damit erdbebensicher alles Äußere ablegen zu können. Die Hetzte drängt die amorphe Masse durch den Tag. Beschleunigt ihre Bewegung derart, dass sie nicht herniederfällt und zerläuft. Die Droge der Hetzte ist Koffein. Andauernd tragen die Gehetzten das Elixier des Fortbestandes in kleinen Bechern mit sich herum. Trinke ich, also bin ich.
Eile ich, verweile ich.
›Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?‹, fragt ein Passant Teiresias verunsichert.
›Meiner Meinung nach?‹, versicherte sich Teiresias, ›Meiner Meinung nach solltest du überhaupt nichts tun.‹
›Aber ich muss doch‹, bestand der Passant auf einer Antwort, ›ich muss mich entscheiden, in welches Geschäft ich investiere, sonst wird sich mein Geld nicht mehren.‹
›Aber, wenn du es falsch investierst, dann kannst du es auch ganz verlieren, wenn ich dich richtig verstanden habe …?‹, erkundigte sich Teiresias.
›Ja, schon, aber die Tipps sind sicher‹, räumte der Passant ein.
›Was bedeutet schon ›sicher‹?‹, hakte Teiresias nach.
›Der Typ, der mir die Tipps gegeben hat, hängt selber mit seinem ganzen Vermögen in der Sache.
Der wird sich selber doch auch nicht ruinieren wollen‹, triumphierte der Passant.
›Und wenn er dann alles verloren hat, wird er sich so pleite, wie er dann ist, bei dir entschuldigen?‹
Der Passant geriet ins Schwimmen: ›Du meinst also, ich soll mein Geld behalten und gar nichts tun. Dann wäre die Sache für mich weitaus profitabler?‹, fragte er.
›Nein, von Profit rede ich nicht. Du hättest dann vielleicht einen größeren Frieden, wenn du weder in das eine noch in das andere Geschäft investierst …‹, sagte Teirasias.
›Ich muss los, wenn ich mich hier noch länger unterhalte, dann brauche ich mir auch keine Gedanken mehr darüber zu machen, in welches Geschäft ich investiere‹, sagte der Passant schnell, warf eine Münze in die Büchse zu Füßen von Teiresias und eilte davon.
Zweifel kann, so er denn einmal gesät ist und wächst, ein nagender Zwang werden. Der Passant will Ruhe finden, will überlegen, sucht eine Bank im Park, auf die er sich setzen möchte. Seine Gedanken fliehen, entschweben, spielen Verstecken mit ihm, während sein Herz schneller, unregelmäßiger und schwächer schlägt. Warum, so fragt er sich immer wieder, hat er auch den Irren auf der Straße angesprochen. Wie konnte er davon ausgehen, dass er ihm Klarheit verschaffen könnte? Ein Obdachloser, ein Verweigerer, ein Gesellschafts-Deserteur. Wie hatte er sich dieser dahergeflogenen Intuition hingeben können, genau diesen Menschen zu fragen? Vielleicht, weil er sich so sicher gewesen war? Vielleicht, weil er diesem kleinen Versager einfach nur klar machen wollte, wie fest er die Welt, sein Leben und die Mächte des Erfolges in der Hand hatte. Unruhig nesteln seine Hände. Kein Kaffeebecher, keine Zigarette, keinen Stift für eine gewinnbringende Unterschrift in der Hand. Wohin mit diesen sinnlosen Händen? Dann bleiben seine rotierenden Gedanken an dem Kaffeebecher hängen. Genau, einen Kaffee bräuchte er jetzt. Der Kaffee würde seine Gedanken wieder in ruhigen Bahnen fließen lassen. Er würde alles wieder in seine Schranken weisen. Er würde die Flüchtigkeit wieder eingrenzen. Als er aufspringt wird ihm schwindelig. Er spürt, wie sein Herz aufhört zu schlagen und ihm schwarz vor Augen wird. Dann setzt der Herzschlag wieder ein und er kann sich noch gerade vor dem Fall abhalten. Es bricht ihm der Schweiß aus und ein sengender Schmerz, als flösse glühendes Eisen durch seine Brust, nimmt ihm den Atem. Übelkeit steigt hoch, die blanke, kalt grinsende Angst steht vor ihm. In ihrer Hand hält sie eine Hellebarde. Sie führt den rechten Zeigefinger an die Lippen, macht eine hämische Grimasse und ein langgezogenes Zischen kommt aus ihrem Mund. Dann hebt sie urplötzlich mit beiden Händen die Hellebard und stößt sie dem Passanten in die Brust.
Dieser bricht stöhnend zusammen. Der Schmerz lässt ihn nicht fühlen, ob das Herz noch schlägt.
Der Schmerz lässt ihn keinen Frieden finden.
In genau diesem Moment legt seine Sekretärin ihm im Büro einen Zettel auf den Schreibtisch. Man lässt ihm ausrichten, dass beide Geschäfte höchst erfolgreich zum Abschluss gekommen sind.
Teiresias hatte ihn auf dem Nachhauseweg getroffen. In einem fort rauchend und als habe ihn das Schicksal derbe gegen den Hinterkopf geschlagen, saß er zusammengesunken auf einer Bank. Teiresias setzte sich dazu: ›Was bedrückt dich?‹, fragte er den Verzweifelten.
Dieser antwortete, ohne einen Moment nachgedacht zu haben: ›Das das Leben für das Erreichen der Zufriedenheit zu kurz und für das Verspüren von Schmerz und Leid zu lange ist.‹
Teiresias blinzelte in die untergehende Sonne: ›Und wer sagt dir, dass du alles in diesem Leben erledigt haben musst, um Zufriedenheit zu erlangen?‹, fragte er sanft.
›Na, ich sage das und glaube mir, ich weiß wovon ich rede‹, und ohne eine Aufforderung abzuwarten sprudelte es aus ihm hervor. ›Meine Frau war Paschkudin und ich war deutschen Ursprungs. Wir lebten in Kabalisistan in einer deutschen Enklave, als die Deutschen kamen und alle Nicht- Deutschen deportierten. Meine Frau kam in irgendein Lager. Wir waren damals Anfang Zwanzig. Dann verschwanden die Deutschen so schnell, wie sie gekommen waren und die rote Armee zog ein nach Kabilisistan. Ich wurde als Deutschstämmiger deportiert und meine Frau kehrte wieder zurück nach Hause. Sie brachte einen Sohn aus der Verbannung mit. Dann endlich starb Stalin und ich konnte das Lager verlassen und kehrte zurück nach Hause zu einer Frau, die ich seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte und einem Sohn, den ich noch nie gesehen hatte. Djordje, ein fixer Bengel, der noch ein Jahr bei uns wohnte, bevor er nach Deutschland ging, um dort sein Glück zu machen. Meine Frau war bei meiner Rückkehr schon schwer erkrankt und es blieben uns noch zwei Jahre, bevor sie starb. Ich blieb alleine und erlebte mit, wie die kleinen Dörfer ausstarben. Ein Freund erzählte mir von New York und ich ließ mich überreden hier mein Glück zu versuchen.
Hier arbeitete ich mir die letzte Würde aus dem Leib und nun sitze ich tagein und tagaus auf dieser Bank, rauche, schaue den Tauben zu und kann einfach nicht sterben … Am besten ich erledige das selber, bevor das Schicksal sich endlich einmal erbarmt …‹
Teiresias schaute den Mann lange und liebevoll an: ›Und mit dem Tot wäre alles vorbei?‹, erkundigte er sich.
›Ja, wenn ich es dir doch sage. In meiner Gedankenwelt reicht ein Leben voll und ganz. Weitere Leben können mir mit Sicherheit auch keine Zufriedenheit geben … Und ganz ehrlich, ich will es eigentlich auch gar nicht ausprobieren. Was ist, wenn das nächste Leben noch leidvoller wird …?‹, fragte er und entzündete die nächste Zigarette an der gerade gerauchten.
›Und was, wenn nicht?‹, gab Teiresias zu bedenken.
›Und was, wenn mich das eigentlich gar nicht interessiert?‹, sagte der Verzweifelte genervt. Belangloses reden hätte er gewollt. Aber da setzte sich dieser blinde, in Lumpen gehüllte Mensch neben ihn und stellte ihm Fragen über das, was über all die Jahre seine abscheugefülltes Leben gewesen war. Das Gefühl weg zu müssen machte sich in ihm breit.
›Ich muss jetzt los‹, sagte er und erhob sich.
›Werden wir uns wiedersehen?‹, fragte Teiresias.
›Vielleicht in einem anderen Leben‹, grunzte der Verzweifelte und spuckte verächtlich aus.
Der Verzweifelte steht auf einer Brücke und schaut in das nachtschwarze Wasser.
›Warum warten?‹, geht es ihm im Kopf herum, ›Was hält mich davon ab, jetzt hier sofort alles zu beenden? Bin ich am Ende sogar feige? Oder hat das Lumpenmännlein recht gehabt mit seinem Gerede?‹
Seine Hand fährt in seine Jacke, um eine Zigarette hervorzuziehen, aber die Packung ist leer. Einen Blick wirft er noch auf das Wasser des Flusses. So eine Entscheidung will ja irgendwie auch überlegt sein und ohne Zigarette kann er nicht denken. Er schaut sich um: einsam und leer liegen die Straßen da. Wird ein längerer Weg sein, um einen Laden zu finden.
Er stößt sich mit beiden Händen vom Brückengeländer ab und dreht sich zum Gehen.
Da rauscht ein Motorradfahrer wie aus dem Nichts an ihm vorbei und reißt ihn zu Boden. Der Motorradfahrer hat ihn überhaupt nicht bemerkt, so schnell fährt er vorüber. Der Verzweifelte schlägt mit dem Kopf auf den Bordstein. Die Schlusslichter des Motorrades sieht er noch, bevor er das Bewusstsein verliert.
Den ganzen Tag ist der Treck der Autos vorbeigeflossen. Den Rhythmus ihres Anfahrens und Abstoppens, ihres zähen Raupenmarsches gehört.
Hupen erklingen und schallen für kurze Zeit durch den Brei der Geräusche. Erneut trappelnde Schritte. Atem, Gedanken, Blicke ohne Unterlass, so manch einer auf ihn: Teiresias, der blind und stumm auf dem Gehweg steht und alles durch sich hindurchfließen lässt. Aus dem Cafe dort hinten erklingt Jazz. Es ist eines der Stücke, in welchen ein Mensch die Tonleitervielfalt des Leides durch eine Trompete in die Welt drückt und durch die Klüfte einer jeden Seele klingen lässt. Der Bass klingt nach, noch lange, nachdem das Stück verstummt ist. Einige Meter die Straße hoch hört man Stepptanzschritte. Ein versierter Tänzer macht vor und ein williger Tänzer macht nach. Dann wieder eine Hupe. Der Verkehrsstrom kommt zum Erliegen und die verschiedenen Geräusche der Motoren vereinigen sich zu einem Wabern und Dröhnen, welches über den mittagsheißen Straßen schwebt.
Kurze Zäsuren in dieser Urmelodie erklingen, wenn kleinere Geldstücke in die Büchse zu Teiresias Füßen fallen. So manch einer der Passanten greift nach einem der Zettel, die er in der Mappe um seinen Bauch gebunden trägt und man hört wie die Zettel nur wenige Schritte weiter zerknüllt und hinfort geworfen werden … Es ist eben nur Poesie, nichts, was man im Gehen, im Vorübergehen und ohne Ruhe verköstigen kann. Schnöde Wortansammlungen, für welche man Zeit braucht. Zeit und Mut. Den Mut sich darauf einzulassen. Den Mut nach dem Lesen vielleicht noch weniger von diesem Leben zu verstehen, als vorher. Dann läutet die Notfallglocke. Sirenen erklingen, werden lauter, fahren verbeulten Klanges vorbei und verschwinden in dem Ostinato des Motorendröhnens. Viele Hetzende stehen für den Bruchteil einer Sekunde still. Nicht Andacht, nicht Fürsorge hält sie auf.
Nicht der Gedanke der Endlichkeit aller Dinge. Die Sorge die Sirene könne für einen selber bestimmt sein. Wo man sich doch heute so gut gefühlt hat.
Doch die Sirene fährt weiter. Man erwacht, erschreckt und geht mit Spuren von Scham, wegen dieser törichten Gedanken schnell weiter. Irgendwo klappert ein Fensterladen im Durchzug der Straße.
Irgendwo quietscht ein Schornstein. Vielleicht auch ein Wetterhahn. Der Tag pulsiert seinem Ende zu, Teiresias erwacht langsam aus seiner Starre. Wie viel Tag kann in dem Gefühl eines zuhörenden Menschen bleiben? Führen seine Studien an dem Geräuschpuls der Straße zu einem vermittelbaren Einklang unter Menschen? Ist es durch das Studium der Schwingungen im Leben möglich das Leben und die Lebendigen zu verstehen?
So langsam hat Teiresias ganz menschlich Hunger und er freut sich auf einen Kaffee. Er lauscht noch einmal die Straße rauf und runter. Dann steuert er sein Stammlokal an.
Hass und Abscheu, so sie sich dann einmal festgefressen haben, bleiben unnachgiebig. Entfesselt, entfacht haben sie sich zunächst auf das eigene Selbst gestürzt. Hier sattgefressen, von dem Selbst nichts mehr übriggelassen, dringen sie dann nach außen. Suchen nach neuen Objekten der Begierde, werfen sie sich geifernd auf vermeintlich niedere Wesen. Glauben niedrig, verabscheuungswürdig und wertlos definieren zu können, um dann im Blutrausch der Vernichtung alles zu zerfetzen, was diesem Abtrünnigen entspricht.
Der erboste Mann sitzt in einer Schänke und lässt bei Bier und Schnaps den Tag revuepassieren.
Blind, verschwommen sein Blick, eingetrübt, unfähig ein klares Urteil zu fällen sind seine Gedanken.
Er brüllt ihn hinaus seinen Frust, seinen Hass, seine bemitleidenswerte Einsamkeit. Er findet ein breites Echo am Tresen, unter jenen Menschen, die dort stehen und die letzten Reste einher Selbstachtung versuchen loszuwerden.
Er wird zu Vorredner. Die anderen zu Claqueuren. Sie trinken nur noch Schnaps, der Abend ist weit fortgeschritten. Der erboste Mann spricht über den Freak, den Punk. Erzählt, wie dieser ihn beleidigt hat. Ihn, der dieses Land mit aufgebaut hat. Die Claqueure nicken, prosten sich zu, kreiseln stumpf in ihrem betäubten Sein und hoffen durch irgendeine magische Eingebung auf Erlösung. Dann wird der erboste Mann schrill. Er keift wie ein Weib und erzählt etwas von Rache. Er deklamiert, dass die Rache das Recht sei und Ungeziefer sterben müsse.
Von der großen Menge der Claqueure sind noch zwei schnapstrübe Gestalten übrig geblieben und als der erboste Mann zum Kampf gegen die Brut des Teufels aufruft, wanken sie ihm hinterher. Er weiß genau, wo der Punk nächtigt. Und die anderen beiden folgen ihm.
Sie treiben Teiresias auf. Sie treiben ihn aus seiner Höhle, verschlafen, verwirrt, wehrlos. Der erboste Mann drischt auf ihn ein, als müsse er die Welt von einem Dämon befreien. Einer von den Gefolgsleuten hält Teiresias dabei fest. Dann liegt er auf dem Boden und sie treten auf ihn ein. Bis eben hatte er noch gestöhnt, jetzt ist Stille. Der erboste Mann will Teiresias noch einmal die Faust in das Gesicht setzen, als einer der Betrunkenen mit einem Stahlrohr ausholt und zuschlägt. Den erbosten Mann trifft es ungebremst am Hinterkopf. Er sackt blutend auf Teiresias und bewegt sich nicht mehr. Die beiden Gefolgsmänner bemerken, dass hier etwas nicht richtig läuft und ziehen es vor zu verschwinden. Konnte doch ein jeder von ihnen mit dem Gefühl schlafen gehen, es habe schon den Richtigen getroffen.
Morgenübergabe: Bettplatz 10, männlich, Mitte vierzig, wurde im Rahmen einer Schlägerei mit einem stumpfen Gegenstand, vermutlich Stock oder Rohr am Hinterkopf getroffen, schwere Contusionsblutungen, offene Schädelfraktur, Bruch des ersten und zweiten Halswirbels. Im Rettungswagen reanimationspflichtig geworden, kreislaufinstabil hier einliefert worden, zurzeit sehr instabil.
Bettplatz 8: männlich, Anfang fünfzig, auch bei der Schlägerei dabei gewesen, multiple Prellungen und Hämatome, instabiler Thorax bei beidseitiger Rippenserienfraktur, traumatischer Milzriss, nach OP und dreizehn Blutkonserven leidlich stabil, nach Rücksprache mit den Anästhesisten verlängerte Nachbeatmung, wegen der Thoraxsituation, sollte nicht noch mal mit dem Kreislauf in den Keller gehen, wie heute Nacht, sonst wäre es das gewesen …
Bettplatz 13: Leihgabe von den Internisten, wird auch von denen versorgt, hatten heute Nacht keine Betten mehr, Mitte dreißig Jähriger Patient, massiver Vorderwandinfarkt, bei Eintreffen der Rettungskräfte reanimationspflichtig, unklare Hypoxie-Zeit, nicht ganz klar, wie viel Schaden im Gehirn gesetzt wurde, hängt zur Zeit an dem dünnsten aller Fäden hier …
Bettplatz 15:Pat Ende sechzig, wurde mit einem SHT ersten Grades aufgefunden, am ehesten von einem vorüberfahrenden Fahrzeug gestreift worden, kleinere Prellungen, Platzwunde Schädel, wurde zunächst als stabil eingestuft und zur Beobachtung peripher aufgenommen, dann im Laufe der Nacht stellte er alle Funktionen ein, liegt seither intubiert und beatmet hier, da läuft heute noch eine CT Schädel, um diesen unklaren Einbruch zu klären …
Bettplatz 10 denkt:Paranoid-halluzinatorische Phasen sind nicht nur für einen selber, sondern auch für andere Menschen sehr verwirrend.
Letzte Woche zum Beispiel, hielt ich meinen greisen Vermieter tatsächlich für einen feuerspeienden Greif. Als ich mit Knüppel und Wasserschlauch auf ihn losging, fühlte er sich im höchsten Maße angegriffen. Die Konsequenzen waren wie immer eindeutig und unausweichlich.
Ich wurde wieder eingewiesen. Nachdem ich seit dem zwei, statt einer Tablette nehme, hat sich mein Zustand so gebessert, dass ich alles, was mir so im Kopf herumgeht nicht mehr sofort mitteile.
Sollen sie doch alle ausgeglichen und zufrieden spielen.
Ich werde niemandem mitteilen, dass die ganze Welt einfach nur Lug und Trug ist. Da hilft es auch nicht, sich in tiefen Glauben, in die Schöße jüngerer Frauen oder in Aktien zu versenken.
Als ich zurück nach Hause kam, hatte mir mein verschreckter Vermieter meine Sachen bereits in einen Schuppen geräumt. Sehr menschlich erlaubte er mir bis ich etwas Neues gefunden hätte, dort zu hausen, aber im Haus wolle er mich nicht mehr sehen.
Wissen Sie, das ist geistige Größe. Ich habe ihn derb geschlagen und ziemlich unter Wasser gesetzt, da ich ihn ja für einen feuerspeienden Greif gehalten habe. Aber er verschont mich und bietet mir sogar eine Bleibe.
Hinter vorgehaltener Hand erzählte er mir, dass es ihm auch einmal so gegangen sei. Damals, als er nach seinem Sturz mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus gelegen hatte und nicht mehr jeden Abend seine fünf Herrengedecke bekommen hatte.
Da hätte er auch gedacht, die Nachtschwester wäre ein wütender Engel auf der Jagd nach seiner Seele.
Die hätte es auch nur schwer verschmerzen können, dass er sie aus dem Fenster des zweiten Stockes geschmissen habe.
Aber, und in diesem Punkt bliebe er hart, ich käme ihm nicht mehr ins Haupthaus. Ich bedankte mich.
Was sollte ich auch bei all diesen verwirrten Menschen, die morgens brav zur Arbeit gehen und sich abends im Internet nach einigen Flaschen Bier auf Kinderpornos einen runterholen.
Da liege ich lieber auf meinen Habseligkeiten im Schuppen und bin einer der wenigen Menschen, die wirklich wissen, was in der Welt so passiert.
Doch genug für heute. Irgendwann muss auch ich mal schlafen.
Bettplatz 13. denkt mit:Gestern trafen sich in mir zwei Dämonen. Das war ein sehr amüsierender Moment für mich. Ich saß gerade im Schuppen, schaute durch einen Spalt in den Wandlatten hinaus auf den Hof, auf dem so überhaupt gar nichts passierte, da passierte es.
Die Gier und die Missgunst trafen sich. Die Gier rief der Missgunst zu, dass sie es begierig wolle und die Missgunst antwortete indigniert, dass sie es nicht für abertausende von Euro und schon gar nicht mit einem solch niederen Dämon machen würde.
Ich dachte einen Moment darüber nach, warum viele Dämonen weiblich seien, als die Gier in mir, der Missgunst an die Kehle ging.
Entgegen allen Vorstellungen fand die Missgunst dieses Würgen irgendwie erregend und gab sich mit schwindenden Sinnen der Gier hin. Da ging ganz schön was ab in mir. Ich glaube, wäre ich noch im Haupthaus gewesen, hätte man wieder das Entsorgungskommando gerufen.
Also zurück zu der Tat: Die Missgunst ließ sich gepflegt von der Gier verknorpeln und ich stand nach dieser heftigen Nummer mit den Früchten dieser Vereinigung in meinem Schuppen herum:
Gierige, arrogante, blasierte und ungebremste Dämonen flottierten um mein Sein und brachten nichts Anderes, als Unruhe in mich.