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Der Aphorismus ist das kleine Brüderchen vom literarischen Essay. Wer also rhetorisch saubere, eigenständige, kurze, der Wahrheit angelehnte, lebensweise, oftmals paradoxe oder gar urteilsbehaftete Sinn-, Aus-, Wahr- oder Kernsprüche zu Papier bringt, darf sich deswegen als Aphoristiker*in bezeichnen. – So, wie der Autor dieses Aphorismenbandes.
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Seitenzahl: 84
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Matthias Herrmann
LOTGERECHTESEIGENGRAU
(parasophische Alltagsbefragungen)
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2024
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2024) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
www.engelsdorfer-verlag.de
‚Den Aphorismus kultivieren nur diejenigen, die das Bangen inmitten der Worte kennengelernt haben, jenes Bangen, mit allen Worten zusammen einzustürzen.‘
E.M. Cioran ‚Syllogismen der Bitterkeit‘
Für Olli!
Cover
Titel
Impressum
Mut zum Staunen
Wenn sich Überschriften verlieren!
Nachnominierungen:
Zu häufig ist ein Lächeln ein verschluckter Schrei. So entspricht er aber der Konvention.
~
Wenn das Vergessen die Vergangenheit übergrünt und die derzeitige Welt als die beste aller möglichen erscheint, dann vermag die Selbstverherrlichung den derzeitigen Stand, als die Krone des Fortschritts überhöhen. Denn es gilt: Erst wenn du erst bis dann bist du dann. Man wird festgelegt. Jede andere Sicht ist Traumtanzrausch.
~
Fatal: ein Mensch verschlingt das Leben tag-täglich wie Mahlzeiten. Sie inhalieren Bücher, Musikstücke und Biographien. Sie ziehen sich Fakten wie Drogen durch die Nase, um sie in ihrem Hirn für alle Ewigkeit abzuspeichern. Und zum Nachtisch verschlingen sie ihre Mitmenschen, um diese dann voller Ekel und Übersättigung im Rahmen eines Ihrer Wutausbrüche wieder auszuspeien.
~
Wenn das Müssen das Wollen mal kann:
Zwecks innerer Sammlung begab man sich einst in Klausur. Gedanken reiften, Erkenntnisse nahmen Form an und vielleicht kam am Ende auch eine neue Weltsicht hervor. Descartes hatte nach 20 Jahren Klausur für sich einen Weg gefunden. Heute erhält man durch Quarantäne Zwangsklausur. Und statt einer inneren Sammlung, sammelt man Gefühle der Abneigung, überschwemmt die sozialen Kontakte durch Fotos vom Mittagsessen. Vor der Ingestion und eventuell auch danach. Besinnung wird gegen die Entsinnung im Käfigkoller, mit zartem Kaninchenzittern vor der Schlange, kultiviert. Am Ende wieder frei, ganz ohne neue Weltsicht.
~
Apropos
Apropos Descartes: nach vielen Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten des Kontemplierens, war sein archimedischer Punkt der menschlichen Vernunft: Ich denke, also bin ich. Nun ist es jedoch vielerorts bewiesen, dass der Mensch sehr gut ohne Gedanken leben kann. Aber ohne seine Nierenfunktion eher nicht. Warum ist es dann nicht folgerichtiger zu sagen: Ich uriniere, also bin ich? Vielleicht, weil das bloße Existenz wäre? Wenn das ‚Ich‘ zu einem Sein und dieses zu einem Dasein werden soll, darf es dann nur existieren? Ja, darf es!
~
Werktätige Liebe
Wenn Liebe und Fürsorge in die Isolation schicken. Kontakte meiden, um Ansteckung zu vermeiden. Besonders bei betagten Menschen. Alte Dame, fünfundachtzig, Krieg und Hunger überlebt. Jahrzehntelang schon den Wechselfällen des Lebens ausgesetzt und darf sich dann durch Entzug aller menschlicher Kontakte geschützt fühlen? Dann lieber gar nicht mehr Leben. Oder die Würde durch Ungehorsam wiedererlangen? Nachdem sie die Polizei mehrfach wieder aufgegriffen hatte und zurück in die Pflegeeinrichtung gebracht hatte, stellte sich dann die Frage nach dem Geisteszustand. Eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung wurde befürwortet.
~
Die Formel des Anfanges war: Durch Abstand zusammenzurücken. Das Zusammenrücken wurde auch mit der Solidarität gleichgesetzt. Wenn Solidarität fast wörtlich genommen das unbedingte Zusammenhalten bedeutet, dann darf sie nur platonisch verstanden werden. Und platonische Beziehungen enden an der eigenen Haustür. Da gibt es keine Transzendenz über die Fußmatte hinweg. Die Grenzen meiner Möglichkeiten beginnen, wo die Winterdienstpflicht endet.
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Aspergers Paradies:
Keine Partys, triefend von Smalltalk mehr. Zu Hause bleiben, ohne dem Hohn und Spott ausgesetzt zu sein. Endlich einmal kein Langweiler mehr zu sein. Die Isolation fast dankbar angenommen. Sich nur noch den eigenen Spinnereien widmen zu dürfen. Friede zu finden in einer der größten Katastrophen. Vielen Dank Pandemie!
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Impeachment:
Obsiegt der Wahn über den Geist, so wird man Hölderlin im Turm oder Präsident. Bei dem einen finden die Worte einen tief verschlüsselten Sinn und wenige können daraus eine höhere Nachricht vernehmen. Bei dem anderen bedient der verbalisierte Wahn niedere Triebe und lässt Verrohung zu einer individualisierten Kunstform werden. Feinde reißen und ihre Reste in alle Winde zu zerstreuen dient dazu den falschen Nachrichten endlich mal ein Ende zu setzen. Da zeigt doch der Grübler im Turm mehr Würde. Auch wenn diese nur wenigen vorbehalten ist. Lieber die Wahnwürde wahren, indem man seine kryptische Seite in Stille paraphrasiert, als die Wahnwirren lauthals, unlauter die Welt mit hineinzuziehen.
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Katastrophen-Narzisst:
In der Krankheit eitel. Als habe die Vorsehung einen allein bestimmt diese schwere Erkrankung zu bekommen. Oder als habe sie einen sogar auserkoren. Wäre es zynisch da nur von einem Zufall zu sprechen? Davon zu sprechen, dass sich weder eine außerweltliche Kraft unterstellen, noch ein irdischer Zusammenhang nachweisen ließe? Das Schicksal hat gewürfelt, dabei sind ihm die Würfel in den Gully des Daseins gefallen und es wollte bei so übermächtiger Schwerkraft nicht auch noch die Münzen zum Wurfe auspacken. Das allein war vielleicht nur der Grund. Oder es gibt vielleicht gar keinen.
~
Frau K., Tagelöhnerin der Tragik, vermochte keinen Tag ihres Lebens in geordneten Bahnen zu leben. So zumindest, wenn man ihren Ausführungen Glauben schenkte. Sie vermochte zum Beispiel nicht einfach nur einen Liter Milch kaufen zu können. So manch einer überquert die Straße, geht in den Laden, greift einen Liter Milch, zahlt und geht nach Hause. Einzige Tragik: zu Hause angekommen stellt er fest, die Milch ist abgelaufen.
Nicht so Frau K. Sie steht zunächst vor dieser riesengroßen Straße, auf welcher Ungeheuer mit völlig überhöhter Geschwindigkeit sie an dem Überqueren hindern. Nachdem sie sich, ihr Leben aufs Spiel setzend, Frisur und äußere Erscheinung einbüßend zum Laden vorgekämpft hat, muss sie feststellen, dass dieser gerade geschlossen wurde. Aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades und ihrer langjährigen, treuen Kundschaft, wurde ihr noch einmal geschwind geöffnet. Als seien tausend Teufel hinter ihr her, rast sie durch die Gänge, verfehlt beinahe das Milchregal und schafft es noch den aller Letzen Liter ihrer Lieblingsmilch zu ergattern. Die genauen, ergreifenden, zermürbenden, zersetzenden und das Dasein untergrabenden Details des Rückweges lassen wir mal außer Acht. Dennoch zerbröselt Frau K. zu Hause dann endgültig das Schicksal, als sie bemerkt, dass die Milch 3,5% und nicht 1,5% Fett hat.
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Oppositionsreflex:
Wenn die Willkür etwas für tot erklärt, dann haucht sie dem Totgesagten den Odem der Unsterblichkeit ein. Denn solange sich vier Jugendliche (Männer, Frauen, Zwischenwesen, egal) mit einer Singstimme, einer E-Gitarre, einem E- Bass und einem Schlagzeug zusammentun und schnell und voller Furor Musik machen, wir der Punk nie verstorben sein. Dann erklingt die nölend, quengelnde, alles und jeden hassende Stimme mit der Gitarre, die verzerrt ertönt, als wolle ein Spastiker mit einem Eispickel einen Granitblock zerteilen, stets untergrünt von dem harmonie- und rhythmusfreien Bass, dem wiederum das kontinentalplattensprengende Schlagzeug auf den Fersen ist. Urknallkater in seiner schönsten Form. Nur eine Regel gibt es da: Wir treffen uns alle bei der Eins
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Die Hülle macht den Eindruck:
Wenn Worte den Gedanken Beine machen, ihnen Arme zu Gestikulieren und Flügel zum Fliegen verleihen sollen, dann wäre es vortrefflich, wenn es die passenden Worte wären. Verkümmerte Worte bedeuten verkümmerte Gliedmaßen und wer kann Gedanken elegant passieren lassen, wenn sie so krummgeschissen daherkommen mit ihren Quasimodotentakeln.
Wie schafft man es also, ergreifende Gedanken mit den Gliedmaßen der Venus von Milo ins Rennen zu schicken und ihnen als Pointe das tragisch wie verschmitzte Schmollmundlächeln einer Brigitte Bardot aufzusetzen? Hmmm, das ist wohl noch in Arbeit.
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Friedensparadox:
Wenn sich die ergreifenden Klangfarben des Friedens um den Orgelpunkt der Verzweiflung winden, dann ist es der Moment, in dem gerade ein Mensch verstorben ist.
Die Weisheit des Alters ist durch ein elektives Gehör getragen. Man hört nur noch, was man ertragen oder kommentieren kann. Alles andere sind akustische weiße Flecken auf der Daseinslandkarte. Man verrät es besser nicht weiter, es wäre der Untergang der Akustiker.
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Nützlicher Holzscheit: Vor vier Tagen vertriebst du den räudigen Kater in der Nacht. Vor drei Tagen hieltst du einen ganzen Tag bei Wind die Schuppentür offen. Vor zwei Tagen warst du die Quelle der Inspiration für ein mögliches Schnitzwerk, welches zum Abend hin bereits in Gedanken verworfen wurde. Gestern beschwertest du einen Stapel alter Zeitungen, welche dann nach und nach unter ein zu lackierendes Metall gelegt wurden.
Heute prasselst du im Ofen. Bis zum Ende der Flammen. War es das dann mit dir?
Aus der Asche wir Tusche. Und damit werden Bilder gemalt.
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Ungefragt Sachverhalte zu kommentieren ist die Aufgabe von Schriftstellern und Philosophen. Gefragt und geradezu genötigt Sachverhalte zu kommentieren, ist die Aufgabe von Eltern. Und es führt sie mitunter in die Wüste der Ohnmacht.
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Deine Vorstellung von ‚blau‘ ist nicht meine Vorstellung von ‚blau‘. Nur wenn wir beide betrunken sind, nähern sich die Vorstellungen an.
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Der Glaube durch Menschenopfer, sei es in Ritualen oder durch Kriege, den Weg für das Weiterleben, ja Gedeihen der verbleibenden Menschen zu bahnen, ist genauso irreführend, wie die Vorstellung, man könne den Kopf eines Menschen abschlagen, auf dass ihm neue Gedanken wüchsen.
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Zwischen den Zeilen gelesen, mag der Zeilensprung den tiefen Sinn, sowie Unsinn ausdrücken
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Wieder einmal auf die Rücklichter des Zuges geblickt. Hatte dieser doch so ganz seine eigene Zeitvorstellung umgesetzt. Vor dem Bahnhof dann am Zebrastreifen gestanden. Die Autos hielten nicht. Man selber ging nicht. Ist das Gehen das Signal, damit die Autos dann anhalten? Wer weiß das schon zu sagen, an Tagen die nicht erfolgversprechend waren.
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Beim Balancieren mag man die Schwerkraft nicht. Auf dem Seil zieht sie einen in den Fall. Beim Sprechen in die Tiefe des Unverständnisses. Bei Verhandlungen dominiert die Schwerkraft der Dualität. Will man seine Vorstellungen durchsetzen, so droht die Welt zur Scheibe zu werden, an deren Ende man über die Klippe geht. Apnoetauchen in der Welt der Dichotomie.
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Erfüllt die Assimilation von Immigranten nicht den Sachverhalt des Stockholm- Syndroms?
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Wissen ist Wähnen. Wähnen ist der konkrete Seelenzustand zwischen Illusion und Wohlbefinden.
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Der ‚Allgemeinplatz‘ ist der diffuseste Ort im Straßen-Dschungel ‚Sprache‘. Jeder kennt ihn, kann aber keine klare Wegbeschreibung geben.
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Im Winter fragt sich der Morgen des Öfteren, ob er nicht schon ein Abend ist. Und ich frage mich da jeden Morgen, wann und vor allem warum die Menschheit den Winterschlaf im Laufe der Evolution abgelegt hat.
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Der Chauvinismus in der Pandemie heißt Priorisierung.
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