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Warten ist immer auch ein Weg in die Entfremdung. Und so wartet ein junger Mann auf die Ankunft eines Onkels, damit dieser sich von einer verstorbenen Verwandten verabschieden kann. Dieses Warten geht über Gedanken hin zum Träumen. Das Kaleidoskop des Denkens auf der Achterbahn des Daseins.
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Seitenzahl: 114
Veröffentlichungsjahr: 2020
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In Subraumträumen
Matthias Herrmann
Engelsdorfer VerlagLeipzig2020
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/DE/Home/home_node.html abrufbar.
Copyright (2020) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Kein Ding ist ohne Meinung,
aber ein jedes ist ohne Bedeutung.
Cover
Titel
Impressum
Tag, Abend, Nacht
II. Tag
III. Früher Abend
IV. Später Abend/Nacht
V. Morgen
1.
In diesem Leben wird man entweder verrückt oder weise.
Die Verrücktheit äußert sich in zunehmenden Schmerzen, Phasen von Unruhe, Schlaflosigkeit oder Erschöpfungszuständen.
Die Weisheit äußert sich, indem sich gar nichts mehr äußert.
Parzival Prototo steht an einer Bushaltestelle und schaut einem Mann dabei zu, wie dieser mit sich selber spricht, als sein Telefon klingelt:
Großtante gestorben, Onkel Ignatius noch nicht erreichbar gewesen, da er, Parzival, als Student abkömmlich sei, als Hilfe hinzugerufen … Solle so lange Wache halten, bis Onkel zum Abschied dagewesen sei, und dann dem Beerdigungsunternehmen Bescheid sagen …
Wann er dann kommen solle, die Frage.
Na sofort, die Antwort. Den Schlüssel bekäme er in dem Geschäft um die Ecke, man wisse dort Bescheid und keine Widerrede, schließlich könne er auch mal … und überhaupt habe er sich ja nie … und über den
Verlauf seines bisherigen Studiums wolle man schon gar nicht …
Als Parzival aufgelegt hat, sieht er, wie der Mann mit sich selber in Streit gerät. Sich selber heftig beschimpfend, verpasst dieser den Bus und bleibt alleine und gespalten an der Bushaltestelle.
2.
Furcht hat Parzival nur vor den Menschen, die in der ersten Reihe vor einem Scheiterhaufen stehen und „Anzünden!“ brüllen. Eben Heuchlern, die glauben, Frieden im Herzen zu haben, während sie andere Menschen gewaltsam dem Tod übergeben.
Im Geschäft um die Ecke bekommt er von einer Verkäuferin den Schlüssel ausgehändigt. Keine Fragen, keine Antworten, keine weiteren Anweisungen. Als er die Wohnung betritt, umfängt ihn eine nie gehörte Stille. Die Großtante liegt auf dem Bett, die Hände gefaltet, den Kiefer hochgebunden. Der Rauch einer verloschenen Kerze hängt entfernt in der Luft. Parzival lässt einmal kurz den Blick schweifen und begibt sich dann in den Wohnraum. Vier Wände, die ab nun seine Welt sein würden. Seine Welt, bis Onkel Ignatius Abschied genommen hat.
Draußen geht die Sonne unter, in fahlen Streifen wirft sie ein letztes Licht in den Raum, bevor es dunkel wird. Parzival macht die Lampen an und lässt seinen Blick über das Bücherregal schweifen. Viele Bücher stehen noch eingeschweißt im Regal. Einige wenige sind gelesen, die meisten harren verstaubt ihrer Entjungferung …
Erneut klingelt das Telefon:
Ja, vor Ort. Nein, er warte noch. Das wisse er doch auch nicht, wann der Onkel käme … Nein, er sei nicht aufmüpfig … Nein, man brauche sich keine Sorgen zu machen, er würde sich um alles kümmern … Aber darum könne er sich doch erst kümmern, wenn der Onkel dagewesen sei … Ja, er würde sofort Bescheid sagen … Ja, bis morgen …
Genervt legt Parzival auf. Sein Blick schweift weiter über die Regale. Da entdeckt er einen Plattenspieler. Daneben stehen einige Dutzend Schallplatten, auch auf ihnen hat sich eine Staubschicht niedergelassen. Er zieht eine Schallplatte aus dem Stapel: die Préludes von Chopin … eingespielt von Claudio Arrau.
Dann klingelt erneut das Telefon:
Wieso fahrt ihr denn schon morgen? Aber wir wollten doch erst nächste Woche nach Biarritz fahren … Soso, und weil der nächste Woche nicht kann, fahrt ihr morgen? Nein, ich kann morgen nicht, meine Großtante ist gestorben …
Und nach einigem Hin und Her wird wieder aufgelegt – genervt, enttäuscht, voller Zweifel, was Pelagia wirklich will. Sie beide wollten eigentlich zu zweit nach Biarritz fahren. Dann hatten sie im Freundeskreis darüber gesprochen und es hängten sich die üblichen Verdächtigen mit an den Plan. Und jetzt fahren alle eine Woche früher und er sitzt hier …
Er greift zum Telefon, lässt es wieder sinken. Nimmt es wieder auf, will etwas unternehmen … Erneut fällt sein Blick auf die Schallplatte. Er nimmt die schwarze, glänzende Scheibe aus der Hülle und legt die Préludes von Chopin auf. Das Telefon bleibt auf dem Tisch liegen und er verliert sich in der Musik:
Prélude 1 C-Dur:
Überfahrt
Der Horizont, mein Leben schwankt,
in Grau getaucht das Licht, schmierig das Deck
Orte gibt es, die verlässt man gerne
Das Klavier im Frachtraum steht im Feuchten,
verzogene Zargen, fröstelndes Gefühl
Ausgerechnet eine Insel,
ausgerechnet dort eine Heilung?
Prélude 2 a-Moll:
Trommeln der Nacht
Gewogen, geborgen im einst Guten
schwebend vollführt,
im Glanz des Trüben entlarvt
Ein Gedanke gerade recht gekommen
im Hauch des Verlangens,
verhangen gegen Morgen,
verloren und auf den Acker einstiger
Fruchtbarkeit geworfen,
um dort Vielfalt zu treiben …
Das Telefon klingelt erneut. Parzival hebt den Tonarm von der Schallplatte. Stumm rotiert die schwarze Scheibe weiter.
Der Onkel steht auf irgendeiner Raststätte zwischen seinem Wohnort und hier. Bisher wisse noch keiner, was die Karre hat, sie streike … Natürlich solle er dort warten, bis er komme, er wisse aber nicht, wann das sei … Nein, er werde sich nicht bis zu irgendeinem Zeitpunkt gedulden, bis der Laden wieder geöffnet habe und sich dort den Schlüssel holen, es könne ja schließlich heute Nacht um drei sein, wenn er ankomme … Außerdem könne die Tante ja drei Tage zu Hause verbleiben, bis das Beerdigungsunternehmen sie holen müsse … Selbstredend wolle er nicht so lange für die Anreise brauchen, aber im Moment wisse er halt nicht, wann der Mann von der Werkstatt käme … Er solle sich nicht so haben, er könne ja jederzeit nach Biarritz nachfahren, er sei schließlich Student … Er solle sich auch mal fragen, was es für ihn bedeute, er sei schließlich selbstständig und während er sich um diese Verabschiedung kümmern müsse, komme kein Geld rein … Also solle er der Dinge harren, die da kämen, und bis später …
Die Uhr zeigt acht Uhr abends. Die Tante hat noch nicht einmal einen Fernseher, von einem Computer ganz zu schweigen … Parzival lässt den Tonarm des Schallplattenspielers wieder auf die Platte herunter. Knisternd sinkt der Saphir in die Rille und Arrau spielt weiter …
Prélude 3 G-Dur:
Eben jenen Brief erhalten,
strahlende Lichterflut an jenem Tag,
da sich alle Fragen klärten
Wasserfallfreude
Kristallklar das Fließen,
steinlos der Lauf
Und am Ende –
ein DU …,
ein Mensch …
Prélude 4 e-Moll:
Mach eine lange Geschichte kurz,
einen Seufzer,
den du einst ausgestoßen,
nimm ihn zurück und vergrabe ihn
hinter jener Mauer,
die einst die Ignoranz
mächtig und stark werden ließ,
vergib der Welt ihre Hochmut
und gestehe der Scham einst
versonnener Tage zu,
dich über den Ufersand fortzutragen …
Diesmal kommt das Klingeln von der Tür. Wieder unterbricht Parzival die Musik und geht in die Diele. Er öffnet die Tür.
Die Nachbarin, besorgt, habe Licht gesehen und wolle nach dem Rechten schauen. Auf die Frage, ob ein Einbrecher auf ein Klingeln an der Tür reagiert hätte, wird sie unsicher und lächelt schief. Parzival stellt sich vor: Parzival Prototo, der Großneffe … Ja, wenn die Nachbarin so wolle, dieser Student, von dem sie gehört habe. Was Altgermanistik sei? Nun, das wolle er ihr vielleicht morgen erklären, er warte noch auf einen Anruf, sei müde und wolle nicht unhöflich sein … Ob er schon etwas gegessen habe? Parzival hält inne und bemerkt Hunger.
Er solle ruhig auf seinen Anruf warten, sie würde ihm gleich einige Kleinigkeiten bringen … Nein, Umstände mache das nicht, das sei noch vom Mittag übrig … Sie habe es immer noch nicht gelernt, dass die Kinder nicht mehr da seien und sie weniger kochen müsse. Sie werde nur rasch klingeln und es vor die Tür stellen … Für heute habe er bestimmt genug erlebt … Parzival bedankt sich anständig und man verbleibt, sich morgen kurz beieinander zu melden …
Prélude 5 D-Dur:
Treppenfall und Volksfestreigen
Tumulte im Innenhof
Versuche des Klanges,
in die lichte Stirn des Alls zu dringen
Klappernder Bürstenbinder,
endlich zwei Häuser weiter
Die Stille lässt sich wieder
aufatmend nieder
Prélude 6 h-Moll:
In den Rausch der Nacht geworfener Windfang,
schaukelnde Jolle in fremder Bucht,
nicht an Land und nicht auf See,
ziellos dein Streben
wie das, der Welle Meer zu werden,
tropfend, perlend ein Gedanke
an längst vergessene Gesänge,
die Bücherreihen
in den heimischen Regalen,
die Dünung am gestrigen Ufer,
eine Erinnerung, ohne jemals ein Bild zu sein,
ein Sein ohne Körper
wie der Schatten,
der sich seiner Dunkelheit fürchtet
An der Tür klingelt es so kurz, wie eine Spitzmaus ihre Nase aus dem Loch in der Fußleiste stecken würde. Gleichzeitig klingelt wieder sein Telefon. Pelagia erneut. Ob er jetzt sauer sei? Sie könne nicht unbeschwert fahren, wenn er auf sie sauer sei. Sie könne doch nichts dafür, dass die Tante verstorben sei … UNBESCHWERTHEIT – das Wort echot durch seinen Kopf. Ein Wort, das für ihn immer auf derselben Stufe wie UNSCHULD, REINHEIT und KLARHEIT gestanden hat. Das Telefon am Ohr, öffnet er die Wohnungstür. Auf einem Tablett liegen Hühnerschenkel und eine Schüssel Pudding. Etwas Brot und zwei Flaschen Bier runden das Bild ab.
Müde sei er, gibt er Pelagia zur Antwort und er könne sich heute nicht mehr dazu äußern. Ja, ein wenig verwirrt sei er auch, er säße immerhin in einer Wohnung mit einer Toten im Schlafzimmer. Nein, er könne noch nicht sagen, wann der Onkel kommen werde … Nein, er könne heute Abend aber auch nicht zu ihrer Unbeschwertheit beitragen … Warum sei das unfair? Sie fahre doch eine Woche früher … Nein, gereizt sei er nicht, er wisse im Moment nicht, wie er sei … Ja, vielleicht sei es wirklich besser, das Gespräch an dieser Stelle zu beenden, gibt er, die eine Wange mit Hühnchen vollgestopft, von sich. Nach dem Auflegen öffnet er eine der beiden Bierflaschen. Die zweite folgte schnell. Satt und etwas beschwipst macht er den Plattenspieler wieder an …
Prélude 7 A-Dur:
(Und sie hat Ja gesagt)
Ein Splitter Zeit
wurde zur Ewigkeit,
umarmt, als gäbe es nur einen Menschen,
und gelebt,
als sei ein Tag,
eine Sekunde nur
vonnöten für das
vollkommene irdische Glück …
Prélude 8 fis-Moll:
Von See her einfallender Sturm …
Raunende Massen, zerstörender Mensch,
eine Armee, die nie fühlen wird …
Knochenklavier spielend
schwingen sie die Sensen,
entzweien voller Sehnsucht,
zerstückeln voller Liebe,
stolpern zu Tausenden die Hügel
des Schicksals hinunter,
bespucken Wundervolles
mit der hilflosen Kraft ihrer Tränen,
zerschlagen kindgleich ihr liebstes Spielzeug,
um am Ende verlassen
nach der Mutter zu schreien …
Verschollene Würde …
Versuch einer beerdigten Kultur …
Während er so satt und zufrieden auf der Couch sitzt und der Musik zuhört, stellt er fest, dass seine Hände nutzlos herumliegen. Sie wollen beschäftigt werden, sie wollen etwas halten. Sie fingern an dem Handy herum, aber es steht ihnen nach klassischer Haptik. Nach Haptik-Hardware, wie einem Buch. Seine Hände wollen keine Soft-Thrill-Ware, sie wollen nicht auf dem Smartphonebildschirm lesen Er geht zu dem Bücherregal. Ein Kunstband mit Bildern von Dalí, der aussieht wie eine opulente Pralinenschachtel, fällt ihm ins Auge. Das ist Haptik-Hardware: dicker goldener Stuck wölbt sich über den Einband. Und zwischen den Deckeln die entrückten Bilder von Dalí, die tiefe Vertrautheit längst vergangener Träume atmend …
a. Der Apotheker von Ampurias, der Suche nach absolut nichts:
Der Apotheker steht neben einem großen Stein. Er hat den Scheitel rechts und einen Schnauzkinnspitzbart. Er trägt einen Sonntagsanzug in grau-braun. Seine schwarzen Schuhe haben Gamaschen. Rechts schwelen Berge in einer spürbaren Mittagshitze. Im Hintergrund das Dorf Figueres. Der Apotheker hat einen krummen Rücken und lässt den Kopf hängen. Dann stellt er den rechten Fuß auf den Stein und stützt die rechte Hand zur Faust geballt auf den Oberschenkel. Über allem ein blauer Himmel, links im Bild Kumuluswolken.
Parzival nähert sich dem Apotheker.
„Ich suche überhaupt nichts“, sagt der Apotheker.
„Das ist mir bekannt“, entgegnet Parzival.
„Und dafür bin ich hier vor die Stadt gekommen“, fährt der Apotheker fort.
„Mühe lohnt sich immer“, antwortet Parzival.
„Ich sage da immer: Das Nichts ist das Wie, und das Wie ist das Etwas.“ Der Apotheker lächelt.
„Sehr richtig“, bestätigt ihn Parzival.
Der Apotheker blickt zum ersten Mal auf: „Guten Tag.“
„Ach jetzt hören Sie doch schon auf“, raunzt Parzival ihn an.
„Wer weiß?“, entgegnet dieser.
„Die schwelenden Berge kommen immer näher“, bemerkt Parzival.
„Warum, zum Teufel, habe ich bloß meinen Fuß auf diesen Stein gestellt?“, flucht der Apotheker.
„Das fragen Sie mich?“
„Nein, eigentlich habe ich mich das gerade selber gefragt“, stellt der Apotheker fest.
„Sie kommen aus der Stadt dort hinten?“, fragt Parzival.
„Ich wohne dort“, erklärt der Apotheker.
„Ich sage Ihnen: Hier gibt es überhaupt nichts zu suchen!“, triumphiert Parzival.
„Das glaube ich auch“, flüstert der Apotheker.
„Der Baum dort drüben widert mich an“, sagt Parzival.
„Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich nicht schaue, aber Bäume interessieren mich nun wirklich nicht …“
Ein schwarz gekleideter Herr tritt hinzu.
„Mein Schatten wird immer länger“, stellt der schwarz gekleidete Herr fest.
„Suchen Sie etwas?“, fragt ihn Parzival.
„Kommen Sie mir bloß nicht mit Fragen. Ich habe nie gelernt zu antworten“, blafft ihn der schwarz gekleidete Herr an.
„Warum sind Sie dann überhaupt hierhergekommen?“, empört sich Parzival.
„Keine Fragen!“, ruft der schwarz gekleidete Herr.
Der Apotheker spreizt die linke Hand und schaut durch die Finger in den Himmel. „Man ist so klein …“, grübelt er laut vor sich hin.
„Wir stehen hier auf dem roten Feld mit dem grünen Busch“, fährt ihm der schwarz gekleidete Herr dazwischen.
„Das ist hier in der Gegend so. Die Einheimischen nennen den Boden Tonerde“, mischt sich Parzival ein.
„Sagen Sie bitte nicht Einheimische. Das klingt so grob und ursprünglich. Schließlich wohne ich hier und ich kann mich nicht erinnern, jemals auf den Bäumen gelebt zu haben.“ Der Apotheker gibt sich beleidigt.
„Sehr richtig“, entgegnet Parzival, „das waren nämlich Ihre Nachbarn.“
„Der Busch ist außerdem blau. Die Berge dort sind grün“, gibt der schwarz gekleidete Herr zu bedenken.
„Über Farben sollte man sich nicht streiten“, lenkt Parzival ein.
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