Kolonialismus und Islam - Sebastian Gottschalk - E-Book

Kolonialismus und Islam E-Book

Sebastian Gottschalk

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Beschreibung

Welche Rolle spielte der Islam für die koloniale Herrschaft in den muslimisch geprägten Regionen Kameruns und Nordnigerias? Sebastian Gottschalk legt überzeugend dar, wie die islamisch geprägten Eliten und Strukturen in die Herrschaftsapparate der deutschen und britischen Kolonialmächte eingebunden wurden - aber auch, wie sie islamische Widerstandsbewegungen formierten. Das Buch eröffnet ein Spektrum von Perspektiven auf die Kolonialherrschaft: Verflechtungen zwischen Kolonien und Metropole geraten ebenso in den Blick wie solche, die die Entwicklungen vor Ort mit transregionalen und globalen Prozessen in Verbindung brachten.

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Sebastian Gottschalk

Kolonialismus und Islam

Deutsche und britische Herrschaft in Westafrika (1900–1914)

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Welche Rolle spielte der Islam für die koloniale Herrschaft in den muslimisch geprägten Regionen Kameruns und Nordnigerias? Sebastian Gottschalk legt überzeugend dar, wie die islamisch geprägten Eliten und Strukturen in die Herrschaftsapparate der deutschen und britischen Kolonialmächte eingebunden wurden - aber auch, wie sie islamische Widerstandsbewegungen formierten. Das Buch eröffnet ein Spektrum von Perspektiven auf die Kolonialherrschaft: Verflechtungen zwischen Kolonien und Metropole geraten ebenso in den Blick wie solche, die die Entwicklungen vor Ort mit transregionalen und globalen Prozessen in Verbindung brachten.

Vita

Sebastian Gottschalk, Dr. phil., war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin und am Deutschen Historischen Museum; derzeit arbeitet er als Koordinator für das Graduiertenkolleg »Global Intellectual History« in Berlin.

Meinen Eltern

Inhalt

1.Einleitung

Thema und Fragestellung

Forschungsstand

Quellen

Aufbau der Arbeit

2.Kolonialismus, Islam und Afrika – europäische Debatten und Diskurse im 19. Jahrhundert

2.1Europäische Diskurse über den Islam im 19. Jahrhundert

2.2Afrika und der Islam im Diskurs der europäischen Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts

2.3Zwischenfazit

3.Koloniale Emirate? Deutsche und britische Kolonialherrschaft im islamischen Westafrika

3.1Die Etablierung kolonialer Herrschaft in Nordkamerun und Nordnigeria

3.2Die Grundzüge der kolonialen Herrschaftsstrukturen

3.3Das islamische Rechts- und Steuersystem im kolonialen Herrschaftssystem Nordnigerias

3.4Das islamische Rechts- und Steuersystem im kolonialen Herrschaftssystem Nordkameruns

3.5Verwaltungsreformen in Nordkamerun 1913 – Annäherung an das britische Modell

3.6Zwischenfazit

4.Islamischer Widerstand gegen die koloniale Ordnung – die Mahdi-Bewegungen

4.1Die Mahdi-Bewegungen in Satiru, Marua und Garua 1906/07

4.2Mahdismus und Antikolonialismus im Kalifat von Sokoto

4.3Reaktionen auf die Mahdi-Bewegungen in Nordkamerun

4.4Reaktionen auf die Mahdi-Bewegungen in Nordnigeria

4.5Großbritannien und der Mahdismus im westlichen Sudangebiet nach 1914

5.»Panislamische« Herausforderungen der Kolonialherrschaft – der Haddsch aus Westafrika

5.1Der Haddsch und die europäischen Imperialmächte im 19. Jahrhundert

5.2Der Haddsch aus Westafrika, der Sudan und die Kolonialmächte

5.3Pilger oder Arbeitsmigranten? Koloniale Bevölkerungspolitiken und der Haddsch in Nigeria und dem anglo-ägyptischen Sudan

5.4Schutzzölle und Orientpolitik – der Haddsch als Herausforderung für die deutsche Kolonialherrschaft in Nordkamerun

5.5Mahdismus und Antikolonialismus – politische Dimensionen des Haddsch aus Nordnigeria

5.6Zwischenfazit

6.Resonanzen in der Metropole: Rückwirkungen auf die europäischen Diskurse über den Islam in (West-)Afrika

6.1Kritik der Missionsgesellschaften an der Islampolitik der Kolonialmächte

6.2Kolonialreform und Islamwissenschaft – die Entwicklung der Diskurse in Deutschland

6.3Schwache Resonanzen in Großbritannien

7.Fazit

Dank

Anhang

Das Kalifat von Sokoto mit kolonialen Grenzziehungen

Quellen

Archivquellen

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde

Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg

The National Archives, Kew/UK (TNA)

Rhodes House Library, Oxford/UK

Archives Nationales Yaoundé/Kamerun (ANY)

Publizierte Quellen

Jahresberichte

Sonstige Veröffentlichungen

Literatur

1.Einleitung

Thema und Fragestellung

Kolonialismus und Islam, dieses Begriffspaar weckt zunächst Assoziationen eines Gegensatzes: Der europäische Orientalismus konstruierte den zumeist islamischen Orient als negatives Gegenbild zum fortschrittlichen Europa – eine Sichtweise, die, wie Edward Said prominent demonstrierte, die imperiale Beherrschung »des Orients« mental vorbereitet, wenn nicht geradezu prädestiniert hat.1 Die Gebiete des mit inneren wie äußeren Problemen kämpfenden osmanischen Reiches gehörten zu den begehrtesten Objekten des europäischen Imperialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Afrika südlich der Sahara war der arabische Sklavenhändler islamischen Glaubens ein zentraler Topos der europäischen Anti-Sklaverei-Rhetorik, welche oft einherging mit der Forderung nach einer kolonialen Intervention und Besetzung zur Beseitigung des Sklavenhandels auf dem afrikanischen Kontinent. Auch wenn die jüngere Forschung gezeigt hat, dass Missionsgesellschaften und Kolonialbehörden keine kongruenten Ziele hatten und daher nicht immer harmonisch Hand-in-Hand arbeiteten, gehörte die christliche Missionierung der Welt – und damit die Eindämmung, wenn nicht gar Zurückdrängung des Islam – zum Kernbestand imperialer Ideologie des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit lebten bereits Millionen von Muslimen in Nordafrika, Süd- und Südostasien unter der Herrschaft christlicher Kolonialmächte. Flächendeckende bewaffnete Widerstandsbewegungen unter den zahlreichen kolonialen Untertanen islamischen Glaubens gehörten dabei fest in das Arsenal imperialer Schreckgespenster; die Angst vor einem umfassenden Widerstand der Muslime gegen die europäische Kolonialherrschaft war um 1900 in den Kolonialbehörden fast aller europäischen Kolonialmächte verbreitet. Muslime erschienen in dieser Perspektive vor allem als sinnlich-dekadente Vertreter einer Kultur im Niedergang, sie galten als erbitterte Gegner der europäischen mission civilisatrice, die wegen ihrer angeblichen Neigung zu Gewalt und religiösem Fanatismus besonders gefürchtet waren.2

Gleichzeitig waren muslimische Eliten aber in allen europäischen Kolonialreichen in die kolonialen Herrschaftsstrukturen eingebunden. Gerade innerhalb des britischen Empire betonten wichtige Kolonialfunktionäre daher auch eine dem Missionierungsgedanken zuwiderlaufende religiöse Neutralität und erklärten die britische Monarchin zur Schutzherrin kolonialer Untertanen aller Religionen. Auch in den französischen Kolonien in Nordafrika – vor allem in Algerien – entwickelten die Kolonialadministratoren eine Haltung zum Islam, die eine Kooperation zumindest mit Teilen der lokalen Eliten ermöglichte. Dabei nahmen die Kolonisatoren einen Blickwinkel auf den Islam ein, der den zuvor skizzierten Repräsentationen in vielem widersprach: Aus dieser Perspektive waren die muslimischen Kolonialuntertanen, und besonders die muslimischen Eliten der jeweiligen Kolonialgebiete, nicht unberechenbare, zu Irrationalität und Gewalt neigende religiöse Fanatiker, sondern erschienen vielmehr als Vertreter einer alten und der europäischen relativ ähnlichen Kultur, die, wenn sie auch in der Entwicklung weit hinter der europäischen zurückgeblieben war, dennoch über gesellschaftliche und politische Institutionen verfügte, welche sich zur kolonialen Beherrschung der betreffenden Gebiete vortrefflich einspannen ließen. Die europäische Sicht auf das, was man zu dieser Zeit die »islamische Welt« zu nennen begann, war damit äußerst ambivalent: Einerseits war der Islam das irrationale und rückschrittliche Gegenbild zum aufgeklärten und fortschrittlichen Europa, andererseits erschienen Muslime in einer sich globalisierenden Welt, in der die europäischen Kolonisatoren einer Vielzahl ihnen fremder Kulturen begegneten, als Vertreter einer vergleichsweise vertrauten und beherrschbar erscheinenden Nachbarzivilisation, die für das koloniale Projekt wertvolle Verbündete sein konnten.3

Um 1900 herum gelangten nun islamisch geprägte Gebiete im afrikanischen Sudangürtel unter die Herrschaft verschiedener europäischer Kolonialmächte, die zuvor nicht auf der europäischen Landkarte der »islamischen Welt« aufgetaucht waren, und über deren gesellschaftliche Verhältnisse und politische Verfasstheit in Europa nur wenig bekannt war. Im westlichen Sudangebiet, einer Großregion, die sich zwischen dem Südrand der Sahara und dem Nordrand des tropischen Regenwaldes vom Senegal bis zum Tschadsee erstreckt, trafen die Kolonisatoren dabei auf großflächige Herrschaftsformationen, die nicht nur von einer islamischen Elite beherrscht wurden, sondern deren Bevölkerung auch zu einem größeren Teil aus Muslimen bestand. Zu den größten dieser westafrikanischen Herrschaftsverbände gehörten das Kalifat von Sokoto, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer breiten Jihad-Bewegung entstanden war, und das jahrhundertealte islamische Reich von Kanem-Bornu in unmittelbarer Nachbarschaft des Tschadsees.4 Beide Reichsformationen wurden im Zuge kolonialer Eroberungsfeldzüge in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zwischen den Kolonialmächten aufgeteilt, wobei – abgesehen von kleineren Gebieten unter französischer Herrschaft – der größere Teil beider Reiche im britischen Protektorat Nordnigeria aufging, während der jeweils kleinere Teil zur deutschen Kolonie Kamerun geschlagen wurde.5

Zum Zeitpunkt der kolonialen Eroberung dieser Gebiete auf dem Höhepunkt des so genannten scramble for Africa war das Wissen der europäischen Invasoren über die ihnen begegnenden Menschen und ihre Gesellschaften nicht nur äußerst begrenzt, es steckte auch voller Widersprüche. Zwar sprachen die wenigen Berichte von europäischen Forschungsreisenden, welche die äußerst knappe Grundlage des europäischen Wissens über diese Gebiete bildeten, von großen und wirtschaftlich prosperierenden islamischen Reichen und die Hoffnung auf reiche Landstriche und profitable neue Absatzmärkte war ein wesentlicher Antriebsfaktor für das europäische Ausgreifen in den Sudangürtel. Doch fußten diese Vorstellungen mehr auf wirtschaftlichen Hoffnungen und imperialen Schwärmereien als auf belastbarem und widerspruchsfreiem Wissen. Denn gleichzeitig lagen die betreffenden Gebiete im Kernland des afrikanischen Kontinents, der im Europa des 19. Jahrhunderts als geschichts- und kulturlos galt und dessen Bewohner man in einem ursprünglichen Naturzustand wähnte – eine Repräsentation des Kontinents und seiner Bewohner, die zur Vorstellung blühender islamischer Reiche in einem gewissen Widerspruch stand. Und schließlich waren Muslime aus europäischer Sicht ohnehin schwer einzuschätzen: Musste man sie als fortschrittsfeindliche religiöse Fanatiker fürchten oder konnte man sie als vergleichsweise zivilisierte Anhänger einer vertrauten Nachbarkultur zu seinen Verbündeten machen? Die afrikanischen Muslime des Westsudans bildeten damit einen Kreuzungspunkt zweier europäischer Diskurse über die außereuropäische Welt und vereinigten Repräsentationen auf sich, die sich nicht ohne weiteres zur Deckung bringen ließen: Waren sie Afrikaner, so konnten sie eigentlich keine Kultur besitzen, waren sie aber Muslime, mussten sie eine Kultur haben, die sich möglicherweise sogar für die Zwecke des kolonialen Projektes einspannen ließ – neigten aber womöglich zu gefährlichem religiösem Fanatismus.

Dieses doppelte Spannungsverhältnis in den europäischen Diskursen über die ihnen begegnenden außereuropäischen Anderen ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung deutscher und britischer Kolonialherrschaft über Muslime in Kamerun und Nordnigeria. Die Frage nach den Auswirkungen dieser doppelt ambivalenten Repräsentationen der westafrikanischen Muslime auf die Ausgestaltung der kolonialen Herrschaftsbeziehungen und die Praxis kolonialer Herrschaft steht im Zentrum der Arbeit. Inwiefern bestimmten die Vorstellungen der europäischen Kolonialfunktionäre davon, wie Muslime und ihre gesellschaftlichen und politischen Institutionen einzuschätzen waren, den Umgang der Kolonisatoren mit den ihnen begegnenden Menschen, und wie verhielten sich europäische Islamrepräsentationen zu dem, was Afrikanerinnen und Afrikaner unter Islam verstanden und in seinem Namen praktizierten? Welche Bedeutung hatten europäische Diskurse über den Islam und Afrika somit darauf, wie die koloniale Politik vor Ort formuliert und Herrschaftsstrukturen ausgestaltet wurden? Dabei geht es auch darum zu untersuchen, inwieweit vorkoloniale islamische Institutionen und Akteure in die kolonialen Strukturen integriert wurden und die koloniale Herrschaftspraxis mit prägten. Diese Herangehensweise schließt die Frage nach den Spielräumen afrikanischer Akteure innerhalb dieser Herrschaftsarrangements ebenso ein, wie diejenige nach Formen und Möglichkeiten antikolonialen Widerstands, der sich auf den Islam berief und sich an der Kritik ebendieser Integration islamischer Institutionen in den kolonialen Apparat entzündete. Schließlich soll auch gefragt werden, ob und inwiefern die kolonialen Erfahrungen in Kamerun und Nordnigeria auf die europäischen Diskurse über Muslime in Afrika rückwirkten und diese veränderten.

Die Arbeit untersucht damit das Wechselspiel von kolonialem Diskurs und kolonialer Herrschaftspraxis, indem ausgehend von einer Analyse der Diskurse über den Islam – und besonders den Islam in Afrika – die Konsequenzen dieser diskursiven Formationen in der kolonialen Situation vor Ort analysiert werden. Die Arbeit argumentiert, dass hier in der Tat eine Wechselbeziehung bestand, dass diese gegenseitige Beeinflussung aber nicht linear und eindeutig verlief und dass muslimische Akteure vor Ort an diesen Prozessen einen wesentlichen Anteil hatten. Insbesondere wird gezeigt, wie Widersprüche in den europäischen Diskursen über den Islam in Afrika zwar einerseits ein flexibles und strategisches Handeln der Kolonialbeamten im Umgang mit den islamischen Akteuren und Strukturen vor Ort ermöglichten, wie aber andererseits diese Widersprüche auch Unsicherheiten aufseiten der Kolonialmächte verursachten, wenn es etwa darum ging, islamisch auftretende Widerstandsbewegungen richtig einzuschätzen und zu interpretieren. Diese Unsicherheiten waren der Auslöser für Prozesse der lokalen Wissensproduktion, an denen die mit den Kolonialmächten kooperierenden muslimischen Eliten nicht unwesentlich beteiligt waren. Die Untersuchung zeigt, wie hier vor Ort eine Interpretation des Muslimischseins unterschiedlicher Gruppen innerhalb der untersuchten Kolonien entwickelt wurde, welche die bestehenden diskursiven Widersprüche überbrücken konnte und eine kohärentere Strategie im Umgang mit Herausforderungen durch islamische Oppositionelle ermöglichte. Diese Interpretation, die einen lokalen Islam von einem Islam außerhalb der untersuchten Gebiete unterschied, fand schließlich – so die Argumentation der Arbeit – ihren Weg zurück in die Metropole und beeinflusste die Arbeit von Islamwissenschaftlern wie dem am Hamburger Kolonialinstitut lehrenden Carl Becker.

Das Untersuchungsgebiet umfasst mit dem Norden des deutschen Schutzgebietes Kamerun und dem britischen Protektorat Nordnigeria zwei Kolonialgebiete, die in der Forschung zumeist als klassische Fälle eines indirekten Herrschaftssystems in Afrika betrachtet wurden. Bei diesem Herrschaftsmodell wurden weite Bereiche der praktischen Herrschaftsaufgaben weiterhin von den örtlichen Eliten ausgeführt, während den europäischen Kolonialbeamten lediglich die Aufgabe der Oberaufsicht über diese nunmehr als Intermediäre fungierenden lokalen Herrscher und ihre Funktionäre zufiel. Besonders Nordnigeria, dessen langjähriger Hochkommissar bzw. Gouverneur Frederick Lugard die von ihm in diesem Gebiet etablierte Praxis der indirect rule zu einem der einflussreichsten Herrschaftsmodelle für das britisch besetzte Afrika machte, gilt als Paradebeispiel eines indirekten Herrschaftssystems in Afrika südlich der Sahara.6 Der Norden Kameruns, der bisher deutlich seltener Gegenstand der Forschung war als die bekanntere Nachbarkolonie, wird dabei meist als einer der wenigen Fälle eines deutschen Systems indirekter Kolonialherrschaft betrachtet, der darüber hinaus von vornherein stark vom größeren britischen Nachbarn beeinflusst war.7 Die kolonialhistorische Forschung erklärte die Entscheidung der Kolonialmächte für ein indirektes Herrschaftssystem zumeist mit einem Mangel an lokalem Wissen und personellen wie finanziellen Ressourcen und konzentrierte sich bei der Untersuchung der indirect rule in diesen Gebieten häufig auf die Frage, wie indirekt das System in der Praxis eigentlich war. Nicht selten spielte dabei der Vergleich mit der französischen Kolonialherrschaft eine wichtige Rolle, die im Gegensatz zur britischen grundsätzlich als das klassische Modell einer direkten Herrschaft betrachtet wurde.8

Obwohl dabei durchaus zur Kenntnis genommen wurde, dass es sich bei den politischen Eliten der hier untersuchten Gebiete um Muslime handelte, wurde die Frage der Religion und ihrer Bedeutung für die kolonialen Herrschaftsarrangements nur selten thematisiert. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Islam in den europäischen Kolonialreichen um 1900 für alle betroffenen Kolonialmächte eine wichtige Rolle spielte und besonders im Hinblick auf die Ängste vor antikolonialen islamischen Verschwörungen und großflächigem religiösem Widerstand engagiert diskutiert wurde.9 In der vorliegenden Arbeit wird daher explizit untersucht, ob und welche Auswirkungen diese europäischen Debatten über den Islam auf die Ausgestaltung der Kolonialherrschaft hatten und wie die kolonialen Erfahrungen in den untersuchten Gebieten auf die europäischen Islamdiskurse zurückwirkten. Die bestehende kolonialhistorische Forschung zur deutschen und britischen Kolonialherrschaft im muslimischen Afrika südlich der Sahara kann so um eine wichtige Dimension erweitert und eine neue Perspektive auf die Herrschaftsbeziehungen in den untersuchten Kolonien erschlossen werden. Ziel dieses Fokus auf Kolonialismus und Islam ist es nicht, einem islamzentrierten Exzeptionalismus das Wort zu reden oder die Strukturen und Praktiken kolonialer Herrschaft ganz durch die islamische Prägung der Gesellschaften erklären zu wollen. Vielmehr geht es darum, auszuleuchten, inwiefern Besonderheiten, die die historischen Akteure durch ihren Blick auf den Islam der kolonialen Situation in den untersuchten Gebieten zusprachen, die Kolonialherrschaft in spezifischer Weise geprägt haben. In welcher Weise sahen die Kolonialakteure die Situation aufgrund des Islamisch-Seins der in diesen Kolonien lebenden Menschen als von anderen Kontexten verschieden und wie wirkte sich diese Sicht auf ihr Handeln aus?

Dabei geht es auch darum die Funktion der Religion als Differenzmarker in der kolonialen Situation, die in Bezug auf andere Weltregionen bereits besser erforscht ist, auch für das koloniale Afrika stärker als bisher in die Analyse der Kolonialherrschaft einzubeziehen. Koloniale Herrschaft europäischer Mächte über außereuropäische Bevölkerungen beruhte wesentlich auf der Konstruktion von Differenzen zwischen Menschengruppen.10 Die Behauptung eines grundlegenden zivilisatorischen Gefälles zwischen Europa und dem Rest der Welt bildete die legitimatorische Grundlage für die gewaltsame Kolonisierung ganzer Kontinente. Die zur weiteren Begründung dieses Zivilisationsgefälles ins Feld geführten pseudowissenschaftlichen Theorien von der Existenz und grundsätzlichen Verschiedenheit so genannter Menschenrassen standen dabei bereits in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der als Rechtfertigung der europäischen Expansion herangezogenen Zivilisierungsmission.11 Die jüngere Kolonialforschung hat eindringlich darauf hingewiesen, dass die versuchte Einteilung der Welt in zwei Gruppen von Herrschern und Beherrschten, die zum inneren Kern des kolonialen Projektes gehörte, zu keinem Zeitpunkt selbstverständlich funktionierte – sie wurde stets von der Vielfalt menschlicher Lebenswirklichkeiten, dem Handeln der Menschen, die diese Einteilungen herausforderten oder sie sich eigensinnig aneigneten, und nicht zuletzt von ihren eigenen inneren Widersprüchen und Spannungen in Frage gestellt.12 Eine wesentliche Aufgabe der mit der Aufrechterhaltung dieser Herrschaftsverhältnisse beauftragten Kolonialfunktionäre bestand daher darin, dieses wackelige Fundament kolonialer Herrschaft immer wieder zu rekonstruieren und zu stabilisieren.

In der vorliegenden Arbeit frage ich, welche Rolle die Kategorie der Religion für die Konstruktion einer grundsätzlichen Differenz zwischen Kolonisierern und Kolonisierten spielte. Auf das Zusammenspiel verschiedener Differenzkriterien – vor allem »Rasse«, Klasse und Gender – und der dadurch produzierten Spannungen, Widersprüche und Uneindeutigkeiten ist in der durch die postcolonial studies geprägten Forschung wiederholt eingegangen worden.13 Für meine Arbeit geht es in diesem Zusammenhang vor allem um die Frage, in welchem Verhältnis hier die Kategorien von »Rasse« und Religion standen. Dabei wird zu untersuchen sein, wie sich die diskursiven Gegensätze Europa-Islam und Europa-Afrika zueinander verhielten, wenn es darum ging, eine koloniale Hierarchie mit den Kolonisatoren an der Spitze zu konstruieren und zu begründen.

Doch auch jenseits der Versuche einer manichäischen Einteilung der Welt in Kolonisierer und Kolonisierte bemühten sich die Akteure kolonialer Herrschaft um die Konstruktion von Differenzen innerhalb der Gruppe der Kolonisierten. Koloniale Bevölkerungen, die nach Kategorien, welche von den Kolonialmächten definiert wurden, in deutlich voneinander unterschiedene Menschengruppen eingeteilt waren, ließen sich nicht nur leichter verstehen und durchschauen, sich waren auch besser zu kontrollieren und zu beherrschen – sowohl mit Blick auf die Möglichkeiten einer Strategie des divide et impera, als auch hinsichtlich einer möglichst reibungs- und lückenlosen Erfassung und Verwaltung.14 Im Bemühen um derartige Gruppenkonstruktionen rekurrierten die Kolonialmächte auf unterschiedliche Kategorien der Differenzierung. Für das subsaharische Afrika hat die Forschung vor allem die Bedeutung der sich teilweise überschneidenden essentialisierenden Kategorien von »Rasse« und »Stamm« bzw. »Ethnie« betont und die langfristigen Folgen dieser Gruppenkonstruktionen für eine bis in die Gegenwart wirkmächtige Ethnisierung vieler afrikanischer Gesellschaften diskutiert.15 Neben der »Rasse« konnte aber auch die Religion als koloniale Differenzkategorie herangezogen werden. Die Verfestigung und Institutionalisierung der unterschiedlichen Religionsgruppen auf dem indischen Subkontinent durch die britischen Kolonialherren ist hierfür das bekannteste und am besten erforschte Beispiel.16

Die vorliegende Arbeit fragt nun, welche Bedeutung die Religion als Differenzkategorie auch für das koloniale Afrika haben konnte, und untersucht, welche Rolle gerade die Unterscheidung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen durch die Kolonialmächte für die Herrschaftsausübung in den untersuchten Gebieten spielte. Dabei lautet meine These, dass es hier zu Überschneidungen und Verschränkungen zwischen den Kategorien von »Rasse« und Religion kam, die Widersprüche und Uneindeutigkeiten produzierten, welche die koloniale Einteilung der Bevölkerung nach einem europäischen Raster erschwerten. Dies hing vor allem damit zusammen, dass nach den Kriterien des europäischen Zivilisationsdiskurses der Zeit das Vorhandensein einer von der europäischen Wissenschaft als solcher anerkannten Religion ein Indikator für eine fortgeschrittenere Kulturstufe war, welche die in Subsahara-Afrika lebenden Menschen den zeitgenössischen Rassediskursen zufolge aber noch gar nicht erreicht hatten.17 Diese Spannungen zwischen den Diskursen und den auf ihnen aufbauenden Gruppenkonstruktionen führten zu Unsicherheiten aufseiten der Kolonialmächte und machten eine wiederholte Neujustierung der kolonialen Ordnung nötig.

In diesem Zusammenhang geht es in der vorliegenden Arbeit auch darum, die Bedeutung kolonialen Wissens und europäischer Diskurse über die außereuropäische Welt für die koloniale Praxis zu evaluieren. Das Zusammenspiel von Wissen und Herrschaft gehört zu den Kernbereichen der jüngeren Kolonialismusforschung. Die Rolle des Wissens bei Etablierung und Ausübung kolonialer Herrschaft und seine Auswirkungen auf die kolonialen wie auch die postkolonialen Gesellschaften ist – maßgeblich beeinflusst durch die Impulse der postcolonial studies – auf verschiedenen Ebenen thematisiert und untersucht worden.18 Einerseits wurden in grundlegender Weise die nachhaltigen Wirkungen der europäischen und eurozentrischen Wissensordnung(en) auf das Denken und Handeln der zeitgenössischen Akteure wie auch der postkolonialen Gesellschaften kontrovers diskutiert. Hier geht es ganz grundsätzlich um die Frage, inwiefern das koloniale Ausgreifen der europäischen Mächte auf große Teile der übrigen Welt vorgezeichnet und geprägt war durch eine europäische Wissensordnung, die seit der Aufklärung durchdrungen war (und ist) von der Konstruktion eines Gegensatzes zwischen der rational geprägten europäischen und der nicht aufgeklärten außereuropäischen Welt.19 Auf einer konkreteren Ebene wurde andererseits die Rolle verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und einzelner Wissenschaftler bei der Generierung und Bereitstellung notwendigen kolonialen Herrschaftswissens untersucht sowie umgekehrt die Bedeutung des europäischen Kolonialismus und der durch ihn geschaffenen Möglichkeiten für die Herausbildung und Etablierung neuer Disziplinen thematisiert.20

Für die vorliegende Arbeit spielen beide Ebenen eine wichtige Rolle: Einerseits das Vorwissen über den Islam, mit dem die Kolonialfunktionäre in die untersuchten Gebieten kamen und das den Ausgangspunkt ihrer Begegnung mit den dort lebenden Muslimen bildete, andererseits das Wissen, das von Wissenschaftlern in Europa in Auseinandersetzung mit den kolonialen Erfahrungen über den Islam in Westafrika produziert wurde. Dabei fragt die Arbeit besonders nach den Wechselwirkungen zwischen europäischen Diskursen und kolonialer Praxis in den untersuchten Kolonien. Welche Folgen hatte in Europa produziertes Wissen über den Islam auf die koloniale Praxis in den Kolonien und in welcher Weise beeinflussten koloniale Erfahrungen im Umgang mit Muslimen in Westafrika die Produktion von Wissen über den Islam?21 Besonderes Augenmerk wird dabei auf solche Momente gerichtet, in denen das Wissen der Europäer durch das Handeln der kolonisierten Bevölkerungen herausgefordert wurde und die Kolonialbeamten feststellen mussten, dass sich das beobachtete Verhalten der Menschen nicht mit dem in Einklang bringen ließ, was die Europäer über sie zu wissen glaubten – etwa, wenn Teile der muslimischen Bevölkerung, die nach dem Kenntnisstand der Kolonialbeamten höchstens der Form nach Muslime waren und denen religiöse Gewalt fern lag, gewaltsam und im Namen des Islam gegen die Kolonialmacht aufstanden.22 In solchen Momenten wurde es nötig, das bestehende Wissen zu aktualisieren und zu verändern, um es mit den neuen Erfahrungen in Einklang zu bringen. Es wird zu fragen sein, inwiefern dieses neue in der kolonialen Situation produzierte Wissen auf die Diskurse in Europa zurückwirkte und diese ggf. veränderte.

Indem die Arbeit die Grenzen des kolonialen Wissens über die islamischen Gesellschaften in den untersuchten Gebieten und die Brüchigkeit der auf diesem Wissen fußenden kolonialen Ordnung hervorhebt und die daraus für die islamischen Akteure erwachsenden Handlungsspielräume aufzeigt, schließt sie an eine Strömung der neueren Kolonialismusforschung an, welche entgegen einer lange Zeit vorherrschenden Konzentration auf das Überwältigungspotential der Kolonialmächte die Schwäche des kolonialen Staates betont.23 Über Jahrzehnte lag der Interesseschwerpunkt der historischen Kolonialforschung auf stark politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen, wodurch vor allem die zerstörerische Kraft kolonialer Gewalt, die bis in die Gegenwart nachwirkenden Folgen autoritärer Herrschaft und wirtschaftlicher Ausbeutung und die tiefgreifenden gesellschaftlichen Brüche, die die Kolonialzeit in vielen betroffenen Regionen verursacht hat, in den Vordergrund gerückt wurden.24 Demgegenüber konnte eine neuere, stärker kulturwissenschaftlich orientierte und von den postcolonial studies inspirierte Kolonialforschung zeigen, wie prekär gerade in den ersten Jahrzehnten die Position europäischer Kolonialakteure oft war. Es zeigte sich nicht nur, wie diese aufgrund mangelnden Wissens, beschränkter Sprachkenntnisse und begrenzter Ressourcen auf vorhandene Strukturen und Institutionen sowie auf die Kooperation und Hilfe lokaler Machthaber und Intermediärer angewiesen waren, ohne die sie praktisch handlungsunfähig gewesen wären, sondern auch wie die selbsternannten Kolonisatoren oftmals gesellschaftlichen Realitäten und menschlichem Handeln hilflos gegenüberstanden, das sie nicht verstanden und auf das sie nicht adäquat zu reagieren wussten. Koloniale Gewalt, die aufgrund der knappen Ressourcen oft nur zeitlich und räumlich begrenzt ausgeübt werden konnte, erscheint in dieser Perspektive weniger als überlegene Überwältigung, sondern vielmehr als hilfloser – aber dadurch für die Betroffenen nicht weniger traumatisierender – Versuch, Herr einer Situation zu werden, die man nicht durchschaute und der man anders nicht gewachsen war.25

Diese die Grenzen der kolonialen Macht betonende Perspektive macht sich auch die vorliegende Arbeit zu eigen, indem sie nicht nur fragt, wo das koloniale Wissen an seine Grenzen stieß und inwiefern und in welchem Maße dadurch Handlungsspielräume für afrikanische Akteure eröffnet wurden, sondern auch indem sie untersucht, in welchem Maße die kolonialen Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen in den untersuchten Gebieten auf den vorhandenen islamischen Strukturen aufbauten und diese fortführten und inwiefern das koloniale Regime damit als Fortführung der bestehenden Strukturen unter veränderten Vorzeichen betrachtet werden muss. Dabei ist auch zu fragen, inwiefern sich derartige Kontinuitäten auf die Art und Weise auswirkten, in der sich Kritik und Widerstand am kolonialen Regime äußerte: Wenn die koloniale Herrschaft in der alltäglichen Praxis ein deutlich islamisches Gesicht behielt, ist damit zu rechnen, dass sich auch der Widerstand gegen das koloniale Regime zunächst an diejenigen Akteure richtete, die im Alltag auch der Kolonialzeit die Herrschaft verkörperten – die muslimischen Herrscher und ihre Funktionäre –, und dass er sich in islamischen Kategorien artikulierte. Indem die vorliegende Arbeit so nach den Grenzen kolonialer Veränderungsmacht fragt, versucht sie gleichzeitig Übertreibungen in die andere Richtung zu vermeiden und bemüht sich zu einer differenzierenden Analyse der kolonialen Herrschaftsverhältnisse zu kommen: Koloniale Herrschaft im islamischen Westafrika wird weder als radikaler Umsturz der bestehenden Verhältnisse verstanden, noch wird der kolonialen Episode jegliche Veränderungsmacht abgesprochen. Die kolonialen Strukturen werden als eine Herrschaftsform interpretiert, die in weit reichendem Maße auf vorkoloniale Institutionen aufbaute und in der afrikanische Akteure eine zentrale und nicht selten sehr eigenständige Rolle spielten, die aber gleichzeitig die vorhandenen Strukturen nicht unwesentlich im Sinne der Kolonialmächte transformierte.

Die vorliegende Untersuchung betrachtet koloniale Herrschaft nicht isoliert, sondern bezieht grenzüberschreitende Verbindungen und Verflechtungen auf unterschiedlichen Ebenen ein, die die koloniale Praxis vor Ort in verschiedener Hinsicht beeinflussten. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass europäische Diskurse über den Islam in Afrika und die Praxis kolonialer Herrschaft im islamisch geprägten Westafrika in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung standen. Gerade wenn es um die Frage nach den Interaktionen von Kolonialismus und Islam in Afrika geht, erscheint diese Betrachtung der Interaktionen zwischen Kolonie und Metropole allein allerdings nicht ausreichend.26 Neuere Forschungen haben gezeigt, dass in vielen Bereichen Ereignisse, Strukturen und Politiken in einzelnen Kolonien nicht nur durch eine Interaktion mit der jeweiligen Metropole beeinflusst wurden, sondern dass auch Austausch- und Transferprozesse mit angrenzenden Kolonien, mit anderen Kolonien derselben Kolonialmacht oder sogar zwischen konkurrierenden Kolonialimperien eine wichtige Rolle gespielt haben.27 Darüber hinaus wurde jüngst auch auf den Einfluss globaler Strukturen auf die koloniale Situation vor Ort hingewiesen. In einer sich globalisierenden Welt um 1900, in der ein wichtiger Teil der Globalisierungsprozesse unter imperialen Vorzeichen stattfand, standen die Kolonialherrschaft in einer bestimmten Kolonie und ihre Akteure und Strukturen in Beziehung zu und in Interaktion mit Prozessen und Strukturen, die sich zu dieser Zeit regionen- und kontinentübergreifend formierten und die für eine zunehmende globale Integration auch der Kolonialimperien sorgten.28 Begriffe und Ideen wie die eines »global colonialism«29 oder einer »kolonialen Globalität«30 gehören in diesen Zusammenhang.

Gerade in Bezug auf Kolonialherrschaft in muslimisch geprägten Gebieten erscheinen diese Überlegungen besonders plausibel: Die Frage nach dem richtigen Umgang mit den als schwierig und religiös fanatisch geltenden muslimischen Kolonialuntertanen und ihren religiösen und gesellschaftlichen Strukturen, wurde von den Kolonialmächten jenseits der Grenzen einzelner Kolonien als besonderes Problem diskutiert. Dabei bestand ein wesentlicher Aspekt dieser von allen Kolonialmächten als besonders empfundenen Herausforderung in dem Umstand, dass man in der Religion des Islam ein verbindendes Element sah, das Muslime unterschiedlicher Kolonien miteinander in Kontakt brachte und über das sich insbesondere antikoloniale Strömungen und Ideen verbreiten konnten. So speiste sich die Angst vor dem Widerstand muslimischer Kolonialuntertanen neben der Furcht vor dem stereotypen Fanatismus, der den Muslimen angeblich zu eigen war, zu einem nicht geringen Teil aus der Befürchtung, dass solcher Widerstand über das Bindeglied der religiösen Zugehörigkeit wie ein Flächenbrand von einem Kolonialgebiet auf das andere übergreifen und eine große antikoloniale Bewegung hervorrufen könnte, die vor den Grenzen eines europäischen Kolonialreiches nicht Halt machte.31

Tatsächlich waren diese kolonialen Projektionen nicht völlig ohne Entsprechung auf der Seite der in den Kolonialimperien lebenden Muslime. So bestanden durchaus grenzüberschreitende Verbindungen zwischen Muslimen unterschiedlicher Kolonien, die über Handelskontakte, Pilgerrouten, Wanderprediger und gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch über gedruckte Medien vermittelt wurden und die – ironischerweise beschleunigt durch die mit der Kolonisierung einhergehenden Globalisierungstendenzen – auch das Landesinnere des westlichen Sudangebietes erreichten.32 Nachrichten aus anderen Teilen der islamisch geprägten Welt und besonders aus überregional bedeutenden religiösen Zentren, neue religiöse Strömungen und durchaus auch antikoloniale Gedanken fanden über diese Kanäle ihren Weg auch in entfernter liegende Gegenden und konnten die koloniale Situation an einem gegebenen Ort beeinflussen. Dabei musste es sich nicht unbedingt um Kontinente überspannende Netzwerke handeln, auch innerhalb von Großregionen wie dem afrikanischen Sudangürtel bestanden aktive Austauschbeziehungen zwischen Muslimen, die koloniale Grenzen überschritten.33 Dass diese tatsächlichen Verbindungen und Strömungen nicht immer dem entsprachen, was die Kolonialmächte in ihnen sahen oder von ihnen befürchteten, machte die Sache aus der Sicht der Kolonisatoren nicht einfacher.

Um diesen vielfältigen und auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Verflechtungen und Verbindungen unterschiedlicher Reichweite gerecht zu werden und ihren Einfluss auf die koloniale Situation vor Ort zu analysieren, ist die vorliegende Arbeit einerseits als Vergleich zwischen zwei aneinander grenzenden Kolonien unterschiedlicher europäischer Mächte angelegt, die muslimisch geprägte Gebiete umfassten, welche – wie im Falle der Reiche von Sokoto und Kanem-Bornu – vor der kolonialen Teilung politisch zusammenhingen. Dabei orientiert sich der Zuschnitt dieses Untersuchungsraumes im engeren Sinne zwar bis zu einem gewissen Grad an den kolonialen Grenzziehungen, unterläuft die koloniale Raumordnung aber insofern, als auch vorkoloniale Ordnungsmuster den Zuschnitt maßgeblich beeinflussen, so dass von der deutschen Kolonie Kamerun nur der nördliche Teil in die Untersuchung einbezogen wird. Andererseits wird bei der Untersuchung von Entwicklungen und Strukturen innerhalb dieses engeren Untersuchungsraumes stets nach Verbindungen gefragt, die über diesen Raum hinausgingen und die Vorgänge vor Ort mit Entwicklungen, die in anderen Regionen oder gar auf globaler Ebene stattfanden, in Interaktion brachte. Dies können sowohl Verbindungen zwischen Kolonie und Metropole sein, als auch solche, die zwischen Kolonien desselben oder unterschiedlicher Imperien bestanden, aber auch transimperiale Verflechtungen, die sich nicht auf den Austausch zwischen konkreten Kolonialgebieten reduzieren lassen, sondern auf das Phänomen einer kolonialen Globalität verweisen. Schließlich wird mit dem Haddsch aus dem engeren Untersuchungsgebiet ein Phänomen in den Blick genommen, das islamische Verbindungen schuf, welche bereits zu früheren Zeiten politische Grenzen überschritten und Muslime aus aller Welt miteinander in Kontakt gebracht hatten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber durch verstärkte Globalisierungstendenzen eine neue Dynamik erhielten.

Auf diese Weise können Zusammenhänge und Verbindungen auf unterschiedlichen Ebenen in die Analyse einbezogen und auf ihren Einfluss auf die Kolonialherrschaft vor Ort befragt werden. Erstens sind dies Zusammenhänge, die sich auf vorkoloniale Verbindungen zwischen den untersuchten Kolonien beziehen. Zweitens kann danach gefragt werden, ob und inwiefern sich die koloniale Herrschaft zweier Kolonialmächte unter vergleichbaren örtlichen Gegebenheiten ähnelte oder unterschied und inwieweit bei der Ausgestaltung der Herrschaftsstrukturen auf beiden Seiten der kolonialen Grenze ein Austausch oder Transfer zwischen den Kolonisatoren eine Rolle spielte. Mit der zentralen Frage nach der Interaktion von europäischen Islamdiskursen und dem kolonialen Geschehen vor Ort werden drittens Verflechtungen zwischen Kolonie und Metropole in den Blick genommen. Indem darüber hinaus systematisch nach Einflüssen von und Wechselwirkungen mit Entwicklungen in anderen Teilen der kolonisierten bzw. der islamisch geprägten Welt gefragt wird, werden schließlich viertens überregionale und teilweise auch globale Verflechtungen berücksichtigt und so Aspekte einer globalgeschichtlich informierten Kolonialgeschichtsschreibung in die Analyse einbezogen.

Forschungsstand

Im Kontext der Geschichte des europäischen Kolonialismus und Imperialismus ist die Frage nach der Rolle der Religion bereits sehr früh gestellt worden. Bis heute konzentriert sich der Großteil der Forschung allerdings meist auf die Geschichte der christlichen Missionsgesellschaften und fragt nach dem Zusammenhang von christlicher Mission und kolonialer Herrschaft.34 Während die ältere Forschung hier oft von einem engen Zusammenspiel ausging und die Missionare nicht selten als Wegbereiter oder gar Speerspitze der Kolonisierung, fast immer jedoch als Verbündete der säkularen Kolonialakteure beschrieb, haben jüngere Studien diese Sichtweise in Frage gestellt und auf deutliche Interessengegensätze zwischen Missionsgesellschaften und kolonialem Staat hingewiesen, die nicht selten auch zu Konflikten in den Kolonien führen konnten.35 Missionsgesellschaften waren – so wird betont – eigenständige und vom kolonialen Staat unabhängige Akteure in der kolonialen Situation, die nicht selten unterschiedliche Zielvorstellungen hatten und häufig zu den prominentesten – und aufgrund ihres lokalen Wissens auch am besten informierten – Kritikern staatlicher Kolonialpolitik gehörten.

Innerhalb der Forschung zu Religion und Kolonialismus bilden Studien, die sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Islam beschäftigen, ein eigenes Feld, das mit der Forschung zur Missionsgeschichte nur stellenweise Überschneidungen aufweist.36 Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass die Missionsforschung sich insgesamt zu einem vergleichsweise eigenständigen Bereich innerhalb, wenn nicht gar parallel zur Kolonialgeschichtsschreibung entwickelt hat; darüber hinaus gibt es – zumindest für Westafrika – auch sachliche Gründe: Zu vielen westafrikanischen Kolonialgebieten, die einen hohen Anteil von Muslimen an der Bevölkerung aufwiesen, hatten die christlichen Missionen nur einen stark eingeschränkten oder sogar gar keinen Zugang.37 Häufig fürchteten die verantwortlichen Kolonialverwaltungen, dass die Tätigkeit der Missionare innerhalb der islamisch geprägten Gesellschaften für Unruhe sorgen oder schlimmstenfalls sogar zu einer gefährlichen Destabilisierung der sozialen Ordnung führen könnte und bemühten sich, die Missionsgesellschaften von den betreffenden Gebieten fernzuhalten – teilweise sogar durch Verbote.38 Das Wirken der Missionare in Bezug auf diese Regionen beschränkte sich in diesen Fällen auf die Rolle außen stehender Kritiker der Kolonialverwaltung, die deren Abschottungspolitik verurteilten und den Vertretern des Kolonialstaates eine mindestens indirekte Förderung des Islam zuungunsten des Christentums vorwarfen. Auch in dieser Arbeit wird den Missionen aus diesen Gründen nur eine begrenzte Rolle als Teilnehmer an den europäischen Islamdiskursen und als Kommentatoren und Kritikern der staatlichen Kolonialpolitik zuteil werden.39 Da den Missionen der Zugang zu den hier untersuchten Gebieten in Nordkamerun und Nordnigeria nahezu gänzlich verwehrt war, spielen sie für die Untersuchung der Kolonialherrschaft vor Ort eine sehr untergeordnete Rolle.

Jenseits der Missionsgeschichte hat sich die Kolonialforschung in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich mit der Geschichte des Islam innerhalb der europäischen Kolonialimperien beschäftigt und die Interaktion von islamischen Gesellschaften und christlichem Kolonialstaat aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht.40 Obwohl die Zahl der in diesem Bereich erschienenen Studien es mittlerweile rechtfertigt, von einem sich formierenden eigenen Feld innerhalb der Kolonial- und Imperialgeschichtsschreibung zu sprechen, zeichnet sich die Forschung auf diesem Gebiet, wie David Motadel jüngst feststellte, bislang durch eine deutliche regionale Spezialisierung aus, die übergreifende oder vergleichende Perspektiven noch weitgehend ausschließt.41 Die Mehrzahl der Studien widmet sich der Geschichte des Islam in einer bestimmten Kolonie oder Region und bezieht sich deshalb auch vom Ansatz her stark auf regionalspezifische Forschungskontexte. In der vorliegenden Arbeit möchte ich einen Schritt weiter gehen und die Untersuchung der westafrikanischen Fallbeispiele mit allgemeineren Fragestellungen zum Zusammenspiel von Kolonialismus und Islam verbinden – etwa der Frage nach den Wechselwirkungen von metropolitanem Diskurs und kolonialer Praxis oder nach dem Zusammenhang von lokaler Islampolitik und imperialen Diskussionen um die Regelung der islamischen Pilgerfahrt nach Mekka.

Ein kürzlich erschienener Sammelband unterteilt eine Anzahl neuerer Aufsätze zum Islam in den europäischen Kolonialimperien in drei Themenbereiche, welche die Hauptrichtungen der Forschung zu Islam und Kolonialismus repräsentieren.42 Ein erster Bereich umfasst Arbeiten, die sich mit der Islampolitik der verschiedenen Kolonialregierungen auseinandersetzen und dabei nicht nur den kolonialen Umgang mit bzw. die Reglementierung islamischer Religionspraxis analysieren, sondern vor allem auch die Integration islamischer Institutionen und Akteure in den kolonialen Herrschaftsapparat untersuchen. Als ein zweites Themenfeld werden Studien zusammengefasst, die sich mit antikolonialem Widerstand im Namen oder unter dem Banner des Islam auseinandersetzen, während sich ein drittes Feld der Frage nach der Bedeutung kolonialen Wissens über den Islam für die Formulierung kolonialer Islampolitiken und die Ausgestaltung kolonialer Herrschaftspraxen in islamisch geprägten Gebieten widmet. Zu allen drei Bereichen möchte ich mit der vorliegenden Arbeit beitragen.

Gerade in Bezug auf die Forschung zur kolonialen Islampolitik und der Integration islamischer Strukturen in das koloniale Herrschaftssystem lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Forschungsständen zu verschiedenen Kolonialimperien und Regionen feststellen. Das Gros der Forschung zum britischen Empire befasst sich mit Britisch-Indien, Großbritanniens wichtigster Kolonie, die zugleich auch diejenige mit der größten muslimischen Bevölkerung war.43 Dabei lag der Schwerpunkt lange Zeit auf der Frage nach den Ursprüngen des muslimischen Separatismus, der 1947 in der separaten Unabhängigkeit Pakistans gipfelte. Die Mehrheit der Studien widmete sich den Umständen und Ursachen, die zur Herausbildung einer dezidiert politischen Kollektividentität der indischen Muslime und der Gründung ihrer politischen Vertretung, der Muslim-Liga, führten, und untersuchte die Geschichte der Muslime im kolonialen Indien mithin vor allem unter politischen und sozialen Gesichtspunkten.44 Erst in jüngeren Arbeiten – etwa zur Stellung des islamischen Rechts innerhalb des kolonialen Rechtssystems – wurde das Verhältnis von Kolonialherrschaft und Islam unter stärker religionsbezogenen Fragestellungen untersucht und dabei auch nach der Rolle britischer Islambilder gefragt.45

In der Forschung zu Kolonialismus und Islam in Indien spielte die Frage nach der Bedeutung des kolonialen Wissens bereits früh eine wichtige Rolle: In der intensiv geführten Debatte um die kolonialen Ursprünge des indischen Kommunalismus im Allgemeinen und des muslimischen Separatismus im Besonderen nahm das unter anderem in Form von Zensusdaten generierte Wissen der britischen Kolonialmacht über die unterschiedlichen Religionsgruppen eine zentrale Stellung ein. Autoren wie Gyanendra Pandey vertraten dabei die These, dass die Herausbildung stark voneinander abgegrenzter Religionsgruppen mit jeweils eigenen institutionalisierten politischen Vertretungen letztlich eine Folge britisch-kolonialer Wissensproduktion waren, die diese Gruppen in der bis heute existierenden Form überhaupt erst konstruierte.46 Auch jenseits der Diskussion um die Ursprünge des Kommunalismus entstanden einflussreiche Studien wie Bernhard Cohns »Colonialism and its Forms of Knowledge« und Christopher Baylys »Empire and Information«, die für die Forschung zu kolonialem Wissen insgesamt grundlegend geworden sind, im Zusammenhang mit der Untersuchung britischer Kolonialherrschaft in Indien, nicht zuletzt auch über Muslime.47 Im Anschluss an diese Arbeiten haben jüngere Studien speziell den Zusammenhang von britischem Wissen und britischen Einstellungen zum Islam und den Muslimen in Indien und der britischen Islampolitik auf dem Subkontinent untersucht und dabei zeigen können, wie sich die kolonialen Haltungen zum Islam über die Zeit und im Zusammenhang mit bestimmten kolonialen Erfahrungen – allen voran die des Indischen Aufstandes von 1857 – veränderten und wie sich dies wiederum auf die koloniale Islampolitik auswirkte.48 Andere Autoren haben darüber hinaus auf die Bedeutung der indischen Kolonialerfahrungen für die Herausbildung und Entwicklung britischer Vorstellungen und Haltungen zum Islam insgesamt hingewiesen und betont, dass britische Diskussionen und Debatten über den Islam – besonders im kolonialen Kontext – stark durch das in Indien generierte koloniale Wissen geprägt waren.49

In Bezug auf die britischen Kolonien im islamisch geprägten Westafrika konzentriert sich die Mehrheit vor allem der älteren Studien in erster Linie auf die politischen Aspekte der Einbindung islamischer Strukturen in den Kolonialstaat, d. h. sie behandelt die Muslime als eine Gruppe politischer Akteure unter anderen, ohne dabei näher zu thematisieren, was es bedeutete, dass sich eine christliche Kolonialmacht zur Herrscherin über eine islamisch geprägte Gesellschaft aufschwang. Im Falle Nordnigerias stammen diese Arbeiten häufig von Autoren, die selbst in der Kolonialpolitik oder –Verwaltung tätig gewesen waren oder dieser nahe standen,50 und analysieren die Institutionen des kolonialen Verwaltungsapparates im Geiste der anhaltenden oder noch nachklingenden Diskussionen zwischen den europäischen Mächten um die erfolgreichste Kolonialpolitik.51 Dabei spielte die Abgrenzung gegen die französische Politik in Westafrika eine wichtige Rolle: Während die französische Verwaltung als Idealtypus eines Kolonialregimes gedeutet wurde, das stark in die lokalen Verhältnisse eingriff und sie nach französischem Vorbild umzustrukturieren trachtete, stilisierte man die britische Kolonialherrschaft in Nordnigeria zum Musterbeispiel einer indirect rule, die im Gegensatz dazu minimal invasiv vorging, die bestehenden Strukturen nur geringfügig modifizierte und sie ansonsten lediglich einer britischen Oberaufsicht unterstellte.52

Nach der Unabhängigkeit Nigerias wurde dieses bereits von Frederick Lugard und seiner Frau Flora propagierte Idealbild zunehmend dekonstruiert.53 Besonders nigerianische Historiker betonten den autoritären und gewaltsamen Charakter der Kolonialherrschaft, die sich in diesen Darstellungen in keiner Weise positiv von anderen Kolonialregimen unterschied.54 Während eine Reihe von Arbeiten die Geschichte Nordnigerias aus historisch-materialistischer Sicht untersuchte und die britische Kolonialherrschaft als Ausdruck kapitalistisch-imperialistischer Dominanz deutete,55 analysierte ein zweiter, islamisch geprägter Forschungsstrang die Geschichte des Sokoto-Kalifats aus der Perspektive des islamischen Staates und seiner Akteure und interpretierte die Kolonialzeit im Hinblick auf ihre Eingriffe in den islamischen Charakter der Herrschaft.56 Jüngere Arbeiten thematisieren dabei auch die theoretisch-theologische Verarbeitung der christlichen Kolonialherrschaft durch islamische Intellektuelle auf der einen und die Haltung der britischen Kolonialfunktionäre zu den unterschiedlichen islamischen und Akteuren und Institutionen auf der anderen Seite.57 Auch wenn der Einfluss europäischer Islamdiskurse und deren Interaktion mit lokalen Repräsentationen und Praktiken des Islam dabei noch weitgehend unberücksichtigt blieb, lieferten gerade diese neueren Studien wertvolle Anregungen für die vorliegende Untersuchung.

Insgesamt spielte die Frage nach dem Zusammenhang von kolonialer Herrschaft und kolonialem Wissen in Bezug auf das britisch besetzte islamische Afrika eine deutlich geringere Rolle als für den indischen Fall. Auch wenn viele der existierenden Studien zur britischen Kolonialherrschaft im islamisch geprägten Westafrika die Einbindung islamischer Institutionen und Akteure in den kolonialen Herrschaftsapparat und umgekehrt die Auswirkungen dieser Einbindung auf die islamischen Strukturen thematisieren, so wurde die Produktion kolonialen Wissens über den Islam und die Muslime in Westafrika in diesen Untersuchungen bislang kaum berücksichtigt. Dieser Umstand hängt bis zu einem gewissen Grad sicher auch damit zusammen, dass Indien und die indischen Muslime in den viktorianischen Diskursen eine dominante Stellung einnahmen und sich viele zeitgenössische britische Texte zum Islam auf den indischen Fall beziehen, während das islamisch geprägte Afrika in diesen Diskursen höchstens am Rande vorkam.58 Gerade diese Außenseiterrolle der afrikanischen Muslime in der zeitgenössischen Wissensproduktion zum Islam, die nicht selten auch die Form einer Leerstelle annahm, kann jedoch im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gestaltung der Kolonialherrschaft untersucht werden und eine interessante Perspektive für die Untersuchung der Kolonialherrschaft im islamischen Afrika eröffnen: Warum spielten afrikanische Muslime in europäischen Islamdiskursen eine so geringe Rolle und was bedeutete dies für die Praxis kolonialer Herrschaft in islamisch geprägten Gebieten Westafrikas? Erste Ansätze dazu finden sich in Peter Weiss’ Arbeit zum Islam in Staat und Gesellschaft Ghanas seit dem 14. Jahrhundert.59 In mehreren Kapiteln untersucht Weiss hier die Interaktion von kolonialem Staat und islamischen Institutionen, wobei er auch auf die Entwicklung deutscher und britischer Vorstellungen vom Islam in den von ihm untersuchten Gebieten eingeht und diese in einen Zusammenhang mit der kolonialen Praxis bringt.60 Weiss’ Untersuchung lieferte wichtige Anregungen für meine Untersuchung von Kolonialismus und Islam in Kamerun und Nordnigeria. An seine Ergebnisse anknüpfend versuche ich die Entwicklungen in den Kolonien einerseits noch stärker und systematischer nicht nur mit zeitgenössischen Debatten über den Islam in den Metropolen, sondern auch mit Diskursen über »Rasse« und Kultur in Afrika in Zusammenhang zu bringen und andererseits die untersuchten Fälle in über den afrikanischen Kontext hinausgehende zeitgenössische Diskurszusammenhänge zu Islam und kolonialer Herrschaft einzubetten.

Wertvolle Anregungen für die vorliegende Arbeit lieferte auch die Forschung zur französischen Kolonialherrschaft im islamisch geprägten Westafrika. Auch hier erfuhr das noch aus dem Kontext zeitgenössischer Kolonialdiskurse stammende und mit dem britischen Fall kontrastierte Bild eines stark in die islamischen Strukturen eingreifenden Kolonialregimes grundlegende Korrekturen. Zwar gibt es durchaus auch Arbeiten jüngeren Datums, die die zerstörerischen Seiten der französischen Kolonialherrschaft für die islamischen Gesellschaftsstrukturen gerade in der Frühphase der Kolonialzeit aufzeigen,61 doch haben einflussreiche Studien zeigen können, dass auch unter französischer Kolonialherrschaft islamische Strukturen und Akteure in den kolonialen Herrschaftsapparat integriert wurden, wobei dauerhafte Herrschaftsallianzen entstanden, die die Region langfristig prägten.62 Besonders aufschlussreich für diese Untersuchung haben sich in diesem Zusammenhang Arbeiten erwiesen, welche die Rolle französischer Wissenschaftler bei der Konzeptualisierung und Formulierung der kolonialen Islampolitik untersuchen und dabei aufzeigen, wie sich in der Auseinandersetzung mit islamischen Praktiken in den westafrikanischen Kolonien die Vorstellung eines speziellen afrikanisch geprägten Islam Noir entwickelte.63 Diese Studien gaben wichtige Inspirationen für die Analyse des Zusammenspiels von Islamdiskursen, kolonialer Herrschaft und Islamwissenschaft in der vorliegenden Arbeit.

Anders als im britischen und französischen Fall gibt es zur deutschen Kolonialherrschaft im islamisch geprägten Westafrika bislang nur sehr wenige Studien. Sind die westafrikanischen Kolonien im Vergleich zu Deutsch-Südwest- aber auch -Ostafrika in der deutschen Kolonialgeschichtsschreibung bisher ohnehin erkennbar unterrepräsentiert, so konzentriert sich die Mehrheit der Arbeiten zu Togo und Kamerun darüber hinaus auf die Küstengebiete und das daran anschließende Hinterland und behandelt mithin vor allem die nicht-islamisch geprägten Regionen dieser Kolonien.64 Die Forschung folgte damit bislang meist den Prioritäten der deutschen Kolonialverwaltung, die sich bis zum ersten Weltkrieg schwerpunktmäßig auf die Erschließung und herrschaftliche Durchdringung der südlicheren Gebiete konzentrierte. Die aus dieser Perspektive als das Hinterland des Hinterlandes erscheinenden islamisch geprägten Nordregionen tauchen in den meisten Studien lediglich am Rande als Sonderfälle auf, die sich von den übrigen Teilen der Kolonien deutlich unterschieden, aber gerade deshalb auch nicht eingehender behandelt werden. Eine Ausnahme bildet hier Albert Wirz’ sehr lesenswerte Monographie zu Kamerun, die in einem größeren Kapitel ausführlicher auf die Nordregion eingeht, wenn auch mit einem deutlich wirtschaftsgeschichtlichen Schwerpunkt.65 Ausschließlich mit dem islamisch geprägten Kameruner Norden befasst sich die Dissertation von Monika Midel, die neben den gesellschaftlichen Veränderungen infolge der Kolonisierung vor allem die verschiedenen Reaktions- und Widerstandsformen der einzelnen Bevölkerungsgruppen untersucht.66 Die Frage der Integration islamischer Institutionen in koloniale Herrschaftsstrukturen taucht bei Midel allerdings nur am Rande auf und auch zur Rolle europäischer Islamdiskurse für die Ausgestaltung der Kolonialherrschaft finden sich nur einige knappe Überlegungen.67 Stärkere Beachtung hat der muslimische Norden innerhalb der kamerunischen Geschichtswissenschaft gefunden. Hier sind insbesondere die Veröffentlichungen des Historikers Eldridge Mohammadou zu nennen, der vor allem mit der Aufzeichnung und Edition oraler Traditionen des Nordens die Quellenbasis für historische Arbeiten deutlich verbreitert hat.68 Verschiedene an der Universität Yaoundé entstandene Arbeiten beschäftigen sich darüber hinaus explizit mit der Errichtung der deutschen Kolonialherrschaft im kamerunischen Teil des Sokoto-Kalifats und behandeln zum Teil auch die Rolle lokaler Machthaber im kolonialen Herrschaftssystem.69

Bislang noch nicht thematisiert wurde in der Forschung zur deutschen Kolonialherrschaft im islamisch geprägten Teil Kameruns die Frage nach der Bedeutung kolonialen Wissens über den Islam. Zwar analysieren Holger Weiss und Rebekka Habermas in zwei neueren Aufsätzen die Debatten über den Islam in den deutschen Kolonien, die im Jahrzehnt vor dem Beginn des ersten Weltkriegs in Deutschland unter anderem auf den nationalen Kolonialkongressen geführt wurden, und beleuchten die jeweilige Rolle von Wissenschaftlern und Vertretern der Missionsgesellschaften in diesen Diskussionen.70 Die koloniale Praxis in den betreffenden Kolonien taucht dabei aber nur am Rande als Impulsgeber für die Debatten in der Metropole auf. Für Deutsch-Ostafrika untersuchen einige neuere Aufsätze auch die koloniale Islampolitik insbesondere im Zusammenhang mit der Kontroverse zwischen der Kolonialverwaltung und den – in Ostafrika auch lokal präsenten – Missionsgesellschaften, konzentrieren sich dabei jedoch umgekehrt stärker auf die Entwicklungen in der Kolonie.71 Welche Rolle die europäischen Diskurse über den Islam auch jenseits von Deutschland für die koloniale Herrschaft vor Ort spielten und inwiefern hier ein Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung zwischen Kolonie(n) und Metropole(n) bestand, bleibt damit – vor allem für das deutsch besetzte Westafrika – eine weitgehend offene Frage. Hier möchte ich mit der vorliegenden Arbeit anschließen und die bestehende Forschung erweitern, indem ich die Frage nach der Integration islamischer Akteure und Institutionen in den kolonialen Herrschaftsapparat in den Mittelpunkt der Untersuchung rücke und mit der Frage nach der Rolle europäischen Wissens über den Islam verbinde. Durch die Erweiterung des Blickwinkels über die Grenzen der Kolonie hinaus und die Einbeziehung überregionaler und interimperialer Verbindungen in die Analyse des Zusammenspiels von islamischen Strukturen und kolonialer Herrschaft können darüber hinaus weitere relevante Zusammenhänge erschlossen werden.

Ein eigenes Gebiet innerhalb der Forschung zum Islam in den europäischen Imperien bilden Studien zu antikolonialen Widerstandsbewegungen, die im Namen oder unter dem Banner des Islam auftraten.72 Diese Bewegungen, die häufig bereits in der zeitgenössischen Öffentlichkeit intensiv diskutiert und zum Teil auch (populär)literarisch verarbeitet wurden, stießen auch in der Forschung auf ein fortgesetztes Interesse. Islamische Widerstandsbewegungen traten in allen Teilen der islamischen Welt auf, die von einer der europäischen Kolonialmächte besetzt waren; sie speisten sich aus unterschiedlichen islamischen Strömungen und Traditionen, welche nicht selten bereits in die vorkoloniale Zeit zurückreichten und auch innerhalb der islamischen Gesellschaften als Kritiker und Erneuerer der bestehenden Verhältnisse auftraten. Neben verschiedenen Sufi-Orden, die am häufigsten Widerstand gegen die Kolonialmächte leisteten, waren es dementsprechend häufig Reform- oder Erneuerungsbewegungen wie Wahhabismus oder Pan-Islamismus oder millenaristische Strömungen wie der Mahdismus, die antikolonialen Widerstand im Namen des Islam inspirierten und/oder initiierten. Die Forschung zu diesen Widerstandsbewegungen untersucht in den meisten Fällen einzelne Bewegungen in ihrem jeweiligen regionalen Kontext, wobei häufig nach der Rolle einer bestimmten islamischen Gruppierung oder Strömung innerhalb einer konkreten Widerstandsbewegung gefragt wird.73 Systematischere Darstellungen, die das Phänomen des antikolonialen islamischen Widerstands als Ganzes in den Blick nehmen, aber auch vergleichende Studien sind bislang die Ausnahme geblieben.74

Die bedeutendste islamische Widerstandsbewegung im britisch besetzten Afrika war zweifelsohne die Mahdi-Bewegung im anglo-ägyptischen Sudan, der es unter ihrem Anführer, dem Mahdi Muhammad Ahmad, Anfang der 1880er Jahre gelang die britisch-ägyptische Besatzungsmacht militärisch zu besiegen und einen islamischen Staat zu errichten, der bis zur britischen Rückeroberung 1898 über ein Jahrzehnt lang Bestand hatte. Die Bewegung und ihre militärische Niederschlagung durch die britische Kolonialmacht war bereits unter Zeitgenossen ein beliebter Gegenstand populärer Darstellungen und erregt bis heute ein fortgesetztes Interesse auch in der historischen Forschung.75 Während sich populärere Werke stärker auf die militärischen Auseinandersetzungen und das Handeln bekannter britischer Akteure konzentrieren,76 haben sich stärker an ein historisches Fachpublikum gerichtete Arbeiten vor allem mit der Mahdi-Bewegung selbst und dem durch sie entstandenen Staat beschäftigt.77 Ein in der Forschung bislang weniger beachteter Aspekt der sudanesischen Mahdi-Bewegung ist ihr Einfluss auf und ihre Beziehungen zu antikolonialen Widerstandsbewegungen im westlichen Sudangebiet, vor allem in Kamerun und Nordnigeria. Hier bestanden bereits vor der Kolonisierung des Inneren Westafrikas persönliche Kontakte zwischen Führungspersönlichkeiten und über Handels- und Pilgerwege laufende Austauschbeziehungen, die nicht nur die Widerstandsbewegungen in den hier untersuchten Kolonien selbst mit prägten, sondern auch den Umgang der Kolonialmächte mit diesen Bewegungen beeinflussten.78

Antikolonialer Widerstand unter dem Banner des Islam formierte sich in Kamerun und Nordnigeria ganz überwiegend als mahdistische Bewegungen. Im Vergleich zu antikolonialem islamischem Widerstand in anderen Regionen ist die Forschung zu den Mahdi-Bewegungen in diesen Kolonien und besonders in Kamerun noch relativ überschaubar geblieben. Zwar behandeln einige Überblickswerke zur politisch-militärischen Geschichte der kolonialen Eroberung auch die nur ein halbes Jahrzehnt nach der Etablierung der Kolonien auftretenden Widerstandsbewegungen, doch verbleiben diese Darstellungen ganz im Bereich der klassischen Ereignisgeschichte.79 Ähnliches gilt auch für einige wenige Aufsätze, die sich in erster Linie um eine widerspruchsfreie Rekonstruktion der Ereignisse und eine politikgeschichtliche Erklärung der Zusammenhänge bemühen.80 Eine Ausnahme in Bezug auf Nordnigeria bildet hier ein sehr aufschlussreicher Aufsatz von Paul E. Lovejoy und Jan S. Hogendorn, der die Widerstandsbewegung aus sozialgeschichtlicher Perspektive untersucht und dabei ihre sozialrevolutionären Aspekte betont.81 In ähnlicher Weise untersucht Martin Z. Njeuma mahdistische Bewegungen in Adamaua (Nord-Kamerun) und interpretiert sie als radikale Reformbewegungen gegen ein zunehmend erstarrtes politisch-religiöses Establishment.82 Auch Monika Midel untersucht die Mahdi-Bewegungen in Kamerun im Rahmen einer längeren Gesellschaftsgeschichte der Region Adamaua als ein Beispiel für regimekritische soziale Bewegungen, wobei sie ebenfalls vor allem die vorkolonialen Wurzeln und die soziale Dimension der Bewegungen betont.83 Entgegen solchen stärker sozialgeschichtlichen Lesarten wurde zuletzt wieder die religiöse Dimension des Widerstands hervorgehoben und darauf hingewiesen, dass eine Interpretation der Mahdi-Bewegungen als in erster Linie sozialrevolutionäre Bewegungen der von Alltagsreligiosität geprägten Lebenswirklichkeit der Muslime in der Region nicht gerecht werde.84 Bislang weniger Beachtung in der Forschung fand neben den bereits erwähnten Verbindungen zu mahdistischen Bewegungen im nilotischen Sudan auch die Frage danach, wie sich die Erfahrung einer antikolonialen islamischen Widerstandsbewegung auf die Islampolitik der Kolonialmächte und das dieser zugrunde liegende Bild vom Islam in Westafrika auswirkte.85 Hier möchte ich in der vorliegenden Arbeit ansetzen und die Mahdi-Bewegungen in einem breiteren, über die Grenzen der beiden Kolonien hinaus gehenden Kontext untersuchen.

Ein Aspekt kolonialer Politik, der in der Forschung der letzten Jahrzehnte immer wieder Aufmerksamkeit erfahren hat, – nicht nur in Bezug auf das islamisch geprägte Westafrika – ist die Frage nach dem kolonialen Umgang mit der in verschiedenen westafrikanischen Regionen verbreiteten Sklaverei – auch im Kalifat von Sokoto.86 Für Nordnigeria ist hier die Studie von Paul E. Lovejoy und Jan S. Hogendorn wegweisend geworden, die den sehr vorsichtigen Umgang der britischen Administration mit der Sklaverei beschreibt und letzterer einen »slow death« bescheinigt.87 Für den Norden Kameruns liegen ebenfalls Untersuchungen vor, die den deutschen Stellen im Wesentlichen – ähnlich wie den britischen – große Zurückhaltung bei der Eindämmung der Sklaverei attestieren.88 Auch Fragen nach den Spezifika der (britischen) Sklavereipolitik in islamisch geprägten Kontexten waren bereits gelegentlich Gegenstand der Forschung.89 Die Einbeziehung des sehr umfangreichen Feldes der Forschung zur Sklaverei und dem Sklavenhandel in Westafrika würde allerdings den Rahmen dieser Untersuchung überschreiten. Da die in der zitierten Forschung zu findenden Hinweise auf einen pragmatischen und den muslimischen Eliten gegenüber vorsichtigen Umgang der Kolonialmächte mit der Sklaverei es darüber hinaus nicht erwarten lassen, dass die grundsätzlichen Zusammenhänge zwischen europäischen Islambildern und kolonialer Herrschaft, die am Beispiel verschiedener Handlungsfelder der kolonialen Herrschaftspraxis (Rechts- und Steuerpolitik, Umgang mit Widerstand, Pilgerpolitik) herausgearbeitet werden, durch die Einbeziehung dieses an sich interessanten Aspektes in einem gänzlich anderen Licht erscheinen würden, wird auf eine systematische Untersuchung dieses Bereiches kolonialer Herrschaft verzichtet.

Quellen

Da die vorliegende Arbeit koloniale Herrschaft im islamisch geprägten Westafrika im Zusammenhang mit europäischen, inner- und interimperialen Diskursen über den Islam und besonders den Islam in Afrika untersucht, bezieht sie sich auf eine Anzahl unterschiedlicher Quellengattungen, die den verschiedenen Ebenen der Untersuchung entsprechen. Den zentralen Quellenkorpus für die im Zentrum der Arbeit stehende Untersuchung der kolonialen Herrschaftspraxis im nördlichen Kamerun und Nordnigeria bilden die Akten der verschiedenen Ebenen der Kolonialverwaltung, die im Bundesarchiv in Berlin, in den National Archives in London sowie im Nationalarchiv in Yaoundé/Kamerun aufbewahrt werden.90 Dabei handelt es sich zum einen um Berichte und Korrespondenzen der zuständigen Kolonialbeamten und –Offiziere, in denen sowohl die Interaktionen der Kolonialakteure mit Muslimen in den untersuchten Kolonien dargestellt und reflektiert, als auch die Islampolitik der jeweiligen Verwaltungen insgesamt diskutiert wurden. Darüber hinaus finden sich in den Akten Verträge, Verordnungen und Verwaltungsanweisungen, die Aufschluss über die Frage nach der Einbindung islamischer Strukturen in das koloniale Herrschaftssystem geben können. Ergänzt werden die Verwaltungsakten durch Material aus Nachlässen der in die untersuchten Herrschaftsstrukturen involvierten Kolonialbeamten. Zum einen sind auf diesem Wege Berichte und Schriftwechsel überliefert, die in den Akten der Verwaltungen nicht (mehr) vorhanden sind, zum anderen bieten diese Bestände auch persönliche Aufzeichnungen und Briefe, die an verschiedenen Stellen eine zusätzliche Perspektive auf die Zusammenhänge eröffnen können. Während die Überlieferung in Deutschland sich hier auf einzelne, auf die verschiedenen Standorte des Bundesarchivs und einige kleinere Archive und Bibliotheken verstreute Nachlässe beschränkt, konnte im britischen Fall auf die größeren Sammlungen der Rhodes House Library in Oxford zurückgegriffen werden.

Berichte von Kolonialbeamten, die Aufschluss über deren Umgang mit dem Islam und den Muslimen in den hier untersuchten Gebieten geben können, wurden zum Teil auch in kolonialen oder kolonialwissenschaftlichen Zeitschriften und Zeitungen abgedruckt. Auch veröffentlichten nicht wenige Kolonialbeamte Erinnerungen oder Reiseberichte, in denen sie sich auch – mehr oder weniger ausführlich – zu ihren Interaktionen mit dem Islam und den Muslimen in den hier untersuchten Gebieten äußerten. Dieses publizierte Material wird einerseits zur Ergänzung der Archivquellen herangezogen, andererseits eröffnet es noch eine zusätzliche Perspektive: Einige dieser Schriften – insbesondere von Frederick Lugard und seinen engeren Mitarbeitern – sind offensichtlich in der Absicht verfasst, die Politik der nordnigerianischen Kolonialregierung der interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren und für diese zu werben. Dies macht zwar einerseits einen besonders kritischen Umgang mit diesem Material hinsichtlich seiner Aussagen über die koloniale Praxis vor Ort notwendig, ermöglicht es andererseits aber auch diese Veröffentlichungen als Beitrag zu den in den Metropolen geführten Debatten um koloniale Islampolitik zu lesen.

Die Rekonstruktion dieser größeren Diskurszusammenhänge, sowohl zur kolonialen Islampolitik im engeren Sinne als auch zur europäischen Sicht auf den Islam im weiteren Sinne, erfolgt in der vorliegenden Arbeit zunächst auf der Grundlage der sehr vielfältigen Sekundärliteratur. Bei der Analyse einiger für die Fragestellungen dieser Arbeit besonders interessanter Diskursstränge – etwa der Haltung der Missionsgesellschaften zur kolonialen Islamfrage – werden darüber hinaus auch publizierte Primärquellen wie Zeitschriftenbeiträge oder Tagungsberichte herangezogen. Auch die Analyse der vorkolonialen europäischen Wissensbestände zum Islam in Afrika und die Untersuchung der wissenschaftlichen Reaktionen auf koloniale Erfahrungen mit dem Islam in den afrikanischen Kolonien erfolgt überwiegend auf der Grundlage zeitgenössischer Publikationen – sprich: Reiseberichten von Forschungsreisenden bzw. wissenschaftlichen Fachaufsätzen.

Wie die meisten Arbeiten zur afrikanischen Kolonialgeschichte sieht sich auch die vorliegende mit dem Problem konfrontiert, dass der verfügbare Quellenkorpus nahezu ausschließlich aus von Europäern verfassten Texten besteht, die die Ereignisse und Zusammenhänge aus dem Blickwinkel der Kolonisatoren darstellen. Ein vergleichbarer Bestand an Texten aus afrikanischer Feder, der dem Darstellungen aus der Perspektive der Kolonisierten entgegenstellen könnte, steht nicht zur Verfügung. Auch wenn diese einseitige Repräsentation der Ereignisse und Zusammenhänge eine unabhängige Analyse der historischen Zusammenhänge und eine ausgewogene Darstellung, die nicht ihrerseits die kolonialen Machtverhältnisse reproduziert, deutlich erschwert, so fällt dieses Ungleichgewicht für die vorliegende Untersuchung doch weniger ins Gewicht als bei anders gelagerten Fragestellungen. Da es im Kern darum geht zu analysieren, wie europäisches Wissen über den Islam (in Afrika) sich auf die Ausgestaltung der kolonialen Praxis in islamisch geprägten Gebieten auswirkte und wie in den Kolonien gemachte Erfahrungen auf dieses Wissen zurückwirkten, liegt der Schwerpunkt der Analyse auf der europäischen Seite der kolonialen Interaktionen. Das primäre Anliegen besteht mithin darin, die Funktionsweisen und inneren Zusammenhänge und Widersprüche des europäischen Kolonialismus besser zu verstehen und auf Brüche und Ambivalenzen innerhalb des kolonialen Projektes hinzuweisen. Zwar wird durchaus gefragt, inwiefern durch Lücken, Widersprüche und Fehler im europäischen Wissen über die Verhältnisse in den untersuchten Gebieten Handlungsspielräume für afrikanische Akteure entstanden und inwieweit bei der lokalen Neuproduktion von Wissen, das die Lücken füllen und die Fehler beheben sollte, Muslime insbesondere aus dem Kreis der mit den Kolonialmächten kooperierenden Eliten beteiligt waren, doch lassen sich gerade diese Momente und Räume afrikanischer agency noch vergleichsweise gut aus den kolonialen Quellen rekonstruieren, da sie in unmittelbarer Interaktion mit dem Handeln und den Diskursen der Kolonisatoren standen und auf diese einwirkten.

Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel, die in grober Chronologie die Entwicklung der europäischen Diskurse über den Islam in ihrer Wechselwirkung mit den Vorgängen in den untersuchten Kolonien bis kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs verfolgen. An verschiedenen Stellen wird diese Chronologie durchbrochen, um die Entwicklung einzelner Aspekte – wie beispielsweise der kolonialen Pilgerpolitik – über den Einschnitt des ersten Weltkrieges hinaus zu verfolgen, der den Verlust der deutschen Kolonien zur Folge hatte. In diesen Fällen konzentriert sich die Untersuchung ganz auf die Gebiete unter britischer Kolonialherrschaft, zu denen nach 1919 auch Teile der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun gehörten.

Kapitel 2 gibt einen Überblick über die wichtigsten Strömungen europäischer Islamdiskurse am Ende des 19. Jahrhunderts und bietet damit einen Querschnitt dessen, was in dieser Zeit in Europa über den Islam gewusst und gesagt wurde. Ziel dieser Bestandsaufnahme ist es, das Spektrum an Repräsentationen des Islam und der Muslime zu skizzieren, das den europäischen Kolonialfunktionären zu Gebote stand, bevor sie in die hier untersuchten Gebiete aufbrachen und das damit die Grundlage bzw. den Ausgangspunkt ihrer Interaktionen mit den Muslimen in Kamerun und Nordnigeria bildete. Besonderes Augenmerk liegt dementsprechend auf den Repräsentationen der afrikanischen Muslime, die anhand einer Reihe von Reiseberichten europäischer Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts analysiert werden. Die am Anfang dieser Einleitung bereits angesprochene doppelte Ambivalenz, die diese Repräsentationen aufwiesen, – zwischen dem Islam als Zivilisationsmerkmal und Zivilisierungshindernis auf der einen und den afrikanischen Muslimen als Anhängern einer aus europäischer Perspektive entwickelten Religion und als Bewohner eines angeblich kulturlosen Kontinents auf der anderen Seite – wird dabei aus den Quellen entwickelt.

Die anschließenden drei Kapitel widmen sich der Untersuchung der kolonialen Herrschaftspraxis in Nordkamerun und Nordnigeria – stets mit Blick auf die Frage, wie sich diese widersprüchlichen Repräsentationen auf die Interaktion der europäischen Kolonialfunktionäre mit den muslimischen Akteuren und Institutionen vor Ort auswirkten und wie diese Interaktionen auf die Repräsentationen zurückwirkten. Die Untersuchung wird dabei immer wieder auf grenzüberschreitende Verbindungen und Interaktionen eingehen, die beide Untersuchungsgebiete auf unterschiedlichen Ebenen miteinander oder mit anderen Gebieten in der islamischen Welt oder den beiden Kolonialreichen verbanden und die die koloniale Herrschaft über Muslime in den untersuchten Kolonien in spezifischer Weise prägten.

In Kapitel 3 wird gefragt, welche Rolle die ambivalenten Repräsentationen der afrikanischen Muslime in den europäischen Diskursen bei der Ausgestaltung der kolonialen Herrschaftsstrukturen spielten, vor allem mit Blick auf die Frage der Integration vorkolonialer islamischer Strukturen in das koloniale Herrschaftssystem. Das Kapitel beginnt mit einer Untersuchung der kolonialen Eroberung der dann zu Nordkamerun und Nordnigeria gemachten Gebiete. Dabei zeigt sich, dass bereits für die Entscheidung beider Kolonialmächte, die neuen Kolonialgebiete mittels eines dezidiert indirekten Herrschaftssystems unter starker Einbindung der muslimischen Eliten und ihrer Institutionen zu verwalten, die Vorstellung eine wichtige Rolle spielte, dass es sich um nach europäischem Verständnis vergleichsweise entwickelte islamische Staatsgebilde handelte, deren Institutionen sich für die Beherrschung der Kolonien einspannen ließen. Wie weit diese Vereinnahmung jeweils ging, wird im weiteren Verlauf des Kapitels exemplarisch anhand der kolonialen Steuer- und Rechtssysteme in beiden Kolonien untersucht. Es zeigt sich dabei, dass beide Kolonialmächte zwar grundsätzlich stark auf den bestehenden Strukturen aufbauten und von diesen Vieles in den kolonialen Apparat übernahmen, dass aber an Stellen, an denen es ihnen aus verschiedenen Gründen wichtig erschien, dennoch weit reichende Eingriffe in die islamischen Strukturen vorgenommen wurden. Die kolonialen Akteure beriefen sich dabei strategisch jeweils auf die – teilweise einander widersprechenden – Repräsentationen des Islam und der afrikanischen Muslime, die ihnen zur Rechtfertigung ihres Handelns passend erschienen – eine Vorgehensweise, die sich auch in dem sehr pragmatischen Umgang beider Kolonialmächte mit der in den untersuchten Gebieten verbreiteten Institution der Sklaverei zeigte. Hinsichtlich der Beziehungen der beiden Kolonien untereinander zeigt die vergleichende Untersuchung der Herrschaftsstrukturen, dass beide Kolonialmächte hier zunächst weitgehend unabhängig voneinander und unter parallelem Bezug auf Vorbilder in Süd- und Südostasien, jeweils ein explizit indirekt ausgerichtetes Herrschaftssystem etablierten, wobei faktisch das deutsche System indirekter war – sprich: in stärkerem Maße islamische Institutionen und Akteure integrierte – als das britische. Erst in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg führten Reformen in Nordkamerun zu einer deutlichen Annäherung an das britische System, wobei sich eine direkte Bezugnahme auf die Nachbarkolonie nachweisen lässt.