Komm, wir laufen aus - Heidi Schmitt - E-Book

Komm, wir laufen aus E-Book

Heidi Schmitt

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Beschreibung

Dieses Buch ist eine Marketing-Katastrophe. Die Autorin hat nie beeindruckend viel Gewicht verloren und berichtet auch nicht über besondere Wege der Ernährung oder Entbehrung. Sie war nie drogenabhängig oder schwer krank, lief nie 200 Marathons an 200 Tagen, nie auf besonders hohe Berge oder unter Tage. Sie ist weder körperlich noch psychisch beeinträchtigt, nicht hochbetagt oder kleinwüchsig. Dieses Buch handelt von dem, was 17 Millionen Deutsche tun. Es handelt vom alltäglichen Laufen mit und ohne Startschuss, an guten und an schlechten Tagen. Wenn es denn eine Botschaft hat, dann bestenfalls diese: Das, was uns die Fortbewegung im Laufschritt zu geben vermag, ist auch ohne Superlative bereits spektakulär, großartig und wunderbar genug. „Hier wird Laufen so beschrieben, wie wir Läuferinnen und Läufer es tatsächlich erleben. An erster Stelle steht die Selbstironie und gibt es nichts Schöneres, als über sich selbst zu lachen. Laufen ist einfach nur schön und dieses Buch beschreibt dies vortrefflich.“ Dieter Baumann

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Heidi Schmitt studierte in Heidelberg Germanistik und Musikwissenschaft, steckte Leidenschaft, Schriftgut und Zeit jedoch lieber in wechselnde Kabarettformationen. Sie schrieb für Funk und Vergnügen, bis sie der Höchste, vielleicht aber auch nur eine Werbeagentur, abberief. Fortan war es leichter möglich, Lebensmittel, Taschen und Schuhe zu handelsüblichen Preisen zu erstehen und sogar zu wohnen. Sitzende Computertätigkeit führte direkt zum Laufen, was wiederum direkt zu sitzender Computertätigkeit führte: Seit 2007 gibt es den Blog laufen-mit-frauschmitt.de. Für ihr erstes Buch „Jubiläumsbecher in der Busspur“ erhielt Heidi Schmitt den Selfpublisherpreis der Leipziger Buchmesse, autoren@leipzig Award 2013. Die Autorin läuft, lebt und arbeitet aus Versehen in Frankfurt.

„I don’t trust joggers.They’re always the ones that find the dead bodies.Just saying.“

(Anonymus, 21. Jhd.)

Inhalt

Vorwort.

Laufen durch die Jahreszeiten.

Die Entdeckung der Welt.

Das hitzige Gemüt.

Fifty shades of rain.

Alle Jahre wieder.

Die Weihnachtsweiher.

Bitte recht feindlich.

Laufen gestern und morgen.

Die finstere Zeit.

Alles nur eine Phase.

Wenn Läufer zu sehr tippen.

TV-Marathon – Quälerei auf dem Sofa.

Ich messe, also bin ich.

Der Gedankenmonitor.

Laufen ist Zukunft!?

Alter, ey.

Agenda 2033.

Verpflegungsstelle.

Was man zum Laufen braucht.

Die 10 beliebtesten Sätze von Volksläufern.

Von Gefängniswärtern und Klingelbeuteln.

Winke, winke.

Schlafes Schwester.

Ein Hoch auf uns.

Traktat wider die Diskriminierung.

Der macht nix!

Keine Frage der Zeit.

Laufkleidung ist waschbar.

Dumdideldum.

Laufen ist langweilig.

Laufen mit Startschuss.

Über das Volkslaufen.

Die Welt der Warmduscher.

Im Tunnel.

Der mürrische Rücken.

Gibt’s hier was zu feiern?

Liegt Ostheim nicht im Westen?

Die Hesse komme!

Schöner atmen in der Rauchbucht.

Läufer-Glossar.

Danke.

Vorwort des Rennschwaben.

Was ist das Besondere an der Lauferei? Ganz einfach: nichts! Ja, ganz ehrlich: Laufen ist so… so einfach. Linkes Bein vor das rechte, leichte bis keine Flugphase, rechtes Bein vor das linke, usw. Wir schnaufen, hecheln, keuchen, wir schwingen die Arme mit – wie es uns gefällt – und weiter, immer weiter. Das ist Laufen. Und weil das alles so einfach ist, tun es mittlerweile viele Menschen. Zumindest versuchen sie es immer wieder, sie fangen an, hören auf, fangen wieder an… Läuferinnen und Läufer stammen vom Bären ab. Dies kann deshalb als sicher gelten, da die meisten im Frühjahr aktiv werden und sich ab Oktober wieder in ihre Höhlen zum Winterschlaf zurückziehen.

Laufen ist also einfach. Doch diese Einfachheit, ja, diese geradezu als genial einzustufende Natürlichkeit der Lauferei, kann so nicht hingenommen werden. Aus diesem Grund haben sich viele Experten auf den Weg gemacht, den Menschen das Laufen zu erklären. Es gibt Lauf- und Fitnessmagazine, Ärzte, Wissenschaftler, Weltmeister und Olympiasieger. Alle meinen es gut mit dem Laufvolk. Die Experten wissen unglaublich viel (Lauf-ABC, Fatburning, Vorfußlaufen, Pronation, HIIT, Buffer) und können (fast) alles erklären.

Und jetzt also das Buch „Komm, wir laufen aus“ von Heidi Schmitt. Auch das noch! Aber mitnichten. Dieses Buch lässt die besagten Experten alt aussehen, denn sie werden einmal wörtlich genommen. Hier wird Laufen so beschrieben, wie wir Läuferinnen und Läufer es tatsächlich erleben. An erster Stelle steht die Selbstironie und gibt es nichts Schöneres, als über sich selbst zu lachen. Dazu kommt das Lebens-, nein, das Laufgefühl, das da heißt: Freude und Spaß.

Kurzum: Laufen ist einfach nur schön und dieses Buch beschreibt dies vortrefflich. Kompliment dazu, liebe Heidi!

Herzliche Grüße,Dieter Baumann

Vorwort der Autorin.

Wissen Sie, bei meinen Büchern überlasse ich nichts dem Zufall. Schon bei meinem letzten Werk habe ich sehr darauf geachtet, dass der Titel markant und merkfähig ist, das Coverbild große Gefühle auslöst. Deshalb habe ich es „Jubiläumsbecher in der Busspur“ genannt und Klohäuschen darauf abgebildet. Wer jemals bei einem langen Lauf nicht nur die Notwendigkeit für, sondern auch eine plötzliche Chance auf eine würdige Toilette inklusive Papier gesehen hat, weiß, welch tiefe Emotionen dieses Ereignis auslösen kann.

Auch mit dem Titel war ich sehr zufrieden: Amazon und Google zeigen Abbildungen von Zinnbechern aus dem Baltikum und Steingut mit der Aufschrift „10 Jahre Heizungsbau Schaarschmidt“, das bedeutet, dass der Begriff des Jubiläumsbechers über enorme Relevanz verfügt. Und vor allem: über Suchvolumen. Menschen geben es bei Google ein. Ganz gleich, was Sie heute backen, klöppeln, singen oder nach Zahlen ausmalen – das vielleicht nur als Tipp von mir – achten Sie unbedingt darauf, dass es Suchvolumen hat. Wer das Suchvolumen missachtet, liegt eines Tages vergessen und holzig in der Wohnung und erlangt erst dann wieder Relevanz, wenn ein Nachbar „In unserem Treppenhaus riecht’s komisch“ bei Facebook eingibt.

Bei diesem Buch habe ich meine Bemühungen noch verschärft. Umfangreiche Marktforschung hat gezeigt, dass das Werk dann besondere Akzeptanz erfährt, wenn der Begriff „laufen“ im Titel genannt wird und auf dem Cover erkennbar gelaufen wird. Ich habe über die Textlänge und Schriftfarbe abstimmen lassen und iPads verlost. Eine Community durfte sich Themen wünschen und darüber entscheiden, wie schnell ich bei den jeweiligen Laufberichten laufen soll. Ich habe über das Wetter geschrieben und regelmäßig Tiere eingebaut. Derzeit suche ich noch eine Stelle, an der ich mich unauf- und abfällig über die Deutsche Bahn äußern kann, Nordic Walker werden bereits ausreichend verhöhnt. Auch Katzenbilder sind vorgesehen. Kurz: Es besteht kein Zweifel darüber, dass Sie einen Bestseller in Händen halten. An mir liegt es jedenfalls nicht.

Und ich bin recht zuversichtlich, dass es an Ihnen auch nicht liegt. Dass Sie Spaß haben werden an den Geschichten übers Laufen, auch wenn Sie vorher nicht darüber abgestimmt haben. Denn in Wahrheit ist es das, wofür ich mich ins Zeug geworfen habe. Mit keiner Befragung, aber mit großer Lust am Erzählen über eines der schönsten Hobbys, das man sich nur vorstellen kann.

Besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen das Läufer-Glossar, das eigens für dieses Buch entstand. Vielleicht können Sie es ja mal brauchen, um sich bei Nicht-Läufern verständlich zu machen. Die meisten anderen Texte sind hie und da erschienen, etliche davon bei laufen-mit-frauschmitt.de.

Viel Vergnügen beim Laufen und Lesen.

Frau Schmitt (2014)

Laufen durch die Jahreszeiten.

Die Entdeckung der Welt.

Wie lange haben wir darauf gewartet! Es sprießt und blüht und knospt, dass es nur so eine Art hat. Endlich können wir den Hals wieder recken und müssen ihn nicht vor Wind und Wetter einziehen wie eine depressive Schildkröte. Endlich werden wir wieder länger laufen. Nur wo? Nun hat ja jeder Läufer so seine „Hausstrecke“. Was eigentlich ein komisches Wort ist. Schließlich müssen wir erst das Bett (das ist der Brutkasten mit der Biber-Bettwäsche), dann die Küche (das ist der Raum, in dem das Jumboglas Nutella siedelt) und schließlich das Haus (das ist das Gebäude, in dem es immer warm und trocken ist) verlassen, um loszulaufen. Es handelt sich also eher um eine Aus-dem-Haus-Strecke. Vielleicht nennt man es aber auch so, weil wir unterwegs bei fremden Häusern immer in die Fenster gucken, vor allem, wenn es durch die lüftungshalber geklappten Dunstscharten nach Zwiebeln und Bratkartoffeln riecht. Sei’s drum.

Stürmen wir also den Park. Für viele Läufer sind angelegte und ausgetretene Wege die Strecke der Wahl. Man dreht seine Runden (Parkbank – Brunnen – Kiosk – Denkmal – Parkbank) und muss nicht weiter nachdenken. Das Gehirn begibt sich in den Meditiermodus. Neben der Gruppe der Meditierer gibt es jedoch noch eine weitere: die der Entdecker. Die Nachfahren von Magellan und Marco Polo versuchen es statt mit der Seefahrt lieber zu Fuß – und hoffen dabei neue Welten zu erobern, die nie ein müffelnder Neutralschuh zuvor gesehen hat. Nach dem Motto: „Ich wollt’ schon immer mal wissen, wo es dort hingeht“ folgen sie dubiosen Pfaden ins Unterholz, kreuzen wochenends ausgestorbene Industriegebiete und lassen sich auch von Mauern und Zäunen nicht unbedingt bremsen. Ihr größter Triumph ist es, am Ende wieder an einer ihnen bekannten Ecke zu landen und von dort aus mit dem Lächeln des Unbesiegbaren nach Hause zurückzukehren, eine neue Hausstrecke im Gepäck. Früher war diese abwechslungsreiche Art des Laufens nur den Menschen vorbehalten, die das Glück eines Orientierungssinnes kennen. Heute hilft ein Smartphone mit GPS und Lauf-App über ein Fehlen dieser Fähigkeit hinweg. Ich kann deshalb jedermann und jedefrau nur ermuntern, einmal die Park-Aschenbahn zu verlassen und etwas ganz Neues auszuprobieren. Fast immer wird man reich belohnt. Mit Vorgärten, in denen der weltweit hässlichste Gartenzwerg wohnt. Mit einem Ziegengatter am Waldrand. Oder versteckten Erdbeerfeldern. Jetzt ist die beste Zeit dafür: Raus aus dem Trott, rein in die unentdeckten Weiten der eigenen Heimatgemeinde. Dafür haben wir schließlich damals Laufen gelernt – um die Welt schrittweise zu erobern.

Das hitzige Gemüt.

Das durch Sonneneinstrahlung aufgeheizte Gemüt ist ein einfaches. Deshalb muss man ihm immer wieder einhämmern, wie, wann und warum man im Sommer zu laufen hat. Ich habe darüber unzählige Tipps gelesen und möchte an dieser Stelle die zehn wichtigsten zusammenfassen, besonders für alle diejenigen, die die letzten Jahrzehnte im Wachkoma und/oder am Polarkreis verbracht haben.

Wenn die Temperaturen deutlich über 30 Grad steigen, muss man keine Jacke mitnehmen.

Mittags ist es wärmer als etwa früh am Morgen. Wer extrem ausgefuchst ist und alle Tricks kennt, läuft deshalb mittags nicht.

Wenn man Intervalle nicht mag, könnte man sie allerdings mittags machen, dann kommt man rasch in ein kühles Klinik-Bett.

Wenn die Sonne scheint, sollte man eine Kappe tragen, sonst hat man nach Beendigung des Trainings eine Röstzwiebel auf dem Hals.

Es kann vorkommen, dass man Durst bekommt, wenn es warm ist. Dann sollte man etwas trinken.

Auch hinterher könnte man Durst bekommen. Dann sollte man nochmal trinken. Zahlreiche Studien von Instituten, die eigens dafür gegründet wurden, haben herausgefunden, dass es günstig wäre, eine Flüssigkeit zu trinken, in der etwas von dem drin ist, was man in den letzten Stunden verloren hat. Weitere, mehrjährige Studien brachten zutage, dass es sich dabei um Salz und Mineralien handelt.

Auch wenn man ganz viel Durst hat, soll man nicht saufen wie Harald Juhnke.

Wenn die Ozonwerte bis zum Fahrverbot steigen, ist man beim Training nicht so schnell wie sonst.

Auf dem Standstreifen einer frisch geteerten Autobahn ist es manchmal wärmer als im Wald – einfach mal ausprobieren!

Wenn einem richtig warm ist, kann man sich etwas Wasser über den Kopf schütten. Das sieht nicht gut aus, aber es macht nass.

Fifty shades of rain.

Der Eskimo kennt 400 verschiedene Wörter für Schnee. Das steht im Internet, also muss es stimmen. Leider steht auch im Internet, dass es nicht stimmt und wenn das wiederum stimmt, dann würde es ja bedeuten, dass es doch nicht stimmt. Im Dunkeln des Kellers eines geistig zerrütteten Forschers liegt auch die Frage, wie viele Wörter die Egelsbacher für Schnee kennen. Und ob es in Egelsbach überhaupt schneit. Wir lassen die Frage dort unberührt liegen und wenden uns lieber dem Thema „Regen“ zu. Tatsache ist, auch wenn es noch nicht im Internet steht, dass der Volksläufer des Jahres 2013 mit diversen, auch seltenen und längst totgeglaubten Farben und Formen des Regens vertraut werden konnte. Da jedoch die wenigsten Sprachwissenschaftler volkslaufen, gibt es über die Terminologie in der Nassforschung noch Streitigkeiten. Ich möchte diese Stelle nutzen, um ein wenig Klarheit ins Trübe zu bringen. Als Musterexemplar soll mir dafür der „Koberstädter Waldmarathon“ in Egelsbach dienen, der sich hervorragend zur vielfältigen Regenbestimmung eignet. Beim Start des Halbmarathons, den ich heute absolvieren will, wird offenbar, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe. Ich habe es verabsäumt, mir heute Nacht um drei den Wecker zu stellen, um meine Garmin Uhr auf Satellitensuche zu schicken. So eine Fahndung nach Objekten im Weltraum ist nichts, was die Uhr mal eben kurz vorm Start erledigen kann, sie braucht dafür Zeit, Ruhe und Muße. Und vor allem: Sie kann nicht, wenn jemand guckt. Dann fühlt sie sich gehetzt und beobachtet. Nun aber soll die Uhr drei Minuten vor dem Start einen Satelliten finden – absurd! So ein Satellit kreist in 20.200km Höhe um die Erde, wie soll das denn gehen! Und dann dauernd diese aufdringlichen Blicke auf das Display! So kann der Garmin nicht arbeiten. Der Startschuss fällt, die Zeit läuft, die Uhr nicht.

Gleichzeitig beginnt sich die erste Form des Regens im Läuferfeld anzusiedeln. Es handelt sich dabei um so genannten Clementinischen Regen, benannt nach einer Waschmittelwerbefigur der 1970er-Jahre. Den Clementinischen Regen gibt es beim Vorwaschen und beim Hauptwaschen, denn er ist sehr gut geeignet, alles, was ihm unter die Tropfen kommt, erst einmal einzuweichen. Er ist durchdringend und allumfassend. Nach drei Minuten sind wir komplett durchnässt. Während der Regen ganze Arbeit leistet, ist der Garmin noch immer nicht ganz bei sich. So plötzlich ist ein Start mit ihm nicht zu machen. Unter dicken Tropfen auf dem Uhrglas schiebt sich ein Ladebalken wankelmütig nach vorne und wieder zurück. Erst kurz vor dem ersten Kilometerschild zeigt die Uhr, dass sie jetzt bereit wäre. Wenn es denn unbedingt sein müsste.

Das Feld im Wald macht einen wenig ambitionierten Eindruck. Vielleicht liegt es daran, dass wir relativ weit hinten laufen, vielleicht am himmlischen „Pflegeleicht“-Programm. Wir sind ebenfalls nicht gerade übertrieben ehrgeizig. Wer mit einer Zahnfleischentzündung kämpft, sollte sich mit Höchstleistungen besser zurückhalten, ich nehme das Ganze eher als Trainingslauf. Beim 35-jährigen Jubiläum in Egelsbach zu fehlen, wäre keine schöne Alternative gewesen. Wenn man gemütlich läuft, entdeckt man auch eher die Schönheiten der Strecke. Eine Bestimmung unterschiedlicher Grüntöne wäre hier ebenfalls denkbar gewesen. Der Wald dampft und wird gerade gründlich durchsaftet. Der Clementinische Regen hat sich inzwischen in eine Phase des sogenannten Perlenvorhangregens gewandelt, der ein Erscheinungsbild entwickelt, wie man es von Hinterzimmerabtrennungen muffiger Antiquariate kennt. Wenn man gut darauf achtet, kann man es beim Durchlaufen sogar klickern hören. Der Perlenvorhangregen ist recht dicht. Danach jedoch entsteht ein unaufdringlicher Sprachfehlerregen, der leicht und luftig daher kommt, als würden himmlische Heerscharen mit massivem S-Fehler durch „Super!“-Rufe die Anfeuerung übernehmen.

Wir laufen im 6er-Schnitt und fühlen uns kommod. Auf einen Drink bei Kilometer 5 haben wir verzichtet, man rief „Wasser!“, und wir fanden, dass Schuhe, Socken und Kleidung bereits genügend davon aufgenommen haben. Zur inneren Anwendung sind wir noch nicht bereit. Es dauert gar nicht lange, bis die ersten Marathonläufer an uns vorbei eilen, die lange vor uns gestartet sind und zwei Runden absolvieren müssen. Man hat sie ohne ein Führungsfahrrad auf die Strecke geschickt und die armen Jungs müssen sich nun durch die ganzen nassen Säcke und Säckinnen schieben. Schön ist das nicht. Besonders wenn solche Läufer überholt werden müssen, die am inzwischen weit verbreiteten Ohrenpilz leiden. Bei diesem Gebrechen, dem auch durch Fungizide nur sehr schwer beizukommen ist, sind die Ohren von einem trommelfellverstopfenden Pilz befallen. Er ist von außen deutlich zu erkennen durch sein lang gezogenes Myzel, das bis an die Taille reichen kann. Läufer mit Ohrenpilz können von hinten kommende schnelle Läufer nicht hören. Oft breitet sich die Erkrankung bis ins Gehirn aus und befällt dort vor allem Areale, die die Reaktionsfähigkeit steuern. Macht man solche Läufer etwa durch lautes Rufen darauf aufmerksam, dass Platzbedarf besteht, reagieren sie durch ihre eingeschränkten Fähigkeiten faultiergleich oder auch gar nicht. Da sich der Ohrenpilz inzwischen in Läuferkreisen, aber auch in Läuferquadraten epidemisch ausgebreitet hat, haben die Marathonläufer in Egelsbach kein einfaches Leben.

Während wir unverpilzt weiter laufen, schließt sich ein L’Oréal-Regen an. Er wird so genannt, weil er in der Lage ist, selbst wasserfeste dekorative Kosmetik mühelos hinwegzuspülen. Das setzt eine gewisse Intensität voraus, die eine porentiefe Wirkung hat. L’Oréal-Regen erfordert häufiges Über-die-Augen-Wischen und das Hinwegpusten an der Nase baumelnder Regentropfen. Er hat eine geringere Tropfen-Frequenz, aber eine deutlichere Tropfen-Größe als der Clementinische Regen. Der L’Oréal-Regen wird abgelöst durch den Trinkflaschenregen, ein Niederschlag, der ähnlich fein daherkommt, wie wenn man den Nippel einer Sporttrinkflasche anhebt und sich darin etwas Kohlensäurehaltiges befindet. Er ist gleichwohl flächendeckend.

Wir haben inzwischen über die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht und fühlen uns munter. Besonders die letzte Regensorte ist recht angenehm und sorgt für irisches Lebensgefühl. Das wird allerdings gestört durch deutsch sprechende Menschen hinter uns, die eine typische und lautstarke Läuferkonversation führen. Sie berichten sich gegenseitig darüber, warum und wie und wozu sie jetzt hier und heute laufen. Und natürlich darf auch die übliche Tiefstapelei nicht fehlen, sowie der Überblick über vergangene und zukünftige Laufprojekte. Es ist eines dieser bohrend langweiligen Gespräche, an denen Läufer stets gern mit leuchtenden Augen teilnehmen. Es hallt im Wald. Und hört nicht auf. Es sind diese Momente, in denen man sogar dankbar wäre, an einem Ohrenpilz erkrankt zu sein. „Der einzige Grund, heute hier nicht anzutreten“, sagt einer der Talkmaster, „wäre, wenn das Wetter richtig blöd gewesen wäre.“ Während mir einige Tropfen von meinem Pony, der seine Aufnahmekapazität schon längst überschritten hat, ins Gesicht stürzen, denke ich darüber nach, was „richtig blödes Wetter“ sein könnte. Vielleicht ein Meteoritenhagel. Die Talkshow kommt näher, zieht aber nicht vorbei. Zum Glück kommt jetzt ein Getränkestand, ein kleines Päuschen wird hoffentlich den Abstand wieder erhöhen.

Der Wald sieht jetzt so ehrwürdig aus, dass man ihn nur noch als Forst bezeichnen sollte, vielleicht wäre „Herr Professor Forst“ sogar noch angemessener. Es sind im Grunde nur Bäume, aber in ihrer Menge übertreffen sie doch das Läuferfeld bei Weitem und das ist mit vielen Hundert Läufern schon recht imposant. Aber eine derart stoische Ruhe ist Läufern nun mal nicht eigen, auch sind Bäume Läufern in der Aufnahme von Regenwasser überlegen. Und es gäbe sicher noch viele weitere gute Pflanzeneigenschaften, die die Wahl zwischen Mensch und Baum zuweilen knifflig werden lässt. Zu den herausragenden Charakteristika von Bäumen gehört, dass sie während eines Volkslaufs nicht sprechen, nicht einmal mit gedämpfter Rinde oder hinter vorgehaltenem Blatt. Ich bin nun wieder auf die Talkshow aufgelaufen und muss mich entscheiden. Zurückfallen lassen oder Gas geben und abhauen. Ich muss es versuchen. Ich ziehe an. Es gelingt mir zunächst nur, mich ein wenig abzusetzen – dann aber setzt der sogenannte Gnadenregen ein. Der Gnadenregen ist so wasserreich und laut, dass dahinterliegende Gespräche unverständlich werden. Es prasselt auf uns hernieder und der Waldboden ist langsam hackedicht und sternhagelvoll. Es geht einfach nichts mehr rein. Langsam wird es pfützig.

Ich bin ganz froh, dass der Gnadenregen jetzt in Treibregen übergeht, das ist die Sorte Schauer, die bei Läufern für eine Beschleunigung sorgt, um einer derartigen Sauerei nur möglichst kurz ausgesetzt zu sein. Nach einer kurzen Treibregenphase folgt eine besondere Regenform, die ich bereits vom diesjährigen Volkslauf in Wiesbaden-Naurod kenne. Es handelt sich dabei um Scheißregen (lat. pluvia merda), eine Regenform, die häufig nach mehreren Stunden Laufen bei unterschiedlichsten Regenarten auftritt. Sie gibt mir den Rest und die Sporen. Ich will ins Stadion. Zur unvergleichlichen Egelsbacher Pepsi, ein Getränk, das ich nur einmal im Jahr, hier, zu mir nehme. Ich will trockenen Kuchen und ebenso trockene Kleidung. Ich laufe los. Den letzten Kilometer absolviere ich entschlossen in 4:43.

Normalerweise regnet es beim Koberstädter Waldmarathon in Egelsbach bestenfalls, wenn man das Ziel bereits erreicht hat, das ist dann der so genannte Heringhaus-Schauer, benannt nach dem wetterfesten Stadionmoderator Jochen Heringhaus. In diesem Jahr könnte man also umgekehrt darauf hoffen, dass sich der Himmel nach Zielankunft verschließt. Doch es regnet einfach weiter. Dieser Regen hat keinen Namen. Ich nenne ihn den Nicht-Aufregen, weil nichts nutzloser ist, als sich über das Wetter zu ärgern. Viel besser ist es, darunter und dazwischen durchzulaufen, als wär nichts. Alles Weitere überlasse ich der Forschung.

Alle Jahre wieder.

Weihnachten ist der härteste Wettkampf im Jahr. Doch statt einer guten Platzierung gibt’s nur Plätzchen. Und zum Kampf mit dem inneren Schweinehund kommt der mit der äußeren Schwiegermutter. Dabei könnte alles so einfach sein. „Driving home for Christmas“, singt Chris Rea. Von laufen hat keiner was gesagt. So fängt es doch schon mal an. Die Weihnachtsfeiertage fordern eine mentale Stärke von uns, wie wir sie sonst bestenfalls beim Ultralauf einsetzen müssen. Auf uns wartet eine Art Quadrathlon der Mahlzeiten, jede einzelne Etappe eine besondere Herausforderung. Und obwohl wir genau wissen, was uns erwartet – trainieren lässt sich diese Härte kaum. Eine Freundin berichtete, ihre Mutter bereite jedes Jahr ein Gericht namens „Schlossgeheimnis“ zu, eine Art Auflauf mit einer Überdosis Sahne und Käse. Das „Geheimnis“ ist demnach zwar keine Überraschung, trifft die gesamte Familie jedoch alljährlich wie ein Mann mit dem Hammer. Wollte man sich als Läufer auf Mahlzeiten dieser Art vor-bereiten, wäre man bald bestenfalls als Walker unterwegs. Was nicht bedeutet, dass Läufer Asketen sind. Im Gegenteil – das berühmte Runner’s High stellt sich in der Regel oft erst beim Anblick eines vollen Glases Weizenbier ein.

Am Anfang der Feiertage ist ja auch noch alles gut. Ist Weihnachten erst einmal straff durchgeplant (am 24. bei den Schwiegereltern, am 25. mittags bei Oma, nachmittags bei der Cousine, am 26. bei den Eltern), kann Entspannung eintreten. „Jetzt wird’s gemütlich!“, ruft die Mutter beim Öffnen der Tür und die Familie ergibt sich ihrem Befehl. Man isst eine Kleinigkeit, dann trinkt man, dann isst man wieder, diesmal eine größere Kleinigkeit. Dann trinkt man wieder etwas. Von der Besinnlichkeit zur Besinnungslosigkeit ist es nur ein kleiner Schritt und deshalb probiert man noch den guten Roten. „Wusstet ihr, wie viele Antioxidantien im Rotwein stecken?“ „Donnerwetter.“ Noch fühlt der Läufer sich wohl. Allerdings – ein kleiner Spaziergang wäre vielleicht nicht schlecht. „Draußen ist es so ungemütlich!“, ruft die Mutter. „Außerdem gibt es gleich Kaffee.“ Das Wetter ist wie immer an Weihnachten: 8 Grad, Regen.