Kommentar, Glosse, Kritik - Edmund Schalkowski - E-Book

Kommentar, Glosse, Kritik E-Book

Edmund Schalkowski

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Beschreibung

Die Irrwege von Politik und Gesellschaft, die Eitelkeiten der Mächtigen, die Luftblasen des laufenden Kulturbetriebs mit spitzer Feder aufzuspießen – das gehört zu den Aufgaben von Journalisten. Als Instrumente dafür haben sie seit rund zweihundert Jahren den Kommentar, die Glosse und die Kritik zur Hand. Einig im Ziel, unterscheiden sie sich wesentlich in ihren Verfahren: Der Kommentar besteht im Kern aus rationaler Argumentation, die Glosse lebt von der satirischen Konstruktion und die Kritik oder Rezension ist von ästhetischer Reflexion bestimmt. Edmund Schalkowski präsentiert nun erstmals diese drei meinungsorientierten oder urteilenden Darstellungsformen in einem Buch zusammen und führt schrittweise in ihre Handhabung ein. Dabei klärt er für jede von ihnen: Was soll sie leisten, wie funktioniert ihr spezielles Verfahren, wie ist sie aufgebaut und in welchen Schritten erfolgt die Textproduktion? Anhand von zahlreichen Beispielen stellt er jeweils verschiedene Varianten vor, geht auf typische Fehler ein und gibt hilfreiche Tipps zum Schreiben.

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[1][2]

Edmund Schalkowski arbeitete als Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Seit 1992 ist er in der Ausbildung von Journalisten und PR-Fachleuten tätig. 2007 gründete er die »Akademie für Journalistenausbildung« in Hamm/Westfalen und leitet das Institut seitdem.

[3]Edmund Schalkowski

Kommentar, Glosse, Kritik

UVK Verlagsgesellschaft mbH

[4]Praktischer Journalismus

Band 85

Bildnachweis:

Seite 172: Jasper Johns, Flag on Orange, in: Tilman Osterwold: Pop Art, Benedikt Taschen Verlag, Köln 1992

Seite 176: Giotto, Gefangennahme, in: Max Imdahl: Giotto, Arenafresken: Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, Wilhelm Fink Verlag, München, 3. Auflage 1996

Seite 186: Bernd und Hilla Becher, Wassertürme, in: Bernd und Hilla Becher: Typologien industrieller Bauten, Schirmer/Mosel, München 2003

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.

ISBN 1617-3570

ISBN 978-3-86496-044-4

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011

Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Titelfoto: Istockphoto Inc.

Korrektorat: Sabine Groß, Twistringen

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 Fax: 07531-9053-98

www.uvk.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

[5]Inhalt

Geschichte der Textformen

1                Nachrichtenpresse (1600 bis 1750)

2                Meinungspresse (1750 bis 1900)

3                Moderne Massenpresse (1900 bis heute)

Teil I      Der Kommentar

                  Vorbemerkung

1                 Begriff

1.1              Definition

1.2              Grenzen

1.3              Kommentar – Leitartikel

2                 Methode

2.1              Rationale Argumentation

2.2              Kritikbasis

3                 Argumentation

3.1              These

3.2              Argumentationstypen

3.3              Argumentationslinie

4                 Aufbau

4.1              Bausteine

4.2              Reihenfolge

5                 Ausführung

5.1              Wahl des Themas

5.2              Tipps zum Schreiben

[6]Teil II     Die Glosse

                  Vorbemerkung

1                 Begriff

1.1              Definition

1.2              Grenzen

2                 Methode

2.1              Satirische Konstruktion statt Argumentation

2.2              Alogisches Bild statt Rationalität

2.3              Kritikbasis

3                 Konstruktion

3.1              Der böse Blick

3.2              Die Wirklichkeit zur Kenntlichkeit entstellen

3.3              Der Kunstgriff der Zuspitzung – die Glossenidee

3.4              Die Glossenidee finden

4                 Dramaturgie

4.1              Das Prinzip Fallhöhe

4.2              Dramaturgietypen

5                 Satirischer Stil

5.1              Verfremdung

5.2              Ironie

Teil III    Die Kritik

                  Vorbemerkung

1                 Begriff

1.1              Definition

1.2              Grenzen

2                 Ästhetischer Gegenstand – ästhetischer Zugriff

2.1              Aussprechen – Ausdrücken

2.2              Form

2.3              Fiktion

2.4              Spiel mit Form und Fiktion

[7]3                 Reflexion

3.1              Prinzip

3.2              Figuren

3.3              Argumentationslinie

4                 Aufbau

4.1              Bausteine

4.2              Reihenfolge

4.3              Einstiege

5                 Ausführung

5.1              Gedankliche Durcharbeitung

5.2              Sprache und Stil

5.3              Typische Fehler

Literatur

Index

[8][9]Geschichte der Textformen

Kommentar, Glosse und Kritik gehören zu den meinungsorientierten, besser: urteilenden Darstellungsformen im Journalismus. Das Gegenstück bilden zur einen Seite die faktenorientierten, besser: informierenden Textsorten wie Meldung, Bericht und Interview, zur anderen Seite die erzählenden Textsorten wie Reportage und Porträt. Alle diese Texte legen Sachverhalte in der objektiven Welt zugrunde, unterscheiden sich aber hinsichtlich ihres Zugriffs darauf. Die informierenden Texte stilisieren ein Ereignis zu einem Ensemble von Fakten, sie wollen möglichst reine Tatsachen weitergeben. Die erzählenden Texte machen das Ereignis als sinnliches Geschehen präsent, sie wollen die Tatsachen verlebendigen, leuchten und klingen lassen. Die urteilenden Texte schließlich geben dem Ereignis Sinn und Wert, sie wollen die Tatsachen zum Sprechen bringen, sie analysieren, interpretieren, bewerten.

Meinung in diesem Sinne, mit ihrem altertümlichen Namen Räsonnement, ist nicht von Natur aus Bestandteil von Zeitungen und Zeitschriften. Es waren die tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen des 18. und 19. Jahrhunderts, in deren Verlauf die Presse ihr Recht zur kritischen Stellungnahme durchsetzen konnte. Erst seit rund zweihundert Jahren sind Kommentar und Glosse sowie Rezension und Kritik als eigenständige Elemente im Konzert der journalistischen Textformen etabliert.

[10]Die Geschichte der Presse lässt sich in drei große Epochen unterteilen, deren Grenzen historisch fließend, begrifflich aber scharf zu markieren sind: Das Zeitungswesen entstand als Nachrichtenpresse, entwickelte sich weiter zur Meinungspresse und existiert heute als moderne Massenpresse, in der gleichermaßen Nachrichten, Meinungen und Erzählungen ihren Platz haben. Die Nachrichtenpresse dominiert von 1600 bis 1750, die Meinungspresse prägt den Zeitraum von 1750 bis 1900, und die moderne Massenpresse herrscht, zunächst unbeschränkt, dann von Rundfunk und Fernsehen zunehmend unter Konkurrenzdruck gesetzt, von 1900 bis heute.

1 Nachrichtenpresse (1600 bis 1750)

Zeitungen als regelmäßig erscheinende, zur umfassenden Information der Öffentlichkeit dienende Druckwerke existieren seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts: Von 1609 datieren die ersten erhaltenen Ausgaben gedruckter Wochenzeitungen, der »Relation« des Straßburger Buchdruckers Johann Carolus und des in Wolfenbüttel von Julius Adolph von Söhne verlegten »Aviso«; die erste Tageszeitung, die »Einkommenden Zeitungen« des Leipziger Verlegers Thimotheus Ritzsch, ist erst für das Jahr 1650 nachgewiesen (vgl. Brand/Schulze, S. 11ff.). Als wichtigste Vorläufer dieser gedruckten Zeitungen gelten allgemein die sogenannten Neuen Zeitungen und die geschriebenen Zeitungen.

Ursprung der geschriebenen Zeitungen sind vermutlich die mittelalterlichen Kaufmannsbriefe, mit denen sich Handelstreibende über Schiffsankünfte und -abfahrten, Messen und Börsenkurse, Räuberbanden und Kriegswirren informieren. Zunächst werden diese Briefe von den Empfängern einfach weitergegeben oder in Abschriften verbreitet. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts entstehen in den großen Handelsstädten Nachrichtenbüros; sogenannte Avisenschreiber sammeln die Meldungen, schreiben sie ab und versenden sie regelmäßig. Erhalten sind die sogenannten Fugger-Zeitungen aus den Jahren 1568 bis 1605, [11]Nachrichten von Angestellten und Geschäftsfreunden des Handelshauses, die in der Augsburger Zentrale gesammelt und von dort an ausgewählte Personen verschickt wurden.

Aus diesen beiden Strömen bildet sich das Material der neu entstehenden Zeitungen: Politik und Vermischtes auf der einen, Wirtschaft auf der anderen Seite. Aus der Tradition der Neuen Zeitungen stammen die bunten Nachrichten und die politischen Meldungen, infolge des scharfen Auges der Zensur vorwiegend ausländische; aus der Tradition der geschriebenen Zeitungen kommen die Berichte über den Großhandel und die nationalen wie internationalen Geldund Bankgeschäfte.

Der gesellschaftlich-geschichtliche Hintergrund des neuen Pressewesens ist der Aufstieg des Bürgertums und seiner revolutionären Produktionsweise. Ausgehend von den oberitalienischen Stadtstaaten, erfassen Warenproduktion und Fernhandel seit dem 15. Jahrhundert allmählich West- und Nordeuropa. Produktion für den Markt und Handel auf weite Entfernungen benötigen regelmäßige und genaue Nachrichten. Der Nachrichtenverkehr, sich »in den Bahnen des Warenverkehrs« (Habermas, S. 29) entfaltend, stellt diese Informationen, aktuell und potenziell für alle, jetzt bereit.

Die Leser des neuen Mediums sind vorwiegend Kaufleute und Gebildete in Amts- und Schulstuben. Sie brauchen sachliche Information: Daten und Fakten, auf deren Basis sie ihre Geld- und Handelsgeschäfte betreiben, die ihnen für Administration und Politik von Nutzen sind, die sie über die neuesten Entwicklungen in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften ins Bild setzen. Dementsprechend kultivieren die Zeitungsschreiber einen Stil, der in erster Linie Bericht erstattet. Alle Meldungen, welcher Couleur auch immer, werden »in buntem Durcheinander, meist trocken, ohne Kritik oder individuelle Färbung vorgetragen« (Groth, S. 580).

Die bürgerliche Produktionsform integriert sich zunächst noch reibungslos in die politische Ordnung von Kaiser, Adel und Geistlichkeit. Sie wird weder theoretisch noch praktisch infrage gestellt, und wo das neue Zeitungswesen sich mit unliebsamen Meinungsäußerungen vorwagt, sorgt die allmächtige Zensur oder die Drohung mit dem Entzug des Zeitungsprivilegs für Unterordnung. Nachrichten bestimmen also das Gesicht der frühen Zeitungen; für theoretisierendes, orientierendes Räsonnement besteht weder Bedarf noch Spielraum. »Der Zeitunger«, sagt der erste Presseforscher Caspar Stieler 1695, »soll die neuesten Händel der Welt erzählen, ohne zu sagen, was er davon denkt, ob recht oder nicht« (zit. bei Groth, S. 693).

[12]2 Meinungspresse (1750 bis 1900)

Um die Wende zum 18. Jahrhundert jedoch horchen die gebildeten Leser auf, denn ungewöhnliche Töne mischen sich in das farblose Zeitungs-Einerlei. Zunächst vereinzelt und vorsichtig, dann immer mutiger und häufiger erscheinen Texte, die nicht mehr nur informieren, sondern kritisch Position beziehen. Die, vom Standpunkt des Individuums, des eigenständigen und vernunftgeleiteten Denkens aus, die Handlungen der geistlichen und politischen Autoritäten beurteilen, Staat und Gesellschaft analysieren und neue Kunstwerke interpretieren, Sachverhalte also zum Sprechen bringen: Das Räsonnement entsteht, greift unaufhaltsam um sich und bestimmt schließlich das Gesicht der Presse.

Eingebettet ist die Entstehung des Räsonnements in den säkularen Prozess der europäischen Aufklärung, den Prozess, in dessen Verlauf sich das fragile Gebilde des sebstständigen Denkens als geistig-moralische letzte Instanz inthronisiert. Vor dem »Gerichtshof der Vernunft« (Koselleck, S. 6) muss erscheinen, was bis dahin aus eigener Machtvollkommenheit bestand, die gesamte alte Welt des Absolutismus mit ihrer dekadenten Schönheit, ihrer frivolen Genussmoral, ihrem heroischen Realismus. Sie muss sich beugen dem unerhörten Anspruch des Einzelnen, nichts von dem gelten zu lassen, sondern alles der Vernunft, seiner eigenen Vernunft zu unterwerfen und nur das als vernünftig zu akzeptieren, was diese Prüfung besteht.

In diesem sezierenden Blick wird alles zum Objekt der Destruktion, was sich nicht als vernünftig ausweisen kann, als Erstes Religion und Moralität, Tradition, Geschmack und Lebensstil, dann die ständische Verfassung mit ihren Attributen Ungleichheit, Unfreiheit und Klassenrecht, schließlich die Herrschaft des absolutistischen Staats selbst mit seiner umfassenden Macht und Präsenz. Als leuchtendes Gegenbild wird mit dem revolutionären Pathos von Humanität und Tugend die bürgerliche Trias Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung proklamiert, zugleich damit deren Lebenselexier, die räsonnierende Öffentlichkeit, in der sich die Vernunft frei und öffentlich betätigt.

Den Hintergrund der Aufklärung bildet eine radikale ökonomische Umwälzung: Die neue kapitalistische Wirtschaftsform, die auf der Eigengesetzlichkeit der Warenproduktion beruht, gerät in Konflikt mit der auf persönlicher Herrschaft fundierten alten politischen Ordnung. In der unausweichlichen Auseinandersetzung – in England sind zu nennen die nur scheinbar organischen Wandlungen von der Magna Charta 1215 bis zur Declaration of Rights 1689, in Frankreich die große Revolution von 1789 und die sich anschließenden [13]Revolutionen von 1830 und 1848, in Deutschland die Befreiungskämpfe gegen Napoleon 1813-1815 und die Kämpfe um Einheit und Demokratie – entwickelt das Bürgertum als Träger der neuen Ordnung das Zeitungswesen zu seiner schärfsten Waffe. Teil dieses Kampfes ist die Durchsetzung einer räsonnierenden Öffentlichkeit und ihrer Grundlage, der Pressefreiheit.

Damit die Zeitungen aber ihre neue Rolle spielen können, müssen sich ihre Funktion und ihre Inhalt ändern. Aus neutralen Instrumenten der Nachrichtenvermittlung müssen parteiergreifende Kampfinstrumente werden, Organe, die die Köpfe und Herzen der Menschen für die neue Gesellschaft gewinnen sollen. So wandeln sich die Zeitungen zu Blättern, die Ereignisse analysieren und interpretieren, die Stellung nehmen und bewerten: »Das alte System der zensierten und privilegierten Nachrichtenpresse starb mit dem Feudalismus ab und wurde durch die bürgerliche Parteipresse abgelöst« (Koszyk 1972, S. 140).

Dieser Prozess zieht sich in Deutschland über ein ganzes Jahrhundert hin: Als Vorläufer des Räsonnements dringen seit Anfang des 18. Jahrhunderts die sogenannten Gelehrten Artikel in die Zeitschriften und Zeitungen ein. In leicht verständlicher Sprache und pädagogischer Absicht wenden sich Gelehrte an das Volk. Sie schreiben »gegen Unmäßigkeit in Essen und Trinken, gegen Prunksucht und Geckenhaftigkeit, gegen Eitelkeit, Putzsucht, Klatscherei, gegen Aberglauben, Freidenkerei, Eifersucht, Leichtsinn und Vergnügungsgier« (Groth, S. 610). So wollen sie durch moralisierende Betrachtung und Kritik »die gesellschaftlichen, sittlichen und religiösen Verhältnisse bessern, den literarischen Geschmack heben, zum Selbstdenken erziehen« (ebd.).

Unmittelbar zum Räsonnement leiten die Buchkritiken, und da besonders die Literaturkritiken über, die, zunächst noch eher grob im Ton als treffsicher in der Analyse, schon in den »Gelehrten Artikeln« zu finden sind. Zusammen mit der Musik- und Theaterkritik – eine nennenswerte Kunstkritik taucht in Deutschland erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf – bilden sie den Inhalt des Feuilletons, das im letzten Drittel des Jahrhunderts gleichzeitig mit der klassischen deutschen Literatur aufblüht. Unter dessen Autoren sind mit Gotthold Ephraim Lessing, der für die »Vossische Zeitung«, und Christoph Martin Wieland, der in der Zeitschrift »Der teutsche Merkur« schrieb, auch bedeutende Rezensenten.

Mit dem Leitartikel, der um die Wende zum 19. Jahrhundert entsteht, greift das Räsonnement auf Politik und Gesellschaft über. Als sein Schöpfer in Deutschland gilt Joseph Görres, der mit seinem »Rheinischer Merkur« einen leidenschaftlichen publizistischen Kampf gegen Napoleon führte und dazu Leitartikel [14]einsetzte, die, so ein Zeitgenosse, »mit Feuer, nicht mit Tinte geschrieben« waren (zit. bei Groth, S. 725). Parallel zu dieser weit ausgreifenden Textform entsteht die sogenannte Leitglosse (vgl. Stöber, S. 174), ein kurzer, scharfer, manchmal spöttisch-ironischer Kommentar. Daraus entwickeln sich im Lauf des 19. Jahrhunderts der moderne Kurzkommentar, der sich der rational argumentierenden Elemente der Leitglosse bemächtigt, und die moderne Glosse, die ihre satirisch-karikierenden Momente für sich reklamiert.

Die Meinungspresse des 19. Jahrhunderts ist eine für politische Zwecke instrumentalisierte Presse. Die Nachrichtenvermittlung fällt nicht weg, sie ordnet sich dem Ziel unter, eine bestimmte – die »richtige« – Sichtweise zu verbreiten und durchzusetzen. Die Zeitungen bestehen also weiterhin zum großen Teil aus Nachrichten. Diese aber sind von der politischen Tendenz vorsortiert, gewichtet und gefärbt.

3 Moderne Massenpresse (1900 bis heute)

Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert dringen noch einmal gänzlich neue Töne durch das weltanschaulich grundierte Kampfgeschrei: In Zeitungen und Zeitschriften sowie im entstehenden Rundfunk erscheinen Texte, die nicht nur Informationen transportieren und Position beziehen, sondern die die Massen ergreifen, an den Ereignissen teilnehmen lassen wollen. Sie wenden sich nicht mehr nur an die Gebildeten und Funktionseliten, sondern prinzipiell an alle des Lesens Kundige, übermitteln nicht mehr nur – die kognitiven Kräfte ansprechende – Nachrichten und Meinungen, sondern wollen die Ereignisse den Sinnen zugängig machen, sie verlebendigen, leuchten und klingen lassen – die Dramatik von Katastrophen, von Heldentum und Verbrechen in Kriegen und Eroberungen, die Abenteuer wissenschaftlicher Entdeckungen, die Tragik und Komik des modernen Lebens, die eitle Genusssucht der Reichen und die dumpfe Schicksalsergebenheit der Armen: Massenorientierung mittels Emotionalisierung, Sentimentalisierung kommt in Gang und erobert sich ihren Platz.

Eingebettet ist das Phänomen der Sentimentalisierung in den zwiespältigen Prozess der Individualisierung, eine für moderne Gesellschaften charakteristische Tiefenströmung, die auf paradoxe Weise das Ideal der Aufklärung realisiert: Auf der einen Seite gewinnen die gesellschaftlichen Funktionssysteme Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft immer mehr Dynamik und Eigenleben und schnüren die Bürger in ein eisernes Korsett von Sachzwängen, auf der [15]anderen Seite vergrößern sich die lebensweltlichen Spielräume der Menschen im Alltag und stellen den Individuen ein immer breiteres Spektrum von Handlungsoptionen zur Verfügung. Privater Freiheitsgewinn steht gegen das Verschwinden republikanischen, öffentlich folgenreichen Freiheitsgebrauchs.

Diese Zwiespältigkeit, Scheinhaftigkeit der Freiheit spiegelt sich im modernen Freiheits- und Gleichheitspathos, in verdünnter Form in der Menschlichkeitsrhetorik demokratischer Gesellschaften, die vorwiegend appellativen Charakter hat. Überall soll der »Mensch« im Mittelpunkt stehen, ein seltsam unbestimmtes, aller gesellschaftlichen Vermittlungen entkleidetes, für alle Zwecke fungibles Massen-Phantom. Und dieses »menschliche« Wohl und Wehe, so die schmeichelnden Stimmen in Politik und Medien, soll immer Recht haben, unter allen Umständen höchster Wert und letztgültiger Maßstab sein.

Hintergrund dieser Entwicklung ist der Sieg der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsform in den westlichen Gesellschaften. Die komplexere Ordnung hat sich unrevidierbar, als durch noch so halsbrecherische Regressionen letztlich nicht mehr abzuschaffende, etabliert und alle Poren des sozialen Körpers durchdrungen. Den letzten noch verbleibenden Gegner, die Arbeiterbewegung, bekämpft sie im Vollbesitz der Macht auf indirekte Weise, mit dem Argument des wirtschaftlichen Sachzwangs, der scheinbaren Ideologiefreiheit. Äusseres Zeichen dafür ist die Pressefreiheit, die in der Revolution von 1848 formell proklamiert, mit dem Reichspressegesetz von 1874 auch materiell anerkannt wird.

Damit kann die Presse wiederum eine neue Funktion übernehmen. Nachdem die technischen Voraussetzungen vorliegen (Rotation 1872, Satzmaschine 1884, Telefon um 1880) und das Anzeigengeschäft zugängig ist, entwickeln sich die Verlage zu privatwirtschaftlichen, profitorientierten Unternehmen. Die Zeitung nimmt den Charakter einer Unternehmung an, »welche Anzeigenraum als Ware produziert, die nur durch einen redaktionellen Teil absetzbar wird« (Bücher, S. 21). Sie richtet sich auf die Interessen und Vorlieben eines Massenpublikums aus und lässt ihr ideologisches Profil verschwimmen. Damit entsteht die moderne Geschäfts- oder Generalanzeiger-Presse, deren Merkmale »niedriger Verkaufspreis, großer Anzeigenteil, politische Indifferenz und hohe Auflage« (Koszyk 1969, S. 82) sind. Der redaktionelle Inhalt entfaltet sich zu einer ausgefeilten Komposition von Texten, die einerseits nach Ressorts unterteilt und durch Überschriften und Typografie gegliedert ist, andererseits die ganze Palette der journalistischen Darstellungsformen zum Einsatz bringt.

Die sentimentalisierte Massenpresse braucht für die Entwicklung ihrer Instrumente rund ein halbes Jahrhundert. Um 1900 entstehen Reportage und [16]Porträt in den großen amerikanischen Städten, vor allem in New York und Chicago. Hier leben die Massen, die die neuen Massenblätter kaufen und ihnen zugleich den Stoff liefern (vgl. Lindner, S. 18ff.): Riten und Kultur in den Ghettos der Immigranten, das Elend in den Slums der Schwarzen und Deklassierten, die Korruption in den Büros und Polizeirevieren. Und der Reporter ist der Schlammwühler („muckraker«), der stellvertretend für den Leser »ins Innere von Metropolis« (ebd., S. 46) reist. Leitfiguren in den USA sind Josiah Flynt Willard mit »Tramping with Tramps« von 1899, in Deutschland Egon Erwin Kisch mit seinen engagiert-sozialkritischen Texten der 20er und 30er Jahre.

Um 1950, beim Wiederaufbau der deutschen Presse nach dem Nationalsozialismus, werden aus dem angelsächsischen Journalismus Mischformen importiert: die Nachrichtenmagazingeschichte, die nachrichtlich, aber anschaulich-psychologisierend, oft aus der Schlüssellochperspektive, das Zeitgeschehen erfasst, und der Report, der unter Ausschöpfung aller Quellen und mit Einsatz aller Mittel eine dramatisches Ereignis rekonstruiert; das Feature, das ein aktuelles Thema, szenisch aufgelockert, darstellt, und der Hintergrundbericht, der ein komplexes Ereignis von vielen Seiten kritisch ausleuchtet (Haller, S. 88ff.).

Die moderne Massenpresse lebt von der bunten Fülle der Textformen, aber auch von ihrer klaren Unterscheidung. Die schärfste zieht sie, zumindest dem Anspruch nach, zwischen Nachricht und Meinung (vgl. Schönbach, S. 20ff.). Auch wenn es keine reinen Tatsachenbehauptungen und keine reinen Werturteile gibt, da schon mit Auswahl, Platzierung und Umfang einer Nachricht Wertungen verbunden sind – Tatsachenbehauptungen lassen sich weitgehend von Urteilen reinigen und Urteile weitgehend auf schlüssige Argumentation oder Konstruktion stützen. Dem Leser werden auf diese Weise von Einschätzungen überwiegend freie Sachverhalte geliefert, deren Objektivität vertrauend er sich sein eigenes Urteil bilden kann. Und es werden ihm Einschätzungen vermittelt, die als subjektive kenntlich sind und die er sich zu eigen machen kann, wenn ihn die Kraft der Argumentation oder Konstruktion überzeugt.

Von rationaler Argumentation lebt der Kommentar, von bildhafter Konstruktion die Glosse, von ästhetischer Einfühlung die Kritik: Je schlüssiger der Kommentar argumentiert, desto orientierender ist die Erkenntnis, je zwingender die Glosse konstruiert, desto befreiender das Gelächter, je einfühlsamer die Kritik das Kunstwerk erschließt, desto tiefer der Genuss. Mit Verstand, Witz und Geschmack Licht ins Dunkel zu bringen, zu aufrechtem Gang anzuleiten und die Sinne für den Genuss zu schärfen – dieser aufklärerische Impuls ist der Kern von Kommentar, Glosse und Kritik.

[17]Teil I: Der Kommentar

Vorbemerkung

Phänomene können verschwinden, indem sie massenhafte Ausmaße annehmen. So ist es der Figur ergangen, die wie keine den Geist der Aufklärung verkörpert, der Figur des Kritikers. Ein Aristokrat des differenzierenden Denkens und des feinen Geschmacks, blickte er vom Feldherrnhügel seiner Genialität hinab auf die Welt, durchschaute die Vorurteile der Massen, entlarvte die Winkelzüge der Herrschenden, hinterfragte die Repressivität der Verhältnisse – und schleuderte sein Urteil dem Volk vor die Füße.

Heute hat die einsame Geste die ganze Welt erfasst: Abertausende stehen auf ihren privaten Maulwurfshügeln und durchschauen, hinterfragen, entlarven. Sie lassen sich nicht mehr für dumm verkaufen, sondern erkennen hinter jeder Erscheinung Abgründe, Verschwörungen, Hinterwelten. Der Kapitalismus: effizient, aber menschenverachtend, die Eliten: scheinbar am Gemeinwohl orientiert, in Wahrheit machtgeil und bestechlich, der Bürger: laut Grundgesetz souverän, realiter nichts als eine statistische Nummer. Ein Lebensgefühl, das Science-Fiction-Filme präzise treffen: »Alles ist verdächtig […] Jeder ist käuflich […] Nichts ist, was es scheint« (zit. bei Latour, S. 17).

[18]Wenn alle Welt kritisiert, was bleibt dann dem professionellen Kritiker, der in den Medien Politik, Wirtschaft und Kultur kommentiert, dem blassen Abkömmling jener mythischen Figuren, die in unsere Zeit herüberleuchten, dem Nachfahren Voltaires, Mirabeaus und Dantons? Er kann sich mit dem Verlust seines Privilegs, der Demokratisierung der Kritik, zufrieden geben und, trotz Ausbildung und Spezialisierung, nur noch eine Stimme im anschwellenden Palaver sein. Er kann aber auch einen weiteren, entscheidenden Schritt machen: sein kritisches Geschäft wesentlich als Kritik der Kritik betreiben.

Hinterfragen des Hinterfragens heißt, ausbrechen aus den neuen, aufgeklärten Vorurteilen, die der Volkssport namens Kritik geschaffen hat. Es heißt Aufbrechen der neuen Klischees einer allumfassenden Scheinhaftigkeit der Dinge, einer Haltung, die kein Ereignis so nimmt, wie es erscheint, sondern hinter allem Macht und Profit am Werke sieht, die keinem Menschen glaubt, was er sagt, sondern immer unausgesprochene Interessen annimmt, die keiner Institution und keiner Tradition, keiner Moral und keinem Prinzip traut, weil sie ausschließlich Instrumente in Händen von Hintermännern sind.

Das ist nicht die Rückkehr zu einfachen Wahrheiten, sondern die Abschaffung der Hysterie, des stupiden Schemas von Ideologie und Wirklichkeit, es ist die Wiederöffnung eines weiten Raums unendlicher Schattierungen und Möglichkeiten. Und wenn sich dieser befreite Blick mit kluger, alltagspraktischer Argumentation verbindet, wird das Feld wieder frei für wirklich gehaltvolle Diskurse: Dann können Politiker plötzlich wieder Ideale haben (und manchmal machtgeil sein), Wirtschaftsmenschen ihrem Unternehmen dienen (und manchmal krumme Dinger drehen) und Journalisten die Wahrheit suchen (und manchmal der Macht auf den Leim gehen).

Der Kommentar bietet für einen solchen öffentlichen Diskurs ein Instrument. Wie es verstanden und gehandhabt werden sollte, damit es dazu tauglich ist, wird hier entwickelt: Kapitel eins definiert den Texttyp Kommentar, bestimmt also seine Zielsetzung oder Funktion und seine juristischen und ethischen Grenzen. In den Kapiteln zwei und drei wird die Methode beschrieben, die den Kommentar von der Glosse wie von der Kritik unterscheidet, das Verfahren rationaler Argumentation. Dazu wird in Kapitel zwei mit den Figuren der klassischen Logik die Basis gelegt, in Kapitel drei das Binnengefüge dieser Methode beleuchtet, also geklärt, wie rationale Argumentation in der Praxis funktioniert. Kapitel vier nennt die Bausteine des Kommentars und sinnvolle Varianten ihrer Montage, Kapitel fünf gibt Tipps zur Wahl des Kommentarthemas und zum Konzipieren und Schreiben des Textes.

[19]1 Begriff

1.1 Definition

Der Kommentar ist die Grundfigur der Kritik. Ihm geht es nicht darum, ein Ereignis der realen Welt in den Blick zu nehmen und unter bestimmten Formvorgaben zu rekonstruieren, was auf eine sachlich-informative Nachricht oder eine spannend-subjektive Reportage hinausliefe. Er will primär weder den aufnehmenden Verstand noch die teilnehmenden Sinne aktivieren, sondern eine andere Qualität des menschlichen Geistes ins Spiel bringen, die kritisch fragende, abwägende Vernunft. Sie soll das Ereignis zugrunde legen und dazu etwas Neues entwickeln, was traditionell Meinung heißt und was man Urteil nennt, wenn es begründet, argumentativ gestützt ist.

Der Kommentar ist auch die Grundform der urteilenden Texte, Glosse und Kritik sind seine Sonderformen. Die Glosse hat mit dem Kommentar die Gegenstände gemeinsam, die sie ins Visier nimmt, unterscheidet sich aber von ihm durch das verwendete Verfahren (siehe Glosse Kapitel eins bis drei). Die Kritik bearbeitet andere Gegenstände und tut dies, entsprechend der Natur dieser Gegenstände, mit einem wiederum anderen Verfahren und zusätzlich einer anderen Zielsetzung (siehe Kritik Kapitel eins bis drei).

Ein Urteil abgeben, Stellung nehmen, Position beziehen – damit können zwei unterschiedliche Denkoperationen gemeint sein. Man kann einmal an ein neues Ereignis die Frage stellen, die aus allen, zumindest den empirischen Wissenschaften bekannt ist: »Warum ist das so (passiert)?« Dann betrachtet man das Ereignis als etwas, das mit einem gewissen Zwang so und nicht anders stattfinden musste. Man sieht es unter dem Aspekt seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Realität, als einen unveränderbaren Gegenstand der objektiven Welt, von dem sich nur Entstehung und Zusammenhang ausmachen lassen.

Die gedankliche Leistung besteht in diesem Fall darin, den Zwang aufzuzeigen, der zu diesem Ereignis geführt hat, das Ereignis also als unter diesen Umständen notwendig entstandenes darzustellen. Auf diese Weise wird das neue, noch nicht verstandene Phänomen mit den bekannten und bereits verstandenen Ereignissen der geschichtlich-sozialen Welt argumentativ verknüpft. Es wird, bislang ein Fremdkörper, in die gedeutete Welt eingepasst und somit Teil des kollektiven Wissens: wird nun ebenso verstanden. Diesen Fall, wodurch der bislang sinnfreie Sachverhalt Sinn gewinnt, nennt man Erklären.

[20]Man kann das neue Ereignis aber auch mit der Frage konfrontieren, die sich im Alltag bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten stellt: »Soll oder darf das so sein?« Dann fasst man es ins Auge als etwas, das anders hätte ausfallen können oder sollen. Man betrachtet es unter dem Gesichtspunkt seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Möglichkeit oder Wünschbarkeit, als einen vom Menschen gemachten und durch ihn veränderbaren Gegenstand, der verschiedene Qualitäten und Farben annehmen kann.

Die gedankliche Arbeit besteht hier darin, an das noch wertfreie Ereignis einen Maßstab anzulegen und ihm so argumentativ eine rechtlich oder moralisch qualifizierende Schattierung zu geben. Wenn sich das Ereignis als erstrebenswert oder nicht erstrebenswert herausstellt, wurde mit einem akzeptierten, aber nicht streng bindenden Wert operiert, wenn es als gut oder schlecht dasteht, wurde eine verbindliche Norm in Anschlag gebracht. So wird das neue Phänomen, bislang ein Gegenstand, der kalt lässt, von gesellschaftlicher Wertschätzung erwärmt: wird sympathisch oder unsympathisch. Diesen Fall, wodurch das bislang wertfreie Ereignis Wert gewinnt, nennt man Bewerten.

In beiden Fällen, sowohl dem Erklären wie dem Bewerten, geht es darum, ein bis dahin isoliertes Phänomen in den Seelenhaushalt der Gesellschaft aufzunehmen, »etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen« (Klein, S. 17) oder zumindest »Ungewissheit durch methodisches Anschließen an geteilte Gewissheiten […] zu reduzieren« (Kopperschmidt, S. 20). Wie Erklären und Bewerten funktionieren, dafür jetzt zwei Beispiele. Das zugrunde liegende Ereignis ist ein fiktiver Parteitag, der konkrete Sachverhalt eine überraschende Wahl, journalistisch erfasst in folgender Meldung:

Überraschend fiel Günter S., finanzpolitischer Sprecher der Grünen, bei der Neuwahl zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden durch; gewählt wurde Walburga F. vom Landesverband Niedersachsen, die sich als Spezialistin für ökologische Fragen einen Namen gemacht hat. Damit setzten sich die Fundamentalisten gegen den Parteivorstand durch. Zuvor war entgegen den Absprachen der dem pragmatischen Flügel zugerechnete Klaus B. zum Parteivorsitzenden gewählt worden, die Kandidatur von Günter S. fand bis zu diesem Zeitpunkt breite Zustimmung in der ganzen Partei.

Ein erklärender Kommentar dazu könnte folgendermaßen aussehen:

Parteitage brauchen Ventile. Wenn der Druck an einer bestimmten Stelle zu groß wird, muss die Luft an einer anderen heraus. Ein quasi organischer [21]Mechanismus, der über den Köpfen der Delegierten das Innenleben von Parteien reguliert und das Machtgefüge intakt hält.

Als in den späten Nachmittagsstunden die grüne Parteiführung ihre Wunschbesetzung für den neuen Parteivorsitz eiskalt durchgesetzt hatte, ging ein ungläubiges Staunen durch die Reihen. Doch die unterlegenen Fundamentalisten, die auf die Absprache mit der Parteiführung vertraut hatten, dass Klaus B. für den Parteivorsitz nicht infrage komme, fassten sich schnell. Der politische Instinkt sagte ihnen, dass Parteigenossen, die so mit sich umspringen lassen, es nicht anders verdienen. Also war Rache das Gebot der Selbstachtung, und die folgte auf dem Fuße. Ein paar Gespräche hinter den Kulissen, eine kurze Sitzung zur Selbstvergewisserung, dann war der Entschluss klar: Günter S., der Kandidat der Parteiführung für den stellvertretenden Fraktionsvorsitz, musste die Arroganz der grünen Spitzenleute büßen.

Auf den ersten Blick haben sich die Akteure höchst emotional, ja irrational verhalten, wie Boxer, die einen empfindlichen Schlag mit einer blinden Attacke beantworten. Die tiefere Logik aber ist, dass sie ohne diese Trotzreaktion ihr Gewicht und die Partei insgesamt ihre interne Balance verloren hätten. Günter S. kann das sicherlich nachvollziehen, trösten wird es ihn kaum.

Hier wird die Trotzreaktion der grünen Fundamentalisten als ein mechanisches Reiz-Reaktions-Schema verstanden, das nicht nur bei Individuen vorkommt, sondern auch Parteien beherrscht. Und das auf den ersten Blick von Emotionen bestimmt ist, auf den zweiten aber einer rationalen Logik folgt. Damit wird das Phänomen, das bis dahin merkwürdig und nicht nachvollziehbar erscheint, in eine quasi naturgesetzliche Mechanik der Macht eingeordnet. Es erscheint als logische Folge der Selbstbehauptung von Organisationen und ihren internen Gruppierungen, bekommt dadurch Sinn, wird vertraut und dem gedanklichen Nachvollzug eingepasst: erklärt.

Und jetzt das Gegenstück dazu, ein bewertender Kommentar:

Die Fundamentalisten der grünen Partei haben bei der Wahl zum stellvertretenden Fraktionsvorsitz die Regie durcheinandergebracht. Sie haben den Kandidaten der Parteiführung Günter S. über die Klinge springen lassen und Walburga F. gewählt. Die irrationale Trotzreaktion hat erhebliche und bedenkliche Konsequenzen.

Die Fundamentalisten sind zum erstenmal in der Führung der Fraktion vertreten, und das mit Walburga F., einer ausgewiesene ökologische Aktivistin. Die studierte Geowissenschaftlerin hat viel Erfahrung, sowohl in der wissenschaftlichen Arbeit wie im politischen Kampf um die Durchsetzung ihrer Ziele. Sie argumentiert klug, ist flexibel und hartnäckig, mit anderen Worten: hat die notwendige Durchsetzungsstärke.

[22]Auf der anderen Seite wird der ökonomische Sachverstand von Günter S. der Partei fehlen. Mit seinem Namen ist verbunden, dass die Grünen allmählich die Gesetze der Marktwirtschaft akzeptierten. So hat er der Erkenntnis zum Durchbruch verholfen, dass Haushaltskonsolidierung und Senkung der Lohnnebenkosten nicht neoliberales Teufelswerk sind, sondern der Politik wieder Handlungsspielräume öffnen und die Marktkräfte stärken.

Walburga F. wird aller Voraussicht nach die ökologische Komponente der grünen Programmatik wieder in den Vordergrund rücken. Eine rationale Finanzpolitik, für die Günter S. stand, wird dagegen fürs erste vertagt. Schwarz-grüne Koalitionen, in naher Zukunft ein Gebot der Vernunft sowohl für die Grünen wie für das Parteiensystem insgesamt, rücken in weite Ferne.

Hier wird versucht, einen Blick in die Zukunft zu werfen und die wahrscheinlichen Konsequenzen der fundamentalistischen Trotzreaktion aufzuzeigen: eine Stärkung der ökologischen und eine Schwächung der liberalen Kräfte und damit eine Verminderung der Chancen für schwarz-grüne Koalitionen. An diese Entwicklung wird nun ein Maßstab angelegt, die Frage nach Nutzen oder Schaden, und festgestellt, dass die getroffene Entscheidung sowohl für die Grünen wie für die Parteien insgesamt eher schädlich ist. Im Licht dieses Maßstabs bekommt das Phänomen also eine qualitative Schattierung. Es lässt den Leser nicht mehr gleichgültig, wird mit (negativem) Wert gefärbt: bewertet.

Neben der Erklärung und der Bewertung scheint es noch eine dritte eigenständige Operation zu geben, die ebenfalls oft in Kommentaren erscheint: die kritische Überprüfung einer Erklärung oder Bewertung. Sie tritt immer dann auf, wenn der Sachverhalt, auf den sich der Kommentar bezieht, bereits selbst in einer Erklärung oder Bewertung besteht. Nehmen wir folgenden Fall: Bundeskanzlerin Angela Merkel nimmt Stellung zur sich verschlechternden Lage des westlichen Bündnisses in Afghanistan. Sie erklärt diese Lage mit dem Erstarken der gegnerischen Taliban, sie bewertet sie als unakzeptable Bedrohung für den Westen und fordert eine neue Strategie, in der militärisches und ziviles Engagement stärker koordiniert werden müssten.

Wenn nun ein Kommentar sich die Erklärung vornimmt und verwirft, etwa mit dem Argument, dass sie nicht falsch oder schwach, sondern tautologisch sei – die Schwäche der eigenen ist immer die Stärke der gegnerischen Position –, dann bewertet er, und zwar die Stringenz der Merkelschen Argumentation. Und wenn ein anderer Kommentar sich die Bewertung herausgreift und kritisiert, etwa mit der empirischen Klarstellung, nicht die fehlende Vernetzung, sondern die schlechte Ausführung des zivilen Einsatzes, insbesondere bei der Polizeiausbildung[23], sei das Problem, dann bewertet er ebenfalls, und zwar wiederum die Logik der Argumentation Merkels. Das Überprüfen einer Erklärung oder Bewertung ist also immer das Überprüfen der (erklärenden oder bewertenden) Argumentation auf ihre Stimmigkeit, das heißt das Bewerten der Argumentation mit dem Kriterium der Haltbarkeit und Schlüssigkeit. Kommentare, in denen Erklärungen oder Bewertungen kritisch befragt werden, sind ihrerseits bewertende Kommentare, bewertende Kommentare zweiter Ordnung.

Mit Erklärung und Bewertung sind somit die wichtigsten Funktionen des Kommentars benannt; der erklärende und der bewertende Kommentar sind die Haupttypen, in denen der Kommentar auftritt, weitere Unterscheidungen verwirren mehr, als dass sie hilfreich für die Praxis wären. Für beide Typen hat sich im Journalismus auch der Oberbegriff Kommentar eingebürgert. Ausnahmen sind zum Beispiel das Handelsblatt und die Berliner Zeitung. Beide Blätter heben den Unterschied zwischen den Operationen besonders hervor und machen aus der einheitlichen Textform zwei. Sie nennen die erklärende Variante Analyse und nur die bewertende Kommentar.

Die beiden Operationen Erklärung und Bewertung findet man in einem Kommentar oft vermischt vor: An die Deutung eines Ereignisses kann sich ein Werturteil anschließen, und Wertungen können analysierende Elemente enthalten. Wo aber der Schwerpunkt liegt, ob also ein fragliches Phänomen in erster Linie erklärt oder bewertet werden soll, sollte unzweideutig erkennbar sein. Andernfalls hängt oft die gesamte Konstruktion des Textes schief, was sich in der Regel im Fehlen einer prägnanten These und einer klaren Argumentation (siehe Kapitel drei) äußert – beides notwendige Bedingungen dafür, dass der Leser die gedankliche Linie leicht aufnehmen und nachvollziehen kann.

Der Kommentar nimmt Stellung zu einem Ereignis, indem er es mit guten Gründen erklärt oder bewertet. Erklären heißt, das Ereignis in seinen geschichtlich-sozialen Kontext einbetten, wodurch es Teil des kollektiven Wissens wird und dadurch Sinn erhält. Bewerten bedeutet, das Ereignis mit einem rechtlich-moralischen Maßstab messen, wodurch es einen Platz in der gesellschaftlichen Rangordnung erhält und dadurch Wert gewinnt.

[24]1.2 Grenzen

Meinungsäußerungen, seien sie nun einordnende Deutungen oder normative Werturteile, lösen sich von der Welt des hinreichend sicheren Wissens. Jenseits der verlässlichen Basis von Daten und Fakten entfalten sie ein luftiges Gespinst aus Einschätzungen, Vermutungen und Spekulationen. In diesem Sinne sind sie subjektiv, Produkte des kritisch-autonomen Denkens, substanzielle Elemente dessen, was man öffentliche Meinung nennt. So aktivieren sie, polarisieren und provozieren; sie regen an und stoßen ab, sie bestärken und bringen ins Wanken, sie begeistern und lassen kalt.

Ein wildes Getümmel, was sich da Kampf der Meinungen nennt und beispielhaft in Talkshows zu besichtigen ist, ein Psychodrama von Engagement und Heuchelei, Schauspiel und professioneller Rhetorik: hier die aufgeblasene Pose des Anklägers, da die verbitterte Resignation des Rechthabers, hier die eifernde Stimme des Moralisten, da die einschmeichelnde Suada des Populisten, hier die kaltschnäuzige Rationalität des Pragmatikers, da die lustvolle Aggressivität des Polemikers. Gibt es für dieses amüsante, überaus notwendige, aber nicht problemlose Treiben einen rechtlichen und moralischen Rahmen; was darf der Kommentar, und was darf er nicht?

Die juristische Seite

Die freie Meinungsäußerung, besonders wenn sie einen Gegenstand von öffentlichem Interesse betrifft, ist durch Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes mit geradezu lückenlosem Schutz ausgestattet (vgl. zum Folgenden Branahl, insb. Kapitel drei): Weder dürfen Meinungen nach ihrer sittlichen Qualität unterschieden werden, danach also, ob sie wertvoll oder wertlos sind, noch kann eine Rolle spielen, ob sie richtig oder falsch, emotional oder rational begründet sind. Ungeschützt sind lediglich Äußerungen, die völlig aus der Luft gegriffen sind, weil sie selbst minimalen Sachbezugs entbehren.

Diesen überragenden Rang des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner demokatischen Funktion begründet. Die Spontaneität der freien Rede sei für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung »schlechthin konstituierend«. Sie ermögliche, so das Gericht, »erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist« (BVerfGE 7, S. 208), sei »Voraussetzung der Kraft und der Vielfalt der öffentlichen Diskussion« (BVerfGE 54, S. 139).

[25]Deshalb müssen in den Augen der Verfassungsrichter Schärfen und Übersteigerungen des öffentlichen Meinungskampfs in Kauf genommen werden, ja sogar ein Gebrauch der Meinungsfreiheit, der zu sachgemäßer Meinungsbildung nichts beitragen kann – nicht zu tolerieren sind aber kritische Äußerungen, denen es statt der Auseinandersetzung in der Sache um die Diffamierung der Person geht (vgl. BVerfGE 82, S. 284). Diese sogenannte Schmähkritik verletzt die Ehre des Angegriffenen und erfüllt den Tatbestand der Beleidigung. Ihr Verbot ist die einzige Beschränkung der freien Meinungsäußerung und vom Kommentator unbedingt zu beachten Als Schmähkritik ist beispielsweise zu werten, wenn ein Politiker, in dessen Mietshaus Prostituierte verkehren, als »Puff-Politiker« bezeichnet oder wenn ein Doping-Arzt der DDR der »Mengele des DDR-Doping-Systems« genannt wird.

Die ethische Seite

So klar und offenkundig das Recht des Kommentars, so schwer zu fassen ist seine Moral. Ein Blick auf die Glosse (siehe dort Kapitel eins) aber lässt ihre Konturen zumindest im Kern hervortreten. Die Glosse ergreift nie die Partei der Macht gegen die Ohnmacht, heißt es dort. Sie sieht sich auf der Seite der Schwachen, der Unterdrückten, der Unterprivilegierten, der Unrecht Leidenden. Aller derjenigen, die durch Schicksal oder menschliches Handeln diskriminiert oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind: Farbige, alte Menschen, Ausländer, Homosexuelle, Behinderte.

Der Glossenschreiber ist ein Moralist, er beruft sich auf sein blutendes, mit der gesamten Menschheit leidendes Herz und hält sich deshalb für berechtigt, mit seinen Waffen Spott, Hohn und Sarkasmus erbarmungslos zuzuschlagen. Der Kommentator dagegen ist ein Rationalist, er hat nur das vergleichsweise harmlose Mittel vernünftigen Argumentierens zur Hand und kann sich daher weder mit seiner Menschenliebe entschuldigen noch sie geltend machen. Er hat weder geborene Freunde noch geborene Feinde, positioniert sich weder auf der Seite der Sieger noch der der Opfer. Sehen die Armen und Schwachen die Dinge richtig, nur weil sie arm und schwach sind; können nicht auch die Reichen und Mächtigen, obwohl sie reich und mächtig sind, gelegentlich Recht haben? Sind Staat, Kirche, Militär und Bürokratie immer und von vornherein Apparate der Unterdrückung und Manipulation und umgekehrt ihre Opponenten, das von Selbstgewissheit strotzende Heer der Wohlmeinenden, nicht manchmal ebenso Feinde von Freiheit, Bürgerstolz und Liberalität?

[26]Wie er keine Freunde und keine Feinde hat, so kann sich der Kommentator auch an keiner vorgängigen Gewissheit festhalten, kein Dogma und keine Ideologie unbefragt voraussetzen. Inbesondere verschmäht er das letzte Refugium des Moralisten, das warme Milieu gutmenschlicher Korrektheit. Hier verwirft er vor allem die hartnäckige Maxime der Gesinnungsethiker, man müsse nur aus Leibeskräften das Gute wollen, ein unschönes Mittel könne per se keinen guten Effekt haben. Was ihm bleibt, ist nichts als die Vernunft, das immer neu ansetzende differenzierende, klug abwägende Denken, für das jede Gewissheit sich immer wieder als solche erweisen muss, das keine Position als unverrückbar, keine Entscheidung als endgültig anerkennt.

Was dem Kommentar also auf den Tod widerstrebt und wo er daher eine scharfe Grenzlinie zieht, ist einzig und allein sein Gegenteil, die Verneinung des differenzierenden Denkens. Es sind die Totalerklärungen der Wirklichkeit, die ihm abgrundtief zuwider sind, die Ideologien, die aus Prinzipien hergeleitet werden und ein für allemal Gültigkeit beanspruchen, die Dogmen, die einmal gültige Einsichten für die Ewigkeit festschreiben wollen: der geistige und praktische Totalitarismus. Und es sind dessen geheime Verbündete, die flächendeckende Halbbildung als ein System ineinandergreifender Vorurteile und Ressentiments einerseits, andererseits der Populismus als politische Strategie, durch schamlose Anbiederung sich diese Halbbildung zu Nutze zu machen. Ein Beispiel für die journalistische Variante im Boulevard (Bild, 11. 2. 2009):

Die Banker müßten Strafen zahlen!

Wie soll man es nennen? Gierig, dreist, abgebrüht oder einfach nur unanständig?

Trotz Finanzkrise, taumelnder Börsen und weltweitem Wirtschaftsabsturz beharren Bankmanager auf Millionen-Bonuszahlungen. Sie ziehen ungeniert vor Gericht, in England berufen sie sich sogar auf die Menschenrechte.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Banker klagen ein Menschenrecht auf Millionen-Bonus ein!

Haben die Nieten in Nadelstreifen immer noch nicht kapiert? Weltweit spielten die selbstherrlichen Investmentbanker Finanzgott.

Jahre lang haben sie »Wert«-Papiere verkauft, die sie selbst heute nur noch »toxisch« nennen: Giftmüll!

Sie haben die Weltwirtschaft angezündet und die Ersparnisse von fleißigen Arbeitnehmern verbrannt. Und jetzt wollen die Brandstifter von der Feuerwehr auch noch bezahlt werden – also von uns Steuerzahlern.

Büßen müßten sie. Zahlen, statt zu kassieren.

Und vor allem sich endlich einmal bei uns allen entschuldigen.

[27]Hier wird das Vorurteil (Ihr Gemeinen da oben – wir Braven hier unten) in seiner ganzen Majestät bestätigt, kein Versuch zu erkennen, ihm ein wenig durch Spurenelemente von Zweifel (Haben wirklich die Banker die Weltwirtschaft angezündet? Haben sie dabei das Geld fleißiger Arbeiter verbrannt?) zu Leibe zu rücken. Es gilt das Prinzip, bedenkenlos mit den Emotionen der Massen zu spielen, dem Volk nicht aufs Maul zu schauen, sondern ihm nach dem Munde zu reden – eine Interpretation des lutherischen Rats, die unter keinen Umständen zu tolerieren ist. Dieser journalistische Populismus hat aber noch einen Antipoden; er scheint das vollständige Gegenteil zu sein, kommuniziert aber insgeheim mit ihm, denn beide verzichten beim Leser auf die Inanspruchnahme seines Denkens. Es ist die Polemik – statt des Kniefalls vor der vox populi die herrische Pose des Rechthabens. Ein Beispiel (Die Welt, 9. 1. 2009):

Heute wäre Heiner Müller 80 Jahre alt geworden

Der Text ist klüger als sein Autor

Das Staatsbegräbnis garantiert die Auferstehung nicht, hätte Heiner Müller seinen Geburtstag kommentiert. Der meistgespielte und vor allem meistinterviewte Dramatiker seiner Zeit hat uns – nur eineinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod – nichts mehr zu sagen. Was ist passiert?

Wir sind vernünftig geworden. Ja, wir. Die DDR war nur sein Material, sein Resonanzraum war aber der Westen. Die düsteren Geschichtspanoramen kamen in Bochum und München immer besser an als in Dresden und Leipzig. Müllers böses – aber schönes – Bonmot zur Wiedervereinigung: Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche, wurde am Rhein belacht, nicht an der Elbe. Ist also Aufarbeitung angesagt? Nein, keine Angst: Bereuen ist unpraktisch, wusste Müller. Ein Wort wie Aufarbeitung wäre ihm nicht über die Lippen gekommen. Wie so vieles, was unsere politische Korrektheit heute ausmacht. Von der Leyensche Vätermonate? Ich habe Schwangerschaft immer als Freiheitsberaubung empfunden. Authentizität? Die Wahrheit eines Menschen erfährt man aus seiner Maske. Facebook, StudiVZ, Twittern? Der Weg zur Schlachtbank führt über die Datenbank. Die »neue« Linkspartei? Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert. Schäfer-Gümbel? Es scheint eine Voraussetzung für politische Karriere zu sein, kein Gespür für die eigene Komik zu haben.

Klingt alles gut. Ist alles Quatsch. Von wegen: Der Text ist klüger als sein Autor. Wir vermissen nicht die Sozialismen und Weltuntergangsszenarien (von denen haben wir genug), sondern den Typen: die Lakonik in salbadernder Zeit wie die Zigarre in unseren rauchfreien Kneipen. Kommt Müller wieder? Hoffnung ist Mangel an Information, hätte er wohl geantwortet.

[28]Schön zu lesen. Doch hier wird nicht argumentiert, hier wird hochfahrend auf Argumentation verzichtet (»Klingt alles gut. Ist alles Quatsch«). Der Autor ist sich seiner Position sicher, und er ist überzeugt, dass er den Leser nicht überzeugen muss, sieht er sich doch im Besitz eines besseren Mittels, des Mittels blitzartig einschlagender Evidenz. Insgesamt ein Unternehmen, das der Glosse sehr nahe kommt. Die Polemik ist nur durch eine gewisse Dramatik des Gegenstands legitimiert und verlangt, das verbindet sie mit der Glosse, eine starke Komposition sowie besondere sprachliche Souveränität. Außerdem wissen erfahrene Journalisten, die ihr Publikum kennen: Der Leser liebt die schneidige Attacke, aber nicht in Permanenz, sondern nur als Ausnahme von der Normalität vernünftig-disziplinierten Argumentierens.

Alles in allem hält der Kommentar unerschütterlich fest am Ideal der Aufklärung: Vernunft ist nicht alles, auch das Nichtvernünftige: die Gefühle und Wünsche, die Gesamtheit der menschlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Träume haben das Recht, im gesellschaftlichen Diskurs mitzusprechen. Doch alles in den Grenzen, die die Vernunft ihnen anweist, dieses einzige Instrument, das prinzipiell allen Menschen gemeinsam ist. Das für alle Bürger den sanften Zwang des stärkeren Arguments etabliert, indem es Durchsichtigkeit und Nachvollziehbarkeit der vorgebrachten Meinungen fordert, und damit ihre Kommunikation auf eine rationale Grundlage stellt. Und das damit die Menschen in Stand setzt, ihr Leben grundsätzlich ohne Mord und Totschlag, in einem freien und selbstbestimmten öffentlichen Diskurs zu organisieren. Der Kommentar ist damit letztendlich orientiert an einer regulativen Idee des guten Lebens aller Bürger unter selbstgegebenen, das heißt: Stabilität verbürgenden, aber in geregelten Verfahren klug veränderbaren Gesetzen.

Juristisch ist die Meinungsäußerung des Kommentars durch Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes mit einem nahezu lückenlosen Schutz ausgestattet. Einzig und allein verboten ist Schmähkritik – Kritik, der es nicht um die Auseinandersetzung in der Sache, sondern um die Diffamierung der Person geht.

Moralisch ist der Kommentar ausschließlich den Regeln vernünftigen Argumentierens unterworfen. Sein Urteil über Richtig und Falsch, Gut und Böse schöpft er weder aus einer gleichsam vorgängigen Sympathie mit den Armen und Machtlosen noch aus vorgängigen gewissheiten, sondern [29]allein aus der Kraft des stärkeren Arguments. Sein ewiger und unbesiegbarer Widerpart ist damit das undifferenzierende, dogmatische Denken, der Totalitarismus in allen Formen, und als dessen Variante der Populismus.

1.3 Kommentar – Leitartikel

Nach dem Blick auf die Grenzen, jetzt ein kurzer Seitenblick auf den großen Bruder des Kommentars, den Leitartikel. Beide wollen das Gleiche, beide machen das Gleiche, unterschiedlich ist nur die Handschrift, derer sie sich bedienen: hier das Florett, geführt vom schnellen, leichten, manchmal leichtgewichtigen Intellektuellen, da der schwere Säbel, geschwungen vom tiefschürfenden, oft gravitätisch daherkommenden Weltgeist.

Der Kommentar ist schnörkellose, auf akademische Feinschattierungen verzichtende Argumentation; sein Kennzeichen ist Kürze. In Regionalzeitungen nähern sich Kommentare dem Boulevardmaß von 30 Zeilen, in den überregionalen Zeitungen variieren sie zwischen 30 und 60 Zeilen. Der Leitartikel dagegen holt weit aus und entwickelt seine Argumentation in aller Breite und Tiefe. Sein Kennzeichen ist eine gewisse den Zeitgeist ignorierende Länge. In den überregionalen und den großen regionalen Zeitungen – nur hier gibt es ihn noch – erreicht er Ausmaße von rund 100 bis 150 Zeilen.

Der Kommentar ist tagesaktuell. Er bezieht sich auf einen nachrichtlichen Text im selben Blatt, der wiederum in der Regel von einem Ereignis berichtet, das am Vortag stattgefunden hat. So erfüllt er eine wichtige, selten wahrgenommene Funktion: Er ist in den meisten Fällen der erste und ein breites Publikum erreichende Versuch, ein neues Ereignis gedanklich durchzuarbeiten. Er versorgt den Leser mit einer ersten, aber schon durchdachten, das heißt auf gute Gründe gestützten Meinung zu einem neuen Ereignis. Diese Position kann der Leser, ganz oder in Teilen, akzeptieren oder nicht akzeptieren und in dieser Form in sein Weltbild integrieren, sprich: am Stammtisch einbringen. Wie immer der Kommentar ausfällt, ob er den Leser provoziert oder seine Zustimmung findet, er setzt Meinungsbildung, gesellschaftlichen Diskurs in Gang.

Der Leitartikel dagegen ist zeitaktuell. Er nimmt ein Thema auf, das in der Luft liegt, aber nicht unbedingt auf ein Ereignis des Vortags bezogen sein muss. [30]So führt er eine schon angestoßene Diskussion fort, verarbeitet gründlich die bereits aufgetauchten Argumente und vertieft sie, oft unter Reflexion der eigenen normativen Grundlagen und Erklärungsansatze. Mehr als der noch tastende, in Neuland vordringende Kommentar ist der Leitartikel damit »ein kleines Stück Geschichtsschreibung« (Nowag/Schalkowski, S. 179). Dem Leser bietet er eine durchreflektierte Position, aus deren argumentativem Arsenal er sich zur Bereicherung seiner Weltsicht bedienen kann.