Konfliktfall Solidarität - Jürgen Prott - E-Book

Konfliktfall Solidarität E-Book

Jürgen Prott

0,0

Beschreibung

Solidarität verlangt die Bereitschaft zu dauerhafter wechselseitiger Hilfsbereitschaft, und zwar über Liebe und Barmherzigkeit hinausgehend. Das setzt eine Ausbalancierung zwischen Abstand und Nähe unter Bürgerinnen und Bürgern voraus, sofern sich nicht der Staat anmaßen will, das Solidarische dirigistisch zu verordnen. Solidarisch gesonnene Zeitgenossen verbinden heiße Herzen mit kühlem Verstand, sie paaren Einfühlsamkeit mit der Anerkennung der Autonomie des Anderen. Doch das geht nicht ohne Konflikte ab. Auch wenn einvernehmliches Miteinander in Zeiten existentieller Krisen etwa des Gesundheitssystems, der natürlichen Lebensgrundlagen oder der Wirtschaft ein Gebot der Stunde ist, lösen sich Interessenunterschiede gesellschaftlicher Gruppen nicht einfach in Luft auf. Häufig helfen uns erst historische Rückblicke, den Ernst einer Lage realistisch einzuschätzen. Dann zeigt sich nämlich, dass sich dort, wo sozialer Zusammenhalt brüchig wird, weil sich hemmungsloser Individualismus Raum verschafft, diese beunruhigende Frage in den Vordergrund schiebt: Kann es überhaupt noch gelingen, das Band der Solidarität wieder fester zu knüpfen, ohne die Freiheit des Einzelnen bei gleichzeitiger Anerkennung sozialer Vielfalt preiszugeben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 482

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jürgen Prott

KonfliktfallSolidarität

Geschichten und Analysen auseiner erschöpften Lebenswelt

Steidl

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

A. SOZIALE RÄUME

1. Betrieb: Kollegialität am Arbeitsplatz

2. Nachbarschaft: Die heimelige Solidarität

Der Knappschaftsälteste als Solidaritätsexperte

Émile Durkheim und die Folgen

Das proletarische Fest: Solidarität im Überschwang der Tradition

Ein versinkendes Arbeitermilieu versucht, sich gegen Miethaie zu wehren

3. Gesellschaft: Zusammenhalt durch bürgerschaftliches Engagement

Warum es so schwer ist, den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten

Warum es wichtig und aussichtsreich ist, bürgerschaftliches Engagement zu stärken

Solidarität in Zeiten von Corona

B. ERREGUNGSZUSTÄNDE

1. Selbstlosigkeit: Ohne Barmherzigkeit geht es nicht

Selbstlosigkeit und das Gegenteil davon

Barmherzigkeit als Herablassung

2. Interessenkonflikte: Ohne Gegner geht es auch nicht

Arbeitersolidarität mit Gegnerperspektive ist kämpferisch aufgeladen

Die Gegnerperspektive in der Nachkriegsgeschichte der Bergleute

Die Gegnerperspektive als Ausdruck kämpferischer Arbeitnehmersolidarität gerät unter Druck, kann sich in bestimmten Situationen aber auch behaupten

Im rheinischen Braunkohlerevier prallen 2019 Welten aufeinander

3. Affekte: Langer Atem statt wilder Wut

»Weil wir lieben, müssen wir hassen«

Solidarität im Affekt

Solidarität mit Verstand

C. AUSBLICKE

1. Empirische Erfahrungen: Wie man Solidarität lernen kann

Erste Sichtweise: Gewerkschafter lernen Solidarität nicht im Seminar

Zweite Sichtweise: Bestimmte Formen von Solidarität kann die gewerkschaftliche Bildungsarbeit anregen

Spezialfall kollegialer Austausch durch Netzwerken

Spezialfall Solidaritätslernen durch in Seminare integrierte Betriebsprojekte

2. Fazit: Ein Streit um Worte?

Ein Stoßseufzer und seine Folgen

Ein vielgestaltiger Begriff mit inneren Widersprüchen

Arbeitnehmersolidarität als Spezialfall

Endnoten

Literaturverzeichnis

Weitere Bücher

Impressum

Einleitung

Ein warmer Frühlingstag an der Hamburger Außenalster. Wir sind im Jahr 1965. Es ist frühmorgens an einem Sonntag. Eine kleine Gruppe spaziert am Ufer entlang. Voran ging, hoch aufgeschossen, mit schütterem Haar, der in Ehren ergraute Professor Leo Kofler. Dahinter eine Handvoll Studenten. Hinter den Beteiligten lag eine Bildungsveranstaltung im Hamburger Gewerkschaftshaus. Die jungen Leute, allesamt seit gut einem halben Jahr an der Akademie für Wirtschaft und Politik, einer Einrichtung des Zweiten Bildungsweges, nutzten die Gelegenheit, noch die eine oder andere Weisheit des bei ihnen hoch angesehenen marxistischen Philosophen aufzuschnappen, bevor dieser seine Heimreise ins Ruhrgebiet antreten würde. In Bonn regierte damals Ludwig Erhard mit seiner CDU. Das Wirtschaftswunder steuerte gerade auf seine erste Rezession im Nachkriegszyklus zu. Aber davon war noch ebenso wenig zu spüren wie vom Wetterleuchten der antiautoritären Revolte. Konservative und allenfalls sozialliberale Geister gaben überall den Ton an, auch an unserer Hochschule. Damals an der Alster war ich hin- und hergerissen. So anregend ich es empfand, von einem Mann, durch dessen schwierige Bücher ich mich gerade durchzukämpfen versuchte, die eine oder andere Frage beantwortet zu bekommen, so sehr war mir der offensichtliche Fehlschlag der gerade hinter uns liegenden Veranstaltung über »Marxismus heute« auf den Magen geschlagen.

Wie war es dazu gekommen? In unserer »Gewerkschaftlichen Studentengruppe« (GSG) tobte ein heftiger Streit über die »bürgerliche Wissenschaft«. Einige von uns, so hatte es zumindest den Anschein, saugten kritiklos den Nektar aus Vorlesungen wie »Theorie der Wirtschaftspolitik« oder »Einführung in die Betriebswirtschaftslehre« in sich auf, während andere, zu denen auch ich mich zählte, alle Mühe hatten, die in der organisierten Arbeiterjugend mühsam angeeigneten marxistischen Gewissheiten vor allzu heftigen Erschütterungen zu bewahren. Wer damals auf radikalen gesellschaftlichen Wandel setzte, dem blies ein steifer Wind ins Gesicht – innerhalb wie außerhalb der Hörsäle und Seminarräume. Einer der beliebtesten Dozenten aus dem Kreis der Volkswirte an unserer Akademie hatte sich zu einem Streitgespräch mit Leo Kofler bereit erklärt. Ich hatte Kofler schon Jahre vorher als Referenten in der Bildungsarbeit unserer Bielefelder Gruppe der »Sozialistischen Jugend – Die Falken« kennengelernt. Als er sich entschloss, nach Hamburg zu einer Podiumsdiskussion zu kommen, war ich überzeugt, ein durchschlagkräftiges Sturmgeschütz gegen den geschmeidigen liberalen Ökonomen in Stellung gebracht zu haben. Die Veranstaltung wurde ein Rohrkrepierer. Mit zunehmender Dauer wurden die Gesichter derjenigen, die sich auf eine ultimative Abrechnung mit der »Ideologie des Kapitals« gefreut hatten, immer länger. Mit Hilfe zahlreicher Kurvendiagramme und Tabellen stellte Dr. Friedrich Wilhelm Dörge die historische Überlegenheit des Kapitalismus unter Beweis, während Professor Leo Kofler sich in Betrachtungen über das Dionysische und das Appollinische in der Geschichte der Kunst verlor. Das war das Thema eines Aufsatzes, an dem er gerade arbeitete. Unsere »rechten« Kontrahenten in der GSG hatten mit ihrem Matador auf der ganzen Linie den Sieg davongetragen, und das ließen sie uns spüren.

Nun also schritt uns der Alte rüstig voran. Etwa auf der Höhe des amerikanischen Konsulats hielt er inne. Vor uns erhob sich ein Kirschbaum in der ganzen Schönheit seiner Frühlingsblüte. Der Philosoph strahlte über das ganze Gesicht und hob sogleich zu einer Sentenz darüber an, was das »Kunstschöne« mit dem »Naturschönen« gemeinsam hat und wodurch sich beides unterscheidet. Pflichtschuldig hoben sich unsere heruntergezogenen Mundwinkel, wenn uns der aufmunternd umherschweifende Blick des Meisters traf. Als dessen Euphorie ein wenig abgeklungen schien und wir uns bereits auf dem Rückweg zum »Kieler Hof« befanden, jener schäbigen Pension gegenüber dem Hauptbahnhof, in der wir unseren Gast wegen unserer geringen Finanzmittel unterzubringen gezwungen waren, traute ich mich rasch noch zu einer Frage, die ich am Vortag nicht hatte loswerden können. Worauf man denn beim Soziologiestudium besonders achten solle, damit man nicht im Strudel der »bürgerlichen Wissenschaft« unterginge, wollte ich wissen. Leo Kofler gehörte nicht zu denjenigen, die sich über studierende Arbeiter intellektuell hinwegzuheben bemühten. Er antwortete mir ebenso freundlich wie bestimmt etwa folgendermaßen: Auch wenn es mir anfangs vielleicht schwerfallen würde, solle ich mich an die Schriften von Marx halten und im ersten Band des »Kapitals« am besten mit dem Kapitel über die »ursprüngliche Akkumulation des Kapitals« beginnen, auch wenn das nicht am Anfang des Buches stehe, aber hier fände ich verhältnismäßig leicht Verständliches. Im Unterschied zu vielen Soziologen unserer Tage, fügte er hinzu, habe Marx sich nicht mit der »Begriffshuberei« endloser Definitionen aufgehalten, sondern das dialektische Ganze in den Blick genommen, und für die »Fliegenbeinzählerei« der empirischen Sozialforscher habe er nur Hohn und Spott übrig gehabt.

Mich hat das damals restlos überzeugt. Vielleicht habe ich mir deshalb die hier geschilderte Szene wieder und wieder in Erinnerung gerufen. Habe ich mich aber auch an die Mahnung des Meisters gehalten? Ich denke, eher nicht. Ob ich wollte oder nicht, ich habe mich als empirischer Sozialforscher zwar von einer gesellschaftskritischen Grundhaltung leiten lassen, aber die Bescheidwisserei der Ableitungsmarxisten wurde mir immer fremder, während mich Max Webers Bemühen um begriffliche Präzisierung mehr und mehr beeindruckte und hier und da auch zur Nachahmung anregte. Gleichzeitig faszinierte mich von Anfang an die Chance, sozialen Verhältnissen durch unmittelbare Anschauung auf den Grund zu gehen, was auch die Bereitschaft einschließt, »Fliegenbeine« zu zählen.

Wenn ich also darüber nachdenke, was mich als Soziologe bewogen hat, dieses Buch zu schreiben, und warum es so geworden ist, wie ich es hier kurz zu erläutern versuche, dann hat das sicher auch mit einem gelebten Kontrast gegenüber den Ermahnungen Leo Koflers zu tun. Den Gewerkschaften, die mir durch das Stipendium der »Stiftung Mitbestimmung« überhaupt erst das Studium ermöglichten, bin ich bei aller Kritik im Einzelnen treu geblieben. Das kann und will ich natürlich auch in dieser Veröffentlichung nicht verbergen. So beschäftigt mich das Solidaritätsthema mittlerweile seit vielen Jahren. Es fing damit an, dass die Abteilung Sozialpolitik beim Vorstand der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) mich bat, die Strukturen und Prozesse des bürgerschaftlichen Engagements in der »Knappschaft Bahn See« unter die Lupe zu nehmen. Was solidarisches Verhalten in nachbarschaftlichen Zusammenhängen bedeutet, wie es in der Figur des Versichertenältesten buchstäblich Gestalt gewinnt, faszinierte mich ebenso wie die bedrückende Einsicht, dass Solidarität im Kern bedroht ist, wenn sich die sie hervortreibenden Milieus zu erschöpfen beginnen (vgl. Prott 2013).

Im günstigen Fall bleiben am Ende aufwendiger Forschungsprojekte bekanntlich offene Fragen übrig, zum Beispiel diese: Wie hängt Solidarität, als soziale Grundhaltung wie als Strukturmuster, mit gesellschaftlicher Schichtung und Mobilität zusammen? Beim Versuch, diesem Problem auf den Grund zu gehen, war vor allem gedankliche Arbeit am Begriff und die Auseinandersetzung mit wichtigen Beiträgen zur soziologischen Debatte der Gegenwart gefordert. Das Resultat habe ich sechs Jahre nach meinem Buch über Solidarität im Nachbarschaftsmilieu vorgelegt (vgl. Prott 2019a).

Abermals verdanke ich einer Anregung der IG BCE, dass ich später den thematischen Faden noch einmal aufnahm. Über einen Zeitraum von zwei Jahren begleitete ich ein ambitioniertes Programm zur Nachwuchsförderung für den Kreis ehrenamtlicher Funktionäre durch einen bis dahin weitgehend ungebräuchlichen Typ von seriellen Bildungsveranstaltungen. In erster Linie kam es darauf an, herauszufinden, ob der zum Teil beachtliche Aufwand, der hier auf der Basis knapper werdender Ressourcen getrieben wurde, sich lohnen und damit zur Nachahmung anregen würde. Als Soziologe interessierte mich darüber hinaus noch eine andere Frage: In welcher Form ist das Prinzip des Solidarischen, dieser »Markenkern« der Gewerkschaften, in ihrer Bildungsarbeit präsent?

So nützlich die erwähnten Vorarbeiten für dieses Vorhaben auch sein mochten, es führte doch kein Weg daran vorbei, das begriffliche Verständnis von Solidarität abermals zu vertiefen, wohl wissend, dass eine sperrige und vielgestaltige Sache nicht ein für alle Mal theoretisch zu erledigen ist. Neben dieser »Begriffshuberei« aber galt es abermals, »Fliegenbeine zu zählen«, wenn auch nicht in jener besinnungslosen Weise, die hier und da aus allen Poren von Massenumfragen hervorsprießt. Gestützt auf das an anderer Stelle entwickelte Grundverständnis von Solidarität als einer Art Dreiecksbeziehung zwischen den Eckpunkten Barmherzigkeit, Arbeitnehmersolidarität und Solidarität als gesellschaftlichem Zusammenhalt (vgl. Darstellung 4), kam es mir darauf an, den Begriff in theoretischer Hinsicht aufzufächern hinsichtlich sozialer Räume (Kapitel A) und unterschiedlicher Erregungszustände (Kapitel B), die einem solidarischen Handeln Ziel, Richtung und Dynamik geben. Vielleicht ist es mir dabei hier und da doch gelungen, einen gegen vordergründige Definitionswut gerichteten Vorbehalt Leo Koflers zu beherzigen, indem ich die Widerspruchskonstellationen mindestens benannt habe, in denen wir das Solidarische in seiner dreifachen Gestalt immer wieder antreffen.

Was ist damit gemeint? Barmherzigkeit gilt uns als Inbegriff selbstlosen Handelns. Aber benehmen sich diejenigen, die das Prinzip wie eine Monstranz vor sich hertragen, in allen Lebenslagen in diesem Sinne oder ist ihre Nächstenliebe nicht häufig mit dem nüchternen Kalkül einer Mehrung ihres moralischen Kapitals aufgeladen? Ähnlich verhält es sich mit Solidarität als Streben nach gesellschaftlichem Zusammenhalt. Wenn landauf, landab entschlossen gegen die »Spaltung der Gesellschaft« zu Felde gezogen wird, was bleibt dann am Ende für die Idee pluralistischer, auch durch Streit verbundener Interessen übrig? In diesem Zusammenhang gestatte ich mir eine kleine Abschweifung. Hans Fallada sagte über das von ihm im Roman »Jeder stirbt für sich allein« porträtierte Arbeiterehepaar in seinem unbeugsamen, aber tragischen Kampf gegen den Nationalsozialismus: »Sie haben jedenfalls eine rechte Ehe miteinander geführt, wenn man unter Ehe die völlige Übereinstimmung von Gefühl und Gesinnung, das bedingungslose Eintreten füreinander versteht.« (Zitiert in Walther 2017, S. 417.) Fallada verdankte dem Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher, die Anregung zu diesem mit spätem Ruhm belohnten Roman. Der SED-Politiker hatte ihm die Gestapo-Akten des Falles zugespielt. Auf die verblüffende Ähnlichkeit des Begriffs von Ehe mit dem Begriff von Solidarität bei Fallada fällt ein tiefer Schatten, wenn man auch jenen Teil der Akten in Augenschein nimmt, die Becher dem befreundeten Autor bewusst vorenthalten hat. Daraus geht nämlich hervor, dass die Ehe des Widerstands-Paares der Belastungsprobe nicht standhalten konnte, die vom Todesurteil des Volksgerichtshofs ausgelöst wurde. An die Stelle unverbrüchlicher Treueschwüre traten jetzt die hässlichsten gegenseitigen Bezichtigungen (vgl. ebenda, S. 418). Auch die Arbeitnehmersolidarität, diese dritte Achse des Solidarischen, von der in diesem Buch besonders viel die Rede ist, kann den Keim ihres Gegenteils kaum verbergen, je genauer man hinsieht. Nicht alle, die eine Art heiligen Schauer im Angesicht der Traditionsfahnen befällt (»Solidarität ist unsere Kraft«), können der Versuchung widerstehen, sich zumindest hin und wieder gedankenlos Autoritätsappellen zu beugen, die sie eher zum Strammstehen als zum aufrechten Gang ermuntern. Ist Solidarität ohne freien Willen zu haben? Auch das ist eine Frage, die in diesem Buch immer wieder auftauchen wird.

Ein Wort noch zur methodischen Anlage des Buches und zu der dahinterstehenden empirischen Forschung. Seit vielen Jahren vertraue ich bei der Erhebung von Daten eher Techniken der qualitativen als der quantitativen Sozialforschung. Neben zahlreichen Expertengesprächen verdanke ich den größten Teil der hier präsentierten Befunde halbstandardisierten Einzel- und Gruppeninterviews. Auszüge aus dem umfangreichen Material der Tonbandprotokolle tauchen an verschiedenen Stellen des Textes auf, vor allem im letzten Hauptabschnitt (Kapitel C), in dem es um den Zusammenhang von Solidarität und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit geht. Bei der Präsentation des Materials stütze ich mich mehr auf die lebendige Anschaulichkeit von Protokollauszügen als auf die kalte Schönheit zweidimensionaler Tabellen. Insofern besteht da schon ein Unterschied zur »Fliegenbeinzählerei«. Außerdem verspreche ich mir einen Gewinn an Lesefreude und Verständlichkeit von der Verknüpfung der wissenschaftlichen Passagen des Buches mit erzählten Geschichten. Es handelt sich dabei um kleinere Szenen aus dem Alltagsleben, um literarische Zeugnisse, um episodische Momentaufnahmen. Einige habe ich mir ausgedacht, andere ähneln in hohem Maße den Erzählungen, auf die ich in diversen Gruppeninterviews gestoßen bin, wieder andere habe ich selbst erlebt. Über das gesamte Buch sind insgesamt 18 solcher Geschichten verteilt. Richard Sennett, dem von mir besonders geschätzten amerikanischen Soziologen, von dem hier häufig die Rede sein wird, verdanke ich die Anregung für diese für einen wissenschaftlichen Text eher unübliche Eigenheit. Sennett hat in seinen Büchern häufig davon Gebrauch gemacht. Dieser Autor, der in seinem langen Leben mit zahlreichen Berufen in Berührung gekommen ist, spricht sich für eine »dialogische« Denk- und Erkenntnisweise aus. Wenn wir die Gegenstände, an denen sich unsere Neugierde entzündet, von verschiedenen Seiten betrachten und uns öffnen für die unterschiedlichsten Perspektiven nicht nur denkend, sondern auch im Gespräch darüber, so kann sich unser Blick in einer Weise weiten, zu dem die begriffliche Analyse allein kaum jemals fähig ist (vgl. Sennett 2012, S. 369). So soll sich in der geschmeidigen Anlage dieses Textes ein wenig von dem mitteilen, was Solidarität als Gegenstand soziologischer Erkenntnis allemal ausmacht: Sie ist vielgestaltiger, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Das kann dazu führen, dass einem die »Idee der Solidarität« nicht »recht geheuer« erscheint, wie Rainer Hank, dieses wirtschaftsliberale Urgestein der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, vor gar nicht so langer Zeit einmal äußerte (vgl. Hank 2020, S. 18). Seine Sicht der Dinge kann ich mir nicht zu eigen machen, wie der folgende Text unter Beweis stellen soll.

A. SOZIALE RÄUME

1. Betrieb: Kollegialität am Arbeitsplatz

Zu den eindrucksvollsten Erzählungen über das Solidarische gehören Schilderungen aus dem Arbeitsleben. Wenn Leib und Leben in Gefahr sind, weil »schlagende Wetter« im Bergbau drohen, wenn auf hoher See ein schwerer Sturm den Matrosen das Wasser ins Gesicht weht, wenn Feuerwehrleute zu einem Brandherd gerufen werden, dann muss sich einer auf den anderen verlassen können. Nur so lässt sich das Unheil in Grenzen halten. In diesen Fällen greifen sich die Kolleginnen und Kollegen buchstäblich unter die Arme. Sie tun das häufig ganz selbstverständlich, so, als ob Unterstützung zum Beruf dazugehört. Die unausgesprochene Basis des entsprechenden Handelns ist das, was man gemeinhin Kollegialität nennt. Sie kann, wie in den erwähnten Beispielen, zu einer zwingenden Voraussetzung gelingenden Miteinanders werden. In solchen Fällen entspricht das wechselseitige Füreinandereinstehen einer Verhaltensnorm. Aber auch, wenn es am Arbeitsplatz weniger dramatisch zugeht, greifen sich Kolleginnen und Kollegen unter die Arme. Wir kennen jedoch auch Situationen, da stellt sich Kollegialität keineswegs zwanglos ein. Um ihr ans Licht zu helfen, bedarf es womöglich eingehender Erörterungen, mühseliger Verabredungen. Nehmen wir ein Beispiel. Im Kollegium einer Grundschule fällt eine Lehrerin in immer kürzeren Abständen aus. Vielleicht leidet sie unter einer chronischen Krankheit, hat aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben, zu alter Gesundheit und Tatkraft zurückzufinden. Nun liegen zum wiederholten Male korrekturbedürftige Mathematikaufgaben auf ihrem Schreibtisch. Ist die nette Kollegin, die in der Parallelklasse Mathematik unterrichtet, auch diesmal wieder bereit, einzuspringen und ihr die Arbeit abzunehmen? Diese zögert jedoch, macht keinen Hehl aus ihrem Unwillen. Der Schulleiter schaltet sich ein und bittet die »nette Kollegin« um ihre Mithilfe. Mit dem Hinweis, das passe ihr nicht in den Kram, sie habe im Übrigen genug um die Ohren, und, nicht zuletzt, sei sie nicht dazu verpflichtet, weist sie seine Bitte zurück. Ob sie dazu berechtigt ist, wollen wir auf sich beruhen lassen. Unser fiktives Beispiel zeigt etwas anderes: Kollegialität, hier verstanden als selbstverständliche Hilfe in schwierigen Arbeitssituationen, ist offenbar nicht immer erzwingbar. Sie geschieht freiwillig, muss also durch das Nadelöhr der Einsicht in die Notwendigkeit hindurch.

Wo Arbeitsprozesse nur gelingen können, wenn Hand in Hand gearbeitet wird, zum Beispiel auf dem Bau oder in der Fertigungsstrecke eines Industriebetriebs, mag es eher unwahrscheinlich sein, dass sich Einzelne gegen die ungeschriebenen Gesetze des Miteinanders sperren. Wer am Fließband durch eine Art demonstrativ gemächlicher Leistungsbereitschaft auffällt, kann denjenigen, die links und rechts von ihm tätig sind, das Leben schwer machen. Er muss nicht nur mit stirnrunzelndem Unverständnis rechnen, sofern er sich der Norm widersetzt. Im ungünstigen Fall fällt ihm vielleicht eher beiläufig ein Hammer auf den Fuß. Vorher hat es aber sicherlich unter den Kollegen Auseinandersetzungen über das rechte und gerechte Maß an akzeptabler Leistungsbereitschaft gegeben. In diesem Beispiel deutet sich aber an, wie schwierig die Sache im Einzelfall sein kann. Muss eine »von oben« festgesetzte Arbeitsnorm um des kollegialen Miteinanders willen in jedem Fall eingehalten werden oder kann es sogar ein Gebot der Kollegialität sein, sich ihr gemeinsam zu widersetzen? Wo hört die Kollegialität als die menschliche Seite der Arbeitsroutine auf und wo beginnt Solidarität als gegen die Vorschriften gerichtete Auflehnung?

Hin und wieder muss das vermeintlich Selbstverständliche neu verhandelt werden. Erzwungene, nicht auf freiwilliger Einsicht beruhende Kollegialität kann Unbehagen auslösen. Ich komme darauf später noch einmal zurück. Halten wir zunächst fest, dass immer dann, wenn die Art der Berufstätigkeit es mit sich bringt, dass die Arbeitenden unmittelbar aufeinander angewiesen sind, weil eine bestimmte Ablauforganisation oder die sie umgebende Arbeitstechnik die Kooperation hervorrufen, kollegiales Miteinander eher gedeiht als in Fällen durchgehender Einzelarbeit, wie zum Beispiel bei Busfahrern. Wir werden sehen, dass Kollegialität viel mit den konkreten Mustern der Zusammenarbeit zu tun hat. Diese Frage drängt sich auf: Warum ist kollegiales Miteinander für Industriearbeiter häufig selbstverständlicher als für viele Sachbearbeiter in den Büros? Manche sagen, das hänge mit der unterschiedlichen Nähe zu den Chefs zusammen, diesen Autoritätsinstanzen des Betriebes. Vielleicht spricht aber auch manches für die Vermutung, dass Kollegialität nicht zuletzt in den oft unterschiedlichen Kooperationsmustern des Arbeitsprozesses verwurzelt ist. Damit ist im Übrigen noch wenig gesagt über das, was man eine solidarische Grundeinstellung in der jeweiligen Arbeitnehmergruppe nennen könnte, aber einiges spricht eben doch für die Vermutung, dass Kollegialität die kleine Schwester der Solidarität ist.

Nehmen wir eine andere Geschichte, die mir selbst in lebhafter Erinnerung geblieben ist. Sie reicht zurück in meine Zeit als Mitglied der Umbruchredaktion einer Tageszeitung in Nordrhein-Westfalen. Es ist das Jahr 1969. Damals wurden die Zeitungen noch »im Blei« hergestellt. Das brachte eine eingeschliffene Zusammenarbeit zwischen Journalisten und Technikern in der Phase der unmittelbaren Vorbereitung der täglichen Publikation (Fachjargon: »Druckvorstufe«) mit sich. Unmittelbare Kontaktpartner der Redakteure waren die Metteure. Sie bauten, nebeneinander an langen Arbeitsplatten aufgereiht, die einzelnen Zeitungsseiten zusammen, also Texte, Überschriften, Bildelemente und Anzeigen. Wie ihre Berufskollegen im Handsatz und im Maschinensatz verstanden auch sie sich als Jünger Gutenbergs. Aufgestiegen durch Zusatzqualifikationen aus dem Lehrberuf als Schriftsetzer an die Spitze ihrer Facharbeiterhierarchie, zählten sie im grafischen Gewerbe zweifellos zur »Arbeiteraristokratie«. Wer sie als Journalist in ihrem Berufsstolz verletzte, weil er sich detaillierte Anweisungskompetenzen anmaßte, kam leicht in schweres Fahrwasser. Es war für alle Beteiligten am besten, man kooperierte über die Statusgrenze hinweg ohne viele Worte und sparte sich Eitelkeiten für bessere Gelegenheiten auf. Erfahrene Journalisten hielten sich im Hintergrund, griffen bei der Seitengestaltung durch den flink und geschickt die Bleiblöcke in die Spalten platzierenden Textmetteur nur in Notfällen ein, etwa, wenn ein Artikel um zwei oder drei Zeilen zu lang war, also rasch gekürzt werden musste. Das kam selten vor. Meistens werkelten die Metteure routiniert vor sich hin, so sehr ihnen auch der Zeitdruck im Nacken sitzen mochte. Die Andruckzeiten der Rotationsmaschine für die einzelnen Ausgaben in den späten Abendstunden lagen fest, denn die Lieferwagen auf dem Hof des Druckhauses hatten oft lange Wege durch die Nacht zurückzulegen und die Züge der Deutschen Bahn, in die ebenfalls Teile der Auflage verladen wurden, verkehrten damals noch pünktlich.

An einem dieser langen Abende in unserem Druckhaus, das abseits vom Verlags- und Redaktionsgebäude auf der grünen Wiese stand, wurde ich Zeuge einer Szene, von der mir später bestätigt wurde, dass sie sich so oder so ähnlich immer mal wieder abspielte. Einer der Metteure hieß Friedhelm. Wie die meisten seiner Kollegen hatte er den größten Teil seiner Berufstätigkeit schon hinter sich. Friedhelm sprach, um es vorsichtig auszudrücken, gelegentlich gern dem Alkohol zu. Manchmal konnte er sich zu vorgerückter Stunde kaum aufrecht halten. Das war umso problematischer, als Hektik und Arbeitstempo im Lauf des Abends eher zu- als abnahmen. Der Publikationsrhythmus der Tageszeitungen ordnete sich bedauerlicherweise der biologischen Uhr der arbeitenden Menschen nicht unter. Da konnte einer wie Friedhelm, dessen Durst mit einer Flasche Bier kaum gelöscht war, schon mal ins Schwimmen geraten. An die Arbeitsplatte gelehnt, schwankte er leicht hin und her, seine schon wässrig schimmernden Augen krampfhaft auf einen imaginären Punkt fixiert. Vor ihm wartete das »Schiff« im Format der Zeitungsseite darauf, dass es der Metteur mit den Texten und Überschriften füllte. Ein guter Metteur schaffte das in wenigen Minuten mit atemberaubendem Tempo. Mir, dem ehemaligen Schriftsetzer, wollte es scheinen, als gehörte Friedhelm, dieser freundliche und sympathische Zeitgenosse, längst nicht mehr zu den Guten. Es konnte schon vorkommen, dass die letzte Seite, die für eine bestimmte Ausgabe »zusammengeschlagen« werden musste, Friedhelms Aufmerksamkeit entging.

Auf einmal zeigte sich, was eingeschliffene Kollegialität auszurichten vermochte. Wie beiläufig näherten sich von beiden Seiten zwei Arbeitskollegen der Arbeitsplatte des Säumigen. Vielleicht hatten sie schon einige Zeit vorher aus den Augenwinkeln heraus mitbekommen, dass in der Nachbargasse einer wie ein Schilfrohr im Winde schwankte, und ihr Tempo bei der Fertigstellung der eigenen Seite erhöht, um sich vorsorglich ein wenig »Luft« im Zeitplan zu verschaffen. Manchmal fing sich Friedhelm wieder, konnte seine Arbeit nach kurzem Innehalten zu Ende bringen. Heute ging es offenbar gar nicht mehr. Der eine der beiden Metteurskollegen hakte sich mit einer Hand bei Friedhelm unter, während die andere Hand so diskret wie möglich die angebrochene Pilsflasche, die in einer kleinen Nische hinter einem unzureichend schützenden Handtuch abgestellt war, außer Sichtweite schaffte. Der andere Kollege machte sich so rasch wie möglich an der Seite zu schaffen, für den Fall, dass sogleich wieder der aufgeregte Sendbote aus der Stereotypie hereinrauschte, um das noch fehlende Teilstück zur Weiterverarbeitung einzufordern (»Ist denn diese Scheißseite immer noch nicht fertig?«). Womöglich seufzte der um Standsicherheit bemühte Friedhelm ein wenig still vor sich hin, ansonsten mussten nicht viele Worte gewechselt werden. Den anderen Metteuren aus einer Gruppe von etwa einem Dutzend Kollegen konnte die Szene nicht verborgen bleiben. Einige gafften vielleicht, andere halfen auf ihre Weise mit, den Leistungseinbruch ihres außer Gefecht geratenen Mitstreiters zu vertuschen, indem sie die beiden Eingänge zur Textmettage im Auge behielten, durch die gelegentlich der Setzereimeister (»Faktor«) wie beiläufig hereingeschlendert kam, um nach dem Rechten zu sehen und stirnrunzelnd der Arbeitsmoral aufzuhelfen. Falls der hochgewachsene Abteilungsleiter plötzlich wie aus dem Boden geschossen auf der Szene erschien, musste man ihn unter irgendeinem Vorwand in ein Gespräch verwickeln und damit von seiner Kontrollneigung mindestens so lange abbringen, bis der Fertigungsrhythmus wieder im Plan lag und der angeschlagene Friedhelm so unauffällig wie möglich aufs Klo bugsiert worden war. In der von mir beobachteten Episode löste sich alles in Wohlgefallen auf.

Warum konnte sich die hier geschilderte Szene, die so gar nicht den Vorschriften einer strengen Arbeitsorganisation entspricht, wiederholt abspielen? Ich deute hier einige Aspekte jener Rahmenbedingungen an, die verdeutlichen, dass kollegiales Handeln jenseits des Erlaubten ohne bestimmte Strukturelemente nicht denkbar ist. Betrachten wir zunächst Anspruch und Wirklichkeit der Betriebshierarchie im Zusammenhang realer Machtverhältnisse. Der lang gediente Faktor der Textmettage war ja keineswegs ahnungslos. Ob er persönlich nun seinen Untergebenen, aus deren Kreis er sich emporgearbeitet hatte, mit wohlwollender Nachsicht oder despotischer Autorität gegenüberstand, lassen wir einmal dahingestellt sein. Denn unabhängig davon, wie er seine Vorgesetztenrolle interpretierte, legte ihm nüchternes Kalkül wahrscheinlich eine gewisse Großzügigkeit im Umgang mit Regelübertretungen seiner Untergebenen nahe. Die Metteure hatten bei verschiedenen Gelegenheiten unter Beweis gestellt, dass sie zu entschlossenem kollektiven Handeln fähig sind. Und auch in Tarifkonflikten konnte sich ihre Industriegewerkschaft Druck und Papier immer auf ihre Kampfkraft verlassen. Wer sich ihnen auch im Alltag in den Weg stellte, musste sich warm anziehen, denn sie hatten gelernt, als Einheit zu agieren, wenn sie herausgefordert wurden.

Etwas anderes kommt hinzu. Vor allem die alten Hasen in der Textmettage verstanden sich auf Tauschgeschäfte mit ihrem Meister. Wenn dieser gelegentlich Überstunden von den Metteuren und Maschinensetzern verlangte, weil ihm wiederum die Verlagsleitung mit dem Wunsch nach »Sonderveröffentlichungen« zur besseren Auslastung der Druckkapazitäten im Nacken saß, stellte er den Arbeitern gleichsam einen Wechsel aus, den diese bei einer anderen Gelegenheit geschickt zu präsentieren verstanden. Eine Hand wäscht die andere. Vielleicht geschah es ja nicht ganz zufällig, dass der Faktor gerade dann in seinem Glaskasten verharrte oder woanders herumschlenderte, wenn Friedhelm oder ein anderer Kollege über die Stränge der Arbeitsdisziplin zu schlagen drohte. Man musste es sich wegen einer Kleinigkeit, die die Metteure unter sich regelten, mit ihnen nicht unbedingt verscherzen. Letztlich verstehen wir die stillschweigende Vereinbarung über Statusgrenzen hinweg, die der geschilderten Szene zugrunde liegt, aber erst richtig, wenn wir uns klarmachen, dass den Metteuren ihr konkreter Arbeitserfolg nicht gleichgültig war. Die Zeitung sollte Tag für Tag pünktlich erscheinen. Das machte sie stolz, und es kam allen zugute, die daran beteiligt waren. Wenn einer von ihnen, aus welchem Grund auch immer, schuld an Fertigungsstörungen war, fühlten sie sich verantwortlich, den Schaden zu beseitigen. So kämpferisch konnten sich gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter nie gebärden, dass sie diesen Kern ihres sozialpartnerschaftlichen Produktionsverständnisses aus dem Auge verloren.

Es lohnt sich, noch ein wenig genauer den strukturellen Rahmen der Arbeitskollegialität auszuleuchten. Damit sich die Industriearbeiter, die prinzipiell einem streng getakteten Fertigungsmodus unterworfen sind, überhaupt ein wenig Luft im Arbeitsrhythmus verschaffen können, muss es der Firma, wie man so schön sagt, »gut gehen«, muss eine günstige Auftragslage überhaupt erst eine Personalausstattung ermöglichen, die das Potenzial der Arbeitskräfte nicht ständig bis an die Leistungsgrenze ausreizt. Zum damaligen Zeitpunkt, Ende der Sechzigerjahre, ging es der Druck- und Verlagsindustrie im Vergleich zu heute gut. Sie konnte sich, ganz im Unterschied zur gegenwärtigen Situation, eine gewisse Personalreserve leisten. In den verschiedenen Abteilungen standen nicht alle Leute ständig unter Dampf, auch wenn niemand Däumchen drehte. Schon deshalb konnten sich die Arbeiter kollegiales Verhalten in Ausnahmesituationen überhaupt erlauben. Etwas Wichtiges kam im Fall des hier geschilderten Unternehmens hinzu. Hervorgegangen aus dem sozialdemokratischen Presseimperium, fühlte man sich der Pflege eines guten Betriebsklimas verpflichtet. Anders als das etwa in den Häusern Springer oder Burda damals der Fall war, sollte es möglichst einvernehmlich zugehen. Sollten sie dennoch einmal von überschüssigen Machtgelüsten geplagt sein, standen den Mitgliedern der Geschäftsleitung gewerkschaftlich hoch organisierte, auch gesellschaftspolitisch bewusste Arbeiter und ihre Betriebsräte gegenüber, mit denen nicht zu spaßen war. Kurzum: Arbeitsbeziehungen, in denen sich Kollegialität als Hilfe in Notlagen behaupten konnte, fanden dort einen günstigen Nährboden. Unter anderen Bedingungen hätten sich die hilfreichen Geister womöglich gar nicht getraut, Friedhelm immer mal wieder unter die Arme zu greifen.

Halten wir noch einen Moment inne und fragen uns, ob auch ein Vorgesetzter, wäre er den Verlockungen des Alkohols erlegen wie Friedhelm, sich hätte auf tatkräftige Unterstützung verlassen können. Wahrscheinlich nicht. Man mag sich als prinzipiell betriebsloyaler Arbeitnehmer mit Vorarbeitern, Meistern oder Abteilungsleitern zwar einig wissen, wenn das gemeinsame Interesse, etwa durch Angriffe von außen, herausgefordert wird. Im Wettbewerb mit den Produkten der Konkurrenzfirmen wissen meistens alle, auf welche Seite sie gehören. Auch wenn die Betriebsfußballmannschaft zu einem wichtigen Spiel antritt, ist ihr die lautstarke Rückendeckung der Schlipsträger ebenso gewiss wie die der Arbeiter. Aber die Art, wie die Arbeitsprozesse eingerichtet sind, erinnert die Leute doch immer wieder an ihre Gruppenzugehörigkeit. So hat es den Anschein, als blockierten Rangunterschiede die natürliche Neigung zur Hilfe in Notlagen. Wo Aufstiegsehrgeiz individualistisches Verhalten aufblühen lässt, also im gehobenen Angestelltenmilieu, gedeiht ein Klima wechselseitiger Hilfsbereitschaft nicht so gut. Ist kollegiales Miteinander, das über reines Pflichtgefühl hinausgeht, auf ein Minimum von sozialer Homogenität angewiesen? Verhält es sich hier ähnlich wie bei der großen Schwester der Kollegialität, der Solidarität, die sich jedenfalls in gewerkschaftlichen Zusammenhängen häufig überhaupt erst an einem Kontrahenten oder gar Gegner entzünden kann? Es lohnt sich, diesen Gedanken später noch einmal aufzugreifen.

Warum überhaupt neigen Menschen zu wechselseitiger Hilfe, wenn sie in einem Büro oder in einer Werkhalle zusammengeschweißt sind? Sie könnten sich doch auch spinnefeind sein. Folgen wir bei der Suche nach Antworten auf diese Frage dem amerikanischen Philosophen und Soziologen Richard Sennett. Er bezeichnet Kooperation als »handwerkliche Kunst«, die eingelagert ist in eine lange Geschichte eines auf Geschicklichkeit und Vertrauen gegründeten Miteinanders im Alltag der Produktion (vgl. Sennett 2012, S. 10). In seinem Verständnis ist Kooperation eine Sache, aus der alle Beteiligten ihren Nutzen ziehen, wenn sie denn prinzipiell bereit sind, sich auf das zugrunde liegende Gesetz, sich gegenseitig zu helfen, jederzeit einzulassen. In solchen Arbeitsmodalitäten steckt viel mehr Zwischenmenschliches, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Im Unterschied zu flüchtigen Begegnungen von Fremden, die sich womöglich spontan um einen alten Menschen kümmern, der auf der Straße ins Straucheln geraten ist, nach gewährter Unterstützung aber wieder auseinanderstreben, teilen Arbeitskollegen oft eine lange Zeit gemeinsamen Wirkens in einem bestimmten Arbeitszusammenhang. Von konkreten Aufgaben aneinander gebunden, testen sie wechselseitig ihre Stärken und Schwächen, lassen sich aufeinander ein. Dabei lernen die meisten beinahe automatisch, geduldig und nachsichtig miteinander umzugehen, damit das gemeinsame Werk gelingen kann. Wenn die Kooperierenden sich »auf Augenhöhe« begegnen, weil sie ranggleiche Mitglieder einer Arbeitsgruppe sind, fällt ihnen die Zusammenarbeit leichter. Sie geschieht dann buchstäblich zwanglos. Wenn »Dienst nach Vorschrift« nicht ausreicht, um gemeinsam ein Werkstück zu fertigen, einen Bauantrag zu bearbeiten, eine Wohnung zu renovieren oder ein Schaufenster zu dekorieren, spürt der Kooperierende, wie sehr er auf das Geben und Nehmen in der Gruppe angewiesen ist, wie befriedigend es sein kann, sich gegenseitig anzuregen und zu helfen. Gelingende Zusammenarbeit setzt Richard Sennett mit Solidaritätserlebnissen gleich. Kooperation ist für ihn deshalb nicht nur ein Mittel zur Erreichung eines bestimmten Ziels, an das wir die Elle der reinen Zweckmäßigkeit anlegen. Sie ist darüber hinaus »ein Ziel an sich«, weil sie die Chance eines einvernehmlichen und persönlich wie sozial befriedigenden Miteinanders beinhaltet.1 Das aber setzt voraus, dass sich jenes immer noch weit verbreitete Gehabe von »Führungskräften«, auch dann noch auf der Einhaltung von Vorschriften zu bestehen, wenn diese von den Ausführenden als offensichtlich sinnlos erachtet werden, zu einem Auslaufmodell wird. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bekunden im Rahmen von Befragungen eine (verdächtig) hohe Arbeitszufriedenheit. Sie machen dafür nicht selten eine Atmosphäre der Kollegialität verantwortlich. Umgekehrt stoßen Soziologen immer wieder auf einen engen Zusammenhang zwischen Vorgesetztenverhalten und Betriebsklima: Wo die Führungskräfte besonders strikt darauf bestehen, dass sämtliche Betriebsregeln eingehalten werden, fehlt den Beschäftigten oft der Mut zu selbstbewusstem Handeln. Wo sie hingegen auch einmal wegsehen, wenn Leute wie Friedhelm vorübergehend aus der Spur geraten sind, fühlen sich die Arbeitnehmer wohler.

Die Muster der Zusammenarbeit im betrieblichen Arbeitsprozess können den sozialen Zusammenhalt von Gruppen stärken, wenn sie durch zweierlei geprägt sind: Verlässlichkeit und Vertrauen. Verlässlich erscheint Kooperation häufig erst dann, wenn ihr eine gewisse Routine anhaftet, wenn sie auf Dauer gestellt ist und nicht von Fall zu Fall immer wieder neu angestoßen werden muss. Erst wenn sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über längere Zeiträume mit ihren Arbeitsaufgaben anfreunden können, wenn sie nicht kurzzeitig und von Existenznöten geplagt von einer Aufgabe in die andere geworfen werden, schleifen sich Gegenseitigkeiten ein, gelingt es, ohne lange nachzudenken, Hand in Hand zu arbeiten. Sich auf sich selbst und auf andere verlassen zu können, benötigt die Muße der Eingewöhnung. Dabei geht es jedoch nicht nur und wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie darum, bestimmte Handgriffe, wiederkehrende miteinander verschränkte Abläufe einzuüben. Wichtiger noch ist es, sich auf die Interaktionspartner einstellen zu lernen, ihre Handlungsweisen mit den eigenen Vorstellungen, Neigungen und Aktionsmustern abzugleichen. Eher beiläufig suchen wir dabei fortwährend Antworten auf diese Frage: Wie weit sind im Umgang miteinander Loyalität und Fairness verbreitet? Es geht darum, nahezu intuitiv herauszufinden, ob die Einzelnen ihr Tun dem gemeinsamen Ziel unterordnen und ob sie dabei prinzipielle Gerechtigkeitsmaßstäbe beherzigen. Unsere Arbeitskollegen gelten als verlässlich, sie verdienen Vertrauen, wenn sie sich loyal und fair verhalten. Erst wenn ein soziales Klima entsteht, in dem man sich gegenseitig auf die verabredete Aufgabe aus freiwilliger Einsicht verpflichtet, können wir erwarten, dass unser Anspruch auf individuelle Wertschätzung erfüllt wird. Erst dann können Kollegialität und Solidarität im Kooperationsprozess gedeihen, erlebt das Individuum das soziale Miteinander auch als Befriedigung seiner eigenen Interessen.

Illustrieren wir diese Überlegungen mit einer kleinen Alltagsepisode. Jeder von uns hat etwas Ähnliches schon einmal erlebt. Auf seinem morgendlichen Weg zur Bushaltestelle ist der Laborangestellte mal wieder spät dran. Der nervöse Blick auf die Armbanduhr verrät ihm, dass er jetzt keine Zeit mehr zu verlieren hat, will er nicht mindestens mit hochgezogenen Augenbrauen im Betrieb empfangen werden. Aber alles Hasten nützt nichts. Kaum biegt er um die letzte Ecke, setzt sich sein Bus schon in Bewegung. Dieses Pech hat ihm immerhin eine Zwangspause von zehn Minuten bis zum folgenden Bus geschenkt. Er wendet seinen Schritt zum Zeitungskiosk. Vielleicht lohnt sich mal wieder der Kauf einer guten Zeitung. Schon trifft ihn der nächste Schlag. »Komme gleich wieder« steht in ungelenken Buchstaben auf dem Schild, das der dienstbare Geist an die verschlossene Tür geklebt hat, bevor er sich vom Ort seiner beruflichen Verpflichtungen entfernt hat. In unserem Pechvogel steigt doppelter Ärger auf. Der mag umso größer sein, je näher er den älteren Jahrgängen (»Früher war alles besser!«) steht. Wieso, fragt er sich, entfernt sich der Verkäufer ohne Angabe von Gründen von seinem Arbeitsplatz und in diesem Fall vom Dienst am Kunden? Vielleicht hat er gute Gründe, muss zum Beispiel zur Toilette, für die der Kioskbetreiber bis heute nicht gesorgt hat. Vielleicht plagt ihn ganz einfach Langeweile, weil vom breiten Strom morgendlicher »Bild«-Zeitungskäufer früherer Tage heute nur noch ein dünnes Rinnsal übriggeblieben ist. Da macht es womöglich nicht viel aus, wenn er sich ab und zu ein wenig die Beine vertritt, zumal nicht damit zu rechnen ist, dass sein kostenbewusster Arbeitgeber ihn überwachen lässt. Wer kann schon sagen, was im Kopf eines Zeitungsverkäufers vorgeht? Möglicherweise wartet der gerade selbst, auf der Suche nach einer frischen Tasse Kaffee vor dem nahe gelegenen Bäckereigeschäft darauf, dass jemand herbeieilt und dort das Schild mit der Aufschrift »Bin gleich wieder da« abnimmt.

Aber was heißt überhaupt »Komme gleich wieder«? Fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Was bedeutet »gleich« für die Angehörigen unterschiedlicher Kulturkreise? Wenn im Fernsehen während des Werbeblocks die Zeile »Gleich geht es weiter« eingeblendet wird, kann sich unser Freund in aller Ruhe noch ein Getränk aus dem Kühlschrank holen, vielleicht auch noch die Toilette aufsuchen, ohne etwas zu verpassen. Überrascht ihn dagegen sein Gruppenleiter mit dem Satz: »Du sollst gleich zum Abteilungsleiter« kommen, findet er kaum Zeit, die Krawatte zurechtzuziehen, bevor er die Treppe hochstürmt. Während unser Angestellter noch von solchen Grübeleien umgetrieben ist, biegt ein fröhlich winkender Kioskmitarbeiter, einen Schlüssel in der Hand schwenkend, um die Ecke. Doch der Bus ist schneller. Unser Mann entscheidet sich für die berufliche Pflicht und gegen seinen kleinen Beitrag zur Stärkung des maroden Zeitungsverlagswesens. Vielleicht hat er gerade noch Zeit gefunden, dem unverhofft hastigen Verkäufer eine aufmunternde Geste zuzuwerfen, bevor er im Inneren seines Linienbusses verschwindet. Immerhin hat er noch einen Sitzplatz gefunden. Er nimmt Platz mit der beruhigenden Selbstgewissheit, dass es so etwas in seiner Jugend nicht gegeben hat.

Verlässlichkeit und Vertrauen sind die zwei Seiten derselben Medaille. Sie verkörpern miteinander verschränkte Aspekte gelingender Kooperation, gewissermaßen ihr wichtiges Schmiermittel. Nur wenn sie sich aufeinander verlassen können, nicht nur in schwierigen Situationen, können Menschen gut zusammenarbeiten. Sie müssen sich nicht voller Liebe um den Hals fallen, es ist sogar möglich, dass sie einander herzlich unsympathisch sind, aber auf jeden Fall müssen sie darauf vertrauen können, dass sich jeder an die Regeln des Miteinanders hält, die geschriebenen Arbeitsnormen ebenso wie die unter der Hand herausgebildeten ungeschriebenen. Wenn einer das »Komme gleich wieder« nicht als Ausnahme für sich in Anspruch nimmt, sondern als Grundregel seines Verhaltens, wird es ihm schwerfallen, sich in die Gruppe einzufügen und damit eine Art moralischen Anspruch auf Kollegialität zu erwerben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der zeitliche Aspekt, die Dauer einer Kooperation. Eine verlässliche, vertrauensvolle Zusammenarbeit kann man nicht an- und ausknipsen wie einen Lichtschalter. Das zeigt sich häufig an fehlschlagender Teamarbeit. Wenn in einer Firma Arbeitsgruppen nach rein fachlichen Gesichtspunkten projektförmig zusammengewürfelt werden, um schnell und kreativ Probleme zu lösen, scheitern sie womöglich an dem, was Richard Sennett eine »gespielte Solidarität« nannte (Sennett 2012, S. 228). Die Gruppenmitglieder mögen mit Eifer und Sachverstand ans Werk gehen, aber was nützt das alles, wenn ihnen die Zeit genommen wird, sich zu beschnuppern, ein informelles Regelwerk ihres Zusammenwirkens zu kreieren und auszuprobieren? Wer sich durch einen diskontinuierlichen Arbeitsrhythmus angewöhnt hat, ständig auf dem Sprung zu sein, der hat es besonders schwer, sich geduldig auf andere einzustellen. Ohne das aber kann sich Kollegialität kaum entfalten. Sie verkörpert die »menschliche« Seite der Zusammenarbeit, greift über rein fachliches Miteinander hinaus.

Immer geht es in Kooperationsprozessen auch um die Frage, wer die Regeln des Zusammenwirkens aufstellt, welchen Anteil daran die Handelnden selbst haben und was geschieht, wenn sich Verhaltensmuster einschleifen, in denen ein Klima wechselseitiger Unterstützungsbereitschaft nicht gedeihen kann. Wir haben es dabei mit Autorität und Macht zu tun, mit der ungleichen Verteilung von Einflusschancen auf soziale Prozesse. Um diesen Gedanken zu vertiefen, kann uns abermals Richard Sennett helfen. Begleiten wir diesen Soziologen zurück in seine jungen Jahre, lange bevor er Architektur und Stadtplanung in den Mittelpunkt seines Forschungsinteresses rückte. Anfangs beschäftigte er sich mit der Analyse der Arbeitswelt. Hier lernte er, als empirischer Sozialforscher genau hinzuschauen, bevor er sich auf das schwierige Gelände begrifflicher Verallgemeinerungen wagte:

»In Boston fand unser Forschungsteam jedoch heraus, dass die manuellen Arbeiter in ihrer Arbeit starke informelle Bande knüpften, die sie aus ihren Nischen herausführten. Diese informellen Beziehungen bestanden aus drei Elementen, die gleichsam ein soziales Dreieck bildeten. Auf einer Seite zollten Arbeiter anständigen Vorgesetzten widerwilligen Respekt, die ihrerseits zuverlässigen Beschäftigten widerwilligen Respekt bezeugten. Auf einer zweiten Seite redeten Arbeiter untereinander offen über ihre Probleme und schirmten Kollegen, die in Schwierigkeiten waren, am Arbeitsplatz ab, ob es sich bei dem Problem nun um einen Kater oder eine Scheidung handelte. Auf der dritten Seite sprangen Beschäftigte ein und leisteten Überstunden oder übernahmen die Arbeit von Kollegen, wenn etwas in der Werkstatt zeitweilig vollkommen schief lief.« (Ebenda, S. 201f.)

Das »soziale Dreieck«, von dem der Autor hier spricht, führt die Arbeitenden aus frustrierender Isolation heraus. Man könnte auch sagen, es lädt die Zusammenarbeit mit dem Geist der Kollegialität auf. Vorgesetzte werden nicht von vornherein ausgeschlossen, aber sie müssen durch ein prinzipiell »menschliches« Verhalten unter Beweis stellen, dass sie ihre Autorität nicht bloß aus einer herausgehobenen Stellung ableiten, sondern aus dem Gespür für einen respektvollen Umgang über Ranggrenzen hinweg. Die Arbeiter bestreiten den Führungskräften nicht das Recht, Anweisungen zu geben, aber diese müssen sinnvoll und plausibel begründbar sein. So verstandene Autorität fällt nicht vom Himmel formaler Regeln, sondern muss verdient sein. Erst dann wird sie zur »anerkannten Herrschaft« (Max Weber). Jenseits des kalkulierten Kontakts zu den Vorgesetzten vergewissern sich die Arbeiter, wenn sie unter sich sind, eigener Regeln. In ihnen spielt Hilfsbereitschaft eine große Rolle. Was ich selbst mit dem »Fall Friedhelm« Ende der Sechzigerjahre erlebte, haben die Bostoner Sozialforscher vielfach angetroffen: Arbeitskollegen stellten sich schützend vor ihren alkoholkranken Kollegen, wenn der Aufseher in der Nähe war, oder hielten sogar das Montageband an, um ihm die Mitarbeit in seinem ramponierten Zustand zu ermöglichen. Sie griffen aber auch in unverhofften Notsituationen ein, wenn es geboten schien, hilflos wirkende Vorgesetzte beiseite zu schieben und das Kommando zu übernehmen. Um Unfälle, zum Beispiel plötzliche Brände in der Backstube, durch Umsicht zu vermeiden oder in ihren Folgen abzumildern, setzten die Arbeiter Befehlsketten zeitweilig außer Kraft. Sie zeigen damit bis heute, dass die »formale Organisation« des Betriebes häufig nur funktioniert, wenn sie durch einen guten Schuss informeller, eigensinniger und notfalls unerlaubter Handlungen unterfüttert wird. In solchen Situationen blamiert sich der Betrieb als »Herrschaftsverband« (Ralf Dahrendorf), denn es zeigt sich, dass mit sturem »Dienst nach Vorschrift« selten ein gutes Werk gelingt. Dem kollegialen Selbstbewusstsein dient das aber allemal. Und noch etwas gilt es zu beherzigen. Der »widerwillige Respekt«, den sich Arbeiter und Führungskräfte hier und da zollen, deutet nicht nur auf Blamagen des Autoritätsgefüges hin, sondern auch darauf, dass die hierarchische Ordnung grundsätzlich von beiden Seiten als Geschäftsgrundlage der Kooperation gebilligt wird. Nicht der (klassenkämpferisch motivierte) Dauerkonflikt, sondern die konfliktbewusste Sozialpartnerschaft charakterisiert in aller Regel den Streit der Interessen im Betrieb. Gelebte Solidarität auch in zugespitzten Konfliktsituationen, das deutet sich hier an, schließt nicht die Phantasien ein, den Gegner zu vernichten, sondern akzeptiert ihn als dauerhaften sozialen Kontrahenten. Ich komme darauf später zurück.

An dieser Stelle rufe ich eine auf Tatsachen beruhende Schilderung des Autors Günter Hillmann in Erinnerung, in der es um eine besondere Form kollegialer Kooperation geht. Sie fügt sich nahtlos ein in die Beobachtungen des Arbeitssoziologen Richard Sennett im Rahmen seiner Bostoner Erkundungen. Wir befinden uns in einer Firma des Apparatebaus, also im weitesten Sinne der Metallindustrie. In der Schweißerei wundern sich die Arbeiter, dass Halbfertigteile eines Tages von einer Zulieferfirma, einem Press- und Stanzwerk, fehlerhaft angeliefert wurden. Den Blechen fehlt ein Stanzloch. Die Schweißer reklamieren den Mangel in der Einkaufsabteilung, die sich ihrerseits mit der Zulieferfirma in Verbindung setzte. Statt geduldig, aber untätig auf das Resultat des Beschwerdevorgangs zu warten, ergriffen die Schweißer ihrerseits die Initiative und erkundigten sich bei Kollegen in der Montageabteilung, wofür das fehlende Loch zwingend benötigt wurde. Dabei stellte sich heraus, dass es ausreichte, die zu verarbeitenden Bleche an bestimmten Stellen statt mit einem Loch mit einer wenige Millimeter großen Vertiefung zu verformen. Schlosser in der Reparaturabteilung erklärten sich bereit, eine kleine Vorrichtung zu bauen, mit deren Hilfe die fehlerhaft angelieferten Bleche für die Weiterverarbeitung durch die Schweißer zugerichtet werden konnten. Einige Zeit bevor die erfolgreich reklamierten fehlerhaften Bleche durch die Anlieferung gewohnter Fertigteile im Betrieb eintrafen, hatten die Kollegen über Abteilungsgrenzen hinweg einen Ausweg aus der vorübergehenden Fertigungsverzögerung gefunden. Ein erst vor kurzem in seine Position gelangter neuer Direktor war außer sich. Er warf den zuständigen Abteilungsleitern vor, sie hätten dieser Eigenwilligkeit der jegliche Hierarchiegrenzen missachtenden Arbeiter in den Arm fallen müssen, schon um die Autorität der Führungskräfte nicht zu gefährden. Deren Hinweis, durch Phantasie und Eigeninitiative hätten die Arbeiter am Ende dem Betrieb Kosten erspart, traf bei ihm auf taube Ohren. Zu welchen Sanktionen er griff, teilt uns der Autor nicht mit, zieht stattdessen über die von ihm geschilderte Belegschaftskooperation dieses Fazit: »Was an diesem Beispiel sofort auffällt, sind die Selbstverständlichkeit, mit der die Arbeiter und technischen und kaufmännischen Spezialisten unmittelbar über die Abteilungen hinweg zusammenarbeiten, sowie die Selbstständigkeit, mit der sie die einzelnen Phasen bzw. Tätigkeiten (Koordinierung, Disposition, Ausführung, Kontrolle und Behebung der Fehler) bewältigten.« (Hillmann 1970, S. 11.) Es mag sein, dass sich im letzten halben Jahrhundert in vielen Firmen unterschiedlicher Wirtschaftszweige herumgesprochen hat, dass eine die Eigenwilligkeit der Beschäftigten erstickende formale Organisation der Betriebsabläufe weder dem wirtschaftlichen Betriebsergebnis noch der Arbeitszufriedenheit dienstbar ist, aber es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass auch heute noch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht lange nachdenken müssen, um sich Beispiele ähnlicher Diskrepanzen zwischen Befehlshierarchien und entfalteter kollegialer Arbeitskooperation in Erinnerung zu rufen.

Auch in einem ähnlich gelagerten Fall, an den ich mich aus meiner eigenen Arbeitsbiografie erinnere, ging es nicht ohne reichlich unvernünftige Folgen ab. Ich arbeitete im zweiten Lehrjahr als Schriftsetzer in einer kleinen Druckerei in Bielefeld. Zu den herausragenden Jüngern Gutenbergs, das war mir damals schon klar, würde ich sicher nie zählen. Nur sehr beschränkt kreativ, wenn es um grafische Gestaltung von Druckwerken ging und auch von heftigem Kopfzerbrechen befallen, wenn mich schwierige Aufgaben wie Tabellensatz herausforderten, konnte ich mir allerdings solide Rechtschreibkenntnisse zugute halten. Nur in Deutsch ragte ich in meinem Abschlusszeugnis der Mittelschule mit einer glatten »Zwei« aus dem Einerlei von Dreien und Vieren heraus. Gleich bei meinem ersten größeren Arbeitsauftrag winkte die Chance, wenigstens diese Kenntnisse zum Wohle des Betriebes und zu meiner eigenen Zufriedenheit unter Beweis zu stellen. Vor mir auf der Arbeitsplatte lag die Vorlage eines Prospekts eines örtlichen Industriebetriebes. Anlässlich der Hannover-Messe wollte er mit einem zwölfseitigen Druckwerk für seine Maschinen werben. Ein schwungvoller Text breitete sich über die Seiten aus. Kaum hatte ich den Winkelhaken zur Hand genommen, den Setzkasten in Positur gebracht und die Brille auf der Nase zurechtgerückt, stutzte ich über eine Textpassage. Da war von »sodaß« die Rede. Schrieb man das nicht auseinander? Ich vergewisserte mich bei einem älteren Arbeitskollegen. Er war unsicher. Ein anderer bestätigte meine Vermutung, dass der Autor des Textes einen Fehler gemacht hatte. Also setzte ich guten Gewissens »so daß«. Der Drucker, der am Ende die Auflage von 20 000 Exemplaren zu drucken hatte, wies mich auf die Diskrepanz zwischen Textvorlage und der von mir gefertigten Druckvorlage hin. Er empfahl mir, mich beim zuständigen Vorgesetzten lieber noch einmal rückzuversichern. Den konnte ich nun gar nicht leiden, und außerdem: Was sollte das bringen, wo ich mir doch völlig sicher war? Kurz nachdem der Druckauftrag ausgeliefert war, stürmte unser Seniorchef, der alte Elbracht, mit wehenden Rockschößen in die Setzerei, fixierte mich mit bösem Blick und unterrichtete mich darüber, dass der Kunde die Rechnung nicht bezahlen wollte, jedenfalls nicht im vollen Umfang, weil die Firma eigenmächtig von der Textvorlage abgewichen war. Vergeblich pochte ich, der »Stift« im zweiten Lehrjahr, mit gebrochener Stimme darauf, recht zu haben. »Recht«, belehrte mich der Alte, »hat immer der Kunde!« Das solle ich mir gefälligst ein für alle Mal hinter die Ohren schreiben. Ob er am Ende erfolgreich darauf bestehen konnte, den vollen Rechnungsbetrag kassieren zu dürfen, weiß ich nicht. Ich jedenfalls hatte meine Lektion in Sachen Belegschaftskooperation gelernt.

Unsere bisherigen Überlegungen zum Zusammenhang von Vertrauen, Verlässlichkeit und Kooperation könnten den Schluss nahelegen, wir hätten es hier mit einer Art Zwangsläufigkeit des Miteinanders im Betrieb zu tun. Doch so einfach ist die Sache nicht. Kollegialität, diese menschliche Seite der Zusammenarbeit, beruht auf Freiwilligkeit. Sie stellt sich also nicht automatisch ein. Das gilt auch dann noch, wenn sie den Akteuren als beherzigenswerte Norm grundsätzlich bewusst ist, aber nicht so gelebt wird, wie man das gern hätte. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die folgenden Zahlen aus dem DGB-Report »Gute Arbeit« aus dem Jahr 2018 (vgl. DGB 2019).

Darstellung 1: Kollegialität als Ausdruck der Betriebskultur in Prozent

Antwortvorgabe

Gar nicht

In geringem Maß

In hohem Maß

In sehr hohem Maß

Erhalten Sie Hilfe und Unterstützung von Ihren Kolleg/innen, wenn Sie diese benötigen?

3%

12%

52%

33%

Wird in Ihrem Betrieb Kollegialität gefördert?

12%

23%

45%

20%

Die Daten zeigen, dass zwar beachtliche 85% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland Kollegialität in Gestalt von Hilfe und Unterstützung in besonderen Fällen erfahren, aber lediglich 65% mit dem Niveau der Förderung dieser Tugend durch den Betrieb zufrieden sind. Wir sehen: Das entsprechende Pflichtgefühl geht von den Kolleginnen und Kollegen selbst aus, und sie sollten sich deshalb nicht unbedingt darauf verlassen, dass diese Norm im Vordergrund der Bemühungen der Führungskräfte um ein gedeihliches Betriebsklima steht. Es wäre aber sicher kurzsichtig, allein das Management für Defizite auf diesem Gebiet verantwortlich zu machen. Kollegiale Grundhaltungen können nämlich auch durch ein häufiges »Komme gleich wieder« oder gar durch ein »Ich bin dann mal weg« außer Kraft gesetzt werden.

Arbeitsverträge verpflichten uns dazu, eine bestimmte Leistung zu erbringen, sie machen uns aber nicht automatisch zu Helfern in Notlagen. Das soll die folgende Geschichte unter Beweis stellen. Sie führt uns zurück in die Arbeitsumgebung von Friedhelm, spielt aber nicht in der Welt der Metteure, sondern in der der Journalisten. Ende der Sechzigerjahre drängten wir uns gelegentlich zu fünft auf dem Weg von der Redaktion zum Druckhaus in den frühen Abendstunden in einem VW Käfer zusammen. Je näher wir unserem Einsatzort kamen, desto häufiger wandten sich unsere Gespräche vom Wehklagen über die Ungerechtigkeit, die den Kollegen der Anzeigenabteilung gestattete, in großvolumigeren Fahrzeugen durch die Gegend zu kutschieren, den wartenden Arbeitsaufgaben zu. Wie immer hatten wir in der Redaktion gut vorgearbeitet. Mit den Layouts für sämtliche Druckseiten der nächsten Ausgabe unserer Regionalzeitung in der Mappe hofften wir auf einen halbwegs entspannten zweiten Teil unseres Tagespensums. Hand in Hand mit den Textmetteuren hatten wir darauf zu achten, dass die Seitenvorlagen »in Blei« umgesetzt wurden.

Herbert, der Schweigsame, gehörte unter uns zu den Älteren. Er strahlte eine stille Fröhlichkeit aus. Das konnte aber täuschen. Sofern die verschiedenen Redaktionen unseres weitverzweigten Verbreitungsgebiets ihre Seiten ordentlich berechnet hatten, beließen es die Metteure beim notorischen Grummeln über die »Herren Journalisten«, die kaum jemals in der Lage seien, bei der Seitengestaltung auf Papier »eins und eins zusammenzuzählen«. Wenn das Layout in manchen Fällen jedoch hinten und vorne nicht stimmte, reichte es nicht, dass wir Redakteure den Kollegen von der Technik nur über die Schulter schauten. Jetzt musste improvisiert, mussten Texte verlängert oder gekürzt werden, deren Entstehungszusammenhang wir selten kannten. Meistens lief alles reibungslos. Ein Auge auf die Seitenvorlage, das andere über die Schulter des Metteurs auf dessen »Schiff« gerichtet, beschränkten wir uns als Journalisten, sofern wir nicht von einer Art Anweisungslust überwältigt waren, darauf, die alten Fuhrleute der Schriftsetzerei vor sich hinwerkeln zu lassen. Dann blieb auch Zeit für lockere Unterhaltungen. Der Metteur Günter und ich waren eine Art eingespieltes Team. Wann immer uns der Zufall des Dienstplans an einer bestimmten Arbeitsplatte zusammenführte und die Arbeit ruhig vor sich hinfloss, blieb Zeit für eine kleine Unterhaltung über das, was es im Fußball so an Neuigkeiten gab. An eine Szene Anfang der Siebzigerjahre erinnere ich mich besonders gern. Unser Verein, dem wir uns gemeinsam schon seit Jahren leidenschaftlich verbunden wussten, wurde zum Punktspiel auf der Bielefelder »Alm« erwartet. Damit es auch jeder der Umstehenden hören konnte, posaunte Günter los: »Bereits am Ende der ersten Halbzeit, wenn die Königsblauen das Feld verlassen haben, sieht das Tor von Arminia Bielefeld aus wie eine Frittenbude nach dem Sturm.« In den Nachbargassen gingen die Köpfe der zahlreichen Fans des DSC Arminia hoch. Einige suchten noch nach einer entsprechenden Antwort, da hatte ich schon nachgelegt: »Und drei Tore macht Stan Libuda in der zweiten Halbzeit allein mit dem Knie!« Stimmengewirr, Empörung, wegwerfende Handbewegungen.

Herbert, der Kunstsinnige, schmunzelte inmitten solcher Turbulenzen in sich gekehrt vor sich hin. Von dem, worüber da gerade gefrozzelt wurde, verstand er nun rein gar nichts. Aber das tat seiner sympathischen Grundhaltung keinen Abbruch. Er mochte die Metteure mehr als seine Journalistenkollegen. Das lag vielleicht ein wenig auch an seiner beruflichen Geschichte. Als Freund des Theaters und anderer schöner Künste hätte er es gern im Anschluss an bittere Jahre in einer Lokalredaktion an der Peripherie unseres Verbreitungsgebiets (Reportagen über Flügelzuchtvereine, Vereinsjubiläen etc.) zu einer Stelle im Feuilleton gebracht. Dazu war es aber nicht gekommen, warum auch immer. Nun drohte er schon einige Jahre lang fernab von Kulturberichterstattung zu versauern. Mit einem so beiläufig wie möglich herausgequetschten »Komme gleich wieder« oder »Bin sofort wieder da« stahl sich Herbert von Zeit zu Zeit aus der Textmettage davon. Verstohlene, aber wissende Blicke folgten ihm. Manche Kollegen aus der Technik wussten zwar nicht genau, wohin es ihn trieb, ahnten jedoch, was er vorhatte. Herbert plagte das gleiche Problem wie Friedhelm. Nicht eine schwache Blase, wohl aber stechender Durst trieb den Eiligen immer mal wieder in Richtung unserer kleinen Redaktionsdependance im ersten Stock. Zur Arbeit brauchten wir den kleinen Raum eigentlich so gut wie gar nicht. Hier hängten wir unseren Mantel auf und vertrieben uns auch schon mal die Zeit im Fall unvorhersehbarer Produktionsstockungen mit Kartenspiel. Der Schreibtisch enthielt an beiden Seiten Rollfächer. Wenn ich mich recht erinnere, lagerten wir auf der linken Seite Scheren, Klebstoff und Layoutbögen für alle Fälle. Die rechte Seite diente Herbert als Depot für seinen Vorrat an kleinen Magenbitter-Flaschen. Gelegentlich nahm er den einen oder anderen Underberg zu sich und eilte frisch gestärkt an die Arbeitsplatte zurück. Vielleicht wurde seine Zunge im Verlauf des Abends schwer, aber ich kann mich nicht erinnern, ihn heftig schwanken gesehen zu haben. Kollegiale Hilfe hätte er hin und wieder aber schon gebraucht, denn leider zeichnete er manche Seiten als druckfertig ab, die es bei sorgfältigerer Begutachtung nicht verdient hatten. Von Zeit zu Zeit zitierte ihn der Leiter unserer Redaktion am nächsten Tag zu sich. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund, was wir alle als Zeichen bedrohlicher Stimmungsumschwünge zu deuten gelernt hatten. Als wenn es ihn von oben bis unten quälte, verzog er das Gesicht. In seiner großflächigen linken Hand hielt er eine der aufgeschlagenen Ausgaben des Blattes vom Vortag, während er mit der rechten Hand einmal kräftig auf eine der beiden Seiten schlug: »Kannst du mir das einmal erklären, Herbert?« Der Gemaßregelte räumte ein, eine Dublette übersehen zu haben, also die Platzierung desselben Artikels einmal am Kopf und einmal am Fuß der Seite.

Während Friedhelm in seinen schwächsten Arbeitsstunden beidseitig abgestützt wurde, stand Herbert niemand zur Seite. Vielleicht wollte er sich und den anderen seine Schwäche nicht eingestehen. Einmal glaubte ich zu sehen, wie er ein zögerliches Angebot mit bestimmter Geste zurückwies. Wahrscheinlich aber drängte es seine Journalistenkollegen auch nicht zur kollegialen Hilfe. Niemand hatte persönlich etwas gegen Herbert, aber es war einfach in unseren Kreisen nicht üblich, einander während der Arbeit unter die Arme zu greifen. Tageszeitungsjournalismus, wie ich ihn erlebt habe, war Einzelarbeit. Jeder glaubte, allein besser zurechtzukommen als im Zusammenwirken mit anderen. Schon die gelegentlich unerlässliche Kooperation mit einem der Fotografen war manchen zu viel. Und nicht nur das. Die meisten wollten auch mit sich, dem Telefon und der Schreibmaschine am liebsten allein sein. Vor allem die Jüngeren beflügelte zudem ihr Aufstiegsehrgeiz. Sie führten sorgfältig unter Verschluss gehaltene Mappen, in denen sie besonders gut gelungene »Stücke« aufbewahrten, die ihnen als Qualitätsnachweise auf dem Arbeitsmarkt noch einmal dienlich sein sollten. So locker der Umgangston unter uns war, so sehr wohl auch der alte sozialdemokratische Geist, der hin und wieder noch in den Redaktionsstuben wehte, in diesem Zeitungshaus hemmungslose Formen des Individualismus im Zaum zu halten vermochte, war doch stillschweigend klar, dass nicht Kollegialität mit ihrer Disposition zu grundsätzlicher Hilfsbereitschaft, sondern Konkurrenzmentalität den Umgang miteinander ausmachte.

Die folgende Begebenheit mag das unterstreichen. Ein Mitglied der Verlagsleitung hatte die Redaktion zu einer außerplanmäßigen Besprechung zusammengerufen. Gerade erst von einer USA-Reise des deutschen Zeitungsverlegerverbandes zurückgekehrt, schwärmte er uns von der segensreichen Einrichtung der amerikanischen »newsrooms« vor. Bei der »Washington Post« und der »New York Times« habe er sich mit eigenen Augen davon überzeugen können, wie positiv sich die Anordnung der Redakteursschreibtische in einem Großraumbüro nicht nur auf die ressortübergreifende Zusammenarbeit der Journalisten zum Wohle der Zeitung auswirkte, sondern auch das Betriebsklima beflügelte. »Was halten Sie davon, wenn wir hier in der Zentralredaktion die Wände zwischen den Büros einreißen und unserer Arbeit dadurch neue Impulse geben?« fragte der Euphorisierte. Lähmendes Schweigen breitete sich aus, das später, als wir alle wieder in unsere Einzelbüros strebten, auf den Fluren erst hinter vorgehaltener Hand, dann immer offener von heftigen Vorwürfen abgelöst wurde. Vom Tod des kreativen Journalismus war die Rede, und einer von uns Jungen, der es später zum Professor für Theologie bringen sollte, brachte mit spitzer Stimme heraus: »Wenn einer geistig arbeitet, muss er die Tür hinter sich zumachen können, sonst wird das nichts.« Der ganze Aufruhr erstickte im Verbalen. Wenige Jahre später, ich hatte dem Journalismus längst den Rücken gekehrt, fand ich meine ehemaligen Kollegen in ihrem durch spanische Wände nur unzureichend aufgeteilten Großraumbüro vor. Nur die Größe der Zimmergewächse, die sie als Schutz ihrer journalistischen Privatsphäre zur Unterstützung der Abgrenzungsbestrebungen in großen Kübeln aufgestellt hatten, zeugte vom Widerstandsgeist dieses einen wilden Tages. Mit einem Wort: In dieser sozialen Umgebung konnte Kollegialität nicht aus dem Geist der Kooperation wachsen.

Es kommt etwas hinzu, was ich hier nur andeuten will. Über die Grenzen ihrer Berufsgruppen hinweg kooperierten in unserem Druckhaus zwei Gruppen, die in ihren jeweiligen sozialen Horizonten Ausnahmen bildeten, die einander entgegengesetzt waren. Während die Textmetteure in der Prestigeskala der Drucktechniker die höchsten Ränge verkörperten, sich selbst als die Krone des Handwerks verstanden, verhielt es sich mit den Umbruchredakteuren genau umgekehrt. Im Journalismus genießt hohes Ansehen, wen sie eine »Edelfeder« nennen. Bewundernde und wohl auch eifersüchtige Blicke zieht derjenige auf sich, dem mehr oder weniger neidvoll zuzugestehen ist, ein bewundernswerter Stilist zu sein. In der Umbruchredaktion aber, an der Nahtstelle zur technischen Weiterverarbeitung der Texte, wurde überhaupt nicht geschrieben, wenn man einmal von dieser oder jener Überschrift absieht, die wir im Eifer des Gefechts zu improvisieren hatten, weil die von einer mutmaßlichen »Edelfeder« gelieferte Zeile nicht in das Spaltenformat passen wollte. Wer hier gelandet war, mochte sich, sofern ihn je beruflicher Eifer umgetrieben hatte, wie in einem Strafbataillon fühlen. Wenn aber Absteiger auf Aufsteiger, Etablierte auf Gescheiterte stoßen, wie soll sich dann über die sozialen Barrieren hinweg ein Klima einvernehmlicher Wechselseitigkeit, eine kollegiale Grundstimmung also wirklich durchsetzen können? Kommunikation »auf Augenhöhe« gelingt umso eher, je gleichrangiger sich die Akteure begegnen. Wenn jedoch Anweisungsbefugte (die Umbruchredakteure) auf Anweisungsunterworfene (die Textmetteure) treffen, wie soll sich daraus kollegiales Miteinander entwickeln?

Nun wäre es allerdings unredlich, den Arbeitern im Blaumann jene Kollegialität pauschal zu bescheinigen, die dem einfügsameren Schlipsträger wegen seiner häufig gehobeneren sozialen Stellung eher fremd scheint. Die Sache ist verwickelter.

Mir kommt eine Szene in den Sinn, die mich auf fast schon brutale Weise lehrte, dass man sich auf kollegiale Hilfsbereitschaft unter Arbeitern keineswegs blind verlassen kann. Unter Umständen muss man sie sich buchstäblich verdienen. Im Herbst 1962, ein gutes halbes Jahr nach dem Abschluss meiner Berufsausbildung als Schriftsetzer, betrat ich frühmorgens mit zittrigen Knien zum ersten Mal in meinem Leben die Geschäftsräume einer mittelgroßen Druckerei in meiner Heimatstadt Bielefeld. Über dem Eingang begrüßte mich das selbstbewusste Motto des Firmengründers: »Hauruck – Kramer-Druck!« Hier also fand ich meine neue Anstellung als Gehilfe. Das mulmige Gefühl hatte gute Gründe. Eher schlecht ausgebildet, ohne berufliche Erfahrung und auch ohne besondere Leidenschaft für die Sache der Jünger Gutenbergs, hatte ich zu Hause das Pausenbrot, die Flasche Milch, den Setzerkittel und das Arbeitsmaterial (Pinzette, Typometer, Winkelhaken und Aale) in die lädierte Aktentasche gepackt und war losgezogen. Wer wechselt schon gern in eine fremde Umgebung, noch dazu, wenn er sich von ihr nicht unbedingt den Aufbruch zu neuen Ufern verspricht? Allein das unangenehme Empfinden, den fachlichen Herausforderungen vielleicht gar nicht gewachsen zu sein, konnte den Elan schon lähmen.