Konterrevolution - Jan Zielonka - E-Book

Konterrevolution E-Book

Jan Zielonka

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Beschreibung

In vielen europäischen Ländern sind rechte Bewegungen im Aufwind. Oder mit den Worten Jan Zielonkas: Eine Konterrevolution ist in Gang gekommen. Im Jahr 1990 sah das noch ganz anders aus. Der Eiserne Vorhang war gefallen und Zielonkas Lehrer Ralf Dahrendorf begrüßte eine Revolution in Europa; es herrschten Euphorie und Aufbruchsstimmung. Mittlerweile liegt die Europäische Union in Scherben, weil die politischen Eliten marktradikalen Ideen nachgelaufen sind und die liberale Demokratie verraten haben. Zielonka unterzieht die Entwicklungen einer unerbittlichen Analyse und formuliert ein starkes Plädoyer für eine offene Gesellschaft und eine Neuerfindung Europas. "Zielonkas Buch spitzt eine Debatte zu." FAZ

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Konterrevolution

Der Rückzug des liberalen Europa

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

In vielen europäischen Ländern sind rechte Bewegungen im Aufwind. Oder mit den Worten Jan Zielonkas: Eine Konterrevolution ist in Gang gekommen. Im Jahr 1990 sah das noch ganz anders aus. Der Eiserne Vorhang war gefallen und Zielonkas Lehrer Ralf Dahrendorf begrüßte eine Revolution in Europa; es herrschten Euphorie und Aufbruchsstimmung.

Mittlerweile liegt die Europäische Union in Scherben, weil die politischen Eliten marktradikalen Ideen nachgelaufen sind und die liberale Demokratie verraten haben. Zielonka unterzieht die Entwicklungen einer unerbittlichen Analyse und formuliert ein starkes Plädoyer für eine offene Gesellschaft und eine Neuerfindung Europas.

»Zielonkas Buch spitzt eine Debatte zu.« FAZ

Jan Zielonka, 1955 in Polen geboren, ist Professor für Europäische Politik und Ralf Dahrendorf Fellow an der Oxford University.

Jan Zielonka

Inhalt

Prolog

Kapitel 1Von der Revolution zur Konterrevolution

Die Bedeutung von Wandel

Streitfragen

Die konterrevolutionären Rebellen

Prioritäten erkennen

Kapitel 2Warum sie Liberale hassen

Machtideologie

Postwahrheit

Verloren im Universum

Wozu bin ich gut?

Kapitel 3Demokratische Malaise

Dysfunktionale Repräsentation

Liberale Oligarchie

Externe Spieler mit Vetorecht

Wie stärkt man die Macht der Bürger?

Kapitel 4Sozialismus für die Reichen

Von Krise zu Krise

Neoliberale Revolution

Gekaufte Zeit

Die Eine-Milliarde-Bitcoin-Frage

Kapitel 5Geopolitik der Angst

Explosive Nachbarschaft

Dominantes Deutschland und starrköpfiges Russland

Keine Ordnung, sondern Durcheinander

Kapitel 6Barbaren vor den Toren

Flüchtlingskrise

Fakten und Fiktion

Pragmatische gegen moralische Positionen

Kapitel 7Aufstieg und Niedergang der Europäischen Union

Liberale Wurzeln

Sackgasse

Das Brexit-Dilemma

Konsolidieren oder Neuerfinden

Kapitel 8Blick in die Zukunft

Eine Ausrichtung

Eine offene Gesellschaft für das 21. Jahrhundert

Vorstellungskraft und Experimentierfreude

Jenseits parlamentarischer Repräsentation

Strategie und Handlungsfähigkeit

Der Neuanfang

Danksagung

Anmerkungen

Prolog

1. Von der Revolution zur Konterrevolution

2. Warum sie Liberale hassen

3. Demokratische Malaise

4. Sozialismus für die Reichen

5. Geopolitik der Angst

6. Barbaren vor den Toren

7. Aufstieg und Niedergang der EU

8. Blick in die Zukunft

Prolog

Einige Monate nach dem Fall der Berliner Mauer schrieb Ralf Dahrendorf ein Buch nach dem Vorbild von Edmund Burkes Schrift Betrachtungen über die Französische Revolution.1 Ebenso wie Burke entschloss er sich, seine Analyse in Form eines Briefes abzufassen, den er an einen Herrn in Warschau richtete.2 Darin wollte er die außerordentlichen Ereignisse erklären, die in Europa vor sich gingen. Dahrendorf teilte nicht Burkes liberalen Konservatismus und sein Buch liest sich nicht wie Burkes politisches Pamphlet. Vielmehr versuchte er, in seinem Arbeitszimmer im St Antonyʼs College in Oxford ruhig über die Folgen der turbulenten Zeit um 1989 nachzudenken. Er sah in Osteuropa eine liberale Revolution entstehen und wollte sowohl die sich dadurch eröffnenden Chancen als auch die auf dem Weg liegenden Fallstricke ausmachen.

Mein Buch hat die Form eines Briefes an meinen verstorbenen deutschen Mentor Ralf Dahrendorf. Es folgt seiner Linie insofern, als es über die Auswirkungen der ebenso turbulenten Zeiten drei Jahrzehnte später nachzudenken versucht. Ich sehe in Europa eine illiberale Konterrevolution in Gang kommen und möchte deren Wurzeln und Weiterungen verstehen. Zerfällt Europa? Können offene Gesellschaften überleben? Wie lässt sich die Wirtschaftskrise überwinden? Wird Europa sich wieder sicher fühlen?

Obwohl Dahrendorfs Buch und meines im gleichen Geiste und am gleichen Ort geschrieben wurden, sind sie doch völlig verschieden. Ich mag zwar den Titel Ralf Dahrendorf Professorial Fellow tragen, bin aber natürlich nicht er. Er wuchs im nationalsozialistischen Deutschland auf, ich im kommunistischen Polen. Als Erwachsener erlebte er Staaten, die Sozialsysteme aufbauten, Parlamente, die Märkte regulierten, und eine Presse, die der entscheidende Ort des demokratischen Diskurses war. Dagegen erlebte ich als Erwachsener Staaten, die Sozialsysteme abbauten, Parlamente, die Märkte deregulierten, und das Internet, das zum entscheidenden Ort des demokratischen Diskurses wurde. Dahrendorf war Mitglied des politischen Establishments (»wenn auch ein eigenwilliges«)3: parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt, britischer Lord und Kommissar der Europäischen Gemeinschaft. Auch ich lebte in verschiedenen Ländern, blieb aber eine Art »intellektueller Provokateur« ohne politische Bindungen oder Ämter.4

Vor allem aber befassen sich unsere Bücher mit entgegengesetzten Prozessen. Sein Buch behandelt die Revolution, die Grenzen für Menschen, Ideen und Handel öffnete; die Schaffung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, die Überwindung der Geister des Westfälischen Friedens in zwischenstaatlichen Beziehungen, mein Buch behandelt dagegen die Konterrevolution, die das alles zerstört. In seinem Buch geht es um die Ausweitung des liberalen Projekts auf Osteuropa, in meinem um den Rückzug dieses Projekts unter dem Druck antiliberaler Aufrührer auf dem gesamten Kontinent.

Dies ist jedoch kein Buch über Populismus, sondern über Liberalismus. Populismus ist in liberalen Kreisen zu einem beliebten Thema avanciert und niemand hat populistische Irreführungen und Gefahren je verlässlicher aufgedeckt als liberale Autoren. Aber Liberale haben sich im Fingerzeigen auf andere als besser erwiesen als in der Selbstreflexion. Sie verwenden mehr Zeit darauf, den Aufstieg des Populismus als den Niedergang des Liberalismus zu erklären. Sie weigern sich, in den Spiegel zu schauen und ihre eigenen Mängel zu erkennen, die zur Populismuswelle beigetragen haben. Mein Buch möchte dieses Ungleichgewicht beheben: Es ist die selbstkritische Schrift eines lebenslangen Liberalen.

Als Dahrendorf sein Buch schrieb, herrschte in Europa ein großes Durcheinander, aber die Unsicherheit beschränkte sich vornehmlich auf den Osten, wo das kommunistische System zu bröckeln begonnen hatte. Heute ist ganz Europa durcheinander, da das liberale System nicht nur in Warschau und Budapest, sondern auch in London, Amsterdam, Madrid, Rom, Athen und Paris zu bröckeln beginnt. Die europäischen Bürger sind verunsichert und wütend. Ihre politischen Führungskräfte wirken inkompetent und unehrlich. Ihre Unternehmer machen einen hektischen und verzweifelten Eindruck. Politische Gewalt nimmt zu, hauptsächlich, aber nicht nur aufgrund von Terrorismus. Wie ist es möglich, dass ein friedlicher, reicher und integrierter Kontinent zerfällt? Warum machten sich die scheinbar pragmatischen Europäer auf eine Reise ins Unbekannte unter populistischem Banner? Warum ist Europas Wirtschaftsgovernance weder gerecht noch effektiv? Wer oder was trägt daran die Schuld? Wie sollen wir den gegenwärtigen Tumult überstehen? Und vor allem, wie lässt sich die Pendelbewegung der Geschichte umkehren? Mit diesen Fragen werde ich mich hier befassen.

Mein Brief legt nahe, dass Europa und sein liberales Projekt neu erfunden und geschaffen werden müssen. Es gibt keinen einfachen Weg zurück. Europa ist es nicht gelungen, sich auf enorme geopolitische, wirtschaftliche und technologische Veränderungen einzustellen, die in den letzten drei Jahrzehnten über den Kontinent hinweggefegt sind. Europäische Demokratie-, Kapitalismus- und Integrationsmodelle befinden sich nicht in Einklang mit neuen komplexen Netzwerken von Städten, Bankern, Terroristen oder Migranten. Liberale Werte, die Europa über viele Jahrzehnte hinweg zur Blüte verholfen haben, sind verraten worden. Die Eskalation von Emotionen, Mythen und gewöhnlichen Lügen lässt wenig Raum für Vernunft, Beratungen und Einigung.

Daher steht den Europäern ein weiteres »Tal der Tränen« bevor, denn ich glaube nicht, dass Bundeskanzlerin Merkel oder Präsident Macron Europa im Alleingang aus dem gegenwärtigen Dilemma führen können. Der Liberalismus mag zwar im Niedergang begriffen sein, aber er ist noch nicht am Ende. Die neoliberalen Abwege haben viel Schaden angerichtet, es besteht jedoch kein Grund, einige liberale Grundüberzeugungen aufzugeben: Rationalität, Freiheit, Individualität, kontrollierte Macht und Fortschritt. Die Konterrevolutionäre haben viele Gewinne erzielt, indem sie die Schwächen der EU, der liberalen Demokratie und des freien Marktes ausgeschlachtet haben, aber ihnen fehlt ein plausibles Programm für eine Erholung und Erneuerung.

In der Geschichte Europas gibt es viele dunkle Kapitel, aber auch glanzvolle, die von einer bemerkenswerten Fähigkeit zur intellektuellen Reflexion, öffentlichen Beratung und institutionellen Erneuerung zeugen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich das gegenwärtige europäische Dilemma durchaus in eine wunderbare Renaissance wenden ließe. Allerdings bedarf es dazu eines ernsthaften Nachdenkens darüber, was schiefgegangen ist. Dieser Brief versucht diese Überlegungen unvoreingenommen und furchtlos anzustellen.

Ich bin Politikwissenschaftler, kein Philosoph oder Historiker. Ich versuche zu verstehen, wie bestimmte politische Ideen die Strategien von Politikern und Unternehmern prägen. Typologien und die Entwicklung verschiedener liberaler Strömungen werden besser andernorts analysiert. Anders als die meisten Historiker schaue ich zurück, um die Zukunft zu verstehen, wenn schon nicht vorherzusehen. Anhand verschiedener neuer Merkmale der Demokratie, der Wirtschaft und der Kommunikation, die ich aufzeige, versuche ich, ein neues liberales Projekt für einen Kontinent vorzuschlagen, der sich nicht nur durch das konterrevolutionäre »Erdbeben«, sondern auch durch allmähliche technologische, gesellschaftliche und ökologische Prozesse vor Herausforderungen gestellt sieht. In diesem Brief geht es teils um Moderne, Konnektivität und Digitalisierung. Wie lassen sich Staaten, Städte, Regionen und internationale Organisationen dazu bringen, in einer Umgebung ständig wachsender wechselseitiger Abhängigkeit besser zu funktionieren? Wie kann man Transparenz, Verantwortlichkeit und Gouvernementalität in einem Europa mit »unscharfen« Grenzen stärken? Wie soll man Bürger vor Gewalt, Ausbeutung und Klimawandel schützen? Wie lässt sich die Politik der Angst durch die Politik der Hoffnung ersetzen? Zuweilen mag ich in diesem Brief übertrieben düster klingen, aber ich glaube an ein gutes Ende für Europa und sogar für Liberale.

Kapitel 1Von der Revolution zur Konterrevolution

Lieber Ralf,

einige Stunden, nachdem das Ergebnis des Brexit-Referendums bekannt gegeben wurde, versammelten sich Studierende und Lehrkräfte deines St Antonyʼs College im European Studies Centre. Die meisten der Anwesenden, eine recht internationale Schar, waren deprimiert, manche hatten sogar Tränen in den Augen. Sie konnten nicht fassen, dass die Mehrheit der britischen Wähler für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hatte. Sie konnten nicht begreifen, warum ein Berg rationaler Argumente für den Verbleib in der Union auf taube Ohren gestoßen war. Wieso wurden umfangreiche statistische Belege für die Kosten des EU-Austritts ignoriert? Wie konnten die scheinbar doch so pragmatischen Briten sich weigern, den Akademikern, Journalisten, Experten zu vertrauen? Und warum hatten dubiose Politiker wie Nigel Farage, Andrea Leadsom und Michael Grove die Oberhand über die Sieger der letzten Parlamentswahlen, David Cameron und George Osborn, gewonnen? Die meisten dieser Fragen blieben unbeantwortet.

Kurz vor dem Brexit-Referendum war ich in Italien, wo die Fünf-Sterne-Bewegung unter der Führung des Comedian Beppe Grillo bei den Kommunalwahlen gerade den Bürgermeisterposten in Rom und Turin errungen hatte. In Rom warf die Fünf-Sterne-Bewegung der sozialdemokratischen Verwaltung Vetternwirtschaft, Inkompetenz und Korruption vor. Die Wahlergebnisse waren ein unerwarteter Schlag für den Vorsitzenden der Partito Democratico, Premierminister Matteo Renzi. Grillo erklärte den verblüfften italienischen Kommentatoren rundheraus: »Sie sind unfähig, die Geburt und den Aufstieg meiner Bewegung zu begreifen, weil Sie alles in Ihre eigene Sprache übersetzen. Sie sind schlichtweg von der Realität abgeschnitten.«1 Einige Monate später trat Matteo Renzi als Ministerpräsident zurück, nachdem er beim Referendum keine Mehrheit für seine Verfassungsreform hatte gewinnen können.

Nach dem Brexit-Referendum flog ich nach Polen, wo die Oppositionsparteien den Gewinnern der Wahlen im vorangegangenen Jahr vorwarfen, einen Verfassungscoup zu inszenieren, die Justiz lahmzulegen und die öffentlichen Medien von Kritikern zu säubern. »Ich bin kein Diktator«, erklärte Jarosław Kaczyński der Tageszeitung Rzeczpospolita. »Polen ist eine musterhafte Demokratie und eine Insel der Freiheit in einer Welt, in der Freiheit selten ist.«2

Was geht da vor? Wer hat recht, wer unrecht? Wie etabliert man Wahrheit in dieser Ära der Postwahrheit? Sind die europäischen Wähler verrückt geworden? Sind Nigel Farage, Beppe Grillo und Jarosław Kaczyński Propheten oder Scharlatane? Haben diese oben erwähnten politischen Erfahrungen etwas gemeinsam? Zeigen sie eine neue Entwicklung der europäischen Politik auf, und wenn ja, wie benennen wir sie?3 Wir leben eindeutig in turbulenten Zeiten mit ungewissem Ausgang. Seit Langem bestehende Annahmen gelten nicht mehr. Symbolpolitik ist an die Stelle von Realpolitik getreten. Gegenwärtig scheint alles möglich. Und doch müssen wir versuchen, die Geschichte zu begreifen, die mit einer Kraft und Geschwindigkeit über Europa rollt, wie wir sie nicht erlebt haben, seit du vor annähernd dreißig Jahren deine Betrachtungen über die Revolution in Europa geschrieben hast.

Lass mich auf deine Befürchtungen zurückkommen und die gegenwärtigen Entwicklungen in den Kontext der von dir untersuchten Revolution von 1989 einordnen. Ich tue dies, weil ich glaube, dass wir einen konzertierten Versuch erleben, das nach dem Fall der Berliner Mauer geschaffene System abzuschaffen. Wir erleben eine Konterrevolution.

Was am 23. Juni 2016 in Großbritannien passierte, ist nur eine von vielen Episoden, die den Aufstieg einer starken Bewegung ankündigen – einer Bewegung, die darauf abzielt, das Narrativ und die Ordnung zu zerstören, die seit 1989 auf dem gesamten Kontinent herrschen: liberale Demokratie und neoliberale Wirtschaft, Migration und eine multikulturelle Gesellschaft, historische »Wahrheiten« und politische Korrektheit, moderate politische Parteien und Mainstream-Medien, kulturelle Toleranz und religiöse Neutralität. Wie die angeführten Beispiele Italien, Großbritannien und Polen zeigen, gibt es lokale Varianten dieser Bewegung, aber ihr gemeinsamer Nenner ist die Ablehnung jener Personen und Institutionen, die Europa in den vergangenen drei Jahrzehnten regiert haben. Zudem sollten wir uns nichts vormachen, indem wir auf die Wahlergebnisse in den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien von 2017 verweisen. Mark Rutte, Emmanuel Macron und Theresa May haben einen Teil der konterrevolutionären Rhetorik übernommen, um Stimmen zu gewinnen. Rutte geißelte Migranten, Macron drosch auf traditionelle Parteien ein und May befürwortete einen harten Brexit. Kann der Liberalismus mit so vielen illiberalen Ornamenten überleben? Sollten Liberale sich freuen, weil »gemäßigte« Populisten die Oberhand über harte Populisten gewonnen haben? Selbst im reichen und stabilen Deutschland zog die rechtsnationalistische Alternative für Deutschland (AfD) nach den Wahlen 2017 mit 94 Sitzen in den Bundestag ein. Angela Merkel führt zwar weiterhin die Regierung, aber die CDU/CSU und die SPD erlitten eine historische Wahlniederlage.

Wir sollten auch den größeren geopolitischen Kontext im Blick behalten. Illiberale Politiker regieren mit dem Segen der Wähler in Europas größten Nachbarstaaten, Türkei und Russland. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat ebenfalls schwerwiegende Auswirkungen auf den alten Kontinent. Die Vereinigten Staaten mögen zwar durch den Atlantik von Europa getrennt sein, sind aber dennoch eine im Grunde europäische Macht; in Europa wird keine Entscheidung getroffen, ohne Amerika im Blick zu haben. Donald Trump redet wie viele europäische Konterrevolutionäre und während seines Präsidentschaftswahlkampfs erhielt er öffentliche Unterstützung von so prominenten europäischen Aufrührern wie Marine Le Pen und Nigel Farage.

Die Bedeutung von Wandel

Warum handelt es sich hier um eine Konterrevolution? In Europa werden weder Straßenbarrikaden gebaut noch Sitzstreiks in Fabriken abgehalten. Es gibt keine bestimmte Ideologie, die Protestbewegungen inspirieren oder einen würde. Es ist zwar viel von Antipolitik die Rede, aber die führenden Köpfe des Protests gründen Parteien und versuchen, Wahlen zu gewinnen. Es wäre allerdings falsch, anzunehmen, zu Revolution und Konterrevolution gehörten zwangsläufig Massenmobilisierung und an einem bestimmten Datum kulminierende Gewalt. Der Kommunismus ist mit nur wenig oder ganz ohne Gewalteinsatz zusammengebrochen. Polens Solidarność-Bewegung konnte 1980 Massenstreiks organisieren, nicht aber zehn Jahre später. Der Wandel erfolgte hauptsächlich durch Bündnisse zwischen alten und neuen Eliten und durch Wahlen. Und doch lässt sich schwer leugnen, dass dieser relativ friedliche Prozess Europa so weit verändert hat, dass es kaum wiederzuerkennen ist. Es war zwar nicht das Ende der Geschichte, aber nach und nach wurde die alte Ordnung durch eine neue ersetzt. Manche der alten Kommunisten konnten sich an der Macht halten, allerdings nur, nachdem sie sich zur neuen liberalen Ordnung bekannt hatten. Aus diesem Grund nanntest du es trotz aller Vorbehalte eine Revolution. Und seit 1990, als du dein Buch geschrieben hast, hat diese Revolution erhebliche Fortschritte gemacht.

Die Sowjetunion und Jugoslawien sind zerfallen, Deutschland ist wiedervereinigt und die Europäische Union und die NATO sind erheblich erweitert worden. Westliche Armeen, Unternehmen und Sitten drangen nach Osten vor. Viele begrüßten begeistert neue Regime auf ihrem Staatsgebiet, aber manche fühlten sich benachteiligt, weil sie anderer ethnischer Herkunft waren als die Mehrheit (zum Beispiel Russen in Lettland, Serben in Bosnien-Herzegowina) oder weil ihnen die entsprechenden beruflichen Qualifikationen für die neue Wettbewerbsumgebung fehlten. Seit Langem in Europa bestehende Machtverhältnisse wurden umgewälzt. Schon bald empfand Russland sich als Underdog, aber auch Frankreich sah sich gegenüber Deutschland in einer schwächeren Position als zuvor.

Der geopolitischen Revolution folgte die ökonomische. Mit dem Sturz des Kommunismus gerieten einige seiner universelleren Ideale unter Beschuss: Kollektivismus, Umverteilung, soziale Absicherung und staatliche Interventionen in die Wirtschaft. Das ebnete neoliberalen Wirtschaftslehren den Weg zu einer dominanten Stellung auf dem gesamten Kontinent und nicht nur in Großbritannien. Deregulierung, marktwirtschaftliche Orientierung und Privatisierung wurden selbst in Staaten, die von sozialistischen Parteien regiert wurden, zum Gebot der Stunde. Folglich expandierte der Privatsektor auf Kosten des öffentlichen Sektors. Märkte und Marktwert hielten in Bereiche Einzug, die bis dahin in Europa der öffentlichen Hand vorbehalten geblieben waren: Gesundheitswesen, Bildung, öffentliche Sicherheit, Umweltschutz und sogar nationale Sicherheit. Sozialausgaben wurden zurückgefahren, wenn nicht gar für bestimmte benachteiligte Gruppen völlig gestrichen. Selbst in Ländern wie Frankreich und Spanien, wo es einst mächtige Gewerkschaften gab, sind nicht einmal mehr zehn Prozent der Arbeitskräfte gewerkschaftlich organisiert. Seit 1989 hat sich die Mitgliederzahl der polnischen Gewerkschaft Solidarność auf ein Fünftel des einstigen Höchststandes reduziert. Gegenwärtig sind weniger als fünf Prozent der polnischen Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglieder.

In ganz Europa wurde Politik zunehmend als eine Kunst technokratischer Verwaltung von Institutionen dargestellt, nicht mehr als Kunst politischer Verhandlungen zwischen den Eliten und der Wählerschaft. Immer mehr Macht wurde an Institutionen delegiert, die keinen Mehrheitsentscheidungen unterworfen waren – Zentralbanken, Verfassungsgerichte, Aufsichtsbehörden –, um zu gewährleisten, dass nicht Leidenschaften, sondern Vernunft politische Entscheidungen lenkt. Politik, die öffentlichem Druck nachgibt, galt als unverantwortlich, wenn nicht gar als gefährlich. Mehrheiten gaben angeblich Geld aus, das sie nicht hatten, diskriminierten alle möglichen Minderheiten und unterstützten so heikle Maßnahmen wie Todesstrafe und Folter. Statt auf Bürger zu hören, sollte man sie erziehen. Die Vorstellung, dass das Gemeinwohl die Wünsche der Öffentlichkeit widerspiegeln sollte, wurde infrage gestellt. Vielmehr hieß es, Experten würden die Interessen der Allgemeinheit am besten erkennen: Generäle, Banker, Händler, Juristen und natürlich die Führungskräfte der Regierungsparteien.

Die Europäische Union, deren Befugnisse mit dem Vertrag von Maastricht ausgeweitet wurden, ist der Prototyp einer Institution, die nicht an Mehrheitsvoten gebunden ist, sondern durch »aufgeklärte«, vom Druck der Wähler weitgehend unabhängige Experten geführt wird. Der Europäische Rat besteht zwar aus demokratisch gewählten Politikern, allerdings hat die Einführung von Mehrheitsentscheidungen es den Mitgliedsstaaten erschwert, ein Veto gegen manche Beschlüsse einzulegen. Tatsächlich zeigten sich nationale Politiker eifrig bemüht, ihr jeweiliges Parlament durch Entscheidungen des Europäischen Rates zu umgehen.

Historiker mögen meine Geschichtsgliederung infrage stellen. Denn seit der Aufklärung waren diverse Politikergenerationen von liberalen Idealen beeinflusst. Parteien, die sich formal als liberal bezeichneten, hatten vor 1989 mehr Macht als nachher.4 Neoliberale Wirtschaftslehren waren bereits einige Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer im Aufwind. In Osteuropa wurde die liberale Demokratie 1989 geboren, in Westeuropa jedoch schon viel früher. Vor diesem Hintergrund repräsentierte 1989 einen symbolischen Triumph liberaler Ideale. Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde der Liberalismus auf dem gesamten Kontinent zur »einzigen Möglichkeit«. Postkommunistische Staaten entwickelten sich zu den enthusiastischsten Verfechtern neoliberaler Wirtschaftslehren. Zudem akzeptierten sie mit Feuereifer den europäischen Integrationsprozess. Unterschiedliche liberale Strömungen verschmolzen zu einem paneuropäischen ideologischen Projekt; ehemals getrennte Mitte-links- und Mitte-rechts-Gruppierungen schlossen sich unter liberalem Banner zusammen; an so weit voneinander entfernten Orten wie Lissabon, Helsinki und Bukarest machte man sich die liberale Ordnung zu eigen. In diesem Sinne baute die liberale Revolution tatsächlich auf den Trümmern der Berliner Mauer auf, obwohl die Geschichte nicht an einem bestimmten Datum endet oder beginnt.5

Streitfragen

Du, Ralf, magst meine Beschreibung liberaler Herrschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten zu hart und einseitig finden. Aber wenn man nicht gerade unterstellt, die Aufrührer besäßen göttliche Täuschungskräfte, ist nur schwer zu erklären, warum Wähler sich von der liberalen Sache abzuwenden begannen.6 Irgendetwas muss furchtbar schiefgegangen sein, findet du nicht?

Selbstverständlich ist das Vermächtnis der vergangenen dreißig Jahre nicht nur negativ. Das Sowjetsystem war ineffizient, ungerecht und unterdrückerisch; es gibt keinerlei Grund zur Nostalgie über seinen Untergang. Die neoliberale Wirtschaft hat sich als fähig erwiesen, Wachstum und Innovation hervorzubringen. Und die Gefahren einer Mehrheitspolitik ohne konstitutionelle oder fiskalische Beschränkungen sind real. Warum sollte eine aktuelle Regierung Schulden machen dürfen, welche die kommenden Steuerzahlergenerationen zurückzahlen müssen? Ihr demokratisches Mandat, so stark es auch sein mag, bezieht sich auf die gegenwärtige, nicht auf die zukünftige Wählergeneration. Und sollte man zulassen, dass die Wahlsieger die Rechte religiöser Minderheiten oder die Frauenrechte zu beschneiden versuchen?

Selbst die intransparente Demokratie in der EU lässt sich verteidigen. Wie Robert A. Dahl zu Recht argumentierte, sind größere Einheiten offenkundig weiter von ihren Bürgern entfernt, aber besser in der Lage, zum Wohle ihrer Bürger mit globalen Zwängen fertig zu werden. Es besteht ein erheblicher Zielkonflikt zwischen Bürgerbeteiligung und Systemeffektivität.7

Dies ist jedoch eine recht großzügige Einschätzung der Ordnung nach 1989, die die Machtpolitik außer Acht lässt. Jede Revolution produziert Gewinner und Verlierer; die Letzteren sollten auf irgendeine Weise einbezogen werden, da sie sonst rebellieren. Verlierer zufriedenzustellen, ist nie einfach. Westdeutschland hat enorme Geldsummen in Ostdeutschland investiert, aber trotz all dieser Investitionen sind manche Bürger im Osten nach wie vor über die Veränderungen nach 1989 verärgert. Sie mögen zwar heute frei und relativ wohlhabend sein, fühlen sich jedoch als deutsche Bürger zweiter Klasse. Bei der Einbeziehung der Verlierer geht es eindeutig nicht nur um Geld. Polen erlebte in den vergangenen zehn Jahren ein höheres Wachstum als jedes andere europäische Land, dennoch stimmte die Mehrheit der polnischen Wähler 2015 für eine konterrevolutionäre Partei, die mit einem antiliberalen, antieuropäischen Programm Wahlkampf machte. Sie fanden, die in Polen erfolgreich regierende Elite interessiere sich mehr für die Meinung internationaler Ratingagenturen, der Auslandspresse und der europäischen Bürokraten als für die der einfachen Bürger. Warnungen, dieser Regimewechsel werde harte politische und wirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen, wurden ignoriert.

Den meisten anderen Teilen Europas ging es wirtschaftlich nicht so gut wie Deutschland und Polen, was Kritikern der (neo)liberalen Revolution den Aufstieg erleichterte. Als Beispiel nehme man Ungarn, wo die Kombination aus schwachem Staat, inkompetenter Wirtschaft und Korruption einem autoritären, wenn nicht gar autokratischen Regierungschef wie Viktor Orbán den Weg ebnete. Portugal, Griechenland und Spanien waren nach der globalen Finanzkrise 2008 zahlungsunfähig. Angesichts eines sinkenden Bruttoinlandsprodukts und rasant steigender Arbeitslosenzahlen war es offensichtlich unmöglich, alle zufriedenzustellen. Menschen, die auf staatliche Zuwendungen angewiesen waren, nicht am Markt mithalten konnten oder durch mobile Wanderarbeiter unter Druck gerieten, waren bereit, ihre Stimme politischen Abenteurern zu geben, die Opposition gegen die herrschende Ordnung machten. Selbst in relativ wohlhabenden Staaten wie Italien, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Finnland erwies es sich als schwierig, dem Druck der gegen das Establishment gerichteten Parteien zu entgehen.

Die Eurokrise und die nachfolgende Flüchtlingskrise demonstrierten, dass die neue Ordnung weniger effektiv und liberal war, als ihre Verfechter behaupteten. »Postkapitalismus« und »Postdemokratie« sind dem Original eindeutig unterlegen.8 Zudem warfen die beiden Krisen ein Schlaglicht auf die wachsenden Ungleichgewichte zwischen den einzelnen europäischen Staaten. Es gibt nicht nur Gläubiger- und Schuldnerländer, sondern auch solche, die Entscheidungen treffen, und andere, die sie hinnehmen. Manche reden sogar von einem deutschen (Zufalls-)Reich in Europa.9 Beide Krisen offenbarten außerdem, dass die europäischen Führungskräfte nicht imstande sind, ihren Kurs zu ändern und effektivere Maßnahmen zu ergreifen. Die strengen Regeln des Europäischen Fiskalpakts ließen den verschuldeten Ländern praktisch keinen Spielraum, ihre Wirtschaftspolitik anzupassen, und es gibt keine Vereinbarung über einen humanen, effizienten Umgang mit Migration.

Der Fall Griechenlands ist in diesem Zusammenhang äußerst erhellend. Das Land darf keine souveränen sozioökonomischen Entscheidungen mehr fällen, aber die von seinen europäischen Partnerländern verordneten Maßnahmen funktionieren eindeutig nicht. Nach drei aufeinanderfolgenden teuren Rettungspaketen besteht kaum Hoffnung, dass Griechenland seine Schulden jemals zurückzahlen wird. Auch die Behauptung, Griechenland werde seine Grenzen wirkungsvoll kontrollieren, nachdem man dem Land auf zahlreichen EU-Gipfeln gesagt habe, was zu tun sei, ist wenig glaubwürdig. Kein Wunder, dass der Umgang mit Griechenland viele Griechen enttäuscht hat, deren Ansichten nach dem Referendum 2015 und den Wahlen 2014 ignoriert wurden. Auch die Wähler in den Ländern, die Griechenland effektiv regieren, sind frustriert, weil sie keine ordentlichen Erträge ihrer Investitionen erhalten.

Konfrontiert mit dem Wählerdruck durch die »Neuen«, springen die etablierten rechten und linken Parteien lieber miteinander ins Bett als Fehler zuzugeben und eine Kehrtwende einzuleiten. Solche bis dahin unvorstellbaren Bündnisse haben wir zwischen der konservativen Nea Dimokratia und der sozialistischen PASOK in Griechenland erlebt wie auch zwischen Berlusconis Forza Italia und der postkommunistischen Demokratischen Partei (Partito Democratico) in Italien. Das verstärkte nur den Eindruck, alte ideologische Gräben seien verschwunden und durch eine neue (neo)liberale Vorstellung von Normalität oder, wenn man so will, Rationalität ersetzt worden. Das offizielle Narrativ war schwarz-weiß. Die etablierten Kreise bestanden auf der Fortführung von Projekten, die Europa »Wohlstand und Frieden« sicherten, und warfen Kritikern vor, sie versuchten ihre edlen Bestrebungen zu untergraben. Es mangelte an Selbstreflexion, ganz zu schweigen von Selbstkritik.

Die EU wurde zum Motor der Kooperation erklärt und alle, die sie kritisierten, galten als Agenten Putins. Die Tatsache, dass die EU in letzter Zeit durch ihr Versagen in der Eurokrise, der Flüchtlingskrise und in gewissem Maße auch in der Krise in der Ukraine erhebliche Konflikte hervorgebracht hat, wurde ignoriert oder geleugnet. Grundlegende Facetten neoliberaler Ökonomie gelten nach wie vor als sakrosankt, obwohl gerade sie zur Finanzblase von 2008 beigetragen und Millionen Europäer in Not gebracht haben. Es gibt auch keinerlei Eingeständnis, dass das bestehende System parlamentarischer Repräsentation grundlegend überdacht werden muss. Die Mainstream-Parteien haben es nie ernsthaft in Erwägung gezogen, geschweige denn in Angriff genommen, die Macht der Zentralbanken, der Verfassungsgerichte, der EU und anderer Institutionen, die nicht an Mehrheitsentscheidungen gebunden sind, zu beschneiden.

Im Laufe der Zeit häuften sich ungelöste Probleme und die offizielle Rhetorik gestaltete sich aggressiver. Die etablierten Tabus infrage zu stellen, wurde als verantwortungslos, wenn nicht gar verrückt hingestellt. Die Herrschenden waren bereit, der zunehmend verzweifelten Wählerschaft einige kosmetische Zugeständnisse zu machen, aber bisher haben die Sieger der Revolution von 1989 noch keinen ernst zu nehmenden Plan B vorgeschlagen. Eine Zeit lang war die Wählerschaft erstaunlich geduldig, begann dann aber allmählich, sich von den etablierten Parteien abzuwenden. Das eröffnete alternativen Politikern eine Chance. Sie versprachen, ein Regierungswechsel bedeute einen echten Politikwechsel, wenn nicht gar einen Systemwechsel.

Die konterrevolutionären Rebellen

Die konterrevolutionären Politiker sind ein gemischter Haufen. Zu ihnen gehören so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Marine Le Pen, Beppe Grillo, Matteo Salvini, Geert Wilders, Gerolf Annemans, Alice Weidel, Alexander Gauland, Kristian Thulesen Dahl, Jimmie Akesson, Timo Soini, Norbert Hofer, Nigel Farage, Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Robert Fico, Andrej Babis, Alexis Tsipras und Pablo Iglesias. Ihr persönlicher Hintergrund und ihre ideologischen Wurzeln sind ebenfalls äußerst unterschiedlich: Sie reichen von neofaschistisch bis neokommunistisch, von libertär bis konservativ, von antiausteritätspolitisch bis antimuslimisch, von nationalistisch bis sezessionistisch. Manche sind gemäßigt, andere sind Hardliner. Jene, die es in ihren Ländern an die Macht geschafft haben, reden und handeln anders als diejenigen, die noch immer von den Rändern her Wahlkampf machen. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind gegen die Ordnung, die nach der Revolution 1989 geschaffen wurde. Sie greifen nicht nur die Politiker an, die Europa nach 1989 regiert haben, sondern auch deren politische Schlüsselprojekte: europäische Integration, konstitutionellen Liberalismus und neoliberale Wirtschaft.

Die meisten konterrevolutionären Rebellen stellen Migranten ins Zentrum ihrer politischen Kampagnen, weil sie darin ein wesentliches Produkt der Politik nach 1989 sehen, einer Politik der Grenzöffnung, des Minderheitenschutzes und der Schaffung wechselseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit. Manche dieser Politiker mögen Rassisten sein,10 aber es gibt keinen Beleg dafür, dass Fremdenfeindlichkeit der Hauptgrund für ihre Haltung gegen Zuwanderung wäre. Von der oben angeführten Liste konterrevolutionärer Politiker nehme ich bewusst solche aus, die vorrangig von ethnischem Hass getrieben sind wie Ilias Panagiotaros von der griechischen Partei Goldene Morgendämmerung (Chrysi Avgi) und Gábor Vona von der ungarischen Partei Jobbik.

Selbstverständlich ist es problematisch, so unterschiedliche Politiker wie Jarosław Kaczyński und Alexis Tsipras in einen Topf zu werfen. Der eine ist ultrakonservativ, der andere radikal links. Kaczyński sieht Russland als Bedrohung, Tsipras sieht in Russland einen Verbündeten. Kaczyński will den Neoliberalismus abmildern, Tsipras ist grundsätzlich gegen neoliberale Ökonomie. Kaczyński hätte die EU gern unverbindlicher und zwischenstaatlicher, Tsipras möchte sie mitfühlender und föderaler gestalten. Kaczyński ist voll und ganz gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, Tsipras fordert ein gerechtes und effizientes Verteilungssystem für Flüchtlinge. Und dennoch lässt sich schwerlich leugnen, dass beide die Eliten verabscheuen, die ihr jeweiliges Land in den vergangenen Jahrzehnten regiert haben, und beide ihr Land grundlegend umgestalten wollen. Sie machen Zugeständnisse, wenn sie von so mächtigen Politikern wie Angela Merkel oder so mächtigen Institutionen wie der EU oder dem Internationalen Währungsfonds dazu gedrängt werden, das bedeutet jedoch keineswegs, dass sie ihren Kampf für ein grundlegend neues Regime in ihrem Land aufgeben.

Häufig bezeichnet man die konterrevolutionären Politiker als Populisten. Dieser Begriff ist irreführend, ja stigmatisierend und erfasst das wesentliche Ziel dieser Politiker nicht, nämlich die Abschaffung der nach 1989 geschaffenen Ordnung und die Ablösung der mit ihr verbundenen Eliten. Ich finde viele Äußerungen dieser Politiker höchst kritikwürdig, das bedeutet allerdings nicht, dass ihre Kritik an der gegenwärtigen Ordnung nicht zumindest in manchen Teilen berechtigt wäre. Die herrschende politische und intellektuelle Elite ist allzu eifrig darauf bedacht, jegliche Kritik als »populistisch« abzutun.

Populisten sagt man nach, simple Lösungen für komplizierte Probleme vorzuschlagen. Allerdings ist an einfachen Lösungen nichts auszusetzen, wenn sie denn gerecht, effizient und nach demokratischen Verfahren beschlossen sind. Mindestlohn und Erbschaftssteuer sind weithin genutzte einfache Lösungen, um mit komplexen Problemen der Ungleichheit umzugehen. Sollte man sie »populistisch« nennen und deshalb aufgeben? Zudem sagt man von Populisten, sie nutzten moralistische Rhetorik, machten unrealistische Versprechungen und führten unfaire persönliche Angriffe gegen ihre Gegner. Leider lassen sich diese Vorwürfe auf die meisten heutigen Politiker anwenden und nicht nur auf die hier erörterte Gruppe. Vor allen nationalen Wahlen machen Politiker verschiedener Parteien leere soziale Versprechungen. Bombastische und moralistische Rhetorik gehört auch zum liberalen Repertoire. Man denke nur an das Gerede von der »Achse des Bösen« vor der Invasion im Irak 2003. Politische Gegner zu schmähen, ist in allen politischen Kampagnen zur Routine geworden. Ein Beispiel ist die Art und Weise, in der liberale Intellektuelle und Politiker ihre »populistischen« Gegner beschreiben. Nick Cohen verglich in The Guardian ein Treffen zwischen Nigel Farage und Julian Assange im März 2017 mit dem Hitler-Stalin-Pakt.11 Farage »nutzt Chauvinismus aus und spielt mit Rassenängsten«, während Assange »den Gangsterkapitalisten des neuen Russischen Reiches Hilfsdienste leistet«, meint Cohen und schließt: »Extreme verschmelzen. Rot sickert in Schwarz ein.« Ich vermute, der Autor dieses Artikels hält sich nicht für populistisch, sondern für liberal.