Kontinent Doderer - Klaus Nüchtern - E-Book

Kontinent Doderer E-Book

Klaus Nüchtern

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Beschreibung

Die Romane Heimito von Doderers sind spannend, handlungsstark, figurenreich und sehr, sehr komisch - 50 Jahre nach dem Tod des Autors allerdings bilden sie einen fast vergessenen literarischen Kontinent. Dieser ist jetzt neu zu entdecken. Der Wiener Literaturkritiker Klaus Nüchtern folgt bei seiner Durchquerung des "Kontinents Doderer" strikt der eigenen Neugierde. Er durchmisst ganz Sibirien, wo der Autor im Kriegsgefangenenlager zum Schriftsteller wird, und steigt die Stufen nicht nur der berühmten Strudlhofstiege hinauf, sondern auch ins Souterrain schlecht ausgeleuchteter Hausflure herab, wo die von Doderer inbrünstig gehassten Hausmeister hausen.
Akribisch, aber nie akademisch, kritisch, aber nie verbissen, wird Doderers verschlungener Weg vom NSDAP-Mitglied zum gefeierten Über-Österreicher der Nachkriegszeit verfolgt. Nüchtern registriert die restaurativen Tendenzen Doderers ebenso wie dessen Tuchfühlung mit der Avantgarde und weist unter anderem nach, dass der passionierte Voyeur und arrogante Kinomuffel erstaunlich viel mit Alfred Hitchcock zu tun hatte.

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KLAUS NÜCHTERN

KONTINENTDODERER

EINEDURCHQUERUNG

C.H.BECK

ZUM BUCH

Die Romane Heimito von Doderers sind spannend, handlungsstark, figurenreich und sehr, sehr komisch – 50 Jahre nach dem Tod des Autors allerdings bilden sie einen fast vergessenen literarischen Kontinent. Dieser ist jetzt neu zu entdecken. Der Wiener Literaturkritiker Klaus Nüchtern folgt bei seiner Durchquerung des «Kontinents Doderer» strikt der eigenen Neugierde. Er durchmisst ganz Sibirien, wo der Autor im Kriegsgefangenenlager zum Schriftsteller wird, und steigt die Stufen nicht nur der berühmten Strudlhofstiege hinauf, sondern auch ins Souterrain schlecht ausgeleuchteter Hausflure herab, wo die von Doderer inbrünstig gehassten Hausmeister hausen.

Akribisch, aber nie akademisch, kritisch, aber nie verbissen, wird Doderers verschlungener Weg vom NSDAP-Mitglied zum gefeierten Über-Österreicher der Nachkriegszeit verfolgt. Nüchtern registriert die restaurativen Tendenzen Doderers ebenso wie dessen Tuchfühlung mit der Avantgarde und weist unter anderem nach, dass der passionierte Voyeur und arrogante Kinomuffel erstaunlich viel mit Alfred Hitchcock zu tun hatte.

ÜBER DEN AUTOR

Klaus Nüchtern, geboren 1961 in Linz a. d. Donau, studierte Germanistik und Anglistik in Wien. Er leitete das Feuilleton der Zeitung «Falter», wo er nach wie vor als Kritiker und Kolumnist tätig ist. 2011 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik, zuletzt erschien «Buster Keaton oder die Liebe zur Geometrie» (2012).

INHALTSVERZEICHNIS

HEIMITO VON DODERER. EINE GEBRAUCHSANWEISUNG

SCHULD UND SÜHNE, SCHICKSAL UND SIBIRIEN

GEFANGEN AUF DER INSEL DER SELIGEN

WEITES LAND UND WEITES HERZ

WIEDERGEBURT AUF DEM GEHSTEIG

DIE ERFINDUNG DES SCHICKSALS

DER VERBRECHER AUS IMPOTENTER WURSTIGKEIT

HEIMITO UND DER WOLF

EICHMANN UND DIE OSTEREIER

LOB DES ZIVILEN CHARAKTERS

HERR VON DODERER, WIE HABEN SIE DAS GEMACHT?

I. VOM FÜRSORGLICHEN UMGANG MIT VOYEUREN

In a Zihal State of Mind

Geteilte Freuden sind doppelte Freuden

Schiffbruch mit Busen

II. DIE FREMDE IM ZUG

Ein Scherz mit tödlichem Ausgang

Menage à trois mit Lebenden und Toten

Fatal Attraction

III. SUSPENSE IN SLOW MOTION

Umwege erhöhen die Spannung

Mehr als einen Splitter Eis im Herzen

Ein Stechührchen am Handgelenk

Blood On the Tracks

WIE SCHÖN WÄRE WIEN OHNE WIENER

STADT – LAND – FLUSS

WIEN, OFFENE STADT

DIE ENTDECKUNG DER FREMDHEIT

RETTUNG DES WALDES DURCH AUTOVERKEHR

EIN ZIMMER IM GRÜNEN

«NIEDER MIT DEN DIAS!»

BEFIEHL DU DEINE WEGE

CECI N’EST PAS UNE STRUDLHOFSTIEGE

VON DER NSDAP ZUM TRIPLE-A

ERNIEDRIGTE UND VERFOLGTE

KOMPROMITTIERUNG UND KOM P.E.N.SATION

GNÄDIGE FRAU UND SCHÖNES KIND

KAMPF UM KÖPFE IM KALTEN KRIEG

DER ETWAS ANDERE «ANSCHLUSS»

POSTKASTLUMFÄRBER UND BACKHENDELDIEBE

ZUSTAND MIT GAMSBART

LOB DES MÜSSIGGANGS

WEIN PREDIGEN UND WASSER TRINKEN

«IDEOLOGIE DER IDEOLOGIELOSIGKEIT»

BILDTEIL

VERSÖHNUNG UND VERKLÄRUNG IM ZEICHEN DES FEUERS

DER LANGE SCHATTEN VON SCHATTENDORF

DIE REICHSPOST IM OHR

«DAS GNÄDIGE FRÄULEIN WILL SCHIESSEN HÖREN»

ROT UND WEISS UND MILCH UND BLUT

HÜTERINNEN DES HEIMS UND DES HERDES

DIE VERNACHLÄSSIGTE PRESSE

WIE MAN DIE KLASSE AUS DER MASSE HOLT

GROSSES SOLO FÜR WASCHLER

DER AUFSTAND DES ABSCHAUMS

WAS WIRKLICH GESCHAH

OHNE LEIT KEIN FREUD

TOD UND VERKLÄRUNG

DIE GROSSE WUT DES DOCTOR D.

WIE BLÖDSINNIG SIND «DIE MEROWINGER»?

KLÖPPEL AUF DEN KOPF

MAULSCHELLEN UND MANNESKRAFT

SCHMERZHAFTER SLAPSTICK

PRÜGELLUST UND AVANTGARDE

ZWEIERLEI BARTRISS

PHÄNOMENOLOGIE DES MITLÄUFERTUMS

WER DEPPERT SCHAUT, WIRD G’HAUT!

DIE SCHATTENSEITE DER SCHERZBOLDE

TRITT DEN ZWERG!

DER ROSENBERG IM SCHLAGGENBERG

TERROR UND TIMURISATION

SCHAUDER UND GELÄCHTER

FATALE VERTIKALE

SCHLIMMER STÜRZEN

LEICHTER LERNEN

HÖLLISCH HAUSEN

SCHÖNER WOHNEN

DRUNT IN LIECHTENTHAL

BESSER RIECHEN

TRÖSTLICH TRÄUMEN

VON ABHEITER BIS ZWICKLITZER

DANKSAGUNG

BILDNACHWEIS

TAGEBÜCHER UND BRIEFE HEIMITO VON DODERERS

FORSCHUNGSLITERATUR (AUSWAHL)

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: HEIMITO VON DODERER. EINE GEBRAUCHSANWEISUNG

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: SCHULD UND SÜHNE, SCHICKSAL UND SIBIRIEN

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: HERR VON DODERER, WIE HABEN SIE DAS GEMACHT?

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: WIE SCHÖN WÄRE WIEN OHNE WIENER

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: VON DER NSDAP ZUM TRIPLE-A

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: VERSÖHNUNG UND VERKLÄRUNG IM ZEICHEN DES FEUERS

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: DIE GROSSE WUT DES DOCTOR D.

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: FATALE VERTIKALE

ANMERKUNGEN ZUM KAPITEL: VON ABHEITER BIS ZWICKLITZER

LITERATURVERZEICHNIS

WERKE HEIMITO VON DODERERS

TAGEBÜCHER UND BRIEFE HEIMITO VON DODERERS

FORSCHUNGSLITERATUR (AUSWAHL)

In Erinnerung an Siegi Mattl (1954–2015)

HEIMITO VON DODERER. EINE GEBRAUCHSANWEISUNG

Kurzes Vorwort zu der Frage, warum man Heimito von Doderer heute noch lesen soll, und ein nicht minder knapper Ausblick auf das, was die Leserinnen und Leser erwartet, wenn sie die Antwort darauf in diesem Buch suchen. Nebst einer beruhigenden Erklärung hinsichtlich des angstfreien Umgangs mit Fußnoten

«Von den Romanen Doderers und mehr noch von seinen Tagebüchern und Aufsätzen kann mit einiger Sicherheit behauptet werden, daß sie für breite Leserschichten ohne Bedeutung bleiben müssen. Das aristokratische Selbstverständnis des Autors, die Eigenwilligkeit seiner Sprache, die Kompliziertheit seiner schriftstellerischen Technik und die Esoterik seines Denkens schaffen eine Distanz, die der ungeschulte Leser kaum je wird überbrücken können.»[1]

Die Phase des mehr oder weniger unbestrittenen Ruhms Heimito von Doderers währte maximal fünfzehn Jahre. 1951 war der damals 54-jährige, bis dahin praktisch unbekannte Autor mit der «Strudlhofstiege» zu zumindest lokaler Berühmtheit gelangt, fünf Jahre später glückte ihm mit seinem Opus magnum «Die Dämonen», an dem er ein Vierteljahrhundert gearbeitet hatte, der Durchbruch. Im Juni 1957 zierte sein Konterfei das Cover des Spiegel, der in Doderer einen legitimen «Thronfolger für die verwaisten Kronsessel der deutschen Literatur»[2] erblickte. Mit einem Mal galt der Mann aus Wien als aussichtsreicher Kandidat für den Literaturnobelpreis.

Als Doderer, der in wenigen Jahren zum quasi offiziellen und unstrittigen Repräsentanten der österreichischen Nachkriegsliteratur avanciert war, im Jahr 1966 starb, soll Thomas Bernhard erfreut aus seinem Fernsehsessel aufgesprungen sein und in die Hände geklatscht haben: «Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich.»[3] Der ehrgeizige Jungdichter, der zu diesem Zeitpunkt sein Romandebüt «Frost» (1963) und die Erzählung «Amras» (1964) publiziert hatte, sollte recht behalten: Er hat Doderer in kürzester Zeit abgehängt, und der konnte bis heute auch keinen Meter mehr gutmachen.[4]

Bereits ein Jahrzehnt nach seinem Tod – das Eingangszitat stammt von 1976 – wurde Doderer von vielen mehr oder weniger abgeschrieben. Die affirmative Phase, in der der Autor zum «Austriae Poeta Austriacissimus» (Friedrich Torberg) stilisiert worden und die Germanistik es gewohnt war, «sich in den Analysen ganz innerhalb des von Doderers Reflexionen vorgezeichneten Verständnishorizontes aufzuhalten»,[5] kommt im Laufe der 70er-Jahre an ihr Ende. Darüber hinaus findet eine als ideologiekritisch sich verstehende Literaturwissenschaft in dem «große[n] Schweigen, mit dem [in der Doderer-Forschung, K. N.] bisher über die entscheidenden Ereignisse der Jahre 1930–38 hinweggegangen werden mußte»,[6] ein äußerst ergiebiges Studienobjekt. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Mit kritischer Distanz, ja, Distanzierung[7] darf Doderer verlässlich rechnen, und die Auseinandersetzung mit seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus steht nach wie vor im Brennpunkt des Interesses.

Der Autor des vorliegenden Buches sieht keinen Grund, hier dagegenzuhalten oder sich gar zu einer Verteidigung des Autors in politisch-biographischen Belangen aufzuschwingen, er möchte bloß nicht noch einmal in die gleiche Kerbe schlagen. Gerade weil die Mythen, Un- und Halbwahrheiten, die Doderer um seinen Beitritt zur NSDAP, der – kein Scherz! – am 1. April 1933 erfolgte, zeitlebens gewoben hat, durch Wolfgang Fleischers Biographie[8] und zuletzt in Alexandra Kleinlerchers umfänglicher Studie «Zwischen Wahrheit und Dichtung»[9] akribisch auseinandergenommen wurden, ist diesem Thema hier kein eigener Abschnitt gewidmet. Stattdessen wird der Fokus im Kapitel «Von der NSDAP zum Triple-A» (S. 117) auf die Frage gerichtet, wie und warum Doderer, dessen NSDAP-Mitgliedschaft allgemein bekannt war, nach dem Krieg in nur wenigen Jahren zum offiziellen Staatsdichter der neu gegründeten Republik avancieren konnte.

Es scheint mir unbestreitbar, dass sich der Autor von den 50er-Jahren an bis zu seinem Lebensende immer wieder an seiner politischen Verfehlung abgearbeitet hat. Zugleich ist das Thema der persönlichen Schuld von Anfang an präsent. Nicht zuletzt, um die Kontinuitäten in seinem Schaffen aufzuzeigen und den fast «fatologisch» anmutenden Bogen zu beschreiben, der den in Sibirien zum Schriftsteller gewordenen Doderer in seinem letzten, Fragment gebliebenen Roman «Der Grenzwald» wieder dorthin zurückführt, werden im Einleitungskapitel Anfang und Ende einer Karriere in einem Panoramaschwenk zusammengebracht.

Die Begriffe, Metaphern und Vergleiche, die Doderer einsetzt, um seiner ideologischen und auf Ressentiments basierenden Verstrickung auf die Schliche zu kommen, sind nicht unbedingt dazu angetan, die Sachlage aufzuklären, ganz im Gegenteil: Oft erweisen sich die vermeintlichen Erkenntnisblitze des Autors als Blendgranaten, die nichts erhellen, sondern die Sicht behindern. Seine Texte lediglich als Symptome des Verschweigens und Verschleierns zu lesen griffe dennoch zu kurz. Gute Literatur ist immer klüger als ihr Verfasser.

«[W]ir wirken nie direkt, und wir bewirken nicht das eigentlich von uns Gemeinte» (DD, 520), schreibt Doderer. Insofern passt es gut, dass der Apologet des Umwegs mit dem Faible für exzentrische Einsätze eigentlich dort am ernsthaftesten ist, wo er vorgibt, einen «Mordsblödsinn» (DM, 363) zu veranstalten. Das Kapitel über «Die große Wut des Doctor D.» versucht jedenfalls zu belegen, dass man den interessantesten und triftigsten politischen Aussagen des Autors in dessen «Merowingern» begegnen wird und nicht in den «Dämonen». In diesen hat sich Doderer zwar ganz offenkundig damit abgemüht, eine «Ideologietheorie» zu liefern, stattdessen aber lediglich eine «Ideologie der Ideologielosigkeit»[10] produziert, die ihren privilegierten Standpunkt nur behaupten, nicht aber ausweisen kann. Wie der Autor ein traumatisches Ereignis der Ersten Republik, nämlich die Proteste gegen ein flagrantes Beispiel von Klassenjustiz und deren brutale Niederschlagung am 15. Juli 1927 («Justizpalastbrand»), in den «Dämonen» einer zugleich kruden und subtilen Revision unterzieht, um es als Sinnreservoir für das im Österreich der Nachkriegszeit herrschende politische Klima aufzubereiten, soll im Kapitel über die versöhnende und verklärende Kraft des Feuers gezeigt werden.

Warum und wozu also Doderer? Der kalendarische Anlass allein – der 50. Todestag am 23. Dezember 2016 – gibt ja noch keine zufriedenstellende Antwort. Schlägt man die aktuellste umfassende Arbeit zu Doderer auf, dann scheint sich am eingangs zitierten Befund, den Hans Joachim Schröder vor knapp 40 Jahren ausgestellt hat, wenig geändert zu haben: «Sein [Doderers, K. N.] Ruhm ist im Bewusstsein der Allgemeinheit abgeblasst und weitgehend längst von anderen verdrängt (…). Wie groß in der heutigen Generation junger österreichischer Erwachsener der Anteil von jenen ist, die mit dem Namen Doderer überhaupt noch irgendwas verbinden, wurde wohl noch nicht empirisch erhoben – nach meiner persönlichen Wahrnehmung dürfte es sich um eine bescheidene Minderheit handeln.»[11]

Dagegen lässt sich nichts sagen. Doderer ist ganz gewiss ein Minderheitenprogramm – so wie auch Dante, Dickens oder Dostojewskij. Die Frage ist, ob man sich als Kritiker, Literaturwissenschaftler oder auch nur Leser um Fragen der Quote kümmern muss. Kommt man als österreichischer Doderer-Gutfinder mit deutschen Kollegen ins Gespräch, lautet die Standardreaktion entweder «Muss ich den lesen?» oder «Sollte ich wohl auch mal lesen». Was soll man da schon antworten? Niemand soll müssen. Man kann ein reiches und keineswegs ignorantes Leserinnen- und Leserleben natürlich auch ohne Doderer-Lektüre bestreiten. So wie man auch Dante, Dickens oder Dostojewskij auslassen kann. Alles immer auf die Gefahr hin, etwas zu verpassen.

Verpasst man etwas, wenn man Doderer auslässt? Na, keine Frage! Und darauf hinzuweisen ist auch das eigentliche Anliegen dieses Buches. Es will zeigen, wie die Literaturmaschine Doderer funktioniert und wie man sie zum eigenen Pläsier benutzen kann. Trotz des nicht ganz unbegründeten und auch wieder nicht ganz zu Recht erhobenen Vorwurfs, kompliziert, umständlich und verstiegen zu sein – nun ja, der Mann hat einen Roman mit dem Titel «Die Strudlhofstiege» verfasst –, werfen die Romane bei sachgemäßer Benutzung doch einen beträchtlichen Gewinn ab. Die Fusion von stadthistorischem Wissen mit einer hochpersönlichen Raum-Mythologie macht Doderer – siehe die Kapitel über das «Wien ohne Wiener» und die «Fatale Vertikale» – zu einem der größten Großstadtromanciers des 20. Jahrhunderts (mindestens). Er ist darüber hinaus «ein immens komischer Autor», ja, «einer der komischsten der Literaturgeschichte»,[12] was sich nicht nur in den «Merowingern», sondern auch in den beiden großen Wien-Romanen manifestiert. Wer’s nicht glaubt, aber gern überprüfen will, möge einfach aufs Geratewohl und ohne Verpflichtung auf die alphabetische Ordnung in das «Who ’s Who» hineinlesen, das im Anhang rund 200 Vertreterinnen und Vertreter aus dem Figurenarsenal der «Strudlhofstiege» und der «Dämonen» aufführt und – nicht zuletzt anhand zahlreicher Original-Zitate – charakterisiert.

Und schließlich erweist sich Doderer, dem kein Stoff und kein Sujet zu trivial oder zu minder war, als ein gewiefter Konstrukteur von Kriminal-Plots und Spannungsbögen – und dies keineswegs nur in einschlägigen Romanen wie «Ein Mord den jeder begeht». Die Ähnlichkeiten zwischen den Romanen des deklarierten Kinomuffels Doderer und den Filmen des Suspense-Genies Alfred Hitchcock sind von dem einen oder anderen Exegeten schon bemerkt worden. Sie werden hier im Kapitel «Herr von Doderer, wie haben Sie das gemacht?» aber erstmals anhand dreier Romane in extenso vorgeführt.

Die Durchquerung der «Kontinents Doderer», die hier unternommen wird, verfolgt nicht den Zweck, diesen vollständig zu vermessen. Den Autor treibt nicht der Ehrgeiz um, alle weißen Flecken, die sich auf der Landkarte noch finden, auszupinseln, sondern strikt die eigene Neugierde. Die einzelnen Kapitel oder alle zusammen sind als Essay zu verstehen, und der ist so frei, sich nicht um alles kümmern zu müssen: «Glück und Spiel sind ihm wesentlich. Er fängt nicht mit Adam und Eva an, sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt, und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria.»[13]

Eine letzte Anmerkung zur barrierefreien und vergnüglichen Nutzung dieses Buches. Dem Autor ist bewusst, dass ihnen das Misstrauen von Lektorinnen, Verlegern, Buchhändlern, Leserinnen und Leser gewiss ist, aber: Fußnoten sind längst nicht so schlimm wie ihr Ruf. Sie wurden mit lockerer Hand in diesem Buch verstreut, nicht um etwaige antiakademische Affekte aufzustacheln, sondern weil a) über Doderer schon sehr viel und auch viel Kluges gesagt und geschrieben wurde und der Autor keinesfalls in den Verdacht geraten möchte, sich mit fremden Federn zu schmücken; b) die Stelle und Quelle eines Zitats für alle, die’s ganz genau wissen wollen, auf die unkompliziertest mögliche Weise auffindbar sein und c) verhindert werden soll, dass längere Zitate, weiterführende Informationen, Assoziationen und Gedanken den Lesefluss im Hauptstrom des Geschriebenen bremsen. Wer keine Lust hat, die breite Rinne des Fahrwassers zu verlassen, kann es gerne bleiben lassen. Niemand muss Fußnoten lesen. Wer’s unterlässt, macht sich keines Vergehens wider Gesetze oder gute Sitten schuldig. Allenfalls verpasst er oder sie etwas. Aber diese Gefahr lauert bekanntlich immer und überall.

SCHULD UND SÜHNE, SCHICKSAL UND SIBIRIEN

Anfang und Ende eines Schriftstellerlebens: Wie Heimito von Doderer im «Elysium» der russischen Kriegsgefangenschaft auf die Literatur verfällt und am Ende seiner Karriere nach Sibirien zurückkehrt, ohne seine Schicksalssymphonie beenden zu können

Mit dem trotzigen Bonmot, er sei kein «Herkünftler», sondern ein «Hinkünftler», suchte Heimito von Doderer die Bürde seines Stammbaums loszuwerden und «dem übersteigerten Werteanspruch seiner Verwandtschaft» die Zunge zu zeigen.[1] Einzig auf seine Abkunft vom Dichter Nikolaus Lenau war er zeitlebens stolz,[2] auch wenn er diesem – über die Ehefrau des Großvaters väterlicherseits – gerade einmal auf Urgroßneffen-Distanz nahekam. Dass ihm das Dichten in die Wiege gelegt worden wäre, lässt sich indes nicht behaupten.

GEFANGEN AUF DER INSEL DER SELIGEN

Heimito von Doderer kam am 5. September 1896 als jüngstes Kind des Wilhelm Carl Ritter von Doderer und der Wilhelmine von Doderer, geborene von Hügel, zur Welt. Die «beiden Willys», wie sie genannt wurden,[3] erwiesen sich nicht nur als fruchtbar – Heimito war das sechste Kind –, sondern auch wirtschaftlich als eine sehr potente Paarung. Nachdem Wilhelm in die Baufirma seines (deutschen) Schwiegervaters Heinrich von Hügel eingestiegen war, entwickelte sich dieses «zu einem der größten Eisenbahnunternehmen der Donaumonarchie».[4]

Überzeugt vom «Umweg-Charakter des Lebens»,[5] mag es Heimito a posteriori als triftig erschienen sein, dass seine Wiege als Schriftsteller an einem denkbar entlegenen Ort stand: im russischen Chabarowsk, nur wenige Kilometer von der chinesischen Grenze, aber 10.368 Kilometer von seinem Geburtsort Hadersdorf-Weidlingau entfernt. Nach der Schlacht im galizischen Olesza,[6] wo jenes «Reitergefecht» stattgefunden haben soll,[7] das Doderer wiederholt beschrieben hat, geriet der 19-jährige Fähnrich im Juli 1916 in Kriegsgefangenschaft. In mehrwöchiger Bahnfahrt wurden die Gefangenen durch ganz Sibirien ins Lager Krasnaja Retschka bei Chabarowsk verbracht, in dem 1100 Offiziere interniert waren[8] und das Doderer Jahrzehnte später als «eine Insel der Seligen» und «ein Elysium» beschreiben wird.[9]

Diese aufs Erste doch überraschende Charakterisierung ist einerseits auf die privilegierte Behandlung der Offiziere zurückzuführen, die Anspruch auf fünfzig Silberrubel im Monat hatten und von ihren russischen Standesgenossen mit der «Ritterlichkeit alten Stils» behandelt wurden,[10] und hat andererseits mit der erstaunlich differenzierten Infrastruktur des Lagers zu tun, das Kaffeehäuser, eine Bibliothek und ein Offizierstheater umfasste und sich generell als fruchtbarer Nährboden zur Hege und Pflege künstlerischer Neigungen erwies: «Maler und Schriftsteller gab es in fast jedem Lager zuhauf; durch harte Urteile – wie in Wien üblich – zu decouragieren war verpönt und durch das Fehlen eines Marktes, auf dem man einander als Konkurrent entgegentrat, auch überflüssig. Alles, was hier im Lager gemacht wurde, war wichtig und interessant (…). Jede aufkeimende Begabung wurde gefördert.»[11]

Nachdem Russland und die Mittelmächte am 3. März 1918 den Frieden von Brest-Litowsk unterzeichnet hatten, schienen die Ferien vom Leben, die Doderer und einige seiner Kameraden im Lager genossen, allerdings vorerst beendet: Die Kriegsgefangenen wurden in Richtung Heimat transportiert, eine Fahrt, die Doderer im «Grenzwald» (GW, 89 ff.) ausführlich beschreiben wird. Aufgrund des Frontverlaufs im Russischen Bürgerkrieg war die Weiterfahrt in Richtung Moskau allerdings unmöglich, und die Reise endete westlich des Urals bei Samara. Danach ging es wieder in die entgegengesetzte Richtung, sprich zurück: «Sibirien siegte. Es schluckte sogar wieder ein, was es bereits entlassen hatte. Der Transport ward zurückgeleitet. Manche lebten damals (auch bei Schlaf und Traum) in einem seltsamen Grundgefühle: daß man nämlich Rußland überhaupt nie mehr verlassen könne, war man einmal hineingeraten.» (GW, 115)

Obwohl das «Elysium» der Gefangenschaft im Lager bei Krasnojarsk, in dem Doderer nun interniert war, «erheblich ramponierter (…) als in Krasnaja Retschka»[12] gewesen sein soll, erinnert es der Autor 1962 ganz so, als ob das «Ideal von wohlbehüteter Störungslosigkeit»[13] vorerst auch dort erhalten geblieben wäre: «Die Zeit war – wenn auch durch den tobenden Bürgerkrieg in Rußland gefährlich – für uns doch glücklich und reizvoll. Wir lebten jedenfalls materiell weit besser als alle Menschen damals in Österreich; die ‹Bulka›, der weiße Wecken, war unser täglich Brot, und die Küchen, unter österreichischer Leitung, waren gut. Es gab ein Theater, ein Orchester, ein lichtes, freundliches Kasino, und das blieb auch so, als das Regime von Rot auf Weiß wechselte. (…) Gewisse Cafétische im Kasino wurden denen des ‹Café Museum› in Wien immer ähnlicher (…).» (WKD, 133)

In Krasnojarsk traf Doderer auch auf seinen Schul- und Jugendfreund Ernst von Scharmitzer, der sich später daran erinnert hat, wie Doderer «[d]as Dasein im sibirischen Lager (…) nur insoweit zur Kenntnis [nahm], als es seiner schriftstellerischen Arbeit diente.»[14] Und diese fand denn auch von Anfang an begeisterten Zuspruch. Über den gemeinsamen Freund Hans von Woynarowicz, den der Kavallerist Doderer noch von der gemeinsamen Ausbildung beim Militär kannte, schreibt Scharmitzer: «Mit einigem Staunen nahm ich wahr, daß mein Freund in Doderer förmlich ein höheres Wesen sah. Er war ihm ein bedingungsloser Bewunderer. Ein selbstloser Bewunderer. Wann immer er etwas abzugeben hatte, gab er es mit innerster Befriedigung an Doderer weiter. Wichtig, so sagte er, der Opfernde, wichtig allein sei, daß Doderer gesund nach Haus komme: er sein ein großer Dichter.»[15]

Der Dichter selbst urteilte über seine Anfänge später weit weniger vorteilhaft: «Ich war ein dummer Rüpel, aber mit meinen zweiundzwanzig Jahren ein literarischer Schwerarbeiter, von einem Fanatismus, der mir heute wild und roh erscheint. Ich warf alles Fertige sofort weg, es sollte nur Übungs-Stoff sein.» (WKD, 134)

An der Ernsthaftigkeit der Anstrengung indes herrschten keinerlei Zweifel. Drei Monate, nachdem er im August 1920 wieder nach Wien heimgekehrt war, hielt Doderer in seinem Journal fest: «Ich glaube, die vier Jahre in Russland haben über mich entschieden. Ob jenes Resultat aus ihnen seine Giltigkeit behaupten wird – davon kann ich jetzt nichts wissen. Aber ich bin so ganz und gar nach dieser (inneren) Richtung hin organisiert worden, daß mir ein anderer Weg nicht mehr bleibt. Nur hier zeigen sich die Steckkontacte mit den Anschlüssen in die Zukunft, nur hier fühl’ ich Streben, Absicht, Richtung, Pläne – überall anders kein Leben.»[16]

Sibirien fungierte als eine Art Selbstfindungslabor, das Doderer in dem 1930erschienenen Roman «Das Geheimnis des Reichs» wie folgt beschreibt: «Manchen ist es ganz recht, einige Zeit hindurch nicht leben zu müssen, sie entdecken einen Schatz an sich selbst und beginnen behutsam das Geschenkte in der geschenkten Zeit auszupacken, und sie vertiefen sich so sehr in diese Freude, daß ihnen das nach außen führende Band ganz abdorrt, trocken wird, wie Zunder zerfällt. Warm ist es um Licht und Samowar, angeregt und erregt oft das abendliche Gespräch, das Dasein zweifellos menschenwürdig: dabei steht man im milden Lichte des Märtyrers und weiß sich als armer Gefangener von aller Welt achtungsvoll ernst genommen.» (FP, 343)

WEITES LAND UND WEITES HERZ

Dabei war sich der junge Heimito, der im April 1915 als Einjährig-Freiwilliger in das Niederösterreichische Dragoner-Regiment «Friedrich August König von Sachsen» Nr. 3 bei den sogenannten «Sachsendragonern», einem der nobelsten Kavallerieregimenter überhaupt,[17] eingerückt war, seiner privilegierten Position durchaus bewusst. Während für ihn die anstrengendste Tätigkeit im Lager darin bestand, «bei den Spazierrunden im Hof viele hunderte Male vor immer denselben vorbeikommenden Offizieren zu salutieren»,[18] stellte sich die Lage für das Gros der rund 400.000 Kriegsgefangenen[19] völlig anders dar: «In den riesigen Lagern dagegen, wo die kriegsgefangenen Mannschaften in Pritschen übereinandergestapelt, ohne Bett und Wäsche hausen, kommen die Menschen nicht auf solche dünne und feine Geleise, weil der russische Staat aus diesen Leuten an Arbeitskraft herausreißt, was immer sich nur herausreißen läßt: der rapid anwachsende Lagerfriedhof empfängt das verbrauchte Material.» (FP, 343 f.)

In der Folge listet Doderer in «Das Geheimnis des Reichs» 42.000 Tote auf, die in den verschiedenen Gouvernements und Lagern dem Skorbut, der Malaria oder einer der gefürchteten Flecktyphus-Epidemien zum Opfer gefallen waren. (FP, 344) Dergleichen historiographische Details, zu denen sich auch noch Zitate aus Lenin-Reden oder ausführliche Kommentare zum Verlauf des Bürgerkriegs gesellen, widerstreben der ästhetischen Konsistenz des Romans, der auf Wunsch des Autors zu dessen Lebzeiten nie wieder aufgelegt wurde.[20] Essayistische Passagen stehen hier neben lyrischen Naturbeschreibungen, expressionistisches Pathos wechselt mit lakonischer Sachlichkeit, eine recht undodereske Parataxe mit stream-of-consciousness-artig dargebotenen Erinnerungen.

Einen offenkundigen Bezug zum Hauptwerk stellen jene Figuren her, die hier ihren ersten Auftritt haben: Doderers Alter Ego René von Stangeler etwa oder der Oberleutnant Zienhammer, der als skrupelloser Opportunist eingeführt wird,[21] aber hier noch nicht annähernd jene für die gesamte Struktur des Romans bedeutsame Rolle innehat, die ihm dann im «Grenzwald» zugewiesen werden sollte.

Zahlreiche Begriffe, Konstellationen und Dogmen, die von Doderer später entwickelt und elaboriert werden, finden sich bereits im Frühwerk.[22] Ganz offenkundig ist dies im Hinblick auf die Vorstellung «einer sozusagen apriorischen Geographie und Topographie» (WKD, 234), die in Doderers Schaffen von Anfang an eine zentrale Stellung einnimmt. So wie das Personal der «Strudlhofstiege», der «Dämonen» oder «Der Wasserfälle von Slunj» in seinem Denken und Handeln vom Genius Loci affiziert wird, so liegt auch das Schicksal Russlands in der vielfach und emphatisch evozierten Weite des Landes beschlossen. Geographie und Physiognomie scheinen auch dem frühen Doderer allemal bedeutsamer als Ideologie:

«Aber im Großen und Ganzen bewies doch das Bauernvolk, daß es, rascher als die ‹Gebildeten›, die geschichtliche Zukunft seiner großen Nation richtig, wenn auch dumpf erfaßte: ständige Meutereien, Überlaufen zu den Roten in geschlossenen Formationen, hundertweises Märtyertum unbotmäßiger Koltschakrekruten,[23] ein Märtyrertum ohne eigentlich bewußte Gesinnung – solches begleitete Aufstieg und Niedergang der Reaktion, zeigte immer deutlicher den neuen Kurs, in den sich der riesenhafte Volkskörper, schwerfällig wie ein beidrehendes großes Schiff, aber doch immer bestimmter legte. Ja, das Physiognomische entschied da auch vielfach. Ja, wahrhaftig, so einfach war die Sache in manchem entscheidenden Augenblick: daß nämlich irgendeinem Grigor Petrowitsch, der da mit seinem beispiellos dummen Gesicht irgendeinem Redner lauschte – (…) daß einem solchen Grigor, Nikolai oder Wassilij, der bolschewistische Bauern-Agitator, der seinen bärtigen Apostelkopf emporwarf und wilde Reden gegen Staat, Kirche, Religion und Kapital und Großgrundbesitz ausstieß, (…) eben hundertmal näher, besser, trauter, wärmer schien als die wohlrasierte tote Undurchsichtigkeit eines englischen oder amerikanischen Angesichts.» (FP, 419 f.)

Die Passage ist ein Beleg dafür, dass sich Doderers durchaus schwärmerische und unkritische Russophilie[24] «an der Idealvorstellung eines in seinem Wesen unveränderlichen Volkes als Gegenbild zur Revolution entzündete.»[25] Noch viel unverstellter, weil vom Rapport historischer Fakten weitgehend entbunden, manifestiert sich diese Haltung in jener Reportage, die unter dem Titel «Das russische Land» am 16. Oktober 1920 in der Wiener Mittags-Zeitung erschien und die Wendelin Schmidt-Dengler «als Doderers erste Veröffentlichung im deutschen Sprachraum»[26] identifiziert hat. Der Artikel erschien zwar unter dem Namen von Doderers Hauslehrer Albrecht Reif, legt allerdings «auf Grund der eindeutig von Doderers Hand stammenden Niederschrift [in einem von dessen Studienheften, K. N.] und den daran erfolgten Korrekturen als auch auf Grund innerer Kriterien wie Wortmaterial, Satzbau, Verwendung der Motive und des gedanklichen Hintergrundes» die alleinige Autorschaft Doderers zwingend nahe.[27]

Als sich die Front des Bürgerkriegs Anfang 1920 bis tief nach Sibirien verlagert, ist auch die splendid isolation der gefangenen Offiziere beendet. Die Rote Armee benötigt Unterkünfte und Verpflegung, die Gefangenen müssen in Erdbaracken umziehen, wodurch auch die Gefahr, sich mit Flecktyphus oder einer anderen Seuche zu infizieren, sprunghaft ansteigt.[28] Die Geschichte von der «Flucht», auf der Doderer einen 500 Kilometer langen Fußmarsch durch eine «Kirgisensteppe» unternommen haben will, ist von Legenden umrankt und von Informationslücken perforiert.[29] Sie bildet den autobiographischen Hintergrund des besagten Artikels,[30] der indes keine Abenteuergeschichte oder escape story, sondern vielmehr einen Hymnus auf Land und Leute darstellt:

«Die Eigenart eines Landes zu schildern ist ganz ebendieselbe Sache, wie von den Gesichtszügen eines Menschen zu erzählen; jedes Land hat seine ureigene Physiognomie, die geschlossen dasteht; Rußland erst recht, und zwar von Petersburg bis Wladiwostok im Grunde ziemlich die gleiche; sei es jetzt das Uralgebirge oder die Steppe – überall sind die Dimensionen ungeheure, die Landschaft großzügig und weitgeschwungen, schwach besiedelt, wie jungfräulich: ruhende Kräfte. So auch die Seelen der Menschen, ständig unter der Wirkung einer übergroßen Natur: Kindlichkeit, wilde Leidenschaft, Roheit [sic!], ein weites, gutes Herz; sie sind alle wie aus dem Ackerboden und der Steppe gewachsen: blockhaft, rein und gar nicht kompliziert – indessen tiefen Gemütes, das schwerfällig und mit anschaulicher Denkweise seine eigenen Wege geht …»[31]

Als Peter Handke 1996 seinen berüchtigten Winterreisebericht durch Serbien publizierte,[32] in dem er die eigene Wahrnehmung des Landes gegen das seiner Meinung nach einseitige und medial verzerrte Bild Serbiens während des Jugoslawienkriegs stellt, ätzte sein Landsmann Josef Haslinger, Handke sei auf seinen Fußmärschen «etwas gelungen, was mir bisher auf allen meinen Reisen versagt blieb: Er hat das Volk getroffen.»[33] Analog dazu könnte man sagen, Doderer sei in der Steppe dem russischen Volk begegnet. Den Vorwurf, als «Edeltourist»[34] durchs Land gereist zu sein, wird man ihm freilich kaum machen können.

WIEDERGEBURT AUF DEM GEHSTEIG

«Ich bin auf dem in mäßigem Zustande befindlichen Geh-Steige (Trottoir) vor der Villa Ben Tiber im Haltertale hinter Hütteldorf am 25. Oktober des Jahres 1963 um die Mittagszeit zur Welt gekommen»,[35] notiert Heimito von Doderer unter der Überschrift «Lebensbeschreibung» am 29. Oktober 1963 in sein Tagebuch. Anfang September, also um den 67. Geburtstag des Autors herum, waren «Die Wasserfälle von Slunj» erschienen und hatten den Erfolg der vorangegangenen «Merowinger» noch übertroffen: «[D]ie Leser warteten keine Kritiken mehr ab, die erste Auflage war blitzschnell vergriffen, und das Buch schien allerorts in den Bestsellerlisten auf, in Österreich sogar – ein Mal – auf dem ersten Platz.»[36]

Der Autor indes hatte keine Muße, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. «Die Wasserfälle» waren nur der erste Satz des – gleich einer Symphonie – als viersätziges Opus geplanten «Roman No 7», dessen Gesamtumfang Doderer zufolge «etwa dem der ‹Dämonen›»[37] entsprechen sollte. Im Dezember 1961 hatte ein histologischer Befund ergeben, dass die «Sängerknötchen» an den Stimmbändern, die den Autor zeitweise fast zum Verstummen gebracht hatten, von Krebs durchwuchert waren. Die Diagnose machte eine hochdosierte Bestrahlungstherapie nötig und machte Doderer naturgemäß schwer zu schaffen.[38]

Das Haltertal ist für Doderer-Leser vertrautes Terrain: Emma Drobil und Dwight Williams unternehmen zu Beginn der «Dämonen» einen Ausflug dorthin. Der Autor selbst hatte ein Faible für diesen Winkel des Wienerwaldes, auf den im «Grenzwald» auch einer der österreichischen Offiziere im russischen Kriegsgefangenenlager während einer Kartenpartie zu sprechen kommt: «‹Ich möchte wieder einmal durch das sogenannte Haltertal gehen›, sagte einer von den Tarockanten. (…) Dort ist auf der rechten Seite eine ganz merkwürdige enorm große Villa, eigentlich schon ein Palast. Soll von einem berühmten Architekten sein.» (GW, 82)

Bei Letzterem handelt es sich um niemand Geringeren als den Wiener Jugendstil-Pionier und Stadtplaner Otto Wagner, der das Gebäude 1886 für sich und seine Familie bauen ließ. Aus der einschlägigen Literatur ist das ausladende, von ionischen und dorischen Säulen dominierte Haus, das Doderer zunächst als ein «Maximum an verrückt gewordener roher Geschmacklosigkeit»[39] erschien, auch als Villa Wagner I bekannt. Die strenger und schlichter gehaltene Villa Wagner II findet sich auf dem benachbarten Grundstück mit der Adresse Hüttelbergstraße 28 und wurde errichtet, nachdem Wagner das erste der beiden Gebäude an Ben Tieber[40] verkauft hatte, jenen «großen Varieté-Unternehmer» (GW, 82), der im «Grenzwald» unter den Namen Béla Tiborski auftritt.

Im Frühjahr 1963 kreisen Doderers Gedanken immer intensiver um «[d]iese merkwürdige Prunkvilla im Haltertal»,[41] die für ihn zusehends ins Zentrum von «R 7/II», also des zweiten Satzes des «Roman No 7», rückt: «Die Villa ist die Mitte, und natürlich Sibirien auch: beide müssen auf ein gleiches hin-spielen: das Abenteuer der zwanziger Jahre.»[42]

Ganz generell erweisen sich Doderers Figuren als raumbestimmt: «Es sind die loca, aus denen die personae erwachsen.»[43] Im besonderen Maße aber gilt dies für den «Grenzwald», wo die Orte feststehen, noch ehe Personenkonstellationen und Handlungsverläufe fixiert werden. Erst zu Beginn des Jahres 1964 ist von jenem Zeithammer bzw. Zienhammer die Rede,[44] der als Mörder des bereits aus den «Wasserfällen» bekannten Zdenko von Chlamtatsch entworfen wird,[45] ehe der Autor beschließt, ihn durch Ernst von Rottenstein «zu supponieren», weil er sich den Zdenko aus Symmetriegründen für die beiden «Ecksätze» des «Roman No 7» aufsparen will.[46] Die Verbindung mit den «Wasserfällen» bleibt dennoch erhalten, zählt doch auch der neu eingewechselte Spieler zu den «Elementen» der dort beschriebenen Gymnasialklasse: «Die schlimmsten unter ihnen waren drei und hießen Ventruba, Rottenstein (Freiherr von) und Doderer.» (WS, 229)

«Der Grenzwald», im Tagebuch meist mit dem Kürzel «R 7/II» bezeichnet, wird zur Schwelle, die es zu überschreiten gilt, um auf völlig neues Terrain vorzudringen, zur idée fixe, die Doderer mit einem selbst für ihn unüblichen apodiktischen Pathos entwickelt,[47] ja, zum Prüfstein seiner Schriftstellerexistenz stilisiert: «Ich muß mir doch darüber im klaren sein, daß ich entweder jetzt ein Schriftsteller sein werde oder aber mein Leben vertan habe wie die Meisten.»[48]

Im Oktober 1963 besucht Doderer die verfallende und gerüchtehalber von Demolierung bedrohte Villa, die übrigens knapp zehn Jahre später vom Maler und Gütersloh-Schüler Ernst Fuchs (1930–2015) gekauft und schließlich zum Privatmuseum umgebaut wird, und findet «[a]lles entsprechend meinen Vorstellungen».[49]

DIE ERFINDUNG DES SCHICKSALS

Man fragt sich, ob die Sache auch anders hätte ausgehen können, sprich: ob eine etwaige Diskrepanz zwischen der real existierenden Villa und jener in der Imagination des Autors diesen dazu bewogen hätte, die Partitur von «R 7/II» noch einmal neu aufzusetzen. Denn letztlich basiert die von Doderer behauptete «Priorität der Form vor den Inhalten»,[50] die im Falle des «Grenzwaldes» zwar triftiger ist als in anderen Fällen, aber auch hier a posteriori nachgebessert werden musste,[51] immer auf dem gleichen Trick: Die Stimmigkeit der formalen, angeblich auf dem Reißbrett entworfenen Konstruktion soll dem Schicksal der Figuren den Anschein höherer Notwendigkeit verleihen, leitet sich aber ihrerseits aus dem Schicksal ab, das der Autor über diese verhängt hat. Es ist ein Zirkelschluss, mit dem Doderer hier operiert, und Schmidt-Dengler hat zu Recht auf jene «Schicksalsideologie»[52] verwiesen, die die vermeintlich prioritäre Form zu ihrer Voraussetzung hat.[53]

«Ich werde doch nicht einen ‹Roman aus dem Russischen Bürgerkrieg› schreiben? Garnicht!»,[54] ruft sich Doderer in seinem Tagebuch selbst zu und spielt damit auf «Das Geheimnis des Reichs» an, jenes Buch, das im Untertitel[55] als «Roman aus dem russischen Bürgerkrieg» ausgewiesen ist. Entsprechend seinem neu entwickelten Konzept des «roman muet», also des «stummen» Romans, der «den äußersten Gegensatz (…) zum Schreiben über irgendetwas»[56] darstelle, richtet Doderer an sich selbst den Auftrag, «[d]ie allgemeinen Vorgänge durchaus stumm (‹muet›) vor[zu]bringen», es also anders zu halten als im «Geheimnis», «wo die Geschichte der Revolution in kleinen geschlossenen historiografischen Blocks selbständig auftritt».[57]

Aber obschon «Der Grenzwald» die gelegentliche Faktenhuberei des Romans von 1930 meidet, ist auch er vor historischem Detaillismus nicht gefeit: «Es galt, sie [die deutschen, österreichischen und ungarischen Kriegsgefangenen, K. N.] für eine große Sache zu gewinnen, als ‹Vorhut der proletarischen Weltarmee›, wie ja Lenin auch die russischen Soldaten, Matrosen und Arbeiter genannt hatte, in seiner Rede vor der dichtgedrängten Menge unter dem Hallendach des finnländischen Bahnhofes zu Petersburg am Abend des 3. April 1917.» (GW, 90)

Möglich, dass Doderer derartige Angaben, deren Funktion innerhalb der angestrebten Architektur des Satzes nicht ohne Weiteres einsehbar sind, als Faktizitätsmarker eingesetzt hat. Wirklich «muet» kommen sie jedenfalls nicht einher. Stärker noch als solche Unschlüssigkeiten im Detail interessiert freilich die Frage, warum der Autor ausgerechnet beim «Grenzwald», den er als «mein erstes objektives Werk»[58] betrachtet, und mit dem er «das schmähliche Direkt-Autobiografische»[59] endlich zu überwinden hofft, auf einen von autobiographischen Erfahrungen gesättigten Stoff zurückgreift, den er darüber hinaus schon einmal verwendet hat.

DER VERBRECHER AUS IMPOTENTER WURSTIGKEIT

Neben persönlichen Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft in Sibirien gibt es ein Ereignis, das sowohl im «Geheimnis des Reichs» als auch im «Grenzwald» prominent figuriert. Es handelt sich um eine Meuterei junger Rekruten in Sommer 1919, die von der (auf Seiten der Weißen kämpfenden) Tschechischen Legion und Kosakenverbänden niedergeschlagen wurde: «Diese sechshundert Mann waren überwältigt worden, hatten sich auf Gnade ergeben, wurden alle hingerichtet, sechshundert Mann, auf einer Wiese geschlachtet wie Vieh.» (FP, 403) «Die Erschießungen (…) dauerten von frühmorgens bis abends. (…) Man vernahm, daß mehrere Hundert junger Männer hingerichtet worden seien.» (GW, 167)

Im Zusammenhang mit diesem Aufstand werden auch neun ungarische Offiziere aus dem Lager «im Verdacht der Anstiftung» (FP, 403) erschossen – ein wohl willkürliches Urteil, das im «Grenzwald» zum Angelpunkt der Handlung wird. Kapitän Susanka von der Tschechischen Legion hält Oberleutnant Zienhammer zur Mithilfe bei der Identifizierung der Ungarn an, die diesem bekannt sind: «‹Meszáros, Attila›, meldete der tschechische Feldwebel. ‹Ja?!›, sagte Susanka zu Zienhammer. ‹Jawohl›, antwortete Zienhammer.» (GW, 169) Nachdem auf diese Weise die Korrektheit der Namen bestätigt worden ist, werden die Beschuldigten «am übernächsten Tage von einem tschechischen Kriegsgerichte verurteilt und dann erschossen. Man führte sie in die Steppe hinaus, hieß sie vorangehen und machte sie von rückwärts nieder.» (GW, 173)

Während der Identifizierung sieht Zienhammer, wie er von einem Fenster aus von Rottenstein beobachtet wird (GW, 170), ein Moment, der im weiteren, unrealisiert gebliebenen Verlauf der Handlung fatale Folgen hätte haben sollen: Als vermuteter Zeuge einer Verfehlung, die zwar «juridisch nicht leicht greifbar»[60] ist, Zienhammer aber nervös macht, weil er aus Zeitungsberichten von Prozessen gegen Kameradenmörder in Sibirien erfahren hat,[61] steht Rottenstein der Nachkriegskarriere des Oberleutnants in Wien im Wege. Im Finale des Romans dann sollte Rottenstein von Zienhammer im Grenzwald auf dem Grundstück der Villa Tiber erschossen werden.

«Zienhammer ist weitaus kein perfekter Schurke», hält Doderer im Tagebuch fest.[62] Er, «der Undicidierte», sei lediglich «für alles anfällig: so kann aus der Mittelmäßigkeit das Finstere kommen und zur Tathandlung werden.»[63] Ähnlich dem Conrad Castiletz aus dem «Mord» wird Zienhammer vom Autor als karrierestrategisch alerter Opportunist konzipiert – «Er will es nur recht machen, richtig, vorteilhaft»[64] –, worin Doderer durchaus Züge seiner selbst,[65] darüber hinaus aber einen allgemeingültigen Typus erblickt: «Zienhammer ist ein wahrer Repräsentant unserer Zeit: ein Mann der routinehaften, impotenten Wurstigkeit, unansprechbar, aber auch unangreifbar: es ist daher ganz selbstverständlich, daß er siegt, daß er vernichtet, was ihm in den Weg gerät.»[66]

Jede Zeit hat ihre Lektüren. 1987 schrieb Robert Menasse über den «Grenzwald»: «Diesen Roman heute zu lesen, ohne an Waldheim[67] zu denken, ist fast unmöglich. Ebenso unmöglich, jetzt an Waldheim zu denken und ihn nicht als ein wandelndes Zitat zu sehen, beziehungsweise als die farcehafte Wiederholung einer von der Literatur als Katastrophe beschriebenen österreichischen Existenz.»[68]

HEIMITO UND DER WOLF

Die Arbeiten, mit denen Doderer in den frühen 60er-Jahren intensiv befasst ist, konstituieren einen seltsamen historischen Hallraum, in dem man vielerlei Echos wahrnehmen kann, ohne dass sich deren Quelle ausmachen ließe. Alexandra Kleinlercher hat die Frage aufgeworfen, «ob im ‹Grenzwald› der 1. Weltkrieg nicht quasi für den 2. Weltkrieg steht».[69] Dies wird von Doderers Biograph und ehemaligem Sekretär Wolfgang Fleischer zwar verneint,[70] die Frage scheint mir aber doch in die richtige Richtung zu weisen. In diesem Zusammenhang ist es jedenfalls interessant, dass sich Doderer noch vor seiner Arbeit am «Grenzwald» intensiv mit jenem Schlüsselwerk der österreichischen Nachkriegsliteratur beschäftigt hat, das sich wie kein anderes zuvor mit der braunen Vergangenheit des Landes und dem kollektiven Beschweigen derselben auseinandergesetzt hat.

Hans Leberts Roman «Die Wolfshaut»[71] ist 1960erschienen, Doderer hat ihn aber bereits 1958 im Typoskript[72] und anlässlich der Veröffentlichung noch zweimal gelesen[73] und sogar eine Besprechung verfasst. Eine erste, vom März 1961 datierende Version[74] zieht er wieder zurück, weil diese dem bewunderten Roman «vor mindern Ohren geschadet hätte»,[75] und schwächt seine Einwände in der schlussendlich im Merkur erscheinenden Besprechung[76] ab. Dafür zeigt sich der der urbane «Schönwetterromancier»[77] und Fernblick-Fetischist Doderer von Leberts Evokationen verregneter provinzieller Enge angetan.[78] Das Dorf, in dem «Die Wolfshaut» spielt, trägt den sprechenden Namen «Schweigen», und vom kollektiven Verschweigen, Vertuschen und Verdrängen einer schwärenden Vergangenheit, deren Verbrechen nur weitere Untaten hervorbringen, handelt dieser Roman auch. Und obwohl er dessen Handlung relativ ausführlich referiert, verzichtet Doderer auf jeden Kommentar, ja, er legt geradezu «ein Veto gegen die Suche nach einer Botschaft»[79] ein, indem er dem um 22 Jahre jüngeren Kollegen vorhält, passagenweise «durch sinnigen Kram» eine unangemessene Bedeutungsschwere zu erzeugen, also auf «Aussage statt Ausdruck» zu setzen.[80]

Dass Doderer dem Inhalt der «Wolfshaut» so wenig Beachtung schenkt, ist insofern verwunderlich, als er im «Grenzwald» ein ganz ähnliches Sujet aufgreift. «Die Parallelen sind auffallend: Es geht in beiden Fällen um die Erschießung von Kriegsgefangenen, es geht um die Ermordung der Mitwisser, es geht um die Verbrechen der Vergangenheit, die in einer Gegenwart unter geänderten politischen Bedingungen herausapern.»[81] Das Schweigen, das Doderer hier hinsichtlich der Thematik von Leberts «Schweigen»-Roman bewahrt, macht hellhörig und erweckt den Verdacht, dass die zeitgeschichtlichen Bezüge, die er auch im Zusammenhang mit seiner Arbeit am «Grenzwald» herunterzuspielen trachtet, bedeutsamer sind, als es der Autor wahrhaben will. Wiederkehr des Verdrängten? Nun, zumindest eine Wiederkehr des Abgewiesenen: «Man kann es zwar mit der Gabel hinaushauen, es kommt aber doch wieder!»[82]

EICHMANN UND DIE OSTEREIER

Tatsächlich wird der Themenkomplex Nationalsozialismus bei Doderer stets nur über die Bande angespielt, in Andeutungen und Analogien erfasst. Eine Ausnahme bildet die Erzählung «Unter schwarzen Sternen», die um den Jahreswechsel 1962/63 niedergeschrieben wurde.[83] «Es ist hier übrigens das erste mal, daß ich als Künstler das Substrat Krieg und Nazizeit berühre»,[84] schreibt Doderer am 21. Mai 1963 an seinen Freund Ivar Ivask.

In der Tat werden in dieser höchst eigenartigen Erzählung die Dinge ausnahmsweise beim Namen genannt. Der Ich-Erzähler ist einer Dienststelle der Luftwaffe zugeteilt, in der er «als Prüfer und Gutachter (…) Anwärter für die Offizierslaufbahn examinierte», (E, 464) eine Funktion, die auch der Autor selbst innehatte.[85] Unter den Gästen des Rechtsanwaltes R., der als ein «Freund der Bedrängten» (E, 466) ausgewiesen wird, finden sich auch Angehörige der SS, von denen einer sogar «sein ‹Unterseeboot› mitbrachte – eine ältere jüdische Dame, die in seiner Wohnung versteckt lebte und ihm das Leben schwer machte». (E, 470) Man macht ein bisschen Hausmusik (Beethovens Klavier-Trio Opus 70) und ist generell sehr kultiviert. Es herrscht sozusagen «pax in bello», (E, 465) Frieden im Krieg,[86] ein Zustand, der mit einer frühen Desillusionierung durch den Nationalsozialismus begründet wird: «Grenzen, die nach 1945 wieder sehr bedeutungsvoll werden sollten, waren gesprengt, echte Notgemeinschaften waren entstanden. Den nach Österreich einmarschierten Deutschen, nicht so sehr den Truppen, als den ihnen nachfolgenden Stellen, Ämtern und Behörden, war es ja gelungen, den Nazismus innerhalb weniger Wochen in allen einigermaßen intelligenten Bevölkerungskreisen radikal auszurotten.» (E, 470) Dass diese Darstellung den historischen Tatsachen entspricht, darf bezweifelt werden. Die Bestimmung «einigermaßen intelligent» lässt allerdings einen großen Interpretationsspielraum offen, auch im Hinblick auf den Autor selbst, der die Erkenntnis der eigenen Dummheit ja als sein eigentliches Werk ausgemacht hat.[87]

Im Epizentrum der Aufmerksamkeit der beschriebenen Kreise steht in «Unter schwarzen Sternen» ein seltsames, aus undurchsichtigen Gründen unter dem Spitznamen «die Gringos» firmierendes Ehepaar: «Herr und Frau Gringo waren zwei überzeugend gute und liebe, völlig arglose wandelnde Ostereier, und sie sahen zudem einander so ähnlich – nun, wie eben ein Ei dem anderen.» (E, 472) Um dieses Doppel-Ei wird im Salon des Rechtsanwaltes R. ein regelrechter Kult betrieben, in dessen Rahmen «man unaufhörlich sie hofierte und kajolierte, ihre Champagnerkelche füllte, Süßigkeiten herbeischleppte, mit ihnen in den Ecken flüsterte, und beide bezärtelte und streichelte». (E, 474) Ein nachvollziehbarer Grund für die Popularität des Paares wird in «Unter schwarzen Sternen» nicht geliefert. Ja, das Gespräch, das der Erzähler mit dem Mann – er heißt Manuel – führt, verschärft den Deutungsnotstand noch: «Er sagte beiläufig: ‹Man muß halt seine Pflicht tun und abwarten›.» (E, 474) Seine Pflicht zu erfüllen und ansonsten abzuwarten, das ist die Haltung der Mitläufer und Opportunisten, und die Beschreibung des Berufsfeldes, in dem dieser Manuel tätig ist, scheint einen in diese Richtung gehenden Verdacht noch eher zu verschärfen: «Gringo war stets in einem Ministerium gesessen, ein Verwaltungsfachmann von hohen Graden. Er blieb auch jetzt unentbehrlich und wurde, wenngleich Reserve-Offizier, nie einberufen.» (Ebd.)

Berücksichtigt man den zeithistorischen Kontext, in dem die Erzählung entstanden ist, wird die Verdachtslage noch prekärer. Als Doderer «Unter schwarzen Sternen» im Juni 1961 konzipierte, war der Prozess gegen Adolf Eichmann bereits seit einigen Wochen im Gange. Hinweise darauf, dass der Autor diesen verfolgt hätte, gibt es keine, «daß er indes davon erfahren hat, daran kann es wohl keinen Zweifel geben».[88] Das auf Todesstrafe lautende Eichmann-Urteil wurde im Dezember 1961 verlesen und am 31. Mai 1962 vollstreckt. Ein halbes Jahr danach begann Doderer mit der Niederschrift seiner Erzählung. Eichmann war der Inbegriff «des Schreibtischtäters, der kein spezifisches Unrechtsbewusstsein aufzubringen vermochte»,[89] einer, «der stolz darauf war, stets ‹seine Pflicht getan› und allen Befehlen gehorcht zu haben».[90]

Man möchte annehmen, dass die Berufung auf ebendiese Pflicht nach dem Eichmann-Prozess nachhaltig diskreditiert gewesen wäre. Das Prekäre dieses Sprachgebrauchs ist auch Doderers Ich-Erzähler bewusst, wird von ihm aber auch sofort wieder salviert: «Die so fragwürdig gewordene Vokabel schien in seinem Munde einen anderen Sinn anzunehmen oder den früheren zu gewinnen, was fast auf ein gleiches hinauslief.» (E, 474) Gegen solch behauptete Evidenz lässt sich schwer argumentieren. Dem Ich-Erzähler, und wohl nur ihm, erschließt ausgerechnet «[d]as Wort Pflicht» (ebd.) die mysteriöse Attraktivität der beiden Ostereier: «Sie saßen wie in einer sicheren Kapsel, er tat seine Pflicht (!), während wir, ohne Ausnahme, für oder gegen irgend was gewesen waren, von daher kommend und dorthin abgesprungen, treibende Blätter in dämonischen Stürmen, in Spiralen um Gringos uns bewegend, um ihre ruhige Mitte (…).» (E, 474)

LOB DES ZIVILEN CHARAKTERS

Wodurch genau die privilegierte Lage dieser ruhigen Mitte garantiert wird, ist – einmal mehr – nur dem Erzähler/Autor einsichtig. Dergleichen Unschärfen und vage Mehrdeutigkeiten sind charakteristisch für Doderers Spätwerk. «Unter Schwarzen Sternen» veranstaltet einen wahren Eiertanz um die Frage, wie man sich unter und gegenüber einem totalitären Regime verhalten soll und verhalten kann. Eine nachvollziehbare Antwort darauf bleibt die Erzählung schuldig,[91] dabei zeigt die «verstörend rätselhafte»[92] Geschichte, die im Übrigen mit dem weiter nicht begründeten Doppelselbstmord der Gringos endet, ganz konkrete Handlungsoptionen. Während der Versuch des SS-Mannes, sein jüdisches «Unterseeboot» zu retten, scheitert – die Frau stirbt bei einem Luftangriff –, trägt der Ich-Erzähler dafür Sorge, dass ein junger Bewerber als Offiziersanwärter nicht zur Luftnachrichtentruppe kommt (die dessen um den Buben besorgter Vater irrigerweise für ungefährlicher hält), sondern zur Fliegerabwehr. Möglicherweise hat er ihm dadurch das Leben gerettet. Der Erzähler selbst scheint dieser Auffassung zuzuneigen, spricht er doch vom «Resultat meiner Bemühungen», als er dem einstigen Anwärter siebzehn Jahre später «unter gänzlich gewandelten Sternen» (E, 485) auf dem Wiener Graben wieder begegnet: «Ich sah ihn, etwa zwanzig Schritte entfernt, in der Gegenrichtung behaglich schlendernd einherkommen, ein dicklicher, noch immer jugendlicher Mann. Das Gesicht war etwas fülliger geworden und zeigte jene Aufweichung, die fast allen Kunst-, Literatur- und Musikgelehrten eignet, weil ihr geistiger Haushalt auf dem schon Geformten beruht und nicht das rohe Material des Lebens bewältigen muß.» (E, 485)

Wenn man in «Unter schwarzen Sternen» eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus finden kann, die über diffuse Allusionen hinausgeht, dann am ehesten in dieser Apotheose ziviler Kultiviertheit, buchstäblich verkörpert durch den aus Prag stammenden Anwärter, der als «ein sympathischer junger Mann» und «dicklicher, kaum mittelgroßer Bub (…) mit einem gutartigen Gesicht» (E, 476) eingeführt wird. Schon das Erstgespräch, in dem er die Fragen des Erzählers beantwortet, «ohne im Sitzen sich aufzurichten und mit dem Oberkörper Haltung anzunehmen» (E, 477), weisen ihn als denkbar unmartialischen Typus aus: «Sein Benehmen war gänzlich zivilistisch, nicht von irgendeinem paramilitärischen Verband geprägt, wie das bei den meisten jungen Leuten damals der Fall war. Er hatte das Benehmen eines Buben aus gutem Hause.» (Ebd.)

Für soldatische Tugenden und erst recht für die entsprechenden Posen hat Heimitio von Doderer gewiss einiges übrig gehabt, vor allem in jungen Jahren. Umso bemerkenswerter ist es, dass er, der sich auf seine Reitkünste und kavalleristische Vergangenheit einiges zugutehielt, vor jeglicher Idealisierung und Romantisierung des Soldatenstandes gefeit war: «Setzt man den Soldaten an einen Schreibtisch, dann wird er zum Beamten, wobei herauskommt, daß er nie ein Soldat gewesen ist. Soldaten mit Aktentasche. Den Typ hatte es früher nicht gegeben» (E, 480), heißt es in «Unter schwarzen Sternen».

Allerdings erfolgt diese illusionslose Verabschiedung Doderers von einer obsolet gewordenen Vorstellung von Schneidigkeit nicht erst im Spätwerk und bezieht sich auch keineswegs nur auf den Zweiten Weltkrieg. «‹[I]ch bitt’ Sie recht herzlich›», redet der Wachtmeister Alois Gach in den «Dämonen» den jungen Arbeitern Leonhard Kakabsa und Niki Zdarsa ins Gewissen, die ihn dazu gedrängt haben, von einem «Reiterkampf» zu erzählen, «tun Sie ja nicht den Krieg sich vorstellen nach der Art, wie Sie’s jetzt gehört haben: das war nur am allerersten Anfang. Was dann kommen ist, die Jahre lang, das ist ein fürchterliches, wirklich a grauenhaftes Elend gewesen. (…) Freilich denkt man gern einmal an die alte Pracht und Schneid: aber die war ja gleich das Erste, was der moderne Krieg zerstört hat, die war ja nur von anno Tubak [sic!] her noch übrig blieben.» (DD, 588)

Dass «der Krieg unter Ehrenmännern, auf den ihn seine Ausbildung vorbereitet hatte, nur mehr eine Idealvorstellung war», dürfte Doderer «im Fronteinsatz bald begriffen haben».[93] Im «Grenzwald» wird sie scheinbar noch eimal beschworen: Im August 1914 wird Zienhammer «weit hinter den Kampflinien» (GW, 77) mit der Bewachung einer Brücke beauftragt, vermag diese allerdings nicht zu halten, weil seine Einheit von den zaristischen Soldaten überrascht wird: «Der feindliche Offizier trat auf Zienhammer zu, nahm Haltung an, salutierte und sagte: ‹Cherr Oberlieutenant, ich muß Sie um Ihren Dägen bitten, Sie sind kriegsgefangen.› Zienhammer gab ihm auch die Pistole. Der Russe bot mit höflicher Verbeugung sein aufgeklapptes Zigaretten-Etui. Und das war alles.» (GW, 77) Auf den ersten Blick liest sich die Passage als eine fast schon komische Apotheose der formvollendeten, auf Kameradschaft und Standesbewusstsein basierenden Umgangsformen unter Offizieren. Fehlte gerade noch, dass man mit einem Gläschen gekühlten Wodkas auf die Gefangennahme anstieße. Tatsächlich aber hat Zienhammer sich kampflos überrumpeln lassen und damit nicht nur seine militärischen Pflichten vernachlässigt, sondern auch seine Kameraden im Stich gelassen.[94] Er ist «nur eine Charge ohne Ehre»[95], und «[w]enn nur eine Seite ehrenhaft handelt, kann ein Krieg unter Ehrenmännern nicht mehr geführt werden.»[96]

Dem Offizier Doderer waren der Egoismus und die Stümperei seines Oberleutnants vermutlich so selbstverständlich, dass er es bei dieser äußerst sparsam choreographierten Abfolge von Sätzen und Gesten bewenden ließ und auf jeglichen auktorialen Kommentar verzichtete: Zigaretten-Etui auf, Klappe zu, Zienhammer ab. Was folgt, ist die Ära der Aktentaschen.

HERR VON DODERER, WIE HABEN SIE DAS GEMACHT?

Warum der Filmverächter Heimito von Doderer überraschend viel mit seinem Zeitgenossen Alfred Hitchcock zu tun hat

I. VOM FÜRSORGLICHEN UMGANG MIT VOYEUREN

Ein Mann wird durch ein dramatisches Ereignis aus seinen bisher gewohnten Lebenszusammenhängen gerissen. Genötigt, sich neu zu orientieren, wendet er sich seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu: Mit einem Fernglas beobachtet er die Vorgänge im Haus vis à vis, wobei er natürlich tunlichst darauf bedacht ist, bei seinen heimlichen Beobachtungen nicht seinerseits beobachtet zu werden. Eine attraktive Frau, die er kennengelernt hat, stellt vorerst keinen hinreichenden Grund dar, seine immer obsessiver werdenden Observationen einzustellen, bis eine Krise den Mann schließlich doch dazu bringt, dem Voyeurismus abzuschwören und die physisch recht konkrete Präsenz besagter Frau wertschätzend zur Kenntnis zu nehmen.

Zugegeben, man muss den Plot schon auf ein beträchtliches Abstraktionsniveau eindampfen, um Doderers Roman «Die erleuchteten Fenster» (1950) und Alfred Hitchcocks Film «Das Fenster zum Hof» (1954) unter einen Hut zu bringen. Aber die Ähnlichkeiten, die zwischen Julius Zihal und L. B. «Jeff» Jefferies bestehen,[1] lassen einen Vergleich allemal als lohnend erscheinen. Eine Gemeinsamkeit springt dem biographisch Informierten sofort ins Auge: Der zum Katholizismus konvertierte Doderer und der um drei Jahre jüngere katholische Brite teilten gewisse sexuelle Obsessionen, und diese haben auch unübersehbare Spuren im jeweiligen Werk hinterlassen. Bei Hitchcock etwa hatten Blondinen nicht nur in den Filmen einiges zu ertragen, sondern auch am und abseits des Set – allen voran Tippi Hedren, die er während der Dreharbeiten zu «The Birds» auch außerhalb des Studios überwachen ließ[2] und während des Drehs von «Marnie», in dem es übrigens um die Heilung einer frigiden Kleptomanin geht, mit bizarren Bekundungen seiner unerwünschten Aufmerksamkeit behelligte.[3]

Doderer wiederum hat sein Sexualleben nicht nur in den Tagebüchern verzeichnet, sondern seine diesbezüglichen Vorlieben mehr oder weniger eins zu eins ins Werk eingearbeitet. Sein Faibel für die peinliche Befragung keusch verhüllter Märtyrerinnen wird etwa von Jan Herzka geteilt, der in den «Dämonen» (1956) an den Aufzeichnungen über einen in sexualerpresserischer Absicht initiierten Hexenprozess ein sichtlich auch außerwissenschaftliches Interesse hat. Einer der beiden Knechte, die von ihrem Herrn mit der Vernehmung und Drangsalierung der beiden «Hexen» beauftragt werden – wobei auch die von Doderer selbst gern geschwungene Samtpeitsche zum Einsatz gelangt[4] –, trägt überdies einen recht verräterischen Namen: «(…) wann man kunt mit den sametten Zeug kain smercz ir zuefuegen, hett man geleich harte zuegeslagen. Undt der Heimo, der slueg sy auch ein wenig, aber er spott sy mehr noch in mannicher weis, auch mit woertten, dy ich niecht wil genennen.» (DD, 779)

In a Zihal State of Mind

«Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal», wie der Roman mit vollem Titel heißt, ist mit seinen nicht einmal 150 Seiten ein für seinen Autor unüblich schmales Werk. Auch hat Doderer den «Zihal», wie er den Roman zu nennen pflegte[5] (wir werden ihm darin bequemlichkeitshalber folgen), recht zügig in ziemlich genau einem Jahr, nämlich vom Jänner 1939 bis zum Jänner 1940,[6] verfasst. Dennoch kommt dem «Zihal» im gesamten Œuvre eine wesentlich größere Bedeutung zu, als es dessen geringer Umfang vermuten ließe. Wenn die «Strudlhofstiege» der Auskunft des Autors zufolge als «Rampe» zu den «Dämonen» gedacht war,[7] dann darf man im «Zihal» das Entrée zur «Strudlhofstiege» erblicken. Die dem k.u.k.-Kanzleideutsch nachempfundene, hypotaktisch aufgebrezelte Syntax, die im «Zihal» entwickelt wird, sollte ebenso zum Markenzeichen des Autors werden wie dessen hier erstmals voll zur Geltung kommende «skurrile Pedanterie und kauzige Ironie».[8]

Darüber hinaus kündigen sich aber auch bereits jene euphorisch aufgeladenen, ja, nachgerade ekstatisch vibrierenden Evokationen der Stadt und der sie umlagernden Landschaften an, für die der Autor berühmt geworden ist.[9] Zu guter Letzt, und damit wären wir wieder beim eigentlichen Thema, geht es im «Zihal» um Voyeurismus, dem Doderer bereits viele Jahre vor der Niederschrift des Romans zuneigte, wie eine Tagebucheintragung aus dem Juli 1923 belegt. Er pflege sich, so schreibt er dort, am Abend oft damit zu unterhalten, mit einem Opernglas die gegenüberliegenden Fenster zu observieren, «um Frauen beim Auskleiden zu beobachten. Darin liegt eigener Reiz: das sexual interessierte Hineinsehen in völlige Intimität einer Fremden. Fülle von Sensationen und Überraschungen! Jetzt noch geht sie auf und ab, öffnet das Bett, füllt Wasser in die Krüge – nun, wann werden die Hüllen fallen? Da! sie knöpft Bluse auf, streift Rock ab: weisse Schultern. Oft seh’ ich kaum mehr als das, und schon springt das Licht aus den Scheiben zurück, es wird dunkel. Wie sehr regt dergleichen auf! Aber solcher Sport ist gefährlich, kein stiller, besonnener Sommerabend daheim mehr möglich, wenn man’s nicht mehr lassen kann. Da weiss ich ½ 10 h – da geht die oder jene schlafen (schon kenn’ ich alle in Betracht kommenden Fenster!) Dann etwa um 10 h wieder diese – u. so fort».[10]

Als Doderer 1938 aus Dachau wieder nach Wien zurückkehrt, bezieht er dort eine Wohnung in der Josefstadt. Es ist weder Zufall noch bloße Bequemlichkeit, dass die Beschreibung der Zihal’schen Wohnung «fast genau mit Doderers Teil des Ateliers in der Buchfeldgasse überein[stimmt]»,[11] das der Autor damals gemeinsam mit dem verehrten Freund und Meister Albert Paris Gütersloh bewohnte. Die planmäßige nächtliche Beobachtung der erleuchteten Fenster, die in dem Roman beschrieben wird, fand tatsächlich statt. Voraussetzung dafür bot die Lockerung der kriegsbedingten Verdunkelungsvorschriften, die Doderer von der Dachterrasse des Hauses den Ausblick auf eine unbekleidet vor dem offenen Fenster turnende Frau eröffnete. «Für Heimito war’s eine unerwartete Jagdbeute», erinnert sich dessen Freund Edmund Schüller, der sich an den Pirschgängen beteiligen sollte.[12] «Er war etwas kurzsichtig, und die Schilderung am nächsten Nachmittag im Kaffeehaus fiel sehr übertrieben aus. Frau M. – wir fanden bald ihren Namen heraus – war wirklich nicht als üppige Schönheit anzusehen. Unsere Reaktion war spontan und einstimmig: ‹Ein Fernstecher muß her! Was für ein sträfliches Versäumnis, diese Gelegenheit so lange ungenützt gelassen zu haben.›»[13]

Als Leihgeberin besagten Geräts erwies sich Doderers Freundin Gaby Murad, die ein Fernglas zur Verfügung stellte, das ihr Großvater «als Cavallerieoffizier im Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 benützt hat. Es war also ein wirklicher Sechsundsechziger».[14] Als solcher wird der alte Feldstecher bezeichnet, den Zihal auf dem Tandelmarkt[15] erwirbt: «Er hatte viel gesehen. Auch etwas, was für den Amtsrat im Ruhestand Julius Zihal schlechthin unvorstellbar gewesen: den gezausten Doppeladler nämlich. Ja, dieser war in solchem Zustande gesehen worden, bei Königgrätz, im Jahr 1866, gezaust von den Preußen, gesehen vom Feldstecher: wir wollen ihn darum den ‹Sechsundsechziger› nennen.» (Z, 44)

Der eigene Voyeurismus wurde Doderer und Schüller aber allem Anschein nach rasch zu amateurhaft: «Wir waren uns bald einig, daß mehr methodisch spektiert werden müsse. (…) Da fiel eines abends die Bemerkung: man müsse viel zihalistischer vorgehen, also wie der Amtsrat vorgehen würde, wäre er durch zufälliges Geschick ein Spektier-Addikt geworden. Der Amtsrat Zihal war allen Freunden Doderers schon Jahre lang eine vertraute Figur. Er war eine erdachte Figur, genauer gesagt. Ein geistesfeindlicher, humorloser, pedantischer Subalternbeamter, ein Scheusal österreichischer Eigenart.»[16]

Schüllers Erinnerungen scheinen indes nur wenig glaubwürdig. Fest steht nämlich, dass sich Doderer den Zihal von Gütersloh «ausgeliehen» hat[17] und erste Hinweise auf diesen Aneignungsvorgang im März 1939 in seinem Tagebuch vermerkt.[18] Woher und warum Freunde des Autors den Zihal also «schon Jahre lang» gekannt haben sollten, als sich Doderer und Edmund Schüller im Josefstädter Atelier voyeuristisch verlustierten, bleibt einigermaßen rätselhaft. Keine Frage, Julius Zihal ist ein Pedant. Ob Doderer dies als schlechte Eigenschaft angesehen hätte, darf indes bezweifelt werden, bezeichnete er sich doch selbst «geradezu stolz als einen Pedanten».[19] Auch von der konstatierten Geistfeindlichkeit und Humorlosigkeit hat der Autor seinem Amtsrat vor dessen Menschwerdung etwas mitgegeben: «Sie verzeihen schon, Sie sind ein akademisch gebildeter Mann, alles in Ehren, Sie wissen», gesteht er seinem Gesprächspartner, dem hier selbstverständlich mit «c» geschriebenen Doctor Döblinger.[20] «Aber ich bin ein ernster Mensch. Und ich lese keine Romane. Literatur ist für mich das, was ein Jud’ vom anderen abschreibt.»[21] (Z, 14)

Das ist, so muss man annehmen, nicht kokett oder augenzwinkernd, sondern im antisemitischen Vollernst gesprochen. Noch steckt der Amtsrat fugenlos in seinem Amtsrats-Charakter und seiner Amtsrats-Sprache, denkt er doch «wörtlich» in Phrasen wie «Dunkelheit tut not» (Z, 34) oder «als urgent anzusehen» (Z, 73).

Julius Zihal ist gewiss ein problematischer Charakter. Als «Scheusal» wird man ihn aber schwerlich klassifizieren können, wir begegnen ihm lediglich vor seiner «Menschwerdung». Diese wird bei Doderer als eine Art produktiver Selbstentfremdung begriffen, die eine Distanz zur eigenen Person voraussetzt. Dass Zihal über diese zunächst noch nicht verfügt, wird mit der ständig variierten Metaphorik eines Sacks oder Säckchens erfasst, aus dem sich der Amtsrat nicht zu befreien vermag. Er «lief gleichsam im Sacke, im Sacke des eigenen Zustands»; (Z, 48) «blieb sitzen im Säckchen»; (Z, 49) «spürte sozusagen das Stecken im oben zugebundenen Säckchen, das Stehen neben dem Leben»; (Z, 56) «stieß jetzt an das oben zugebundene Säckchen», (Z, 61) usw., usf.

Die systematische Beobachtung der erleuchteten Fenster ist noch nicht zu letzter zihalistischer Konsequenz erblüht, da wird der Voyeur gerade im Akt des Observierens der eigenen Gespaltenheit gewahr: «Julius wußte nun wohl, daß alle Operationen am Fenster III jetzt besser wären zu unterlassen gewesen. Aber mitsamt seinem Wissen fand er sich dann selbst immer wieder dort beschäftigt, während seine Vernünftigkeit und Besorglichkeit neben ihm lehnte, wie ein weggestellter Regenschirm. Dem Biographen Zihals erscheint dieser Punkt deshalb so wichtig, ja, innerhalb der Lebensgeschichte des Amtsrates geradezu als bedeutend, weil ganz außer Zweifel steht, daß Julius Zihal die Zweigeteiltheit der Menschen-Natur, welche mitunter auftritt (…), daß Zihal diese Zweigeteiltheit zum allerersten Male in so elementarer Weise selbst erlebte.» (Z, 73)

Diese zur Einsicht befähigende Empfindung manifestiert sich sogar auf ungewohnte Weise physiognomisch: «Er lächelte nämlich unter dem Schnurrbart. Man wird sagen: vermutlich säuerlich. Aber daß er überhaupt lächelte, sei’s gerade säuerlich – und nicht etwa blöde oder verglast – eben das scheint uns eine andere Fähigkeit in Zihal zu beweisen, die er vielleicht zum ersten Male dergestalt bewährte, in einer so beispielhaften inneren Lage nämlich. Man kann an einem pensionierten Amtsrate die erstaunlichsten Entdeckungen machen: dieser besaß also die Fähigkeit zur Ironie!» (Z, 73 f.)

Geteilte Freuden sind doppelte Freuden