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Wer das soziale Leben von Menschen begreifen will, muss mit Bestimmtheit über Veränderliches sprechen können. Das erfordert einen irgend bestimmten Begriff von Geschichtlichem. Gerade dieser droht aber nicht nur in den historistischen, posthistorischen und postmodernen Methodologien, sondern auch in der neueren Philosophie verloren zu gehen. Demgegenüber vertritt der vorliegende Band in der Tradition kritischer Geschichtsphilosophie, dass Denken insofern historisch und bestimmt ist, als seine Begriffe aus fortschreitender Kritik hervorgehen und in diesem Prozess ihre spezifische Bestimmtheit erhalten. Diese These rekonstruieren die Autoren von den theoretischen Grundlagen aus. Mit Beiträgen von Andreas Arndt, Peter Bulthaup, Günther Mensching, Tobias Reichardt, Michael Städtler, Hendrik Wallat und Moshe Zuckermann.
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Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Grundlinien kritischen Denkens Publikationen aus dem Peter Bulthaup Archiv Band 2
Herausgegeben für das Gesellschaftswissenschaftliche Institut Hannover von Michael Städtler und Maxi Berger
Michael Städtler (Hg.)
Kontingenz und Begriff
Über das Denken von Geschichte und die Geschichtlichkeit des Denkens
© 2019 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springewww.zuklampen.de
Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt
ISBN 978-3-86674-732-6
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Wir widmen diesen Band dem Andenken an Dr. Adelheid (Heide) Homann 30.3.1945–1.1.2019
Cover
Titel
Impressum
Michael Städtler
Aspekte eines kritischen Geschichtsdenkens.
Zur Einleitung
Günther Mensching
Geschichte der Philosophie als Philosophie der Geschichte
Tobias Reichardt
Geschichtliche Entwicklung als Einheit von Kontingenz und Notwendigkeit
Andreas Arndt
Ende der Geschichte – und dann?
Zu Hegels Philosophie der Weltgeschichte
Michael Städtler
Steinbruch, Kontrastmittel, Antiquariat?
Hegels Begriff der Philosophiegeschichte von dem Hintergrund aktueller Strömungen
Hendrik Wallat
Einsicht in die Notwendigkeit.
Friedrich Engels’ Beitrag zur Entpolitisierung des Historischen Materialismus
Moshe Zuckermann
»Wie es eigentlich gewesen«?
Anmerkungen zur Geschichtsschreibung in der Moderne
Peter Bulthaup
»… ich glaubte … es käme nichts mehr …« (Hanno Buddenbrook).
Zum Ende der Philosophie
Peter Bulthaup
[Über die Darstellbarkeit philosophischer Tradition]
Autorendaten
Nachwort zur Reihe
Weitere Bücher
Endnoten
Michael Städtler, Hannover
Zur Einleitung1
»Aber wo beginnt die verfluchte Pflicht des Aufschreibers – der, ob er will oder nicht, Beobachter ist, sonst schriebe er nicht, sondern kämpfte oder stürbe –, und wo endet sein verfluchtes Recht?«
(Christa Wolf)2
»Totgesagte leben länger.«3
Als die Philosophie sich von dem Schrecken der postmodernen Toterklärung der Geschichtsphilosophie4 zu erholen begann, entstand, nicht zufällig im Gefolge des Zusammenbruchs des Ostblocks und der diesmal als Apologie des siegreichen westlichen Systems gemeinten Rede vom ›Ende der Geschichte‹5, um das Jahr 2000 eine umfangreiche Debatte über die Möglichkeit einer Rehabilitation der Geschichtsphilosophie.6 Der überwiegende Teil dieser Debatte nimmt die analytische und postmoderne Kritik am Geschichtsdenken als nunmehr unübergehbare Voraussetzung an. Grundsätzlich gilt die Geschichtsphilosophie der Aufklärung, wie sie in Kant und Hegel mündet, als indiskutabel; sie verfällt abstrakter Negation, selbst dann, wenn letztlich metaphysische Modelle wie die Teleologie ›rehabilitiert‹ werden sollen. In dem durch die abstrakte Negation entstehenden Vakuum siedeln sich seither graduell abgeschwächte Geschichtsphilosophien an, die einerseits zu vage sind, um offensiv gegen die Destruktion der Geschichtsphilosophie zu bestehen, andererseits aber noch zu prätentiös, um nicht auch wieder dieser Destruktion zu verfallen.7 Keiner der Texte bestreitet hingegen valide die theoretische Legitimation jener Destruktion. Tatsächlich aber fügt weder die analytische noch die postmoderne Kritik dem Geschichtsdenken etwas Essentielles hinzu, was nicht schon vorher konkreter und präziser gedacht worden wäre: Dass beispielsweise in der Darstellung von Geschichte narrative Elemente eine wesentliche Bedeutung haben, ist seit Langem ein Gemeinplatz der Geschichtsphilosophie; wer jedoch heute das Narrative in Geschichte und Philosophie betont, sollte sich auf dem avancierten Stand ästhetischer Formentwicklung bewegen und die Grenzen ästhetischer Darstellbarkeit in der Darstellung selbst als notwendige Brüche reflektieren. Diese Grenzen ergeben sich indes aus der Diskrepanz der humanen Bestimmung der Menschen in ihrer Geschichte zu deren real verfestigten Bedingungen. Eine Spur dieser Reflexion verläuft in der Moderne vom realistischen Bildungsroman zu den Erzählungen Becketts (vgl. den Beitrag von Bulthaup zur Darstellbarkeit der Tradition). Dieses Niveau, das sich durch eine erzähltechnisch und damit von der Einheit des Subjekts her kontrollierte Spannung zwischen Brüchen und Kontinuität auszeichnet, erreicht die individualistisch-relativistische postmoderne Narrativkritik nicht.8
Aber insbesondere eine moralische Invektive gibt sich unangreifbar: »Spätestens seit 1945 verbot es sich, Vernunft und Geschichte noch dergestalt zusammenzudenken, daß deren Verhältnis das von Prinzip und Prinzipiierten (sic) sei.«9 Diese These muss doch die Frage provozieren, wann – und warum – sich jener Gedanke der ungebrochenen Vernünftigkeit der Geschichte einmal nicht verboten gehabt hätte: Wann war er je zulässig, also wahr? In der Geschichte hat sich immer wieder die allgemeine Gestalt von Vernunft gegen die individuellen Träger von Vernunft umgekehrt, immer wieder hat sich ein innerer Antagonismus der Vernunft in der Geschichte manifestiert.10
Was durch solche Rhetorik aus dem Blick gerät, ist die Möglichkeit einer bestimmten Kritik, d. h. der privativen Negation der Geschichtsphilosophie, deren kritischer Begriff von Geschichte sein kritisches Potential aus der systematischen Gestalt des subjectum privationis bezieht: Die bestimmte Kritik am affirmativen teleologischen Geschichtsbegriff bleibt immer noch Begriff und kann deshalb den Gegenstand begreifen und erklären, wo die abstrakte Kritik nur Raum für subjektivistische Beschreibungen lässt und mit der Auflösung des ›Kollektivsingulars‹ Geschichte in Geschichten das Denken ins mythische Zeitalter zurückbannt. Tatsächlich ist der Begriff der Geschichte, wie hier noch zu umreißen ist, etwas ganz anderes als ein nomineller Oberbegriff für Erzählungen.
Die abstrakte Kritik an Hegels angeblich theologischer Überformung des Individuums durch den Geist übersieht zunächst, dass das Verhältnis von Individuum und allgemeiner Vernunft bei Hegel selbst als Problem präsent ist und direkt gegen das Postulat einer Kraft über den einzelnen Menschen gerichtet ist. Schon der frühe Schelling hatte bemerkt, dass Geschichte weder als bloße Summe von Einzelhandlungen noch als absolute Substanz gedacht werden könne.11 Sollen Menschen sich bei ihrer Vergangenheit überhaupt etwas denken können, muss die Individualität der Erscheinungen mit einer allgemeinen Idee vermittelt werden. In diesem Sinn ist auch Hegels Geist auf die Vermittlung durch Individuen angewiesen, und die Individuen vermitteln ihr Handeln umgekehrt durch den Geist. Was Hegel nicht bedachte, war die Möglichkeit von Asymmetrie und Diskrepanz in dieser Vermittlung: dass der Geist sich gegen die Individuen, die ihn konstituieren, wenden kann, wenn die Konstitution der Lebensbedingungen im Allgemeinen nicht vernünftig ist und daher irrationale Handlungszwänge als allgemeine auftreten.12 Aber die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem im Geschichtsbegriff überhaupt ist der Form begrifflichen Denkens geschuldet und nicht als solche falsch. Das haben Autoren wie Marx, Benjamin oder Adorno erkannt, die sich an der bestimmten Kritik des traditionellen Geschichtsdenkens abgearbeitet haben um eines Begriffs willen, der Stringenz und Kontinuität im Geschichtlichen nicht ignoriert, sie aber darum doch nicht affirmativ nehmen muss. Ihre Kritik an der Sinnstiftung ist nicht die subjektivistische Feier des Sinnlosen, sondern zugleich dessen Kritik, deren Maßstab theoretisch ausweisbar bleibt als der Anspruch menschlicher Subjekte auf Autonomie und in diesem Sinn: selbstbestimmtes Glück. Dass diese Idee das geschichtliche Material, durch das sie permanent dementiert wird, organisiert, ermöglicht es den Menschen, an ihm nicht irr zu werden und nolens volens dem Irrsinn das Wort zu reden. Nicht zufällig beziehen sich die Autoren solcher Kritik auf die Marxsche Gesellschaftstheorie, denn es ist das kapitalistische Produktionsverhältnis, in dem das von der bürgerlichen Geschichtsphilosophie ventilierte Emanzipationsideal systematisch zuschanden geht. Bereits hierin, nicht erst in der voluntaristischen Volte des Faschismus, hat die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem unter Prävalenz eines falschen Allgemeinen sein historisches Modell, weshalb Horkheimer mit Recht schon relativ früh auf der systematischen Verbindung von Faschismus und Kapitalismus insistiert hat.13
* * *
Vor dem bis hierhin skizzierten Hintergrund galt die Aufgabenstellung der 2. Tagung des Peter Bulthaup Archivs der Bedeutung von Geschichtlichkeit für das kritische Denken. Die folgenden Überlegungen sollen in dieses Problem einleiten, indem sie wesentliche Aspekte eines kritischen Denkens über Geschichte exemplarisch thematisieren.
Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte
In der jüngeren Tradition kritischen Denkens sind Philosophie der Geschichte und Geschichte der Philosophie insofern miteinander verbunden, als der Philosophiegeschichtsschreibung ein Begriff davon vorausgesetzt ist, in welchem Verhältnis die systematische Entwicklung einer Wissenschaft zu den kontingenten geschichtlichen Erscheinungsweisen dieser Entwicklung steht (s. u. den Beitrag von Günther Mensching). Weil diese Erscheinungen ihrerseits als menschliches Denken und Handeln im Zusammenhang der allgemeinen Geschichte bedingt sind, ist der reflektierten Theoriegeschichte ein Begriff von Geschichte überhaupt vorausgesetzt. Dieser Begriff ist selbst nicht Gegenstand der Geschichtsschreibung oder der Geschichtswissenschaft; wo diese über den Begriff ihres Gegenstands nachdenkt, begibt sie sich auf das Gebiet der Philosophie und ist an deren Maßstäben zu messen.14 – Umgekehrt bietet die Theoriegeschichte ein Modell selbstbewussten geschichtlichen Handelns, das an der transzendentalen Einheit der Apperzeption sein Prinzip und sein Maß hat: Element dieser Geschichte können nur Erkenntnisse werden, die in der systematischen Ordnung der Wissenschaft einen Ort haben können; während dies in den Kultur- und Geisteswissenschaften hinter dem oft unreflektierten Betriebszwang zur Originalität zurücktritt, steht es in den exakten Wissenschaften außer Frage. Stringente Theoriegeschichte aber erlaubt kraft ihrer konstitutiven Rationalität die Antizipation einer allgemeinen Geschichte, die aus vernünftigen Prinzipien begründet wäre, im Unterschied zu einem bloß deskriptiven Geschichtsverständnis.15
Privative Negation von Fortschritt
Die Verbindung von Philosophiegeschichte und Geschichtsphilosophie hat Hegel als erster systematisch formuliert. Obwohl er noch dem Fortschrittsdeterminismus der Aufklärung verbunden ist, ihn sogar systematisch am strengsten durchführt, entwirft er durch die Verknüpfung von Vernunft in der Geschichte16 mit einer geschichtlichen Rekonstruktion der Vernunft zugleich die theoretischen Voraussetzungen der Kritik an der geschichtlichen Realität (s. u. die kontroversen Beiträge von Tobias Reichardt und Andreas Arndt).
Kritik an Geschichtlichem setzt nämlich voraus, dass Geschichte Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – und das heißt: im Selbstbewusstsein der praktischen Vernunft – sei. Wäre sie dies der Sache nach nicht, so blieben alle geschichtlichen Phänomene einander gleichgültig beigeordnet. Deshalb versteht sich kritische Theorie der Geschichte als privative, nicht abstrakte, Negation der Philosophie Hegels, die daher als subjectum privationis zugrunde liegen bleibt: Nicht der Fortschritt wird verneint, sondern die Vorstellung, dass er sich kraft zwingender Gesetze durch die Subjekte und wo nötig auch gegen sie durchsetze; nicht die Vernunft in der Geschichte wird bezweifelt, sondern dass sie sich widerspruchsfrei verwirkliche, dass in letzter Instanz die Geschichte selbst die »wahre Theodizee«17 sei. Dagegen wird die Unmöglichkeit festgehalten, die Opfer als Gestehungskosten aufzurechnen, am radikalsten sicher bei Benjamin, der mit der Vorstellung, die Toten zu retten, gegen deren nachträgliche Instrumentalisierung polemisierte.18
Kontingenz und Bestimmtheit
Damit das, was als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit rekonstruiert wird, für Kritik zugänglich werde, muss Geschichte im Modus der Kontingenz gedacht werden können. Soll ihre Richtung, das Ziel geschichtlicher Tat, jedoch nicht dem Zufall angehören, sondern mit Gründen bestimmbar sein, dann darf die Darstellung geschichtlicher Kontingenz aber keine willkürliche Erzählung sein, die auch anders erzählt werden könnte, sondern es muss systematische Gründe dafür geben, sie mit Wahrheitsanspruch zu erzählen. Daraus ergibt sich die Forderung nach einem Begriff von Geschichte, der umgekehrt nicht die Kontingenz im Verhältnis der Ereignisse zueinander auslöschen darf, wenn er das Geschichtliche nicht in den Modus zeitloser Vernunftwahrheit – die wiederum keinen Raum für subjektive Freiheit ließe – überführen soll.19
Ein Modell geschichtlichen Fortschritts, der vernünftig strukturiert aber nicht determiniert ist, ist, wie bereits angedeutet, die Wissenschaftsgeschichte.20 In ihr beziehen sich handelnde Subjekte im Rahmen einer transgenerationellen, diachronen Arbeitsteilung aufeinander. Die Späteren entwickeln durch Kritik an Mängeln und Fehlern der Früheren das systematische Wissen einer Disziplin im Medium der Zeit. Gleichwohl bleiben die Leistungen der Individuen ebenso zufällig wie konstitutiv für den Fortschritt. Der systematische Grund der Möglichkeit dieses Fortschritts liegt dabei in der wissenschaftlichen Sache selbst: Wissen ist der Sache nach systematisch verfasst, dieses System kann aber nur durch empirisches Handeln – Denken – dargestellt werden. Dies hat die klassische deutsche Philosophie nach Kant dazu veranlasst, die geschichtlichen Entwicklungen von Freiheit und von Wissen als miteinander verbundene Momente der geschichtlichen Selbstentfaltung von Vernunft zu denken.21 Wie sehr die Stringenz dieser Geschichtsauffassung – wie gesagt: nicht erst angesichts der Barbarei des Faschismus, sondern schon angesichts der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, d. h. der universellen instrumentellen Entwertung individueller menschlicher Existenzen – auch zu kritisieren ist, sie bleibt die Grundlage ihrer eigenen Kritik, insofern sie die Vollendung menschlicher Freiheit als geschichtliches telos auf den Begriff bringt und dadurch denkbar macht.
Mit dieser These im Hintergrund richtet sich der vorliegende Band kritisch gegen neuere Tendenzen in Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung, in denen nicht nur die kritische Geschichtsschreibung, sondern auch ein Begriff von Geschichte selbst verloren zu gehen droht. Die Geschichtswissenschaft hat sich zur Mikrohistoriographie entwickelt, die einen allgemeinen Begriff ihres Gegenstands aus methodologischen Gründen ablehnt.22 Die Entwicklung zum Historismus setzt im 19. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit Hegels teleologischem Systemdenken ein.23 Diese Auseinandersetzung kulminiert indes in der postmodernen Auflösung des Fortschrittsbegriffs.24 Auch der vom späten Marx bereits kritisch gewendete Begriff von Fortschritt als Befreiung aus der verkehrten Progressionsdynamik kapitalistischer Akkumulation – durch die vernünftige Nutzung von deren technischem Potential – verfällt solchen ›Dekonstruktionen‹.25 Von den sogenannten neuen sozialen Bewegungen wird politische Befreiung ohne allgemeine Begründung erwartet.26 Die Theorie sozialer Entwicklung zersplittert oder verdampft. Die Möglichkeit kritischer Geschichtsschreibung wird innerhalb dieses Spektrums gegenwärtig in der Haltung erblickt, sich nicht sicher zu sein, d. h. sich des bestimmten Urteils über Geschichte zu enthalten und diese für plurale Deutungen offenzuhalten (zur Genese dieser Haltung s. u. den Beitrag von Moshe Zuckermann).27
Geschichtsbegriff in der Philosophie
Auch in der Philosophie ist der Begriff der Geschichte weitgehend neutralisiert worden. Zwar wird in den postmodernen Strömungen buchstäblich alles historisiert; Historisierung bedeutet hier aber nicht, die Geschichtlichkeit eines Gegenstands auf den Begriff zu bringen, sondern den Gegenstand als bloß historischen seiner Begrifflichkeit zu entkleiden. Kontingenz und Perspektivität als Selbstzweck werden zu abstrakten Leitbegriffen immer detaillierterer Beschreibungen, in denen jeder Gegenstand in Unbestimmtheit verfliegt. In der analytischen Philosophie sollen hingegen reine Erkenntnisse überzeitlich formuliert werden. Dabei scheinen ›zu viele‹ historische Informationen zu stören, es sei denn, sie ließen sich instrumentell für die Gewinnung ›systematischer‹ Erkenntnisse einsetzen (vgl. den Beitrag von Michael Städtler). Was Geschichte in der Sache wirklich bedeutet, können beide Strömungen nicht klären, weil sie das Verhältnis von Kontingenz und Begriff einseitig auflösen. Dem gegenüber hat die Tradition kritischer Geschichtsphilosophie vertreten, dass theoretisches Denken von der Sache her wesentlich historisch sei, dass seine Begriffe und Gegenstände aus einer Tradition fortschreitender Kritik hervorgingen und nur in diesem Kontext adäquat verstanden werden könnten. Gegenwärtige Formen des Wissens sind Resultate der Theoriegeschichte und sie stehen unter sozialen und politischen Bedingungen, die ihrerseits Resultate von Geschichte sind. Viel spricht dafür, dass weder die These allumfassender Kontingenz, noch die Ausgrenzung überzeitlicher Wahrheiten aus dem geschichtlichen Denken den betrachteten Sachen gerecht wird. Es bedarf eines Begriffs der Geschichte, der es erlaubt, mit Bestimmtheit über Veränderliches zu sprechen. In diesem Begriff müsste das Verhältnis der beiden für sich abstrakten Momente thematisch sein. Mit Bestimmtheit über Veränderliches zu sprechen ist essentiell, wo menschliches Leben, insbesondere misslingendes, nicht bloß beschrieben, sondern, um des Gelingens willen, begriffen werden soll. Die Erkenntnis spezifisch gesellschaftlicher Kontingenz, die Erkenntnis, wie Kontingentes sich zur Notwendigkeit zweiter Natur verdichtet, ist eine geschichtliche Einsicht, die einer Kritik gesellschaftlicher Realität ebenso vorausgesetzt ist wie deren systematische begriffliche Rekonstruktion. Die Reflexion auf Geschichte in ihrem Verhältnis zur Gegenwart und zum systematischen begrifflichen Wissen ist deshalb eine grundlegende Aufgabe der kritischen Theorie der Gesellschaft. Diese von Karl Marx formulierte Aufgabe haben Autoren wie Georg Lukács und Walter Benjamin, aber auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer unter jeweils veränderten weltgeschichtlichen Bedingungen aufgegriffen.
Bedingungen und Möglichkeit von Geschichtsdenken
Der Sache nach ist Geschichte der Begriff der Bestimmtheit der Gegenwart durch Bedingungen aus der Vergangenheit. Damit wird unmittelbar die Gegenwart zum Kriterium der Darstellung der Vergangenheit: Diese ist nur darstellbar, insofern Gegenwart aus ihr erklärbar wird. Jede darunter zurückbleibende Auffassung von Geschichte als bloßer Summe von Geschehenem ist kein Begriff, sondern eine Vorstellung, die so oder anders ausfallen kann. Eine Geschichte, die nichts erklären will – und nur eine solche –, kann stets so oder anders erzählt werden.28 Erkenntnistheoretisch gesehen ist aber ein unbestimmter, bloß möglicher Zusammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit undenkbar, denn diese Vorstellung zerreißt die Kontinuität im Fortschritt menschlichen Wissens, die doch in den exakten Wissenschaften in systematischer Form vorliegt, die ihrerseits die Geschichte als Ganze zu ihrer konkreten Entstehungsbedingung haben. Geschichte kann widersprüchlich, sprunghaft und in Schleifen verlaufen, aber ihre retrospektive Rekonstruktion ist nur begrifflich möglich. Sprünge und Widersprüche sind vom Begriff aus als dessen Anderes bestimmbar.
Die Möglichkeit einer solchen begrifflichen Darstellung von Geschichte wurde nun sowohl im historischen Detail29 als auch an ihren zentralen Begriffen – Fortschritt und Entwicklung – angegriffen: Diese Begriffe wurden als moderne Narrative, unheilvolle zumal, einer Metahistorisierung unterzogen und als systematische Begriffe ›dekonstruiert‹.30 Tatsächlich hat es den Begriff des Fortschritts vor der Neuzeit nicht gegeben und in der gegenwärtigen, sich postmodern verstehenden Gesellschaft verschwindet er wieder. Aber auch diese Beobachtung lässt sich im Rahmen des Fortschrittsbegriffs deuten: Die Neuzeit ist das Zeitalter, in dem die partiellen Fortschritte, die immer schon in der Geschichte gemacht wurden, als solche zu Bewusstsein gebracht werden.31 Geschichte ist, mit Hegel, als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit Fortschritt im Selbstbewusstsein,32 durch das Menschen sich kulturell, wissenschaftlich oder politisch über bloß Unmittelbares erheben; sie kann freilich, weil sie von Menschen gemacht wird, die nicht bloße Werkzeuge des Weltgeistes sind, auch in Regression in die Unmittelbarkeit umschlagen: in der Kulturindustrie, dem Postmodernismus des Wissens oder der Ideologie überhaupt. Paradigmatisch für geschichtlichen Fortschritt ist es, dass die Menschen ihr Spezifikum, die Vernunft, entwickeln, indem sie sich aus unmittelbaren Naturzusammenhängen herausarbeiten und in den Formen von Zivilisation und Kultur die Distanz zur ersten Natur kontinuierlich vergrößern und damit nicht zuletzt die objektiven Bedingungen subjektiver Freiheit produzieren. Das Selbstbewusstsein subjektiver Freiheit setzt erst viel später ein, in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, die an diesem Selbstbewusstsein angesichts historischer Rückschläge nur festhalten konnte, indem sie Fortschritt als teleologisch determinierten Prozess – hinter dem Rücken der Akteure – konzipierte. Am nächsten zur Bedeutung der kontingenten Individualität dringt tatsächlich Hegel vor, indem er ihre Eigensinnigkeit vehement zurückweist – aber ihr relatives Recht auch anerkennt.33 Die legitimen Ansprüche der Individuen scheinen sich gegen die empirische Realität nur in ihrer Verbindung zu einem Allgemeinen garantieren zu lassen, das ihrer instrumentell bedarf, aber sich gleichermaßen gegen sie verselbständigt. In der modernen, durch die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital bestimmten Gesellschaft ist der Fortschritt zirkularisiert und insofern stillgestellt worden: Das Kapital reproduziert seine eigenen Voraussetzungen und entzieht sich damit der geschichtlichen Kontingenz. Der Geschichte der Globalisierung des Kapitalverhältnisses gegenüber scheinen alle Ambitionen der Menschen auf ihre Geschichte ohnmächtig zu sein. Diese Ohnmacht spiegelt sich in der ›Dekonstruktion‹ des Fortschrittsbegriffs.34 Solche theoretische Abstützung des Faktischen gibt der heteronomen Stillstellung von Geschichte unumwunden recht.
Benjamin: Geschichtskritik im Interesse der Befreiung
Eine andere Kritik am bürgerlichen Geschichtsdenken hat Walter Benjamin vorgetragen. Seine Kritik am Historismus, dieser etabliere bloße Kausalnexus im Vergangenen, ohne sich des Anachronismus der historischen Betrachtung bewusst zu werden,35 bleibt auch gegenüber akausalen mikrologischen Beschreibungen wahr. Im Prinzip greift sie den Geschichtspositivismus an, der jedes humane Interesse aus der Geschichtsschreibung methodologisch herausrechnen will.36 Zu diesem Zweck braucht Benjamin lediglich die Trivialität aufzubieten, dass jede nachträgliche Konstruktion des Vergangenen unweigerlich ein Interesse bedient; die unreflektierte zumeist das der Herrschenden.37 Keineswegs kritisiert Benjamin, wie häufig verkürzt behauptet wird, dass die bürgerliche Geschichtsschreibung die einer Geschichte der Sieger sei; genauer mache sie sich »ein Verfahren der Einfühlung […] in den Sieger«38 zu eigen. Dieses Verfahren beruhe auf dem Zweck, die Vergangenheit getreu und ohne Bewusstsein des Zeitabstands zur Gegenwart zu rekonstruieren. Eine solche Darstellung ist nicht in der Lage, Vergangenes auf der Grundlage späterer Erkenntnisse zu beurteilen.39 Ein Beispiel ist die Geschichte der antiken Sklaverei, die für sich einen in sich geschlossenen alternativlos akzeptierten Gesellschaftszustand beschreibt; eine systematische Kritik daran ist vor der Entwicklung moderner Rechtsverhältnisse und vor allem der am modernen Subjekt orientierten Moralphilosophie Kants nicht möglich. Der von Benjamin präferierte »historische Materialismus« soll »die Geschichte gegen den Strich […] bürsten«40, um in ihrem normalen Verlauf die Grundlagen des später Normwidrigen zu erkennen. Die Einfühlung in die Vergangenheit bestätigt aber bloß unreflektiert deren Faktizität und gibt damit den jeweils Herrschenden Recht. Die an einem Begriff der Geschichte als anachronistisch herzustellendem Zusammenhang gebrochene Darstellung exponiert hingegen die Opfer der Unterdrückung und die Möglichkeit des Ausbruchs aus dem »Kontinuum«41 der Herrschaft.
In gewissem Sinn bleibt jedoch jede Geschichtsschreibung eine Geschichte der Sieger, denn die Unterlegenen haben keine Geschichte. Ihre Traditionen brechen oft genug mit der Niederlage ab. Der vergebliche Widerstand zeitigt keine historischen Folgen. Traditionen werden stets von den Siegern begründet oder oft genug in veränderter Form bestätigt. Eine Geschichte der Unterlegenen schreiben zu wollen, wäre das postmoderne Projekt einer zusammenhanglosen Collage isolierter Mikrobetrachtungen. – Modern und auf der Höhe des Begriffs bleibt die Collage einzig in der gelungenen ästhetischen Darstellung, die am individuellen Modell das Allgemeine ausdrückt. So hat Peter Weiss in der Ästhetik des Widerstands geradezu programmatisch die verlorenen Kämpfe gegen den Faschismus durch die Stilisierung individueller Biographien vor dem Vergessen auf eine Weise bewahrt, die weder bloße Fiktion, noch bloße Dokumentation ist, noch auch gleichgültige Assoziation; sie versucht, den verlorenen kontingenten Kampf in seiner Notwendigkeit darzustellen.
Es ist nicht sinnlos, Wissen über die Opfer der Geschichte zu bewahren, aber einen historischen Sinn erhält dieses Wissen nur als Moment der geschichtlichen Entwicklung, die den gegenwärtigen Zustand hervorgebracht hat. Diese Entwicklung ist aber theoretisch kaum als »Tradition der Unterdrückten«42 zu bezeichnen, denn die Unterdrückten der Epochen stehen noch weniger in einem Traditionszusammenhang miteinander als die Herrschenden; selbst die historischen Formen der Herrschaft unterscheiden sich substantiell und sind keinesfalls in einem Histomat-Schema ineinander überführbar (vgl. den Beitrag von Hendrik Wallat). Dass es zu jeder Zeit Unterdrückte oder Herrschende gegeben habe, sagt historisch wenig aus. Auch hier gilt, dass die Geschichte nur von dem Ende her zu verstehen ist, wie es die Sieger definiert haben: Gerade die Besonderheit kapitalistischer Herrschaft in der Tradition von Herrschaft überhaupt ist der Schlüssel zum kritischen Geschichtsverständnis.
Das sah auch Marx so, auf den Benjamins Rede vom »historischen Materialisten« sich in letzter Instanz bezieht. Auch Marx folgt im Prinzip dem Geschichtsbegriff Hegels, weicht aber in zwei grundlegenden Punkten von ihm ab: Erstens hat für Marx Geschichte kein anderes Subjekt als die handelnden Menschen. Mit den Worten Horkheimers gibt es nur »so viel Sinn und Vernunft auf der Welt […], als die Menschen in ihr verwirklichen«43. Zweitens ergibt sich die rationale Stringenz von Geschichte erst im Rückblick als Mittel der Erklärung der Gegenwart aus ihrer Genese. Fortschritt ist damit nicht sichergestellt, sondern eine Aufgabe im Bewusstsein der antagonistischen Genese der Gegenwart. Die konkrete Form dieser Aufgabe ergibt sich aus der Kritik der vergangenen Fehler am Maßstab der Einheit der Vernunft. Die von Marx und Engels schon in der Deutschen Ideologie antizipierte materialistische Geschichtsbetrachtung kommt daher erst beim späten Marx auf ihren Begriff: Der entwickelte gesellschaftliche Zustand ist der Schlüssel zur Erkenntnis seiner unentwickelten historischen Voraussetzungen.44 Folgt man der These, dass erst im entwickelten Kapitalismus der reellen Subsumtion ein vollständiger gesellschaftstheoretischer Begriff von Herrschaft formuliert werden kann, so sind auch erst – und nur – von diesem Herrschaftsbegriff aus historische Betrachtungen über die Tradition von Herrschaft und Unterdrückung auf wissenschaftlichem Niveaumöglich. Das geht über Benjamins Vorstellung einer »Tradition der Unterdrückten« systematisch hinaus und lässt auch präzisere Bestimmungen über die Kriterien von Geschichtsschreibung zu. Für Benjamin bildet die »messianische Kraft«45 jedes Geschlechts, die auf »Erlösung«46 gerichtet sei, das Kriterium dafür, wie das Kontinuum der Herrschaftsgeschichte aufzusprengen sei. Unter der »messianischen Zeit«, der Erlösung, verstand Benjamin schlicht die klassenlose Gesellschaft. Das theologische Rätselraten um den Begriff kann durch die Lektüre von Benjamins Vorarbeiten vermieden werden, die insgesamt dokumentieren, wie ernsthaft er über die Unausweichlichkeit einer auch gewaltsamen proletarischen Revolution nachgedacht hat. Zum Begriff der messianischen Zeit sei ausnahmsweise ausführlich daraus zitiert: »Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert. Und das war gut so. Das Unheil setzt damit ein, daß die Sozialdemokratie diese Vorstellung zum ›Ideal‹ erhob. Deras Begriff des Ideals Ideal wurde in der neukantischen Philosophie als Lehre als eine ›unendliche Aufgabe‹ definiert. […] War die klassenlose Gesellschaft erst einmal als unendliche Aufgabe definiert, so verwandelte sich die leere und homogene Zeit sozusagen in ein Vorzimmer, in dem man auf mit mehr oder weniger Gelassenheit auf den Eintritt der revolutionären Situation warten konnte. In Wirklichkeit gibt es nicht einen Augenblick, der seine revolutionäre Chance nicht mit sich führte – sie will nur als eine spezifische definiert sein […]. Dem revolutionären Denker bestätigt sich die eigentümliche revolutionäre Chance jedes geschichtlichen Augenblicks aus der politischen Situation heraus. […] [Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das Endziel des Fortschritts in der Geschichte, sondern dessen so oft mißglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.]«.47
Marx: Theoretische Bedingungen modernen Geschichtsdenkens
Mit Marx wird klar, dass eine Rekonstruktion von Geschichte anachronistisch am Maßstab des systematisch in sich geschlossenen Herrschaftsverhältnisses des Kapitals möglich wird, denn das Kapital produziert als erste Gesellschaftsform der Geschichte seine eigenen Voraussetzungen, indem durch kapitalistische Akkumulation sowohl die wertmäßigen und die technischen Bedingungen des Produktionsprozesses an dessen Ende wieder bereitstehen als auch die soziale Hierarchie von Lohnarbeit und Kapital.48 Diese systematische Schließung einer historischen Gesellschaftsformation verweist implizit auf einen historisch kontingenten Ursprung, die sog. ursprüngliche Akkumulation, die in der Genese des modernen Eigentums an Grund und Boden ihren Ausgang nimmt. Die Bedeutung der damit verbundenen Ereignisse und die Heftigkeit der ausgeübten Gewalt erschließen sich historisch aus der Differenz ihrer Kontingenz zum systematischen Begriff des Resultats, sodass von diesem Begriff aus die Differenz präzise abgemessen werden kann. Ebenso ergibt sich aus den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft, wie bereits Hegel sie als Diskrepanz von enormem Reichtum und mangelhafter Versorgung notiert,49 der systematische Begriff gesellschaftlich realisierbarer allgemeiner Freiheit: Eine auf wissenschaftlicher Basis Reichtum produzierende Gesellschaft könnte allen Menschen die Freiheit ermöglichen, die ihnen als Vernunftwesen zukommt. Kants Begriff moralischer Freiheit als innere vernünftige Selbstbestimmung erhält im Kapitalismus die technische Möglichkeit ihrer äußeren objektiven Realität – und zugleich deren unvernünftige Schranke. Der Begriff der Freiheit, der innerlich bleibt und nur durch Gleichgültigkeit gegen die äußere Existenz rein bleibt, kann als Ausdruck des Widerspruchs zwischen subjektivem Vernunftanspruch und objektiven Realisierungsbedingungen erkannt werden. Von der aus diesem Widerspruch folgenden allgemein begründbaren Forderung nach gesellschaftlicher Befreiung ausgehend lassen sich historische Zusammenhänge rekonstruieren, auch ohne Gegenwärtiges auf sie zu projizieren. Geschichte lässt sich vernünftig nur schreiben als Antizipation vollendeter Humanität. Deren Spuren mögen »Splitter der messianischen [Zeit]«50 genannt werden, ihr wiederholtes Scheitern eine »Tradition der Unterdrückten«. Geschichte gegen den Strich zu bürsten, hieße dann, sie bewusst retrospektiv und anachronistisch zu schreiben, und zwar vom systematischen Begriff gesellschaftlicher Herrschaft und möglicher Befreiung aus. Eine Geschichte der Sieger wird es dennoch bleiben; aber eine, der nicht die Einfühlung in sie zugrunde liegt, sondern die sich in den Dienst der Befreiung der Unterlegenen stellt.
Adorno: Kritische Theorie der Geschichte
In diesem Sinn hat Adorno Benjamins Metapher von der Geschichte als Trümmerhaufen und vom Fortschritt als Sturm, der vom Paradiese her weht,51 aufgegriffen und, angesichts der Möglichkeit atomarer Vernichtung, Fortschritt heute als »Zurückweichen von der Katastrophe«, als Verhinderung des Allerschlimmsten bestimmt, ohne aber im Unklaren zu lassen, dass Befreiung nur als Leistung der gesamten Menschheit, als Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft als ganzer, möglich sei.52 Damit wird die kritische Konsequenz aus dem Geschichtsdenken der Aufklärung gezogen,53 deren Fortschrittsbegriff auf vollendete Humanität gerichtet war, aber durch den mit ihm verbundenen Automatismus die Freiheit der Humanität zugleich durchstrich: Sie hatte damit den objektiv sich verdichtenden Widerspruch zwischen Freiheit und Herrschaft dokumentiert, dessen Substanz es noch zu begreifen galt. Die historistische Abkehr vom emphatischen Geschichtsbegriff im 19. Jahrhundert hingegen dokumentierte ihrerseits die unbegriffen gebliebene Krise des humanen Fortschritts, die sich in den Verwerfungen der Industrialisierung abzeichnete.
Adorno zieht weder aus diesem Befund noch aus der Erfahrung des Faschismus die Konsequenz, Geschichtsphilosophie abstrakt zu negieren.54 Im Gegenteil kreist seine Vorlesung zur Philosophie der Geschichte um den Begriff der Universalgeschichte sowie um die Hegelsche Philosophie, die auch für Adorno das subjectum privationis bleibt, von dessen systematischer Stärke der negative Geschichtsbegriff lebt. Universalgeschichte als Begriff der sich durchhaltenden Rationalität kann aus dem Geschichtsdenken nicht getilgt werden, wenn Geschichte ein Gegenstand von Denken überhaupt sein soll.