Krankheitsscham – die verborgene Emotion (Leben Lernen, Bd. 330) - Waltraut Barnowski-Geiser - E-Book

Krankheitsscham – die verborgene Emotion (Leben Lernen, Bd. 330) E-Book

Waltraut Barnowski-Geiser

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Beschreibung

Den Teufelskreis der Scham durchbrechen Erstes Buch zum Thema Krankheitsscham Mit praktischen Interventionsvorschlägen Mit zahlreichen Fallbeispielen Die Angst, stigmatisiert, ausgegrenzt und als Last angesehen zu werden oder in existentielle Probleme zu geraten, kann schwer erkrankte Menschen zusätzlich enorm belasten. Krankheitsscham wird dann nicht selten zum verborgenen Begleiter. Schambesetzte Themen kommen aber auch in der Psychotherapie oder ärztlichen Sprechstunde meist nicht offen zur Sprache, mit durchweg negativen Konsequenzen für den Behandlungserfolg. Anhand vieler Beispiele aus der Praxis sensibilisiert das Buch für dieses verdrängte Thema, zeigt, wie es im therapeutischen Setting erkannt und aus der Tabuzone geholt werden kann. Das Hauptaugenmerk liegt auf den zahlreichen praktischen Interventionsmöglichkeiten aus verschiedenen Therapierichtungen, die eine Neubewertung, Verhaltensänderung und verändertes Erleben bei den Betroffenen unterstützen.

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Seitenzahl: 248

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Waltraut Barnowski-Geiser

Krankheitsscham – die verborgene Emotion

Erkennen, verstehen, helfen

Klett-Cotta

Zu diesem Buch

Die Angst, stigmatisiert, ausgegrenzt und als Last angesehen zu werden oder in existenzielle Probleme zu geraten, kann schwer erkrankte Menschen zusätzlich enorm belasten. Krankheitsscham wird dann nicht selten zum verborgenen Begleiter. Schambesetzte Themen kommen aber auch in der Psychotherapie oder ärztlichen Sprechstunde meist nicht offen zur Sprache, mit durchweg negativen Konsequenzen für den Behandlungserfolg. Anhand vieler Beispiele aus der Praxis sensibilisiert das Buch für dieses verdrängte Thema, zeigt, wie es im therapeutischen Setting erkannt und aus der Tabuzone geholt werden kann. Das Hauptaugenmerk liegt auf den zahlreichen praktischen Interventionsmöglichkeiten aus verschiedenen Therapierichtungen, die eine Neubewertung, Verhaltensänderung und verändertes Erleben bei den Betroffenen unterstützen.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter: www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 330

Die digitalen Zusatzmaterialien haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Suchcode ein: OM89278

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © Adobe Stock/evannovostro

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-89278-9

E-Book ISBN 978-3-608-11872-8

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20556-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einstimmung

Kapitel 1

Krankheitsscham erkennen

1.1 Stummes Leiden im Verborgenen – Annäherung an ein Panorama des Erlebens

1.1.1 Schwer zu fassen: Vom Begriff der Krankheitsscham zum Panorama des Erlebens

1.1.2 In der Isolierzelle

1.1.3 Zwischen Präsentierteller und Kloake

1.1.4 Heimatlos

1.1.5 Vereist über dem Vulkan

1.1.6 Vulnerabilität für Krankheitsscham: Wie Wunden aus Kindheitstagen verletzlich machen

1.2 Krankheit

1.2.1 Gesundheit, Krankheit, Wohlbefinden in der Neuzeit

1.2.2 Krankheit und Emotion

1.2.3 Krankheit und ihre Attribuierung: Subjektive Krankheitstheorie

1.2.4 Was macht krank, was heilt? Impulse aus der neuen Psychoneuroimmunologischen Medizin

1.3 Die Emotion Scham

1.3.1 Befangen, verlegen, peinlich: Formen von Scham

1.3.2 Bloß nicht auffallen: Scham-Indikatoren

1.3.3 Am Pranger in der modernen medialen Welt: Die neue Kultur der Peinlichkeit

1.3.4 Krankheitsscham in unserer Gesellschaft

1.4 Was Menschen die Röte ins Gesicht treibt: schambesetzte Erkrankungen

1.4.1 Wofür schämt sich Deutschland? Eine »Hitliste«

1.4.2 Krankheitsbilder und Krankheitsscham

Kapitel 2

Krankheitsscham: Verstehen und Helfen

2.1 Perspektive und Menschenbild

2.1.1 Menschenbild – Identität – Krankheitsscham

2.1.2 Anders denken, anders sein und Lebenskunst? – was hilft Menschen mit Krankheitsscham

2.1.3 Mythen auf dem Heilungsweg

2.2 Frühe und systemische Erfahrungen als Quellen von Krankheitsscham

2.2.1 Wie frühe Erfahrungen nachwirken: eine Annäherung aus psychoanalytischer Perspektive

2.2.2 Gefährliche Kindheitsarchitektur? Frühe Erfahrungen aus neurowissenschaftlicher Perspektive

2.2.3 Beschämung, Kränkung, Machtmissbrauch, Gewalttätigkeit: Krankheit zwischen Heilungsstätte und Tatort

2.3 Diagnostik der Krankheitsscham: Kryptoanalytisches Dechiffrieren in Feldern des Erlebens

2.3.1 Innere Räume und Instanzen

2.3.2 Affektive Verfassung

2.3.3 Vitalität und Erregungskontur

2.3.4 Leibliche Orientierung

2.3.5 Körperbild und Körpererleben

2.3.6 Entwicklungs- und Krankheitsgeschichte

2.3.7 Soziales Netzwerk und Bindung

2.3.8 Transgenerationales Erbe

2.3.9 Synopse des Verstehens: Diagnostik-Fragebogen zur Krankheitsscham für Therapeutinnen

2.4 Das Hilfekonzept »Vivace« – Bewegte Wege aus belastender Krankheitsscham

2.4.1 Baustein Verbindung

2.4.2 Innenwendung

2.4.3 Verortung

2.4.4 Ausdruck

2.4.5 Coping-Adaption

2.4.6 Engagement entwickeln

Kapitel 3

Zum guten Schluss

Literatur

Einstimmung

Manchmal werde ich gefragt, an welchem Buch ich gerade schreibe. Wenn ich antworte: »An einem Buch über Krankheitsscham«, verändert sich oft die Atmosphäre, es wird ein wenig »komisch« zwischen mir und meinem Gegenüber. Es scheint sich etwas schwer Greifbares zwischen uns zu schieben. Peinlichkeit, Leere beschwert plötzlich den Raum, macht seltsam stumm. Menschen senken ihren Blick, schauen weg, atmen schneller. Einige fragen noch einmal nach, etwa so: »Echt, Krankheitsscham? Oh Gott!«, und bemühen sich, schnell zu einem anderen Thema zu wechseln. Da ich inzwischen um diese Resonanzen weiß, antworte ich manchmal auf die Frage allgemeiner und formuliere, dass ich an einem Buch über Krankheit und Emotionen schreibe. Dann beginnt teils ein reger Dialog, in den Erzählungen und Erfahrungen der Menschen einfließen.

Krankheitsscham, so scheint es, ist für viele Menschen ein heikles Thema. Dies verwundert nicht: Wenn Menschen schwer, chronisch oder auch unerklärlich erkranken, geht dies meist mit Not einher. Wenn sich zur Krankheit die Scham gesellt, spielen wir im Team mit einem unguten Duo existenziellen Betroffen-Seins. Krankheitsscham, wie ich sie nennen möchte, ist weit verbreitet und wenig erkannt. In meiner Praxis treffe ich wiederholt Menschen, die sich für ihre Krankheit schämen. Dies ist aber selten der Anmeldegrund zu ihrer Therapie. Scham über die eigene Erkrankung ist eine Emotion, die im Verborgenen ihre Fäden zieht. Manchmal so stark, dass die Betroffenen sich wie Marionetten fühlen, insbesondere dann, und das ist nicht selten der Fall, wenn ihnen ihre Krankheitsscham nicht bewusst ist. Dann stellt sich bei Klientinnen Verzweiflung, Resignation, Stagnation und ein chronisches Gefühl des unverstanden Seins ein. Therapeutinnen arbeiten mit dem Gefühl, diesen Menschen nicht wirklich helfen zu können, vielleicht auch nicht mehr zu wollen – tun wir doch die mit der Krankheitsscham einhergehende Sprachlosigkeit allzu schnell als Widerstand, Unwille oder auch Oberflächlichkeit des Patienten ab. Wertvolle Heilungschancen und Persönlichkeitspotenziale bleiben so ungenutzt.

Wenn Erkrankte in das Land der Krankheitsscham geraten sind, gleicht dieses einem Sumpf. Diesem Sumpf zu entkommen, nicht tiefer und tiefer zu versinken, kann zu einer herausfordernden Lebensaufgabe werden: Klienten müssen sich selbst als in Scham verirrt verorten, Ortskundigkeit erwerben, Passierwege und Rückzugsorte finden, Abgründe umgehen, Aufstiege wagen, wiederholtes Fallen akzeptieren, sich wieder aufrichten, um schließlich Auswege zu finden. Gerade wenn Krankheit mit eigener und sozialer Ächtung einhergeht, als peinlich erlebt wird, chronisch zu werden droht, unerklärlich und undefinierbar erscheint, dann wird das Leben neben der ohnehin schon großen Belastung, etwa durch Schmerzen und Symptome, zu einer immensen Lebensprüfung. Nicht selten endet dies in Resignation und Hoffnungslosigkeit, teils in schweren co-morbiden psychischen Erkrankungen. Gefühlslandschaften, die den Erkrankten zusätzlich belasten, sprießen großflächig auf dem Boden der Krankheit: Neben den Basisgefühlen von Angst und Schmerz werden dann Scham und Schuld zu tragischen Begleitern. Da diese Gefühle als unangenehm erlebt werden, spielen sie oft auf dem Boden des Unbewussten: Kranke drohen zu Marionetten ihrer unerkannten Schamdynamik zu werden (Tiedemann, 2010). Wenn Schamabwehr und Verdrängung im Vordergrund stehen, fühlen sich Kranke gelähmt, Ärzte und Therapeuten hilflos (Wurmser, 1990; Lammers, 2016). Letztere bekommen wenig von diesem Spielfeld, einem vermeintlichen Nebenschauplatz, mit, da die Kranken, nicht um ihre Problematik wissend, deshalb kaum offen verbalisieren. Andererseits kennen professionell Tätige sich dort teils selbst wenig aus: Scham und Krankheitsscham ist kein Krankheitsbild im Sinne der Internationalen Krankheitsklassifikation (ICD10 oder DSM) und gleicht einem übersehenen, gern verdrängten Nebenschauplatz – sie brauchte jedoch einen Platz auf der Hauptbühne. Ansonsten droht sie, unerkannt, Heilung und Hilfe, Zuwendung und Lösungsansätze zu verhindern.

Die Angst, stigmatisiert, ausgegrenzt, »zu viel« zu sein, womöglich als verrückt angesehen zu werden, mindert Lebensqualität, kann in quälende Schamdynamiken münden und stellt in der Folge Identität und Sein in Frage. Wer sich seiner selbst nicht mehr sicher ist, muss unter Mühen auf die eigenen Füße kommen, Land gewinnen auf brüchigem Boden, wie es Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil in ihrem Buchtitel treffend metaphorisch ausdrückt (Keil, 2014b). Wer lange krank ist, schwer erkrankt, dem geht es an die »Existenz« – Probleme mit Kollegen und Angehörigen, Verlust des Arbeitsplatzes oder der Partnerschaft sind keine Seltenheit. Die Folgen der mit der Krankheit einhergehenden Bedrohungen, sozialer Abstieg und Existenzbedrohung etwa, bieten einen reichen Nährboden für wild sprießende Krankheitsscham. Beziehungen und Sozialkontakte können schwer belastet werden, auch zerbrechen: Soziales Leben, eigentlich Hoffnungsträger im Krankheitsgeschehen, wird dann zur Lebensstolperfalle. Krankheitsscham geht in Resonanz. Die Scham kann so massiv werden, dass sie selbst zu einer Erkrankung wird. Krankheitsscham schwingt zwischen Ich und Du und wird verinnerlicht. Der oder die anderen sind maßgebliche Orientierungspunkte, Menschen sehen ihre Krankheit gleichsam »im Blick der tausend Augen« der anderen (Wurmser, 1990).

Menschenbilder und Kulturen prägen unseren Blick auf uns selbst und somit auch unseren Umgang mit Krankheit. Dies erfuhren wir nicht zuletzt schmerzlich in der Corona-Pandemie. Ausgrenzung, Angst vor Ansteckung, Existenz- und Lebensangst, Glaube und Misstrauen über Heilungswege, sogar über die eigentliche Existenz der Krankheit, bestimmten den Alltag aller: Gesunder und Kranker. Menschen verlieren teils Existenz und Sicherheit, andere gewinnen. Gerade die Verlierer sind in Gefahr, erlebte Beschämung in Hass zu wandeln, drohen sich gesellschaftlich zurückzuziehen, abzuspalten, wegzutauchen. All diese Menschen begegnen uns in der therapeutischen Praxis, und wir sollten ein Augenmerk darauf haben, ihnen angemessen zu begegnen. Im therapeutischen Setting kann Krankheitsscham aus der Tabuzone geholt und bewältigt werden: die individuellen Copings müssen identifiziert werden, sind sie doch so vielfältig wie individuell, so hilfreich wie blockierend. Krankheitsscham hat Sinn und Bedeutung; damit Erkrankte mit und an ihr wachsen, muss sie wahrgenommen und gestaltet werden. Hierbei können Methoden, Verfahren und Menschenbild der kreativen und der leiborientiert-integrativen Therapien wertvolle Dienste leisten. Dieses Buch bietet eine Vielzahl praktischer Anregungen und Praxiserzählungen. Die Umstände und Lebensdaten wurden so verändert, dass Ähnlichkeiten mit realen Personen rein zufällig wären.

Da Krankheitsscham zu den heiklen Emotionen gehört, müssen wir uns auf betroffene Menschen besonders einstimmen. Als Therapeuten müssen wir achtsam sein für uns selbst, für unser Gegenüber und die Beziehung, unsere Stimmungen, Gefühle, Emotionen, unsere individuelle eigene Landschaft des Krankheitserlebens und für unsere Krankheitsscham, für unsere Resonanzen. Wenn wir als Therapeutinnen und Ärzte Krankheitsscham nicht identifizieren, weder bei uns selbst noch bei unseren Klienten, können wir nicht angemessen helfen: Therapieabbrüche sind keine Seltenheit – mit unguten Gefühlen auf beiden Seiten, mit vertanen Heilungschancen und oftmals Resignation auf der Seite des Kranken. Ähnlich wie Scham und andere negativ erlebte Emotionen wird Krankheitsscham leicht übersehen, unterschätzt, übergangen. Wenn Sie sich als professionell Helfende entschließen, sich mit von Krankheitsscham betroffenen Menschen stärker zu beschäftigen, so setzt diese Arbeit die Auseinandersetzung mit dem Eigenen voraus. Auch dazu können Sie dieses Buch nutzen.

Als ich mich entschloss, dieses Buch zu schreiben, befanden wir uns mitten in der Corona-Pandemie. An einem Abend im Dezember 2020 fuhr überraschend eine große Lichterparade aus Traktoren durch unsere Stadt. Die liebevoll dekorierten Wagen trugen die Aufschrift: »Funke der Hoffnung«. Diesen Funken der Hoffnung, so las ich später in der regionalen Presse, möchten die Organisatoren den Menschen trotz Corona-Pandemie senden. Welch schöne Idee! Ein solcher Funke der Hoffnung möchte auch dieses Buch sein. Ich schreibe dieses Buch für Sie, die Sie therapeutisch mit Krankheitsschambelasteten arbeiten, für Sie, die Sie persönlich von Krankheit und Scham belastet sind, für Sie als Angehörige oder Helfende und für mich, die ich mich ebenso von diesem Thema betroffen fühle. In meiner Arbeit als Therapeutin und als Betroffene konnte ich erleben, wie die Krankheitsscham im Leben bestimmend sein und doch gewandelt werden kann. Wenn wir begreifen, dass schwere Krankheiten und Krisen keine Fehler im universalen System, keine Schuld oder Strafen derjenigen sind, die sie ereilen (Keil, 2014b), dann können wir die Chance ergreifen und uns selbst besser kennenlernen – in Bezug auf Gesundheit und Krankheit und in unserer Scham. Im aktiven Umgang mit Krankheit und Scham kann Lebensqualität und Wohlbefinden möglich werden. Dieses Wissen mag ich gern mit ihnen teilen und schreibend die Emotion der Krankheitsscham besser verstehen, ergründen und begreifen. Der Dichter Hermann Hesse beschreibt die Bedeutung der Emotion treffend in der Erkenntnis,

»dass das, was unser Dasein wertvoll und lustvoll macht, nichts anderes ist als unser Fühlen und Empfinden … Auch die Gesundheit wog nicht schwer; jeder war so gesund als er sich fühlte, mancher Kranke blühte bis kurz vor dem Ende vor Lebenslust, und mancher Gesunde welkte angstvoll in Furcht vor Leiden hin. Glück war überall da, wo ein Mensch starke Gefühle hatte und ihnen lebte, sie nicht vertrieb und vergewaltigte, sondern pflegte und genoß.« (Hesse, 2002, S. 194 f.)

Kapitel 1

Krankheitsscham erkennen

Mit welcher Praxis-Erzählung steige ich ein in dieses Buch? Mir fallen Menschen ein, die an Krankheitsscham leiden. Ich verwerfe immer wieder Erzählungen, diese und jene Geschichte erscheint mir nicht geeignet für den Einstieg. Bis ich bemerke: Ich bin in meiner eigenen Scham angekommen, denn ich fühle mich beim Schreiben in Resonanz mit den Menschen, die von Krankheitsscham betroffen sind … und ich beginne in den Dunstkreis der Scham einzutauchen: exakt so, wie es auch vielen meiner therapeutischen Kolleginnen und Kollegen ergehen mag. Wie in einer Filmszene sehe ich Menschen, die mir in diesem Arbeitsfeld begegnet sind, vor meinem inneren Auge. Szenario: Gruppentherapie. Eine Gruppe sitzt im Kreis. Ein Herr, End-Fünfziger, nennen wir ihn Herbert, leidet seit vielen Jahren an einer Prostataerkrankung, über die er nicht spricht. Seine Sexualität hat gelitten, seine Frau auch, so sehr, dass die Ehe auf dem Prüfstand steht. Sie interpretiert sein mangelndes sexuelles Interesse als verheimlichte Seitensprünge. In meiner imaginativen Film-Gruppentherapieszene betritt nun Inge die Bühne. Sie steht schon länger am Rand, kommt nicht in den Gruppenkreis. Sie hat Sorge, dass der Stuhl, der für sie bereitgestellt wurde, ihr großes Gewicht nicht tragen wird. Nach einem zweiten Stuhl fragen? Nein, dafür ist sie schon in anderen Situationen wiederholt ausgelacht worden. Schmerzlich wird ihr bewusst, warum sie seit langem kaum noch das Haus verlässt. Im Kreis haben nun zwei jüngere Frauen, Ella und Carla, Platz genommen. Sie schauen bewusst uninteressiert, wirken gelangweilt. Dabei rast Ellas Puls. Wie Carla ist sie sicher, dass die anderen Gruppenteilnehmer bereits wahrgenommen haben, was sie seit Jahren als ihren Makel erleben: Ellas Untergewicht, Carlas stark überschminkte Akne. Ella bekommt ob ihrer Phantasien, was die anderen Gruppenteilnehmer über sie denken, Schweißausbrüche, die ihr nun noch zusätzlich peinlich sind. Zudem fragt sie sich seit längerem, ob mit ihr eigentlich seelisch alles in Ordnung ist oder sie vielleicht eine psychische Erkrankung hat. Sie befürchtet, dass auch hier die Menschen wieder über sie richten werden, dass sie unverständlich finden, warum sie nicht einfach mehr essen kann. Dabei will sie doch gar nicht über ihr Gewicht reden. Ist sie nicht viel mehr als eine Kilogrammzahl? Beschämend findet sie die Fragen ihrer Mitmenschen. Das geht diese Menschen wirklich nichts an, oder? Frau K., eine Mittdreißigerin, fühlt ihren Schwindel steigen. Furchtbar der Gedanke, hier als Einstieg mit Drehschwindel zusammenzubrechen. Vorsichtshalber fragt sie schon mal nach der Toilette: Das wäre das Schlimmste, vor Menschen, die sie nicht kennt, wieder die Kontrolle komplett zu verlieren. Rettungswagen, Krankenhaus – vielleicht sollte sie doch lieber schnell nach Hause gehen. Ihr Nachbar Heinz lutscht lässig dreinschauend Kaugummi. Sicher ist sicher. Es muss ja nicht gleich auffallen, dass er vor der Stunde wieder einmal Mut aus ein paar Schnäpsen getankt hat. Ein Platz ist noch frei, Frau S., eine attraktive Frau in den Sechzigern, betritt den Raum. Sie redet gleich ununterbrochen, während ihr Blick nur das eine sucht: die Toilette, sie braucht unbedingt ein sicheres Örtchen. Ihre Darmprobleme können aus dem Nichts hervorschießen. Frau S. kompensiert, wie sie später in der Therapie erzählt, ihre Angst und Scham über ihren Reizdarm mit Wortdurchfall. Wie in vielen Filmen bemüht, könnte die Gruppe nun Suchtgruppen-Klischee-like starten: »Guten Tag, ich heiße Ella, ich leide an Krankheitsscham.«

Die Scham, mit der ich beim Schreiben dieser Zeilen in Resonanz zu den an belastender Krankheitsscham leidenden Menschen trete, drohte mich, ähnlich wie die Betroffenen selbst, ins Schweigen zu führen, in die Lähmung, ins nicht mehr ausdrücken Wollen, in das sich nicht zeigen Wollen. Und daraus wird teils die permanente Anstrengung, bloß nicht öffentlich aufzufallen, an den Pranger gestellt zu werden oder gar, ganz neuzeitlich, in einen Shitstorm auf Facebook zu geraten. Und schon sind wir mitten in der diffizilen Thematik: Krankheit erfasst den ganzen Menschen, seinen Leib, seinen sozialen Umraum, seine Angehörigen und eben auch medizinisch und therapeutisch Tätige. Hat sich die Krankheitsscham erst einmal ausgebreitet, droht Sprachlosigkeit auch in der therapeutischen Praxis: Weder die Krankheit und erst recht nicht die Scham kommen zur Sprache. Sind Menschen jedoch gleichsam »durch die Scham hindurchgegangen«, kann Nähe, Mitmenschlichkeit und Hoffnung entstehen.

Frau I. ist gerührt. Sie fühle sich zutiefst erkannt und verstanden von ihrer Tochter, die schon lange nicht mehr in ihrer Nähe lebe. Nie sei ihr bewusst gewesen, dass die Tochter, die ihre seit Jahren währende Epilepsie natürlich von Kindesbeinen an hautnah mitbekommen habe, sich so empathisch in sie einfühle. Sie erzählt: »Meine Tochter schenkte mir letzte Woche ›einfach so‹ eine Krankheits-Aufmunterungs-Box, die sie liebevoll gestaltet hatte. Vier Wochen lang hatten mich meine Ausfälle wieder fest im Griff gehabt. Ich war verzweifelt. Nun so eine schöne Box mit von ihr selbst gestaltetem Inhalt: Ich möge meine aktuelle Krankheitsverfassung einordnen und danach einen Zettel ziehen, auf dem eine Idee angeboten wird, wie ich mir gerade helfen könne. Ich war gerührt. Ich zog, da es mir an diesem Tag ein wenig besser ging als an den Tagen zuvor, einen Zettel für eine ›mittelmäßige Befindlichkeit‹. Auf diesem stand: ›Ich bin für dich da. Ruf mal an: Du nervst nicht, wenn du von Deiner Krankheit erzählst‹ Tränen laufen bei Frau I.: »Meine Tochter hat ins Schwarze getroffen. Seit drei Jahrzehnten leide ich unter diesen schweren Zusammenbrüchen, in denen ich mich nicht mehr aufrecht halten, teils nicht laufen kann … und ich hatte Angst, anderen davon zu erzählen. Ich habe bis heute Angst, andere mit meiner Krankheitsgeschichte zu nerven. Ich schämte mich lange für diese, wie es schien, unerklärlichen Ausfälle. Als Mutter hatte und habe ich Angst, meine Kinder durch meine Erkrankung zu belasten.«

1.1 Stummes Leiden im Verborgenen – Annäherung an ein Panorama des Erlebens

Der stumm an Krankheitsscham Leidende erhofft Rettung vom Arzt, von der Therapeutin: Diese sollen zugleich »nicht merken« und doch erhören, wenn möglich erlösen und heilen. An dieser Ambivalenzfront geben Helfende oft auf. Das ist tragisch: Denn auch für die Krankheitsscham gilt, wie für die Emotion Scham, dass das Ausmaß und die Schwere unbehandelt bei Weitem alles übersteigt, was wir uns vorstellen können (Tiedemann, 2010; Nathanson, 1992). In der Verdichtung von Krankheit und Scham findet eine ungute Potenzierung statt: Krankheitsscham ist mehr, als die meisten Menschen verkraften können. Zugleich bin ich sicher, dass man über das Verständnis der Krankheitsscham viel über Pathologie, aber auch über Gesundheit verstehen wird. Im unguten Zusammenspiel von Krankheit und Scham erfahren Menschen eine Infragestellung ihrer Identität, eine Bedrohung ihres Seins und zugleich eine Bedrohung von Ansehen und Wertschätzung. Eine toxische Mischung, die manchen Heilungs- und Therapieprozess verhindert. Denn Krankheitsscham hat zwei Gesichter: ein selbstreflexives im Leib und ein intersubjektives auf der Beziehungsebene. Krankheitsscham übersteigt das subjektive leibliche Geschehen und wabert in den Raum hinein: auch in den therapeutischen Raum. Die Resonanz des Therapeuten offeriert somit eine wichtige Diagnosestelle, diese schwer greifbare Emotion zu identifizieren. Bleibt sie unerkannt, werden wesentliche Chancen verspielt.

Krankheitsscham hat phänomenologisch betrachtet äußerlich sichtbare Aspekte, und zugleich wollen diese sichtbaren Phänomene verborgen sein. Freud (2014), Kohut (1979), Seidler (2001) u. a. haben Scham in Zusammenhang gesetzt zu existenziellen Fähigkeiten des Seins, zur Fähigkeit zum aufrechten Gang, dem Freiwerden des Blickes, der Sichtbarkeit der Genitalien und der Entwicklung von Bewusstheit und Schamfähigkeit (Seidler, 2001). Ebenso müssen physiologische Körperreaktionen in Bezug gestellt werden (Seidler, 2001), wie etwa zum Erröten als menschlichster aller Ausdrucksregungen. Zentral ist die Bedeutung der Gesichtsmimik: Das Gegenüber will zugleich angesehen und im Blickkontakt vermieden werden. Dieser Antagonismus kann in unruhige Augenbewegungen bis zum Blinzeln münden, auch die Sprache kann in Mitleidenschaft gezogen werden: Es fällt schwer, wohlüberlegt weiterzusprechen. Die Stimmfarbe kann sich unter der Scham verändern, auch »lachen« kann eine Schamreaktion sein. Eine Beschleunigung des Atmens und Herzschlages wurde ebenso beschrieben (Seidler, 2001). Gerade das Erröten erzeugt weitere Scham. Phänomenologisch gesehen kann eine Schamreaktion also genau das bewirken, was eigentlich vermieden werden sollte (Seidler, 2001).

Schwieriger ist die Annäherung an die innere Welt des an Krankheitsscham Leidenden. Mit dem Schamerleben geht oftmals der Verlust der Worte zur Beschreibung einher.

Frau R. arbeitet am »Haus des Erlebens« (s. Teil 2): Als sie einen Raum zu ihrer Krankheitsscham gestalten soll, fragt sie: »Scham, was soll das sein?« Die Therapeutin hatte Krankheitsscham über ihre Resonanz öfter im Erleben der Klientin wahrgenommen. In der nächsten Minute malt sie dann doch entschlossen eine dicke Mauer, hinter der sie selbst sitzt. »Hier steht eine Mauer aus Scham, die mich von den anderen trennt« … Sie sinnt: »Die Mauer ist auch entstanden, weil ich eine Belastung und Zumutung für andere bin und selbst schuld bin, dass ich andauernd krank bin.« Zugleich assoziiert sie zu der von ihr mitgebrachten Musik viele Auftritte und schöne gemeinsame Erlebnisse: »Die Scham trennt: Ich muss jeden Tag durch Scham und Krankheit hindurchgehen, um dann erst mit dem Schönen in Berührung zu kommen.« Sie ist erstaunt, dass das Haus ihres Erlebens doch so viel Schönes enthalte. Wenn sie im Raum der Krankheit und Scham sei, fühle sie sich wie gefangen und es erscheine ihr, als könne sie »da nie mehr raus«. Das Schöne wirke unerreichbar. Nach einigem Nachdenken gestaltet sie weiter: Sie malt nachträglich Türen und einen Flur ins Haus. Sie wirkt zufrieden. »Wenn es verbunden ist, ist es auszuhalten.«

In den kreativtherapeutischen Sitzungen, wie hier am Beispiel von Frau R. geschildert, ist es möglich, Krankheitsscham auf andere Weise zur Sprache zu bringen, etwa in Klängen, Gestaltungen oder Installationen. Dies ermöglicht Wandel und Fluss, im Anschluss oft Verbalisierung.

Wenn wir uns der Innenwelt der Krankheitsscham nähern, so braucht es Mut: denn wir begegnen einem unwirtlichen, düsteren, unberechenbaren Ort, dem sich die meisten Menschen nicht gern freiwillig aussetzen. Fast jeder Mensch kennt dieses plötzliche überflutende Gefühl der Scham, das durchströmt, den gesamten Körper erfasst und Denken und Fühlen schwierig macht: ein Gefühl großen Schmerzes mit besonderer Schärfe und Tiefe (Wurmser, 1990). Deshalb scheint es notwendig, diese Innenwelt der Krankheitsscham genauer kennenzulernen, nicht, um in diesen unwirtlichen Ort einzuziehen, sondern damit wir uns ein Stück weit besser auskennen – gerade bei denjenigen, die seit Jahren aus diesen quälenden Welten keinen Ausweg finden. Wenn wir Worte und Bilder der Beschreibung finden, ist das ein wesentlicher Schritt, den Weg zu öffnen für Bindung und Verbindung.

Herr N. kehrt von einem Klinikaufenthalt zurück. Es gehe ihm deutlich besser, sagt er. Obwohl sein Krankheitsbild unverändert sei. Aber endlich habe er einen Namen für seine Krankheit, eine Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung. Es sei ihm klargeworden, dass nicht er Schuld an seiner Krankheit trage, sondern sich andere an ihm schuldig gemacht hätten. »Dann muss ich mich endlich nicht mehr schämen und kann anderen von mir erzählen«, sagt er enthusiastisch, mit hochrotem Kopf noch, aber mit großer, lange an ihm nicht zu sehender Lebendigkeit.

Der in Krankheitsscham Gefangene trägt, so zeigte sich in der therapeutischen Praxis, ein hohes Risiko, psychisch zu erkranken und seine Genesung weiter zu gefährden. Depressionen, bis hin zu suizidalen Tendenzen und Taten, sind als einige der negativen Folgen zu nennen, wenn Krankheitsscham unbehandelt, unbesprochen, unentdeckt bleibt. Obwohl Krankheitsscham als starke, teils überwältigende Emotion erlebt wird, ist sie in der Regel nur für Außenstehende, die entsprechend sensibilisiert sind, wahrzunehmen. Das Erleben der Krankheitsscham ist originär verknüpft mit dem Verbergen-Wollen. Wie sich ein Leben mit Krankheitsscham anfühlt, erfahren wir nur von Menschen, die sich aufgemacht haben, meist mit Hilfe von Therapie, dieser belasteten Innenwelt zu entkommen. In der Musiktherapie gibt es an manchen Therapiepunkten die Chance, diese Innenwelt erklingen zu lassen. Dies setzt einen vertrauensvollen Prozess voraus, wird doch das Innere nach außen gespielt und zu Gehör eines Gegenübers gebracht. Auch in der Musiktherapie ist die Emotion nur schwer zugänglich, Betroffene sind meist erst in einem fortgeschrittenen Aufdeckungsstadium in der Lage, dieser Emotion einen Ausdruck zu verleihen. Lange Zeit wirkt die Emotion oft gleichsam verkapselt.

Frau I. wählt den Gong. Sie atmet lange und schwer. Dann schlägt sie einmal kräftig den Gong. Sie steht erstarrt, wird rot, zieht dann die Schultern ein: »Genau so war das. Die Krebserkrankung war mit einem Schlag da. Sie überfiel mich und plötzlich war nichts mehr wie vorher. Ich wollte mich nur verstecken, niemandem von meiner Erkrankung erzählen. Und so wie der Gong auch hat das einen langen Nachhall: Bis heute greift die Erschütterung über die verlorene Unversehrtheit in mein Leben.«

1.1.1 Schwer zu fassen: Vom Begriff der Krankheitsscham zum Panorama des Erlebens

Krankheitsscham, hier aufgefasst als Unterform der Scham, gehört zum menschlichen Sein. Dabei sind gesunde und belastende Krankheitsscham zu unterscheiden. Gesunde Krankheitsscham hat, wie es der bekannte Psychoanalytiker und Schamexperte Leon Wurmser auch für die Scham definierte, wichtige Aufgaben, u. a. eine Würde behütende Funktion (Wurmser, 1990). Definitionen der Krankheitsscham bedeuten immer eine starke Eingrenzung, hier dennoch ein Versuch:

Unter belastender Krankheitsscham soll hier das Sich-Schämen einer Person verstanden werden, das gekoppelt, synchron (oder im Anschluss) mit einer Erkrankung sowie ihren Symptomen und Folgen auftritt. Krankheitsscham wird, dem Verständnis des Leibphilosophen Hermann Schmitz folgend, als ergreifende Gefühlsmacht (Schmitz, 2007) aufgefasst, die das Subjekt gesamtleiblich, also körperlich, seelisch und geistig ebenso wie seinen sozialen Umraum betrifft und mit weitreichenden Folgen für sein Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln einhergeht. Belastende Krankheitsscham muss als tiefgreifende Lebensbeschwernis mit Beeinträchtigungen für die Lebensqualität gelten. Die mit dieser Emotion einhergehende Tendenz zum Verbergen, Verdecken, Abspalten erschwert medizinische und therapeutische Arbeit, die in Verbindung auftretende Beschämung ist oft schwer von Krankheitsscham zu trennen. Die Schwere und der Verlauf der Krankheitsschamdynamik hängen maßgeblich vom Krankheitsverlauf und den zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Copings) und Ressourcen sowie Bindungsfähigkeiten und sozialen Unterstützungsnetzwerken ab. Diese Kopplung von Krankheit und Scham kann zeitnah, flüchtig und kurz, partiell, aber auch dauerhaft und chronifiziert auftreten. Krankheitsscham kann sogar über die Krankheit hinaus andauern.

Frau. N., eine Frau in den Vierzigern, fragt wiederholt in den Therapiestunden, wie ihr Gesicht aussehe. Ob es rot sei und furchtbar aussehe. Die Therapeutin kann nichts Derartiges erkennen. In ihrer Jugend, so erzählt Frau N. erstmalig, sei sie an schwerer Neurodermitis erkrankt. Diese sei vor allem im Gesicht aufgetreten. Sie weint: »Seitdem fühle ich mich hässlich, traue mich niemandem, nicht einmal meinem Mann, mein Gesicht ungeschminkt zu zeigen.« Obwohl die Neurodermitis irgendwann im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren für sie unerklärlich verschwunden sei, sei sie permanent noch präsent.

Krankheitsscham kann Betroffenen arg zusetzen, sie wird peinigend erlebt und soll hier im Folgenden mit dem Wort belastend benannt werden. Sie kann, wie die Scham, mit physiologischen Reaktionen (Erröten, Schwitzen, Herzklopfen etc.) einhergehen und in das Leben und die Identität hineinwirken. Belastende Krankheitsscham kann zu Rückzug und Isolation führen, ebenso zu Aggression, als Umleitung des Gefühls und als Ausrichtung auf vermeintlich Schuldige. Oft geht sie einher mit Nichtigkeits- und Vernichtungsgefühlen sowie mit existenzieller Angst. Neurowissenschaftlich gesehen muss Krankheitsscham zu den Emotionen gezählt werden, die Hirnfunktionen zum Entgleisen bringen können. Nur noch primitive Schutzmechanismen wie flüchten, erstarren, kämpfen sind dem Verhaltensrepertoire des von Krankheitsscham Betroffenen zugänglich. Dies ist zu unterscheiden von Beschämung, die durch andere als Verhöhnung, etwa im Zusammenhang mit Krankheit, auftritt.

Bei belastender Krankheitsscham greifen Abwehrmechanismen (Marks, 2016), die akut oder auch prophylaktisch auftreten, um auslösende Situationen zu meiden:

die Krankheit, für die man sich schämt, wird verleugnet, verharmlost,

es wird ein Schuldiger für Krankheit und die damit verbundene Scham gefunden (Sündenbock),

Verhärten, sich unangreifbar machen (Zynismus),

Regression in kindliche Opferpositionen,

Betroffene versuchen, unsichtbar zu werden, gehen in die Selbstaufgabe, um nicht angreifbar zu sein,

Überanpassung, kein Widerspruch beim Arzt, perfektionistisches Umsetzen von Behandlungsanweisungen,

lebensbedrohliche und unerklärliche Erkrankungen werden dissoziiert, da die Wahrnehmung das subjektiv »Aushaltbare« übersteigt,

Betäubung durch Medikamente und Suchtmittel, um die mit der Krankheit einhergehende Krankheitsscham und andere Gefühle nicht spüren zu müssen.

Eine Erkrankung bedeutet keine zwangsläufige Schamkopplung – aber eine mögliche, die Therapeuten in Betracht ziehen müssen. Potenziell jede Erkrankung kann mit belastender Scham einhergehen. Während bestimmte Krankheiten einen hohen Schamfaktor besitzen, sagen diese aber noch nichts über das Maß der individuellen Krankheitsschambetroffenheit aus. Dem Blick der anderen kommt eine besondere Bedeutung zu: sowohl der elterliche Blick in der Säuglings- und Kindheitsentwicklung, aber auch die gesellschaftliche Reaktion auf Erkrankung. Dies wird insbesondere am Beispiel von Covid-19 aktuell deutlich, aber auch etwa im Umgang mit Körpergewicht. Während in lang vergangenen Zeiten die Rubensfigur als Schönheitsideal galt, wird heute höheres Gewicht oft mit Beschämung belegt und erzeugt individuellen Krankheitsdruck. Ein »perfekter« Körper scheint vielen Menschen als überlebenswichtig, als Eintrittskarte in Partnerschaft und Beziehung. Manchmal wurzeln diese Probleme bereits in den elterlichen Beziehungen der Kindheitstage.

Frau S. leidet bis zum heutigen Tage unter den kritischen Blicken ihrer Mutter. Nun ist sie beunruhigt. Bei ihr wurde Brustkrebs diagnostiziert. Es würde nun Bestrahlung beginnen, damit käme sie gut zurecht. »Aber«, sie weint, »ich komme nicht damit zurecht, wenn mein Mann jetzt geht.« Auf Nachfragen hin erzählt sie, dass es keinerlei Aussagen oder Anzeichen für eine bevorstehende Trennung gäbe. »Es ist einfach ein Gefühl.« Ich lade sie ein, dieses Gefühl erklingen zu lassen. Frau S. wählt einen lauten Trommelschlag. Ein »Totschlagsatz« ihrer Mutter falle ihr ein: »Welcher Mann bleibt schon bei einer kranken Frau!«, habe die Mutter gebetsmühlenartig geäußert. »Das muss nicht stimmen!«, sinnt Frau S. mit neuer Einsicht: »Ich habe mit der Muttermilch aufgesogen, dass kranke Frauen verlassen werden.«

Erfahrungen mit Krankheit und Scham können transgenerational, also von Generation zu Generation, weitergegeben werden.

In meinen Therapien beschreiben Klienten und Klientinnen, die unter Krankheitsscham leiden, ihre Befindlichkeit in Bildern, Imaginationen und Klängen. Diese über Jahre beobachteten Erlebensqualitäten habe ich gesammelt, qualitativ ausgewertet und zu metaphorischen Erlebensbildern zusammengesetzt, um »mit Metaphern und Subtilität der Realität des inneren Lebens am nächsten zu kommen« (Wurmser, 1990, S. 12). So möchte auch dieses Buch im Sinne des bekannten psychoanalytischen Schamforschers Leon Wurmser eine Botschafterin der vernachlässigten Wirklichkeit »Innenwelt« sein. Im Folgenden möchte ich Ihnen zentrale Erlebensphänomene der Krankheitsscham metaphorisch, wenngleich verkürzt und pointiert, vorstellen.

1.1.2 In der Isolierzelle

Wenn Menschen ihre Krankheitsscham, meist im späteren Verlauf einer Therapie, rückwirkend beschreiben, dann beschreiben sie ihr Erleben oft im Bild des Gefängnisses. In gesteigerter Form als Isolierzelle – abgekapselt und allein, nur seltene Besuche von außen, so erleben Betroffene dann ihr Dasein. Die Scham über die Erkrankung hat sie in Isolation versetzt, die Krankheit scheint eine innere Überzeugung zu bestätigen, die sie oft schon vor dem Ausbruch der Krankheit latent in sich trugen: