Vater, Mutter, Sucht (Fachratgeber Klett-Cotta) - Waltraut Barnowski-Geiser - E-Book
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Waltraut Barnowski-Geiser

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Beschreibung

Kinder von suchtkranken Eltern finden wenig Beachtung. Die Sucht von Vater oder Mutter ist tabu, das Leiden der Kinder ist tabu. Hier erzählen Erwachsene aus Suchtfamilien freimütig von ihren Erfahrungen. Zahlreiche Anregungen und Übungen helfen Betroffenen, ihren Platz im Leben neu zu finden. Vater, Mutter, Kind: Dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Die Sorge um das Rauschmittel verdrängt die Sorge für die Kinder. Viele Menschen aus Suchtfamilien leiden lebenslang darunter, ohne sich je auszusprechen. Die Autorin durchbricht mit diesem Buch das Schweigen. Sie lässt Betroffene zu Wort kommen und sie zeigt die besonderen Stärken und Schwächen erwachsener Suchtkinder. Mit einem differenzierten Selbsttest und vielen Übungen können sie mehr über sich, ihre Rolle im Leben und ihre Ressourcen erfahren. So können Betroffene Verständnis für ihre Gefühle, ihr Verhalten und ihre Nöte entwickeln und ihre Probleme konstruktiv angehen. Mit vielen Übungen und Anregungen zur Befreiung aus der Suchtfamilie und ihren Rollenzuschreibungen

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Seitenzahl: 193

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WALTRAUT BARNOWSKI-GEISER

Vater, Mutter, Sucht

Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: © tavi_Fotolia (junger Baum) © Fotoschlick_Fotolia (Baum alt)

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-86050-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10777-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20261-8

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Schnelleinstieg

◾Süchtige Eltern: Betroffene berichten selbst

◾Verleugnung in der Suchtfamilie

◾Zusammenleben als Kampf

◾Familie als Sehnsuchtsort

◾Die Kraft des »Dennoch« – Stärken der Suchtkinder

◾Leben mit einem Tabuthema – Wunden der Suchtkinder

◾Selbsttest: Meine Rolle – meine Sehnsucht

◾Rollenbilder von Suchtkindern und wie sie sich davon befreien

◾Das AWOKADO-7-Schritte-Programm – nicht nur für Suchtkinder

◾Anregungen zum Weiterlesen

Inhalt

1Einleitung: Über dieses Buch und meine Motivation, es zu schreiben

2 Was Betroffene selbst erzählen

2.1 Gesichter der Suchtkindheit

»Ich glaube nicht, dass sie mir etwas Schlimmes getan haben!« Sohn einer tablettenabhängigen Mutter

»Du sehnst dich wie bekloppt nach Liebe …« Tochter einer drogenabhängigen Mutter

»Ich sehe mich mit ihren kontrollierenden Blicken!« Sohn einer magersüchtigen Mutter

»Alle taten, als gäbe es das nicht!« Tochter alkoholabhängiger Eltern

»Eigentlich ging es nie um mich!« Sohn eines arbeitssüchtigen Vaters

Morgen kommt die Million! – »Wenn ich nicht weiß, wer mein Vater wirklich war – Wer bin dann ich?« Tochter eines spekulationssüchtigen Vaters

2.2 Suchtkinder zwischen Abschied und Neuanfang

»Da war ich mir zum ersten Mal wichtiger als die anderen!« Heimunterbringung auf eigenen Wunsch

»Für mich bist du einfach mein Papa, den ich lieb hab!« – Brief an den verstorbenen alkoholerkrankten Vater

»Trotz-dem … ich muss nach oben!« Tochter einer mehrfach belasteten Familie, nach Trennung der Eltern zeitweise auf der Straße lebend

3Niemand ist alleine krank – der Ort Suchtfamilie

Wenn der Satz »Es ist nichts!« das Leben bestimmt – der »Nicht-Ort«

Verschworen und gepanzert – Familie in der Festung

Zwischen Gipfelflug und Absturz – der Extrem-Ort

Zwischen Chaosclub und Kontrolltreff – von »Sodom und Gomorrha«

Zusammenleben als Kampf – in der Familien-Arena

Die endlose Suche nach Liebe – Suchtfamilien als Brutstätten der Sehnsucht

4 Die sieben Stärken und die sieben Wunden erwachsener Suchtkinder

4.1 Die Kraft des Dennoch – Die sieben Stärken der Suchtkinder

Ich schaffe das! – Belastbarkeit

Ich gebe nicht auf! – Durchhaltevermögen

Ich stehe zu dir! – Treue

Ich komme mit allen gut zurecht! – Soziale Kompetenz

Ich kann mich gut in andere einfühlen! – Feinfühligkeit

Ich bin schnell und flexibel! – Managerqualitäten

Um mich herum sind alle gut drauf! – Stimmungsexperten

4.2 Auf den Spuren des Tabus – Die sieben Wunden der Suchtkinder

Die Wunde der Täuschung – Es ist doch gar nichts!

Die Wunde der Isolation – Wie es innen aussieht, geht niemanden etwas an!

Die Wunde der Gefühlsüberschwemmung – Taumel zwischen Schuld und Sehnsucht

Die Wunde der Verstrickung – Suchtkinder im Sog der Abhängigkeiten

Die Wunde der Leere – Von Beziehungsjunkies und Beziehungsabstinenten

Die Wunde der Heimatlosigkeit – Von der unendlichen Suche der Suchtkinder

Die Wunde der Entwertung – Wenn alles ver-rückt

5 Die Masken des Tabus – Leinwandhelden auf der Bühne des Lebens

5.1 Selbsttest: Meine Rolle – Meine Sehnsucht

Hinweis zu den Ergebnissen

5.2 Suchtkinder spielen eine Rolle … für ihre Eltern!

Pippi Langstrumpf

Superman

Miss Marple

Robin Hood

Mary Poppins

Mutter Teresa

Otto

Mowgli

6 Sieben Schritte zu einem glücklicheren Leben

6.1 Glück – was die Hirnforschung sagt

6.2 Das AWOKADO-7-Schritte-Programm

Vor dem Start

1. Schritt: Achtsamkeit Übung: Ich … mit Leib und Seele im Hier und Jetzt

2. Schritt: Schutzräume erschaffen Übung: Sicher … in mir Übung: Sicher … durch Musik

3. Schritt: Die Belastung und die Stärken würdigen Übung: Mein Stärkenfinder

4. Schritt: Boden und Standpunkt finden Übung: Standbild im Spiegel Übung: Der inneren Stimme vertrauen

5. Schritt: Sich öffnen Übung: In die Weite Übung: Ich und meine Werte

6. Schritt: Ausdruck Übung: Ohne Worte

7. Schritt: Verbindung suchen Übung: Die Tür zu meinem Herzen

Programm beendet? Geschafft!?

6.3 Das AWOKADO-Stärkungs-Ritual

Zum guten Schluss

Literatur

1 Einleitung: Über dieses Buch und meine Motivation, es zu schreiben

»Warte nicht, bis der Sturm vorbei ist, sondern lerne im Regen zu tanzen.«

(unbekannt)

Vater, Mutter, Kind: Dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, steht diese immer an erster Stelle – die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert. Alles dreht sich bei Suchtkranken um das Suchtmittel und seinen Gebrauch. Ein alkoholkranker Elternteil kreist letztlich ausschließlich um die Frage, wie er an seinen Alkohol kommen kann, der tablettensüchtige an seine Tabletten, der drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic kreist um seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, also die Umgebung, in der Suchtkranke leben: hier vor allem für ihre Familien. Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder miteinander leben können oder eben auch nicht mehr.

Und so bekommen gerade Kinder in Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen selbst wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung tragen sie ein Leben lang, denn, wie eine Betroffene es ausdrückte: Suchtkind bleibt man ein Leben lang! Auch wenn das Elternhaus schon lange verlassen wurde oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen im Umfeld werden leicht zu Statisten, sie müssen hilflos zuschauen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So blicken Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel weg, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie selbst vielleicht einen Platz der Hilfe, ihre Kinder jedoch bleiben tragischerweise meist selbst dann im Abseits.

Und oftmals ist die Sucht nicht laut, sondern schleichend und leise; dann wird es noch schwieriger, diese zu erkennen; und damit ist die Belastung für betroffene Kinder immens, fragen sie sich doch, ob es diese Sucht überhaupt gäbe oder nur Teil ihrer Einbildung war. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Verunsicherung. »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!« »Ist das nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist das nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Kinder von Eltern, die ihre Sucht tabuisieren, sind oft noch als Erwachsene tief in ihrer Wahrnehmung und Bewertung verunsichert.

Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich um das Ausmaß ihrer Belastung zu wissen: in meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, ohne dass ich das Ausmaß der Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich ermessen hätte – ebenso wenig wie die Betroffenen selbst darum wussten. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien reden nicht über ihr Zuhause, scheint es doch allzu lange her zu sein. Sie wissen oftmals nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – sie merken nur an diffusen körperlichen und seelischen Beschwerden, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen dieses Ausmaß selbst nicht bewusst ist – sie haben gelernt zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Da Betroffene mit Eltern leben, die ihre Sucht verleugnen, verleugnen ihre Kinder, dass ihnen etwas angetan wurde. Dies kann, wenn dieser Prozess nicht aufgedeckt wird, weit reichende Folgen für das Leben der Suchtkinder haben. Folgen, die ich in diesem Buch näher beschreiben möchte.

Ich habe während der Arbeit mit Menschen aus Suchtfamilien Erzählungen gesammelt und als Erinnerungsprotokolle im Anschluss an Einzelarbeiten aus dem Gedächtnis protokolliert. Weitere »Suchtkinder« habe ich in narrativen Interviews befragt. Daraus und aus meinen wissenschaftlichen Studien habe ich abgeleitet, was erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gemeinsam ist: Welche Verletzungen haben sie davongetragen, welche Stärken sind ihnen zu eigen geworden, aber auch, was hat ihnen geholfen, ihr Leben glücklicher zu gestalten?

Ich werde in diesem Buch keine Zitate verwenden und auf wissenschaftliche Begriffe verzichten. Wer sich in dieser Richtung stärker orientieren möchte, den verweise ich auf mein Buch »Hören, was niemand sieht«, in dem ich mich mit dem Thema im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes am Institut für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater/Universität Hamburg auseinandergesetzt habe.

Vielleicht haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, dieses Buch zur Hand genommen und sich gefragt, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier im Buchtitel angesprochen ist. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. Suchtkinder, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass sie mit diesem Thema aus Kindertagen nichts mehr zu tun hätten und zum anderen, dass sie keine Probleme haben und wenn doch, diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun hätten. Dies ist ein tragischer Fehlschluss mit weit reichenden Folgen für ihre Lebensqualität.

Vielleicht sind Sie auch an diesem Buch interessiert, weil sie über einen Menschen, der ihnen nah und wichtig ist, auch im professionellen Bereich, mehr erfahren wollen – vielleicht wissen Sie nur Ungenaues über seine Kindheit, ahnen aber, dass diese nicht einfach für diesen Menschen war, dass sie Spuren hinterlassen hat, die im Jetzt Folgen haben. Und auch das ist bezeichnend. Gerade Suchtkinder reden nicht gern über ihre Vergangenheit. Nicht einmal bei ihren Therapeut/innen – zudem fehlt es in diesem therapeutischen Feld oft an spezifischen Kenntnissen über das Erleben erwachsener Suchtkinder und das, was ihnen wirklich helfen kann. In all diesen Fällen möchte dieses Buch ein Stückchen mehr Licht ins Dunkel bringen.

Ich habe in meiner jahrzehntelangen Arbeit mit Kindern und Erwachsenen aus Suchtfamilien viele wunderbare und liebenswerte Menschen kennenlernen und für mich Kostbares von ihnen lernen dürfen. Für mich war und ist es ein Glück, sie in ihrer Veränderung zu begleiten, sie in ihren Talenten aufblühen zu sehen und zu beobachten, wie ihr Selbstverständnis, ihr Selbstwert und ihre Würde wachsen.

Mein Anliegen in diesem Buch ist es, erwachsene Suchtkinder darin zu unterstützen, sich der eigenen Kindheit und deren Belastung zu stellen, nicht etwa, um »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, was in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche zu zerren oder als Sensation zur Schau zu stellen (gerade das möchte ich in diesem Buch vermeiden), sondern um von einem gemeinsamen Blick auf die kindliche Vergangenheit aus einen neuen Boden für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu legen. Deshalb kommen zuerst Betroffene selbst zu Wort. Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen, ein wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihr Fühlen und ihre Nöte entwickeln. Erst dann sind sie in der Lage, so zeigte sich in der Praxis, ihre Stärken zu würdigen. Auch übernommene Rollenmodelle des eigenen Lebens werden so erstmalig verständlich und als Bewältigungshilfe nachvollziehbar – in diesem Buch kann ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss geben. Meine Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich zu einem 7-Schritte-AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann – dieses kann auch von professionell Tätigen in der Arbeit mit Suchtkindern eingesetzt werden. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – dazu möchte ich mit diesem Buch einen Beitrag leisten.

2 Was Betroffene selbst erzählen

Sucht kann viele Gesichter haben. Ob es sich nun um Alkoholismus, Drogen- und Tablettensucht, Esssucht, Spielsucht, Internetsucht, Arbeitssucht u.ä. handelt, gemeinsam ist all diesen Süchten: Wenn Eltern abhängig erkrankt sind, ist dies ein verhängnisvoller Prozess für die mitbeteiligten Kinder. Und gerade weil Eltern trotz ihrer Suchterkrankung gute Eltern sein möchten, droht dieser Tatbestand, dass Kindern ein Schaden durch ihre suchtkranken Eltern zugefügt wird, verleugnet und ausgeblendet zu werden. Das Leiden der Kinder ist in der Regel nicht einmal den mit der Süchtigen betrauten Fachkräften im Blick – selbst in vielen Suchtkliniken werden Angehörige nur wenige Male mit eingeladen und in Gespräche einbezogen. Tragischerweise dabei oftmals erneut mit dem Blick auf den Suchtkranken, etwa mit der Fragestellung, was das Familiensystem zum Erhalt der Suchterkrankung beitrage und was die Familie tun könnte, um die Sucht zu unterbinden. Die Angehörigen werden bislang leider mehr als Aufrechterhalter und Verursacher von Sucht angesehen als diejenigen, denen selbst etwas Schlimmes angetan wurde. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Suchtkinder, auch unter professionellen Helfern, in ihrer Not und Bedürftigkeit weiter auf sich allein gestellt sind – etwas, was gerade diese Menschen allzu gut kennen.

Oftmals hat das Suchtmittel am Anfang einer Erkrankung die Funktion, etwas zu ersetzen oder zu überdecken, was der Suchtkranke nicht anders bewältigen kann – oftmals lenkt es von den eigentlichen Konflikten des Kranken ab, erleichtert vielleicht zunächst, lässt Schweres vergessen. Damit wird das Konflikt- und Lebensbewältigungsmodell Sucht zu einem Geschehen, das alle in der Familie betrifft. Je stärker die Abhängigkeit, je heftiger die Erkrankung, umso mehr sind die Familienangehörigen mit extremer Krisenbewältigung beschäftigt. Und das oft über Jahre und Jahrzehnte, verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit, vor dem sich die mit betroffenen Angehörigen glauben schämen zu müssen. Sie übernehmen die Scham und vieles mehr stellvertretend für den Kranken. Sie leisten jeden Tag schier Übermenschliches, das sie überfordert, für das sie jedoch oftmals durch ihre Familie weder Dank noch Anerkennung bekommen, erst recht nicht Unterstützung, die sie selbst dringend benötigten.

Oft erfahren erwachsene Kinder aus Suchtfamilien erst dann Hilfe, wenn sie selbst süchtig werden oder anderweitig ernstlich erkranken. Eine tragische Kette der Weitergabe von Suchtfolgen, die sich durch die Generationen zieht.

Wie sehen diese Wunden, die in den betroffenen Familien entstehen, aus, welche Spuren haben die süchtigen Eltern in ihren Kindern hinterlassen, welche Maskierungen tragen diese Wunden und vor allem, wie können diese geheilt werden, sodass Betroffene damit trotzdem zu einem glücklichen Leben finden können: Mit diesen Fragen möchte ich mich auf den nächsten Seiten befassen.

Jede Familie ist anders, jede Suchtfamilie auch. Ich möchte deshalb Suchtkinder selbst zu Wort kommen lassen und anhand ihrer individuellen Geschichte im Anschluss jeweils das Erlebte im Kontext der jeweiligen elterlichen Sucht kommentieren. Vielleicht finden Sie sich und ihre Geschichte oder die Geschichte von Menschen, die Sie näher kennen oder betreuen, in den Erzählungen wieder. Gern mag ich noch einen Hinweis zum Lesen geben: Achten Sie beim Lesen der Erzählungen auf ihr persönliches Maß – sie müssen nicht alles hintereinander lesen. Wenn ihnen etwas nahegeht, suchen Sie vielleicht zunächst den Austausch mit anderen Menschen oder schreiben Sie nieder, was ihnen dazu einfällt. Und: Öffnen sie ihren Blick beim Lesen für die Kraft des Dennoch, die die meisten Suchtkinder durch Schlimmes hindurch getragen hat und die manchmal zart, aber doch sichtbar, durchschimmert.

2.1 Gesichter der Suchtkindheit

»Ich glaube nicht, dass sie mir etwas Schlimmes getan haben!«

Herr B., 42 Jahre, Sohn einer tablettenabhängigen Mutter

»Schlimm ist für mich, dass ich im Grunde gar keine Erinnerung an meine Kindheit habe. Ich finde das sehr unangenehm, wenn andere Menschen ganz genau Dinge von früher erzählen, ich selbst weiß nichts mehr, ich kann nichts zu solchen Gesprächen beitragen. Das macht mich nervös, denn ich vergesse überhaupt permanent Dinge. Egal, ob das Gutes oder Schlechtes ist, es ist, als würden die Dinge, die passieren, in einem schwarzen Loch versinken. Ich weiß von früher eigentlich nur noch, wie es bei uns in der Küche aussah und dass es dort sehr leise war. Ich bin, wenn ich mich dort sitzen sehe, vielleicht noch nicht in der Schule, eher im Kindergarten. Meine Mutter ist für mich überhaupt nie präsent, wenn ich an meine Kindheit denke. Und das verstehe ich nicht, denn sie muss ja da gewesen sein! Sie war nicht mal berufstätig. Ich habe auch keine Erinnerung, dass ich sie mal was gefragt hätte oder sie mir später bei den Hausaufgaben geholfen hätte. Ich weiß überhaupt wenig über meine Mutter, also nicht, was sie gedacht, gefühlt oder gesagt hat. Ich weiß nicht, ob sie mal mit mir gespielt hat. Ich könnte sie ja fragen, aber das käme mir blöd vor, wenn ich jetzt nach all den Jahren nachfrage. So kontrollierend: »Na, hast du auch mit deinem Kind gespielt?« Müsste doch eigentlich sein, oder? Mit meinem Vater habe ich Fahrradtouren gemacht, das weiß ich. Ich glaube nicht, dass sie mir wirklich etwas Schlimmes getan haben, mich geschlagen oder so was. Bestimmt nicht. Vielleicht eher geschwiegen, wenn was nicht gut war, vielleicht in der Schule– gesprochen haben sie alle kaum. Meine Mutter muss wohl mal wegen Depressionen in der Klinik gewesen sein. Ich weiß nichts mehr davon. Manchmal macht mein Vater auch so komische Andeutungen: »Na, wenn du die Pillen alle hättest selber bezahlen müssen, wäre wohl nicht mehr viel vom Haus übrig geblieben.« Dann guckt meine Mutter nur sauer und bringt ihn mit ihrem Blick zum Schweigen. Sehr ruhig ist es in meiner Erinnerung, langweilig vielleicht. Ich merke auch gar nicht, ob ich da bin odernicht. Irgendwie war es leer. Bis heute schlafe ich ein, wenn ich nicht arbeite. Wenn irgendwas aufregend ist, schlafe ich auch ein. Das kann mir sogar beim Autofahren passieren, da muss ich richtig aufpassen.Ich glaube, ich brauche keine Freunde, ich könnte gut völlig alleine leben. Ich brauch das nicht, dass jemand um mich rum ist. Mein Vater sagt, ich hätte im Gegensatz zu meiner Schwester gar nicht geschrien. Ich war pflegeleicht. Meine Frau beschwert sich manchmal. Sie sagt, es sei ihr, als sei ich oftmals gar nicht da. Ich rede wohl zu wenig mit meiner Frau, also nicht über Gefühle– das war mir lange Zeit nicht bewusst. Ich wüsste dann auch gar nicht, was ich erzählen sollte. Vielleicht mal kurz, ob imOPwas Besonderes war, aber ich will sie nicht langweilen.Ob ich glücklich bin? Na, sie sind ja witzig, was Sie mich hier fragen. Ziemlich verrückt. (Wird ernst)Kaum, sehr selten habe ich Glücksgefühle. Vielleicht beim Singen in meinem Kirchenchor. Da sind mir am Anfang jedes Mal vor Rührung die Tränen gekommen. Ich wusste nie, warum. Vielleicht weil sich das so verbunden angefühlt hat, so ein Verstehen ohne Worte. Ich liebe Musik und habe deshalb jetzt mit über 40 noch das Gitarrespielen angefangen. Ich mag es, wenn ich oder andere dazu singen. Das sind Momente, in denen ich merke: Ich lebe. Dann spüre ich mich für diese Augenblicke, danach ist das wieder weg.

Kommentar:

Herr B., Sohn einer tablettenabhängigen Mutter, ist ein angesehener Arzt in der Kleinstadt, in der er mit seiner Familie lebt. Herr B. wird von anderen als erfolgreich bezeichnet.

Wer wie Herr B. von frühester Kindheit an ins Leere läuft neben einer kranken Mutter, verliert das Gespür für sich und andere, verliert auch einen Wertmaßstab für das, was schlimm ist und was nicht. »Ich glaube nicht, dass sie mir etwas Schlimmes getan haben!« – eine Aussage, die deutlich macht, wie wenig Herr B. weiß, dass eben gerade diese Leereerfahrung des »Nichts« das Schlimme ist, was in ihm tiefe Spuren hinterlassen hat, Leerstellen in seinem Erleben.

Wenn Kindheiten schlimm und nicht aushaltbar erscheinen, entwickelt die kindliche Seele Schutzmechanismen, die sie vor Schlimmerem bewahrt. Ein Schutzmechanismus gegen nicht Aushaltbares kann Vergessen sein. Herrn B.’s Leereerfahrungen (seine Mutter war offenbar zwar körperlich anwesend und dennoch völlig unerreichbar) waren wohl so schlimm, dass er dieses Erleben »vergessen« musste, sich kaum noch an etwas aus dieser Zeit erinnern kann. Zugleich ist, wie so oft in suchtbelasteten Familien, nicht einmal klar, dass es eine Sucht gab, ist nicht klar, ob es ein Leiden gab – die Sucht unterliegt dem Tabu, liegt im Nebulösen, und damit bleiben Kinder mit diesen Erfahrungen dauerhaft im Ungewissen: Sie sind hilflos auf sich selbst zurückgeworfen. Auch mit den Fragen, die sie haben, bleiben sie allein. Auch hier greifen sie ins Leere: mit weit reichenden Folgen für ihre frühkindliche und weitere Bindungsentwicklung. Wer diese Mangelerfahrungen über mehrere Jahre, noch dazu von frühester Kindheit an, wie hier Herr B., alltäglich machen muss, kann das Dramatische zwar nicht mehr erinnern, aber er wird es als Erwachsener an sich selbst erleben. Das schwarze Loch meldet sich im Erwachsenenalter immer noch, oft ungefragt und wenig willkommen, so wie viele Erwachsene Suchtkinder erzählen. Heute im Jetzt, da es, wie sie finden, nicht mehr nötig wäre. Körper und Seele haben die Erfahrungen der Kindheit neuronal und leiblich, das heißt in Körper, Seele und Geist abgespeichert.

Wie Herr B. gehen Kinder, wenn sie den Eindruck haben, keinen Einfluss nehmen zu können, in die Resignation: Sie sprechen nicht mehr über sich und ihr Innenleben – sie kommen sich in der Leereerfahrung der Kindheit selbst abhanden, sie werden Teil des schwarzen Loches. Bezeichnenderweise kann Herr B. erst auf Nachfragen herausfinden, dass eine andere Beziehungserfahrung, nämlich die der Verbindung im gemeinsamen Musikmachen, von ihm als »Glück« erlebt wurde. Ein kleiner Moment von großer Bedeutung – ein wichtiger Schritt.

»… Du sehnst dich wie bekloppt nach Liebe …«

Frau S., 29 Jahre, Tochter einer drogenabhängigen Mutter

»Ich erinnere mich nicht gerne an meine Kindheit. Gott sei Dank liegt die weit zurück. Ich erinnere mich vor allem daran, allein gewesen zu sein, weil ich nie Freunde einladen durfte. Das wäre ganz schlecht gewesen, dann hätten die das Elend gesehen bei uns. Als ich älter war und die Therapie machte, da wurde mir das egal, da habe ich meine Freunde trotzdem mitgebracht. Da haben die das Chaos mitbekommen. Es war einfach alles anders bei uns und das fanden manche auch cool. Dass meine Mutter uns immer was zum Trinken und Rauchen angeboten hat, wenn sie mal da war. Ich wusste auch nicht, wann ich meine Mutter hätte etwas fragen sollen. Es gab nie einen richtigen Zeitpunkt. Ich weiß noch, wie meiner Lehrerin in der 5.Klasse fast die Augen aus dem Kopf gefallen sind, als ich gesagt habe: Abends kann ich meine Mama nicht nach der Unterschrift für die Klassenarbeit fragen, abends kommt immer der Dealer! Für mich war das absolut normal. Mir war nicht klar, dass das für andere Menschen ganz schlimm klingt. Für mich war das so normal wie zur Toilette gehen oder… Ja, jetzt werde ich gerade nachdenklich. Weil, normal war überhaupt nicht viel bei uns. Ich lebte bei meinem Opa, bei dem, heute weiß ich das, ich es mit einem schwer Depressiven zu tun hatte. Wir lebten meist mit runtergelassenen Rollläden. Ich musste möglichst leise sein. Es war für ihn schlimm genug, dass ich da war und er sich auch noch um mich kümmern musste, wo er mit meiner Mutter doch weiß Gott schon genug Probleme hatte. Immer seine Panik, dass ich auch an Drogen geraten könnte.