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"KRAUTROCK ist ein Buch für Fans, Entdecker, Freunde origineller, schrulliger, schräger, einzigartiger und unglaublicher Musik made in Germany, die sich nicht nur für Fakten, sondern auch für das Phänomen, die Atmosphäre und den Zeitgeist interessieren." (Gitarre & Bass) Am Anfang war das Schmähwort: "Krauts" wurden deutsche Soldaten von den Briten im Zweiten Weltkrieg genannt. Als "Krautrock" bezeichneten Ende der Sechzigerjahre Journalisten weltweit alles, was musikalischen Ursprungs aus Deutschland daherstampfte, bevor der Begriff schließlich vor allem für experimentelle, anspruchsvolle Musik und psychedelisch angehauchten Art-Rock verwendet wurde. Vielseitige Gruppen wie Amon Düül, Faust, NEU! und Can definierten das Genre, ausufernde Klangwände, flirrende Elektronik und "kosmische Musik" bereiteten den Boden für Industrial und Techno. Auf Grundlage von Gesprächen mit Musikern und Zeitzeugen vermittelt Henning Dedekind das Lebensgefühl einer Zeit, die vom Vietnamkrieg und der Anti-Atomkraft-Bewegung geprägt wurde. Er analysiert die unterschiedlichen musikalischen Spielarten und zeigt auf, warum der Krautrock schließlich unterging und was von ihm geblieben ist.
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Henning Dedekind
Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge
Aktualisierte und überarbeitete Neuauflage. Erstmals erschienen als Krautrock – Underground, LSD und kosmische Kuriere (Höfen 2008)
Zweitausendeins
Erste Auflage 2008.Vollständig aktualisierte und erweiterte Neuauflage Winter 2021.Copyright © 2021 by Henning Dedekind.Alle Rechte für die deutsche AusgabeCopyright © 2021 by Zweitausendeins GmbH & Co. KG,Karl-Tauchnitz-Str. 6, 04107 Leipzig.www.zweitausendeins.deUmschlagsillustration von Christiane Nebel.Die Rechte einiger Abbildungen konnten trotz größter Bemühungen nicht geklärt werden.ISBN 978-3-96318-139-9
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»Es herrschte ein Klima der Veränderung, das sich auch bei uns in der Musik niedergeschlagen hat.«
– Michael Rother; Kraftwerk, NEU! und Harmonia –
»Wir hatten das Bedürfnis, nicht so zu tun, als wären wir in Nashville, Memphis, Brooklyn oder Manchester geboren, sondern in Berlin, München oder Straubing.«
– Irmin Schmidt, Can –
»Es wird höchste Zeit, dass man diese Zeit mal aufarbeitet und ins rechte Licht rückt. Wenn das jemand macht, der nicht dabei war und unvoreingenommen an die Sache herangeht, ist das sicherlich von Vorteil …«
– Peter Leopold, Amon Düül –
Inhalt
Prolog
I. Krautrock – eine Spurensuche
II. Unkraut vergeht nicht: Faszination Krautrock
»German Invasion« in den USA
Überdauern in der Sammler-Nische
Prophet im eigenen Land: Legendenpflege …
Wort und Unwort
Krautrock als Geisteshaltung
III. Was heißt hier Krautrock?
TEIL I: Vorgeschichte
1. Bundesrepublik-Blues: Schlagermuff und Nazi-Erbe
Neubeginn in Trümmern: Die »Stunde Null«
Vakuum im Wirtschaftswunderland
»Keine Experimente«: Braune Altlast und Doppelmoral
»Halbstarke« und »Negermusik«
Identifikationsmodell Beat
2. Vorbilder und erste Gehversuche
Beat-Bands in Deutschland
Offene Musikform: Der deutsche Jazz
Musik für Minderheiten: Blues
3. Totschweigen und Protest: Deutsche Lebensgefühle
»Tiefen ausloten«: Neue Werte und Selbstbefreiung
»Kulturstress«: Atomare Bedrohung und gesellschaftliche Polarisierung
TEIL II: Aufbruch
4. »Etwas Eigenes machen«: Musik und Identität
Schlüsselrolle: Free Jazz
Popmusik mit Botschaft: »Underground«
Neues Selbstverständnis: Vielfalt und Rückbesinnung
»Ami Go Home«: Abkehr von Amerika
Freiheit: Die Free Music Scene
5. Berufsmusiker aus gutem Hause: Eine Szene entsteht
Eine neue Avantgarde …
… und teures Gerät
6. »Ganz neue Klänge«
Abnabelung vom Blues
Bruch mit alten Formen
Der erweiterte Klangbegriff
Offene Ohren
Von der Improvisation zur Innovation
Äußere und innere Emanzipation
Rückkehr zur Form: »Spontankomposition«
EXKURS: Urknall des Krautrock – die Internationalen Essener Songtage 1968
Von der Waldeck nach Essen: Der Traum vom deutschen Monterey
Inhaltliche Freiheit und Idealismus: Die Organisation
»Revolution aus Deutschland«: Das Programm
Manifestation einer Gegenbewegung
Neugier, Vorurteile, Engagement: Essen und das Festival
Eine »pop-musikalische Agitationsveranstaltung«
Rauschen im Blätterwald
Nachwehen
TEIL III: Goldenes Zeitalter
7. »Deutschlands eigene Popmusik«
Dekonstruktion und Klangcollage
»Elektronische Volksmusik«: Muttersprache, Mentalität und Tradition
Deutscher Rock und europäisches Selbstverständnis
8. Aus Entertainern werden Künstler
»Wir machen etwas, und ihr müsst es kapieren«: Publikumsreaktionen
9. Weites Feld: Krautrockszenen
Vielfalt oder Stilwirrwarr?
Die Epizentren des Krautrock
Lokalmatadoren: Die regionale Ebene
Wer mit wem: Personelle Verflechtungen
10. Fremde Töne: Vom Krautrock zur Weltmusik
Exotisches im Trend
Blick in die Ferne
Reisewege zur Selbstfindung
Embryos Reisen: Mit dem Bandbus nach Casablanca und Kalkutta
Sitar, Tablas, E-Gitarre: Neue und alte Instrumente
Kulturschock und Kulturaustausch
11. Dada und Agitprop: Texte
Degradierung der Worte: Text als Beiwerk
»… so viele Interpretationen, wie es Hörer gibt«
Kosmische Themen: Fantasy und Science-Fiction
Wagnis Muttersprache: Deutsche Texte
Aktiv gegen das Establishment: Politische Texte
EXKURS: Kunst-Verwandtschaften
Schwestern im Geiste: Krautrock und die moderne Kunst
Keimzellen: Kunstszene und Krautrock
Kunst-Crossover: Multimedia und Rocktheater
Lukrative Kooperationen: Kraut und Kino
TEIL IV: Experiment Alltag
12. Soundtrack zur Demo: Krautrock und Politik
Hintergrund: Die politische Situation in Deutschland
Agitation und Eulenspiegelei: Politrock
Akustischer Sprengstoff: Klangrevolten
Alles ist Politik: Arbeitsweisen und Auftrittsorte
Zu zahm, zu radikal: Krautrock und die Linke
Leopolds Samthosen: Kraut und Terror
13. Gegenkultur: Eine alternative Szene entsteht
Vom Hippietum zur antiautoritären Erziehung
»Gammler«, Müsli-Esser und Freaks: Provokantes Anderssein
Gepolsterte Nische im Wirtschaftswunderland
14. Experiment Zusammenleben: Die Kraut-Kommune
Ideologie und Mietspiegel
Ruhig, idyllisch, billig: Landluft macht frei
Die Orgel im Grünen: Auswirkungen auf das musikalische Schaffen
»Terrorismuskommune« und Schützenfest: Leben mit der Landbevölkerung
Kraut-Mythen: Freie Liebe
Putzdienst und Streitkultur: Lernprozesse im Mikrokosmos
»Nach der großen Party«: Das Experiment scheitert
15. Im kreativen Rausch: Der Drogen-Trip
Neue Welten im Kopf
LSD
»Elektrischer Schamanismus« und »Kosmische Kuriere«: Drogen und Musik
Vom »Kick« in die Katastrophe: Das Ende der Unschuld
16. Kollektives Musikerlebnis: Die Liveszene
Angebot und Nachfrage
Geld aus der Stadtkasse
Szenetreffs und Publikum
Tücken der Technik: Abenteuer Live-Konzert
Deutsche Woodstocks: Rockfestivals
EXKURS: Gelebte Ideologie: »Umsonst & Draußen« in Vlotho
Beginn einer Bewegung
Das »größte Happening der deutschen Subkultur«
TEIL V: Revolution und Realität
17. Ideale gegen Erfolg: Aus Spontis werden Profis
Böhmisches Dorf: Rockmusik als Beruf
Learning by doing: Rockmusik und Marktprinzipien
Eine deutsche Rock-Industrie entsteht
18. Problembeziehung: Krautrock und Plattenindustrie
Anti-Konsum-Haltung oder Zweckehe?
Die Industrie »entdeckt« die neue Szene
Pionierarbeit: Industriekontakte durch Dritte
Generationskonflikt: Neue Musik und alte Prinzipien
Neue Plattformen: Sub-Labels und Independents
Das Kaiser-Imperium: Ohr, Pilz, Kosmische Musik
Unabhängigkeit: Eigene Plattenfirmen
EXKURS: »Musik im Vertrieb der Musiker«: Schneeball
Netzwerk mit Zugpferden
Schneeballeffekt: Die Independent-Landschaft
19. Balanceakt: Produzenten
Mittler und Mädchen für alles
»Alles verbiegen und verkurbeln«: Conny Plank
20. Fetisch Sound: Die technische Revolution
Achtung, Aufnahme! Die Bedeutung der Studios
(Un-) begrenzte Möglichkeiten
Zeit ist Geld
»Klänge, die nicht typisch sind«: Technik und Musik
»Fetisch der Rockmusik«: Der Sound
Konzerte in HiFi: Der neue Live-Sound
Raus aus der Kostenfalle: Das eigene Studio
21. Sounds aus der Steckdose: Neue Instrumente
Tasten-Revolution: Der Synthesizer
Tücken der Technik
22. Krautrock und die Medien
Zarte Pflänzchen
»Ganz schön was los«: Kraut in Radio und Fernsehen
Politisierung und Generationswechsel
Schwieriges Verhältnis: Musiker und Presse
Der Prophet im eigenen Land
23. Zweiklassenrock?
Düül gegen Purple: Stars und Symbole
Wirtschaftsfaktor Rock: »Gnadenlos hinterher«
24. Exportschlager Krautrock
Faszination Kraut
Inselhüpfen: Krautrock in England und den USA
Export-Import: Bowie und Eno in Berlin
25. Profis ohne Kohle
Aller Anfang ist schwer
Krautrock als Existenzgrundlage
26. Erfolg!
Wie gewonnen …
TEIL VI: Niedergang und Ende
27. Enttäuschte Blumenkinder
Von München bis Mogadischu: Politischer Hintergrund
Rückzug ins Schneckenhaus
Harte Drogen und Heilsuche bei Sekten
Rückkehr ins »bürgerliche« Leben
28. Eine Ära geht zu Ende
Kraut-Schwemme
Das Experiment wird verkauft
Zurück zu Altbewährtem: Neue deutsche Rock-Epigonen
»Nur das kleine Deutschland«: Versäumnisse und fehlende Budgets
»Zu dick aufgetragen«: Ende der Welle
Die Kinder fressen die Revolution: Punk und NDW
29. Ableger und Erben
»Anti-Bild« der 68er: NDW
Punk und Post-Punk
Industrial, Synth Pop
Techno, Hip-Hop, Rap
»Lieblinge des Untergrunds«
Väter und Söhne: Krautrock-Einfluss heute
EPILOG
Was bleibt?
DIE PROTAGONISTEN
Die wichtigsten Krautrock-Bands sowie andere in diesem Buch erwähnte Künstler und Gruppen der Krautrock-Ära (mit Auswahldiskografien)
Außerdem …
Sowie …
QUELLEN
HERZLICHEN DANK!
Ende der Sechziger befindet sich Deutschland im gesellschaftlichen Umbruch: Eine junge Generation revoltiert gegen Bürgertum, Springer-Presse, den Muff unter den Talaren und amerikanische Vormundschaft. Mit der geistigen Loslösung von der Bundesrepublik der Eltern geht die Ablehnung der bestehenden kulturellen Werte einher. Die angloamerikanische Popmusik bietet einen Ausweg. Doch der Vietnamkrieg zerstört schließlich auch den Freiheitsmythos Rock’n’Roll …
Beseelt von dem Gedanken, über Neugier und Offenheit den Weg zu einer deutschen Identität innerhalb der modernen Popkultur zu finden, machen sich bundesweit Musiker auf die Suche nach einem eigenen Sound. In Köln formieren sich Can, in Düsseldorf Kraftwerk, in Berlin Tangerine Dream, und aus einer Münchener Kommune heraus entsteht die multimedial konzipierte Gruppe Amon Düül. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen: Ash Ra Tempel, Cluster, Faust, Guru Guru oder Kraan.
Die deutsche Rockmusik befreit sich von ihren angelsächsischen Fesseln und setzt zu einem Quantensprung an: Anarchische Klangwände, wirre Elektronik und »kosmische« Musik, nicht selten unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Drogen eingespielt, bereiten den Boden für spätere Stilentwicklungen wie Techno oder Industrial. Auch jenseits des Ärmelkanals wird man bald hellhörig und prägt einen etwas abfälligen Begriff für die erstaunt bis misstrauisch beobachteten Umtriebe der schwerblütigen Teutonen: Krautrock.
Nach einer radikalen Bildersturmphase verliert die Bewegung jedoch rasch wieder an Schwung. Die anfängliche Euphorie weicht leerem Bombast und einer Rückkehr zu traditionellen Formen. Wenig später wird die Republik von der »Neuen Deutschen Welle« überrollt … Ist die Krautrock-Revolution gescheitert? Was ist geblieben? Wie bewerten die Musiker der Ära ihr Schaffen selbst? Welche Ereignisse, Erfahrungen und welche Musik haben sie geprägt?
Diesen und vielen weiteren Fragen geht das vorliegende Buch nach. Interviews mit Mitgliedern richtungweisender Gruppen und Zeitzeugen bilden die Basis der Recherchen und führen den Leser durch den Text. Natürlich können (oder wollen) hier nicht alle zu Wort kommen. Natürlich fehlt für den einen oder anderen DIE beste Schallplatte oder DAS wichtigste Festival. Um eine lückenlose Aufzählung und Katalogisierung geht es aber auch gar nicht. Vielmehr setzt sich während der Krautrock-Spurensuche aus unterschiedlichsten Fundstücken das Bild einer spannenden Zeit zusammen, in der Musik, politische Einstellung und das Lebensgefühl einer ganzen Generation miteinander verschmolzen.
Eine Zeit, die weit mehr als nur eine Fußnote der Musikgeschichte sein sollte, da in diesen wichtigen Jahren der Grundstein für die moderne deutsche Musikszene gelegt wurde. Zwar mag uns vieles von dem, was einst als revolutionär galt, heute antiquiert und überkommen erscheinen, doch liegt dies gerade daran, dass viele Elemente des Krautrock mittlerweile zum festen Bestandteil moderner Pop- und Rockmusik geworden sind. Deutsche Popmusik ist für uns heute etwas ganz Selbstverständliches. Damals war sie ein Aufbruch ins Ungewisse.
Im Juli 2006 feierte in London eine Partyreihe Jubiläum, die sich unter dem Banner »The Kosmische Club« einer gänzlich unbritischen Musik verschrieben hatte. Nach der Auftaktveranstaltung 1996 war »die einzige Krautrockdisko der Welt«, wie die Betreiber warben, rasch zu einer Institution im Nachtleben der englischen Hauptstadt geworden, nicht zuletzt durch eine wöchentliche Radiopräsenz beim angesagten Sender Resonance 104.4 FM. Mit alledem trug man einem Trend Rechnung: Eine junge Szene hatte die wagemutigen Experimente deutscher Musiker aus den Sechzigern und Siebzigern für sich entdeckt.
Seit den Neunzigern berufen sich in Großbritannien mehr und mehr klassisch besetzte Rockgruppen auf die Errungenschaften deutscher Soundtüftler. Auch Musikzeitschriften wie The Face, Q-Magazine oder Mojo widmen dem fast vergessenen deutschen Rock-Phänomen seitenweise Aufmerksamkeit: In der Flut gleich klingender Neuerscheinungen versprechen die Aufnahmen von Faust, NEU! oder Harmonia offenbar einen interessanten, kreativen Ausweg. Nick McCarthy, Keyboarder und Gitarrist der schottischen Gruppe Franz Ferdinand, der nach seinem Musikstudium sogar eine Lehrzeit bei der Münchener Kraut-Legende Embryo absolvierte, gibt eine Bestandsaufnahme der Post-Millenium-Popszene:
»Ich finde, dass schon seit ein paar Jahren wieder eine totale Aufbruchstimmung herrscht. Trotzdem sehe ich jetzt aber nicht DIE grandiose NEUE Musik auf mich zukommen. Es gibt ein derart riesiges Angebot, dass keiner mehr weiß, was er eigentlich denken soll. Überall ist Musik, aber was ist wichtig? Keine Ahnung. Ich finde Embryo und die frühen Amon Düül unglaublich. Tonangebend. Und Can natürlich, das ist immer noch ein Riesen-Einfluss.«
Wie nachhaltig dieser Einfluss wirkt, zeigen regelmäßig Veröffentlichungen bekannter und weniger bekannter Gruppen: So kokettieren Coldplay 2002 mit deutscher Schreibweise (»Politik«), und auf dem Debütalbum der Early Years von 2006 findet sich nicht nur eine Variation des NEU!-Stückes »Hallo Gallo« (»All Ones and Zeros«), sondern auch ein eigener Song namens »Muzik der Fruhen Jahre«. Krautrock-Schick.
Späte Würdigung erfahren Amon Düül, Faust oder NEU! zunehmend auch in den Vereinigten Staaten. Schon im Januar 1996 widmete die altehrwürdige Washington Post der »deutschen Invasion« ein Special und betonte, dass britische Bands zwar stets die bessere Presse bekommen hätten, der »teutonische Einfluss« jedoch weit größer gewesen sei – insbesondere auf Musiker in den USA. Auch die junge Musikergeneration atmet gern den Hauch der deutschen Rockgeschichte. Brandon Curtis, Bassist, Keyboarder und Sänger der New Yorker Secret Machines, geriet Ende 2006 ins Schwärmen:
»Bands wie Kraftwerk und NEU! veröffentlichten auf ihren Platten Musik, wie man sie noch nie zuvor gehört hatte. Bis zum heutigen Tage klingt sie, als würde sie erst morgen geschrieben. ›Immer wieder‹ von NEU! etwa ist eine unglaubliche Komposition, und die Instrumentierung ist revolutionär. Die eindringlichen Gesangspassagen, die schillernden Gitarrenfiguren und der pulsierende Rhythmus der Synthesizer und Schlaginstrumente erzeugen ständig wechselnde Stimmungen und Spannungszustände. Das war mehr als nur ein Song, den ich einfach nur nachspielen wollte, sondern vielmehr eine Lehrstunde in Musik, die ich unbedingt verinnerlichen musste. Ich glaube, damals war noch niemand bereit für dieses Maß an Kreativität.«
Bis zu seiner Wiederentdeckung fristete der Krautrock ein isoliertes, aber relativ unbeschadetes Nischendasein in kleinen kulturellen Biotopen. Altgediente Bands wie Grobschnitt oder Jane tingelten, entgegen sämtlicher Trends, unermüdlich über die Bühnen deutscher Dorfdiskos. Vereinzelt hielten auch jüngere Gruppen die Krautrock-Fahne hoch – etwa die Mitte der Achtzigerjahre in Hamburg gegründeten Passierzettel, die mit ihren »psychedelektronischen Improvisationen« direkt an das Werk ihrer Vorbilder anknüpften. Später trat die Formation regelmäßig mit Lothar Meid auf, der als Mitglied von Embryo und Amon Düül II zum Urgestein des Krautrock zählt.
Derweil reiften die Platten der deutschen Rockveteranen in einschlägigen Secondhandläden weltweit zu gefragten Sammlerstücken heran. Bei Haggle Records im Londoner Stadtteil Islington etwa findet sich unter der Rubrik »German Rock« ein guter Regalmeter mit Aufnahmen von Can, Ash Ra Tempel, Kraftwerk und Faust. »Die seltenen deutschen Sachen sind immer gleich weg«, sagt Lynn Alexander, der hinter einer Theke aus alten Katalogen und Memorabilia als Meister des Chaos residiert. Schallplatten der verschwundenen Krautrock-Labels Ohr, Pilz und Brain werden mit Preisen bis zu 100 Pfund gehandelt. Angelsächsische Zeitgenossen mit vergleichbarer Erfolgskurve – Gong, Touch, Wigwam, Egg, Henry Cow – sind hingegen großteils in Vergessenheit geraten. Ein paar Ecken weiter bei Flashback Records erklärt Nathan Bennett, ein langhaariger Enddreißiger und wandelndes Rocklexikon, mit ernster Miene die Bedeutung des Krautrock: »Diese Künstler haben ihren europäischen Hintergrund akzeptiert und kultiviert. Dadurch erhielt ihre Musik eine sehr direkte und ehrliche Ausdruckskraft, alles klang vollkommen frisch und interessant. In England hat man das schon sehr früh erkannt.«
Nicht nur in England: Bei einem Urlaubsbummel über einen mexikanischen Flohmarkt verblüffte Nick McCarthy das breit gefächerte CD-Angebot: »Da gab es die schwarz gebrannten Greatest Hits von allen möglichen Bands – und mittendrin Embryo.« Lothar Stahl, ehemaliger Schlagzeuger der Polit-Band Checkpoint Charlie, die als eine der ersten Gruppen Rockmusik mit deutschen Texten verband, berichtet von einer Reise in die Türkei: »Vor drei Jahren waren wir in Istanbul. Ein paar Leute, die dort ein Studio haben, haben uns eingeladen, bei ihnen Aufnahmen zu machen. Die haben alles aus der deutschen Krautrockszene gekannt. Da habe ich mich schon gewundert. Auch in Italien gibt es etliche Krautrock-Spezialisten.« Ein besonderes Faible für die kosmischen Klänge aus Deutschland haben sich seit jeher die Japaner erhalten: Die Besucher des inzwischen geschlossenen Tokyo Wax Museum begrüßte – mit starrem Blick und umgeschnallter Gitarre – ein ewig junger Manuel Göttsching, einst Gründer der Berliner Band Ash Ra Tempel.
In Deutschland hingegen sei es dem Krautrock viel zu lange »wie dem Propheten im eigenen Land« ergangen, beschreibt Stahl das mangelnde Interesse seiner Landsleute an der eigenen Rockszene. Das alte Klagelied gilt jedoch längst nicht mehr uneingeschränkt: Seit die deutsche Plattenindustrie das Marktpotenzial hinter dem neuen, internationalen Interesse erkannt hat, erlebt der Krautrock auch hierzulande eine kommerzielle Renaissance. Sorgfältig runderneuerte Alben von Can oder Kraan sind ebenso erhältlich wie inflationäre CD-Pakete mit Schlagwort-Titeln à la »Macht das Ohr noch einmal auf und hört den Sound der Pilze«. Der deutschen Ausgabe des Rolling Stone liegt im Juli 2004 ein eigener Krautrock-Sampler bei, und das WDR-Fernsehen strahlt 2006 eine sechsteilige Serie unter dem Titel Kraut und Rüben aus. Totgesagte Bands tauchen aus der Versenkung auf oder veröffentlichen, wie jüngst Exmagma, längst verschollen geglaubte Aufnahmen. Mancher Krautrock-Protagonist indes sieht die Wiedererweckung der deutschen Siebziger aus abgeklärter Distanz. Hellmut Hattler: »Es ist in Mode gekommen, sich darauf zu berufen, und das wird sich auch wieder ändern. Diese Zeit wird heute ein Stück weit verklärt.«
Dabei pflegen diejenigen, die dabei waren, sorgsam die eigene Legende. Auf ihrer Tournee 2007 ließen Kraan alte Super-8-Filme aus seligen Wintrup-Tagen hinter die Bühne projizieren. Anfang desselben Jahres sorgte eine freizügige Verfilmung für Furore: Das wilde Leben von Ex-Kommunardin und Supergroupie Uschi Obermaier. Fast hätte man vergessen, dass die hübsche Münchnerin ihre bewegte Karriere einst als Percussionistin bei Amon Düül begann. Jahrzehnte nach ’68, APO, LSD und den Anfängen der RAF ist auch der Krautrock stets ein dankbares Thema: im Zuge eines neu erwachten Geschichtsbewusstseins, als Soundtrack zu Demo, Kommune und Hausbesetzung. Hans-Joachim Irmler, Organist von Faust, die als eine der radikalsten Gruppen ihrer Zeit gelten, freut sich über die ungebrochene Faszination: »Ich glaube, dass man die Konsequenzen dieser Zeit bis heute noch nicht richtig einschätzt. Vielen war das damals alles ein Dorn im Auge. Man wollte einfach nicht, dass jemand noch einmal so viel Freiheit hat wie wir damals hatten.«
Diese Freiheit im Denken, diese zuweilen halb ironische, umstürzlerische Respektlosigkeit ist es, die Menschen wie Nathan Bennett immer wieder in ihren Bann zieht: »Faust sind vor einiger Zeit in der Garage, einem Club gleich hier an der Ecke Highbury/Islington aufgetreten. Am Ende ihres Konzerts haben sie Tränengas versprüht und wurden dafür mit Hausverbot belegt. Haha! Großartig!«
»Krautrock ist nach wie vor ein schwieriges Wort. Wir haben es nie benutzt.«
– Roman Bunka, Gitarrist und Oud-Spieler unter anderem bei den »Erfindern« des Ethno-Pop, Embryo, und der Herforder Jazz-Krautrock-Gruppe Missus Beastly –
»Der Ausdruck ›Krautrock‹ hat mich damals nicht gestört, auch wenn das vielleicht ein bisschen abfällig gemeint war. Heute ist es ein Qualitätsbegriff. Ein Musiker hat den Begriff ›Krautrock‹ jedenfalls nicht erfunden – es sind andere Leute, die sich um so etwas Gedanken machen.«
– Lothar Stahl, Schlagzeuger unter anderem bei den Karlsruher Deutschrock-Pionieren Checkpoint Charlie –
»›Kraut‹ war für mich ein Schimpfwort. Da war ich nicht drauf aus, und mit dieser ganzen Szene wollte ich auch nichts zu tun haben. Ich wollte mich schleunigst davon absetzen. Das konnten wir nur, wenn wir so viel Erfolg hatten, dass man uns ›Kraut‹ nicht mehr unterstellen konnte. Wir mussten also in den offiziellen Charts auftauchen. Das war bis dato für eine deutsche Band durch Plattenverkäufe nicht möglich.«
– Frank Bornemann, Sänger und Gitarrist der Hannoveraner Band Eloy, ehemaliger Produzent der Scorpions –
»Die Scherben sind kein Krautrock, Embryo ist kein Krautrock. Krautrock ist etwas, das woanders gewachsen ist – Eloy, Hölderlin und was es in dieser Ecke nicht alles gab. Die Band, die immer dazwischen stand, war Can. Es war schon phänomenal: Man konnte sie nirgends einordnen. Die Leute von der Industrie sind immer die Ersten, die eine Schublade für die Vermarktung brauchen. ›Krautrock‹ war ein Begriff, der dann auch international akzeptiert und erfolgreich wurde. Darunter verstand man aber meistens diejenigen Bands, die schon etwas erfolgreicher waren als die Szene, von der wir hier sprechen. Für uns war ›Krautrock‹ daher immer schon mehr an den Konsumgeschmack, den Publikumsgeschmack angelehnt.«
– Othmar Schreckeneder, Musikmanager und Gründer von Schneeball Records –
»Was man gemeinhin unter Krautrock versteht, das sind vielleicht fünf Bands. Später hat man da alles mögliche noch dazu gepackt. Das war ein Markenartikel, der sich gut verkauft hat.«
– Hans-Joachim Irmler, Keyboarder der in Hamburg gegründeten Krautrock-Legende Faust –
»Ich glaube nicht, dass es Krautrock als Bewegung gab. Es gab einfach ein paar Marketing-Leute, die ein paar Bands unter Vertrag genommen haben, die dann einem bestimmten Etikett gerecht werden mussten. Labels wie Pilz oder später Brain haben versucht, ein Etikett auf die Flasche zu kleben, was natürlich auch legitim ist. Wenn es ein Etikett gibt, bekommt so eine Sache gleich viel mehr Schwung. Ich bin auch schon mal mit Elton John verglichen worden. Warum, habe ich gefragt; wegen der Brille, hat es dann geheißen. Na gut.«
– Hellmut Hattler, unter anderem Bassist der Ulmer Formation Kraan, Fehlfarben, Tab Two –
»Das Harmonia-Album ›Deluxe‹ war für mich der Moment, in welchem diese Musik, die ich eigentlich nur mit ein paar wenigen Bands in Zusammenhang gebracht hatte, zumindest für mich zu einer Bewegung wurde, zu etwas Größerem als nur einer zufälligen (stilistischen) Ähnlichkeit. Ich glaube, der Begriff Krautrock hat sich über seine wörtliche Bedeutung hinaus entwickelt und steht heute für eine ganz bestimmte Ästhetik.«
– Brandon Curtis, Sänger, Bassist und Keyboarder der New Yorker Band The Secret Machines –
»Ich finde, dass Can, Embryo und Amon Düül schon etwas gemeinsam hatten. Bei Can war dieses Motorische gemischt mit einer gewissen Mystik. Das war alles eben auch sehr psychedelisch, wie damals weltweit.«
– Nick McCarthy, Gitarrist, Keyboarder und Sänger der schottischen Band Franz Ferdinand –
Um die Frage, wer den Begriff Krautrock nun tatsächlich erfunden hat, ranken sich zahlreiche Legenden. Eine davon besagt, ein subversiv betiteltes Stück der Münchener Amon Düül habe die Vorlage geliefert: »Mama Düül und ihre Sauerkraut-Band spielt auf«. Dem widersprechen andere Kraut-Protagonisten freilich vehement, zumal das einstige Unwort inzwischen als Marke salonfähig geworden ist. »Den Begriff Krautrock gab es gar nicht – auch, wenn Amon Düül behaupten, das käme von ihrem Lied«, sagt Hans-Joachim Irmler von Faust. »Aber Sauerkraut und Krautrock ist doch noch ein gewisser Unterschied, oder?«
Als gesichert gilt jedenfalls, dass »Krautrock« nicht aus deutschen Wortschmieden stammt, sondern eine britische Erfindung ist. Wurden die Deutschen bereits in den Weltkriegen aufgrund ihres Sauerkrautverzehrs verächtlich als »Krauts« tituliert, so lag es nahe, auch der Musik der ehemaligen Gegner ein entsprechendes Etikett anzuheften. »Krautrock« verwies dabei nicht nur auf Rockmusik »Made in Germany«, sondern stellte gleichsam einen Widerspruch in sich dar: Die schwerblütigen, gemütlichen, rationalen Krauts und die lockere, freie Jugendmusik aus Amerika – zusammen eine mehr als lächerliche Vorstellung! Peter Leopold, Schlagzeuger von Amon Düül und Amon Düül II, bestätigt dies mit dem ihm eigenen Wortwitz: »Das Etikett ›Krautrock‹ haben uns die Engländer mit dem entsprechend negativen Wortsinn verpasst. Die haben das als Anti-Radar-Symbol erfunden.«
Taufpate, so wollen verschiedene Quellen wissen, sei der legendäre BBC-Radiomoderator John Peel gewesen. »Das ist ganz falsch«, winkt Hans-Joachim Irmler ab. »Bei wem das richtig eingeschlagen hat, das war Ian McDonald. Der war damals beim NME (New Musical Express). Er war ein begeisterter Anhänger der Musik, die aus Deutschland kam. Er hörte das Lied und war begeistert, weil es den Nagel auf den Kopf traf.« Bei dem angesprochenen »Lied« handelt es sich um das erste Stück der LP Faust IV aus dem Jahre 1973: »Krautrock«. Tatsächlich stellt der Titel aber nur eine Reaktion auf die von den Briten gebrauchte Bezeichnung dar, eine selbstironische Flucht nach vorn. Faust, die vor allem in England größere Erfolge verzeichneten, hatten freilich keinen Grund, sich hinter ihrem Deutschsein zu verstecken. Im Gegenteil: Man unterstrich voller Selbstbewusstsein die eigene Leistung. »Die Verknüpfung von Kraut und Rock ist entstanden, weil wir klarmachen wollten, wir sind nicht diese ›Krauts‹, für die ihr uns haltet und die ihr so hasst«, erklärt Irmler. »Wir spielen aber auch nicht diesen ›Rock‹, den ihr uns an den Hals hängen wollt. Also haben wir gesagt, jetzt machen wir mal so ein richtig fettes Lied, und das nennen wir dann ›Krautrock‹.«
Wer immer die Wortschöpfung für sich beanspruchen darf – die musikalische Bandbreite jedenfalls ist enorm und macht eine genaue Einteilung in »Krautrock« und »Nicht-Krautrock« beinahe unmöglich: Am einen Ende der Skala dekonstruierten Faust mit Pressluftbohrern und Flipperautomaten die Fundamente der Rockmusik und legten bereits mit ihrem Debüt den Grundstein für Industrial-Rock und heutige Sampling-Techniken. Den Gegenpol bildeten Kraftwerk, die in monotonen Rhythmen und kühlen Melodien das Konzept der Maschinenmusik bis zu dessen logischer Konsequenz durchexerzierten und damit wiederum eine Basis für die künftige Entwicklung afroamerikanischer Musik schufen. Dazwischen eröffnete sich ein weites Feld unterschiedlichster deutscher Gruppen, deren Klangexperimente an der Schnittstelle von technologischem Fortschritt und Bewusstseinserweiterung so vielfältig waren wie die Persönlichkeiten der Musiker – vom Space-Rock der Amon Düül II über die Trance-Landschaften von Tangerine Dream bis hin zur östlich gefärbten Mystik von Popol Vuh. Krautrock (zumindest im Sinne dieses Buches) ist daher weniger ein klar definierter, einheitlicher Stil als vielmehr eine gemeinsame Geisteshaltung: Der Wille, alles Alte in Frage zu stellen, neue Territorien zu erkunden und so schließlich eine eigene musikalische Sprache zu entwickeln.
»Die Kriegsgeneration war von allem abgeschnitten. Wenn sie besoffen waren, haben sie vom Krieg geredet und von den Gräueltaten. Danach setzte der Verdrängungsmechanismus wieder ein.«
– Hellmut Hattler –
»In Deutschland gab es eine Schlagerkultur, und alles, was neu war, kam am Anfang aus anderen Ländern, auch die Protagonisten der elektrischen Musik.«
– Roman Bunka –
Nach Kriegsende steht die deutsche Musikindustrie vor einem schwierigen Neubeginn: Es herrscht nicht nur ein akuter Mangel an Gerät und Material, sondern schlicht auch an »politisch korrekter« Musik.
Unter der Herrschaft der Nazis wurden jüdische Musiker wie die Comedian Harmonists mit Auftrittsverbot belegt oder im Konzentrationslager ermordet, andere (etwa Walter Jurmann, Autor von »Veronika, der Lenz ist da«) konnten rechtzeitig emigrieren. Mit ihnen verschwand die frivole Leichtigkeit und Freiheit der »Wilden Zwanziger« aus Text und Musik. Der Schlager fiel der Gleichschaltung zum Opfer und wurde fortan als Propagandainstrument missbraucht. Noch kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch des »Tausendjährigen Reiches« versuchte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda vergeblich, über den Äther die Stimmung zu heben – und machte dabei an sich harmlose Titel wie »Davon geht die Welt nicht unter« oder »Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern« zu beschwingten Durchhalteparolen.
Als Ende 1945 die ersten Rundfunkstationen den Sendebetrieb wieder aufnehmen, erhebt sich auch die Schallplattenindustrie langsam aus den Trümmern und versorgt den deutschen »Otto Normalverbraucher« (verkörpert von Gert Fröbe in dem Spielfilm Berliner Ballade) zunächst mit leichter Kost: »Wer soll das bezahlen?«, fragt man sich in »Trizonesien«, wie das dreigeteilte Westdeutschland in einem beliebten Stück scherzhaft genannt wird. Der Schlager ist nun ein willkommenes Mittel, die oft hoffnungslose eigene Situation für ein paar Minuten zu vergessen, wenn auch nicht ganz ohne Galgenhumor.
Mit der Vergangenheit versucht man recht und schlecht abzuschließen, um nicht zur Salzsäule zu erstarren. Irmin Schmidt, Organist der Kölner Gruppe Can, erinnert sich: »Ich bin 1937 geboren, zu Kriegsende war ich acht Jahre alt. Von einem Tag auf den anderen bin ich in Nürnberg gelandet – nur Ruinen, wohin man blickte, und es stank grässlich. Wenn man als einzige Erinnerung das Berlin von früher hatte oder Salzburg, war das ein großer Schock, der fürs Leben reicht.«
Während der langen Adenauer-Ära bleibt die Vergangenheitsbewältigung tabu. Der Blick zurück auf die Wurzeln der eigenen Kultur ist durch deren Missbrauch und Pervertierung verstellt; eine Mauer des Schweigens trennt die musikalischen Errungenschaften der »Goldenen Zwanziger« oder die Berliner Jazzszene der späten Dreißigerjahre von der Gegenwart. Für neue, eigene Impulse fehlt der besiegten Nation noch das Selbstbewusstsein. In der Bundesrepublik entsteht ein kulturelles Vakuum.
Mit Nazi-Deutschland ist die deutsche Kultur somit nicht nur untergegangen – »Adolfs langer Arm«, wie sich der Musiker Heinz-Rudolf Kunze einmal ausdrückte, verhindert auch ihre Wiederauferstehung. »Wir stammen aus einer Generation, die, als sie anfing, Kunst wahrzunehmen, in einem Trümmerhaufen stand«, sagt Schmidt. »In einem Land, dessen gesamte Kultur so aussah wie die Städte: zerstört, abgeschafft.« Deutschland sei nach dem Dritten Reich »an einem kulturellen Nullpunkt angelangt«, bestätigt der ehemalige Missus-Beastly-Gitarrist Roman Bunka. »Ich denke, dass es eine große Rolle spielte, dass man auf einer verwüsteten Kultur aufbaute.«
Fluchtverhalten in verschiedensten Ausprägungen – ob in den Alkoholismus oder in die Science-Fiction-Welten eines Perry Rhodan – ist für die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik symptomatisch. Konsum wird zur fast kultischen Ersatzhandlung. Man reist im Goggomobil oder im Käfer nach Italien, frisst sich mit Eisbein und Klößen die Bäuche dick und »ist wieder wer« – froh, noch einmal davon gekommen zu sein.
Die heile Welt der neuen Wohlstandsgesellschaft findet in der populären Musik jener Tage ihr Abbild: Das »Volkslied der Demokratie«, wie der Publizist Helmuth de Haas den Schlager einmal bezeichnete, verklärt mit unkritischen Idyll-Klischees von Heimat und Liebe den Alltag in der jungen Bundesrepublik. Während in den frühen Fünfzigern der Rock’n’Roll bereits den Unmut der amerikanischen Elterngeneration auf sich zieht, begleiten hierzulande Künstler wie Peter Alexander und Margot Eskens die Deutschen auf ihrem Weg ins Wirtschaftswunderland. Zum geflügelten Wort wird der Titel eines Cha-Cha-Stücks von Hazy Osterwald: »Geh’n sie mit der Konjunktur«.
»Mein Opa hat immer gesagt, ›Ei wie nett, der Peter im KZ‹ – und ich rüttelte an den Gitterstäben.«
– Peter Leopold, Schlagzeuger von Amon Düül –
Nach dem enormen Schwung der Anfangsjahre weist das System der Kanzlerdemokratie Ende der Fünfzigerjahre erste Anzeichen der Erstarrung auf. »Keine Experimente« lautet 1957 der Wahlslogan der regierenden CDU. Diese Politik der Bewahrung ist begleitet von einem aggressiven Antikommunismus und einer offensichtlichen Blindheit auf dem rechten Auge: Nicht selten gelangen belastete Personen in der jungen Bundesrepublik wieder in Führungspositionen. »Als ich in den Sechzigern Musikwissenschaften studiert habe, hat unser Professor Sprüche gemacht wie ›Die Afrikaner haben größere Schädeldecken und eine kleinere Gehirnmasse‹«, erzählt Embryo-Gründer Christian Burchard. »In seiner Vorlesung! Für den waren das Primitive. Das war noch der Nazi-Gedanke.« Braunes Gedankengut gedeiht unterschwellig weiter an Schulen, in Familien und in Betrieben. Hans-Joachim Irmler erinnert sich an die unerträgliche Doppelmoral jener Jahre:
»An der Schule herrschte Zucht und Ordnung. Die Rektoren und die Richter waren alles ehemalige Nazis, die erstaunlicherweise von heute auf morgen entnazifiziert waren. Man durfte den Vater nicht fragen, wie es im Krieg gewesen war, und den Opa auch nicht. Natürlich wollten wir uns von diesem ganzen Wust befreien, diesem ganzen Dritten Reich, von dem man nur hinter vorgehaltener Hand sprechen durfte. Das war eine heftige Altlast.«
Die traumatisierte Nachkriegsjugend passt sich der Kultur der Besatzer an. »Deutschsein« gilt als verpönt, Amerika und technischer Fortschritt werden zum Synonym für eine lebenswerte Zukunft. In der Schlagerindustrie hat man den Kontakt zur Jugend längst verloren. Musik und Text werden nach Vorkriegsmuster an der neuen, kaufwilligen Zielgruppe vorbeiproduziert, die sich ihre »Negermusik« lieber aus Übersee holt. Wer die eigenen Platten nicht in der Musiktruhe der Eltern abspielen darf, weil im Wohnzimmer Onkel und Tante beim Kaffee sitzen, trifft sich sonntagnachmittags in Vereinsheimen oder im örtlichen Gemeindehaus zum Musikhören und Tanzen. Der tragbare Plattenspieler wird zum Statussymbol, Opas Dampfradio stellt über Radio Luxemburg oder AFN (American Forces Network, der Rundfunk der US-Armee) den Kontakt zur Welt außerhalb des deutschen Schlagersumpfs her.
Im Jahre 1955 schießt Bill Haleys »Rock Around the Clock« aus dem Film »Saat der Gewalt« an die Spitze der deutschen Hitparade. Obwohl bald auch deutsche Interpreten wie Peter Kraus (»Sugar Sugar Baby«) oder Ted Herold (»Moonlight«) eine brave Variante des Rock’n’Roll präsentieren, bleiben sie doch Imitationen. Als Haley drei Jahre später als erster amerikanischer Rock-’n’-Roll-Star auch in Deutschland auftritt, zeigt sich das andere Gesicht einer Jugend, die nicht in den Schemata einer sich selbst verleugnenden Kriegsgeneration verharren will, sondern aufbegehrt: In Essen, Hamburg, Berlin und Stuttgart kommt es zu Tumulten, Stühle werden zertrümmert. Der Rheinische Merkur nennt Haley einen »Komet der Triebentfesselung«. Allein im Berliner Sportpalast entsteht ein Schaden von über 50.000 Mark – jenseits der Mauer süffisant kommentiert vom SED-Organ Neues Deutschland, das in den Ausschreitungen eine »Orgie der amerikanischen Unkultur« sieht. »Rock Around the Clock« wird zur Halbstarken-Hymne, die US-amerikanischen Rock’n’Roller zu neuen Jugendidolen, welche mit Texten über Teenager-Nöte und Freizeitspaß gegen den Mief der Fünfziger ansingen – eine Stellvertreterfunktion, die das Genre Rockmusik bis zum Punk der späten Siebziger kennzeichnen soll.
Der Staat steht dem neuen Lebensgefühl seiner Jugend hilflos gegenüber. Häufig kommt es zu Überreaktionen gegen Subkultur und »linke« Presse. Im Oktober 1962 gehen die Behörden mit der Begründung des Landesverrats rücksichtslos gegen das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel und seinen Herausgeber Rudolf Augstein vor. In der »Spiegel-Affäre« sehen viele eine ernste Bedrohung von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Als sich ein wirtschaftlicher Einbruch zum Ende des Nachkriegsbooms zur handfesten Regierungskrise ausweitet, zieht ausgerechnet die 1964 gegründete NPD mit überraschenden Wahlerfolgen ihren Nutzen daraus. Im Herbst 1966 wird eine Große Koalition zur Überwindung der Krise gebildet.
Mit den ersten Erfolgen der Beatles in Deutschland – und insbesondere durch die deutschen Versionen von »I Wanna Hold Your Hand« (»Komm gib mir deine Hand«) und »She Loves You« (»Sie liebt dich«) – öffnet sich der bürgerliche Publikumsgeschmack während der Sechziger immer mehr für internationale Popmusik. Die Musikbranche trägt dieser Entwicklung Rechnung, indem sie ausländische Interpreten mit unüberhörbarem Akzent deutsche Liedchen trällern lässt. »Memories of Heidelberg« wird für Peggy March 1967 zu einem Riesenerfolg, aber auch der ehemalige Jazzsänger Bill Ramsey, Esther Ofarim, Wencke Myhre oder Connie Francis profitieren von der neuen Masche. Die Abkehr der Jugend von dem zum Inbegriff des Spießertums verkommenen Schlager ist trotzdem nicht mehr aufzuhalten.
Wurden zu Anfang des Jahrzehnts noch die meisten Nummer-eins-Hits in deutscher Sprache gesungen, so sinkt deren Anteil in den Folgejahren auf unter zehn Prozent. Der Musikjournalist und spätere Krautrock-Produzent Rolf-Ulrich Kaiser fällt ein hartes Urteil über die Drahtzieher der Schlagerbranche: »Zu satt, zu fett, zu alt«. Eine neue Richtung, an der sich die junge Generation musikalisch orientieren könnte, hat sich in Deutschland noch nicht entwickelt. Von Hamburg aus, wo englische Bands harte Lehrjahre in den dortigen Clubs absolvieren, erobert schließlich der britische Beat den Markt.
»Die englischen Beat-Gruppen haben etwas Neues gemacht«, erinnert sich Roman Bunka. »Ich weiß noch deutlich, wie die ersten Sendungen des Beat-Club im Fernsehen kamen, die wir begeistert verfolgt haben.« Als am 25. September 1965 die erste Folge des legendären TV-Formats von Radio Bremen live ausgestrahlt wird, beginnt eine mediale Durchsetzung der jüngeren Bevölkerungsgruppen, die sich wohl nur noch mit der Wirkung von MTV in den Achtzigern vergleichen lässt. Die Stars aus Großbritannien und Übersee flimmern erstmals zum Greifen nah über die Bildschirme der Wohnstuben. Musik, Kleidung, Instrumente, Haarschnitte sind nun direkt erlebbar und ergeben das Gesamtbild einer neuen Kultur, die zum Vorbild für die deutsche Jugend wird – auch für Bunka: »Das war DIE Serie, wo zum ersten Mal Beatmusik im Fernsehen kam. Meine Mutter hat voller Entsetzen ein paar Kommentare dazu abgegeben. Ein paar von den Jungs mochte sie aber auch. Es gab eben die Guten und die Bösen. Die Pretty Things waren die Bösen.«
Auf deutschen Bühnen tummelt sich englischer Pop-Import, Jugendliche feiern fanatisch ihre Idole. Die bürgerliche Gesellschaft ist angesichts dieser neuen Hysterie verunsichert. Lothar Stahl, späterer Schlagzeuger der Karlsruher Checkpoint Charlie, erinnert sich:
»Hauptsächlich sind damals englische Bands rübergekommen, da war es immer voll. Alle Kids sind hingerannt. Die Schwarzwaldhalle in Karlsruhe, wo drei-, viertausend Leute hineingehen, war übervoll, und es standen nochmal ein paar hundert, vielleicht tausend Leute vor der Tür. Dann wurde die Halle gestürmt. Wir sind als Kids um die Halle gekreist und haben geguckt, wo man noch reinkönnte, ob vielleicht einer ein Klofenster offen gelassen hat oder sowas. Irgendwann ging eine Scheibe zu Bruch, dann kamen sie mit Hundestaffeln und haben angefangen, alles abzusichern.«
»Es gab in Deutschland verschiedene Musikkulturen, bedingt durch die verschiedenen Besatzungszonen. Im Norden waren die Engländer, im Süden die amerikanische Zone. Die ganzen deutschen Beat-Bands kamen daher aus Hamburg und nicht unbedingt aus Bayern.«
– Roman Bunka –
Bald beginnen auch deutsche Musikgruppen, die Briten zu kopieren. Bands wie The Lords und The Rattles eifern in Musik, Text und Kleidungsstil (oft erfolgreich) ihren Vorbildern nach. In Schulaulen und Kneipensälen entwickelt sich zaghaft eine deutsche Beatszene: »Während der Beat-Zeit habe ich in Kassel gewohnt«, erzählt Roman Bunka. »Meine erste Beat-Band habe ich mit dreizehn, vierzehn auf dem Weg zur Schule gesehen – da wurde ein Eiscafé eröffnet. Man trat auch viel in Sportclubs, bei Schulfesten und Uni-Feten auf. In Kleinstädten wie Rothenfels am Main fanden Beat-Wettbewerbe mit Gruppen aus der Gegend statt.«
Besonders im Norden der Bundesrepublik entsteht, unter dem Einfluss der von den Beatles geprägten Hamburger Clubszene, eine ambitionierte Liga von Imitatoren. Anschauungsmaterial gibt es reichlich: Viele, auch weniger bekannte britische Bands spielen regelmäßig auf dem »Kontinent«, Hamburg wird zum deutschen Mekka des Beat. In der Gruppe The Cavern Beat spielt und singt der junge Frank Bornemann: »Wir haben viel von den Beatles nachgespielt – ich musste immer die McCartney-Stimmen singen.« Von einer lokalen Musikerszene im heutigen Sinne ist man freilich auch im Norden noch Jahrzehnte entfernt. »Vor allem die Schlagzeuger waren damals zum Teil furchtbar schlecht«, sagt Bornemann. »Die Bassisten waren auch nicht gerade zum Angeben. Wir mussten ja alle erstmal lernen – Musik war noch kein Breitensport wie heute.«
Die Nähe zum Beat-Mutterland England erweist sich jedoch als künstlerische Offenbarung. Bornemann ist heute noch begeistert: »Man hatte sehr engen Kontakt zur englischen Szene. Das waren ja vorwiegend Bands aus England, die dort spielten, und als deutsche Band rutschte man so mit rein. Für uns war das ideal: Wir haben ihnen die Riffs und die Gitarrentechniken abgeguckt. Was ich genial fand, war das Gitarrenspiel dieser Londoner Bands. Manchmal hat man sich auch hinter der Bühne unterhalten und gefragt, ›Wie machst du denn das, kannst du mir das mal zeigen?‹ Wir haben Hits nachgespielt und richtig duftes Geld damit verdient.«
Eine gute Amateurcombo kann damals immerhin Gagen zwischen 300 und 600 Mark erzielen. Zudem bieten manche Clubs auch lukrative Wochen- oder Monatsengagements. Die Bedingungen für die Musiker sind allerdings knochenhart. »Im Star Club spielten wir mit fünf, sechs Bands, die sich gegenseitig abgewechselt haben«, erzählt Frank Bornemann. »Das ging bis nachts.« Andere Clubs wie der Top Ten Club in Hamburg und Hannover verlangen fünf Sets von jeweils einer Dreiviertelstunde. Der Rest des Musikeralltags besteht aus Fahrten im klapprigen Bandbus, schnellem Essen an der Imbissbude und dem Schleppen von Instrumenten und Verstärkern.
Im Süden Deutschlands gedeiht derweil eine andere Szene. Nur selten finden britische Gruppen den Weg bis nach München oder Stuttgart. Die Musik, die in den amerikanischen GI-Clubs gespielt wird, ist daher weniger am Beat orientiert. Mitte der Sechziger schwappt dort die Soul-Welle nach Deutschland.
Der musikalische Transfer erfolgt oft über persönliche Kontakte, die sich nicht im Teilen derselben Bühne erschöpfen: Viele zum US-Militärdienst eingezogene Musiker finden in den aufgeschlossenen Deutschen neue Partner. Christian Burchard, Multiinstrumentalist und Gründer der Münchener Embryo, erzählt: »Ich komme aus Hof. Da hatten wir einen Bassisten, Richie, der vorher mit Little Richard gespielt hatte. Wir haben viel mit den GIs gespielt. Hauptsächlich mit den Schwarzen, weil die eine Musik gemacht haben, die uns interessiert hat. Das war so eine Mischung aus Rhythm’n’Blues und Jazz. Chris Karrer (Amon Düül, Anm. d. Red.) hat Banjo in einer Band gespielt, die in amerikanischen Clubs aufgetreten ist.« Das Spielen in den »Amiclubs« bringt für die meist behütet aufgewachsenen Jungmusiker noch einen Kulturschock der besonderen Art mit sich. Roman Bunka:
»Später bin ich nach Würzburg gezogen und habe mit sechzehn in den amerikanischen Clubs gespielt. Das war das erste Mal, dass ich Ratten und Prostituierte gesehen habe. Richtige, lebendige Ratten. Es war unglaublich dreckig, und nachts hingen dort zwielichtige Mädels herum, die ich, aus gutbürgerlichem Milieu stammend, in einer Kleinstadt wie Würzburg vorher nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ich wurde dort auch zum ersten Mal mit faulen Eiern beworfen, weil wir zu »schwarze« Musik machten. Die weißen GIs wollten Johnny Cash hören, wir hingegen spielten damals schon mehr R&B-Musik und Underground – Otis Redding und so weiter.«
Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen begreifen junge Musiker, welche Bedeutung Musik für die eigene kulturelle Identität hat – und beginnen im nächsten Schritt daran zu zweifeln, ob sich auf dem adaptierten Fundament aus Soul oder Beat eine künstlerische Entwicklung gründen lässt. Die Logik erscheint zwingend: Die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation in Deutschland unterscheidet sich so grundlegend von der in England und den USA, dass angelsächsische Muster kaum dauerhaft für die deutsche Jugendkultur übernommen werden können.
Der Jazzszene sind derlei Probleme Mitte der Sechziger (noch) fremd. Im Vergleich zu anderen Musikstilen hat der Jazz in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sehr früh ein internationales, europäisches Selbstverständnis entwickelt. Bandleader wie der Saxofonist Helmut Brandt leisten bereits in den Fünfzigerjahren Pionierarbeit, Tourneen und Festivals mit internationalen Größen machen die Musik in ganz Europa für das Publikum greifbar. Eine Gruppe Gleichgesinnter beginnt, sich über ihre Vorlieben zu definieren: Man ist interessiert, raucht Pfeife, tauscht Platten, fachsimpelt, lernt sich kennen. »Vieles entstand aus der frühen Jazz-Bewegung in Deutschland«, erinnert sich Peter Leopold. »Es gab eine Menge Querverbindungen: Christian Burchard von Embryo zum Beispiel habe ich in einem Nürnberger Jazzkeller kennengelernt.« Burchard kann dies bestätigen: »Es war eine Clique, die sich mit Jazz beschäftigt hat, der in der sogenannten Boheme-Szene sehr verbreitet war. In München gab es damals viel mehr Jazz-Clubs als jetzt.«
Anders als Beat und Rock’n’Roll ist der Jazz nicht Sprachrohr einer spezifischen (amerikanischen) Jugendkultur, sondern vielmehr die Musik einer intellektuellen Elite, der nach den Erfahrungen des Dritten Reiches jede Massenbewegung zutiefst suspekt ist. Jazz ist neu, lebensbejahend und gilt als internationale, offene Musikform. Die erblühende junge Jazzszene leidet deshalb auch nicht unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber den angelsächsischen Kollegen: »Wir haben viel experimentiert und alle möglichen Sachen ausprobiert«, sagt Hellmut Hattler, der seine Karriere als Bassist in einer Ulmer Jazzband beginnt. »Es war ein guter Testlauf.«
Eine andere Nische, die sich vielen deutschen Nachwuchsmusikern eröffnet, ist der Blues: Im Rahmen des musikalischen Wanderzirkus American Folk Blues Festival zeigt sich dieser erstmals in einer modernen Vielfalt, die ihre kulturellen Eigenheiten bejaht. Die von Horst Lippmann und Fritz Rau präsentierte Tournee gastiert von 1962 an regelmäßig auf großen europäischen Bühnen wie dem Pariser Olympia oder dem Berliner Titania-Palast und löst eine wahre Blues-Begeisterung aus. Bejubelte Auftritte US-amerikanischer Legenden hieven den in seiner Heimat vergleichsweise wenig geschätzten Stil plötzlich ins internationale Rampenlicht. »Viele amerikanische Musiker haben in Europa den Respekt bekommen, der ihnen zu Hause verwehrt blieb«, sagt Roman Bunka. Vor allem Textinhalte und Gesang bieten ein willkommenes Ventil für eine lang angestaute Emotionalität. Dieses neu geweckte Interesse verstärkt sich ab Mitte der Sechziger durch den Boom des britischen Rhythm and Blues. John Mayall, Alexis Corner, Savoy Brown oder Ten Years After spielen eine leicht unterkühlte Variante des US-amerikanischen Stils und setzen damit einen »erwachsenen« Gegenpol zur grassierenden Beat-Hysterie.
Wenngleich man die britischen Bands als europäische Pioniere bewundert, fühlt man sich doch auch in Deutschland nicht weniger berechtigt, die Musik der ehemaligen afrikanischen Sklaven zu kopieren. Bunka: »Wir haben gesagt, ›aha, die klauen ja auch bloß bei den schwarzen Musikern‹. Das war schön zu sehen. Man hat mehr Selbstbewusstsein bekommen, weil man gemerkt hat, dass die Engländer genauso Weißbrötchen aßen wie wir.« Ein Teil der Nachkriegsgeneration im besiegten Deutschland identifiziert sich mit der unterdrückten Minderheit Amerikas. So kommt es zu vielen Bandgründungen, die den Grundstein für eine bis heute sehr vitale deutsche Bluesszene legen. Roman Bunka verdient sich Mitte der Sechziger zusammen mit Klaus »Funky« Götzner, dem späteren Schlagzeuger von Ton Steine Scherben, in der Gruppe The Blues Campaign seine ersten musikalischen Sporen.
Unter der dünnen Oberfläche der heilen Welt in Westdeutschland beginnt es Mitte der Sechzigerjahre zu brodeln: Prozesse gegen ehemalige KZ-Aufseher und eine 1965 geführte, unglückliche Parlamentsdebatte über die Verjährungsfristen bei NS-Verbrechen kommen nicht nur für die Opfer viel zu spät. In der intellektuellen Leere zwischen Totschweigepolitik, staatlicher Autorität und Konservativismus ist es die jüngere Nachkriegsgeneration, die nun erstmals wieder beginnt, unbequeme Fragen zu stellen. Roman Bunka:
»Es wurde in dieser Zeit – nicht nur von den Musikern – viel geforscht. Die Frage lautete, ›Was sind denn die Ursachen unseres Dilemmas?‹ Vor allem für unsere Generation, die die Folgen des Zweiten Weltkrieges noch unmittelbar erlebt hat, war es der Generationenkonflikt, der gerade in Deutschland besonders stark war. Hier hatte der Untergang stattgefunden. Man hat sich also gefragt, ›wo führt das alles hin?‹ Das christliche Abendland mit all seinen Errungenschaften war zunächst einmal in einer großen Katastrophe geendet.«
Aus Fragen entwickelt sich bald eine allgemeine Protesthaltung, die später auch in der Musik ihren Niederschlag finden soll: »Die abgedrehteste Musik der ganzen Welt wurde in den Sechzigern und frühen Siebzigern in Berlin gemacht«, sagte der englische Musiker und Kraut-Spezialist Julian Cope 1995 in einem Interview mit Denise Sullivan. »Natürlich wird jeder von seiner Umwelt geprägt, aber man muss sich einmal vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn in der unmittelbaren Nachbarschaft fünfzig-, sechzigtausend Menschen getötet wurden.«
»Wir wollten die erste Generation sein, die keine Ausblendungen mehr vornehmen muss, um in der Öffentlichkeit bestehen zu können. Wir haben sozusagen innerlich die Hosen runtergelassen und gesagt: ›So sind wir.‹«
– Hellmut Hattler –
In der Bundesrepublik setzt ein allgemeiner Wertewandel ein: Die Rufe nach einem neuen Aufbruch werden lauter, die traditionelle Ordnung gerät ins Wanken. In allen Lebensbereichen zeichnet sich eine allmähliche Ablehnung jeder Form von überkommener Autorität ab.
So wird die Verweigerung des Kriegsdienstes erstmals auf breiter gesellschaftlicher Ebene diskutiert. Den oft als »Drückebergern« abgestempelten jungen Männern macht man die Entscheidung nicht leicht: »Die Zeiten waren bedeutend repressiver als heute«, berichtet Lothar Stahl. »Es war ja nicht so, dass man einfach sagen konnte, ›ich will nicht‹. Man hatte das zu begründen. Oft hat das dann immer noch nicht gereicht.« Der Antragsteller muss einen stichhaltigen Nachweis der behaupteten Friedfertigkeit präsentieren. Eine Mitgliedschaft in der Deutschen Friedens-Union, aktive Kriegsgräberpflege oder ein Arbeitseinsatz im Kibbuz werden meist akzeptiert. Auch Michael Rother, der später als Gitarrist bei Kraftwerk, NEU! und Harmonia Wegmarken der Rockgeschichte setzt, erinnert sich an eine unangenehme Gewissensprüfung: »Es war wie eine Verhandlung. Ich bin aber durchgekommen. Man hat jedoch nicht versäumt zu betonen, dass ich die Herren Vorsitzenden nicht überzeugt hätte.«
Rother, der eigentlich Psychologie studieren will, spürt während des Zivildienstes in Düsseldorf die überall herrschende Umbruchstimmung: »Die (psychiatrische) Einrichtung wurde von einem Bruderorden geführt. Sogar dort konnte man dieselben Spannungen wie in der übrigen Gesellschaft beobachten: Es gab die Bewahrer, die Konservativen, und zwei von vielleicht fünfzig Ordensmitgliedern, die versucht haben, etwas zu verändern.«
Gesellschaftlich-kulturelle Wechselwirkungen aller Art werden überall eingehend unter die Lupe genommen. Die Sexuelle Revolution, der Titel eines 1966 erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Buchs von Wilhelm Reich, ist ein Stichwort der Zeit. Nach Auffassung des Autors führen Doppelmoral und Unterdrückung der sexuellen Triebe zu Aggression und Frustration, die sich in einer Lust an Herrschaft und Hierarchie entladen. Die Unterdrückung der Sexualität lähmt zudem die kreativen Potenziale des Einzelnen und stützt so das kapitalistische System, in welchem der Mensch seiner Unterdrückung nichts mehr entgegensetzen kann. Daraus folgt: Eine Befreiung der Sexualität bedeutet auch die friedliche Veränderung gesellschaftlicher Strukturen.
Die bürgerliche Moralgesellschaft fühlt sich bedrängt und reagiert mit Entrüstung: Ende der Sechzigerjahre kommt es vor einem Flensburger Gericht zum spektakulären Prozess gegen die Sex-Großhändlerin Beate Uhse, die wegen des Verkaufs von Spezialpräservativen schließlich zu einer Geldstrafe von 6.000 Mark verurteilt wird. Dies erfülle »den Tatbestand einer unnatürlich gegen Zucht und Ordnung verstoßenden Aufpeitschung und Befriedigung geschlechtlicher Reize«, heißt es in dem Urteil.
Die moderne Medienkultur mit ihren Freiheiten – und Gefahren – muss erst noch erfunden werden. Der jungen Generation der Sechziger geht es zunächst darum, »eigene Wege zu finden, in jedem Bereich zu experimentieren«, wie Roman Bunka die Motivation seiner Zeitgenossen beschreibt. »Man hat in allen möglichen Richtungen Tiefen ausgelotet und neue Horizonte gesucht. Das hieß auch, dass man länger geprobt hat, ganze Nächte durchgemacht hat.« Der Weg von der Selbsterfahrung zur Selbstfindung und schließlich zur Selbstbefreiung scheint vorgezeichnet. Die freiheitlichen Ansätze durchdringen auch das Denken der Musikschaffenden. Irmin Schmidt: »Wir wollten Musik machen, die so ist, wie wir eben sind, wie wir in unserer speziellen Umwelt geworden sind.«
»Die Russen haben gesagt, bis hierher und nicht weiter, sonst werfen wir eine Atombombe.«
– Peter Leopold –
Mit der zunehmenden Entfremdung von Bürger und Staat entwickelt sich auch ein neues Bewusstsein für die außenpolitische Situation Deutschlands. So finden nach dem Vorbild der britischen »Campaign for Nuclear Disarmament« bereits 1960 die ersten »Ostermärsche« gegen die atomare Aufrüstung statt, die sich später zur »Kampagne für Abrüstung« und schließlich zur gesellschaftskritischen Massenbewegung »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« entwickeln. Von 1960 bis 1968 steigt die Zahl der Teilnehmer von 1.000 auf rund 300.000.
Nach der Amtsenthebung Chruschtschows im Jahre 1964 vollzieht sich ein Wandel im Verhältnis der beiden Supermächte. Die Gefahr eines dritten Weltkrieges scheint vorerst gebannt. Dem Kalten Krieg folgt nun eine Phase der Entspannung, in der sich sowohl die USA als auch die UdSSR zumindest um die Wahrung des Status quo bemühen. Für Deutschland bedeutet dies die Festschreibung als geteilte Nation, Atomwaffenstandort und Pufferzone für den Ernstfall. Eine solch massive Bedrohung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Orientierung der jungen Musikergeneration. Roman Bunka:
»Durch die atomare Nachrüstung stand man nun zwischen zwei Atommächten und wusste, wenn irgendetwas passiert … diese atomare Bedrohung war sehr präsent, und wir befanden uns an der Schnittstelle. Diese Situation erzeugte für junge Leute einen ganz speziellen Kulturstress. Deshalb schaute man überall anders hin, weil man sich sagte, ›Was soll bei dieser Scheiße hier denn noch herauskommen? Da dreht sich alles nur im Kreis.‹ Also schaute man verstärkt danach, was im Orient, in Afrika oder bei den Eskimos los war. Man wollte an irgendetwas anschließen, das uns wieder vorwärtsbrachte.«
Die Jugend fühlt sich von der Wohlstandsgesellschaft betrogen. In ihren Augen haben sich die Eliten diskreditiert, und eine neue Linke propagiert nun offen den zivilen Ungehorsam. Im deutschen Untergrund gärt eine explosive Mischung aus umstürzlerischen Ideen, kreativer Energie und nicht kanalisiertem Tatendrang. Was fehlt, ist nur noch die Initialzündung. Lothar Stahl hat diese Zeit in Karlsruhe miterlebt: »Es gab ständig Demos. Als Schüler sind wir da begeistert mitgerannt, wenn man auch nicht immer ganz genau wusste, worum es eigentlich ging. Aber Rebellion war einfach angesagt.«
Ausgehend von Bemühungen um bildungspolitische Reformen entwickelt sich eine vorwiegend von Studenten getragene Protestbewegung, die gesellschaftliche Veränderung und eine Demokratisierung aller Lebensbereiche fordert – und die sich in Ermangelung einer parlamentarischen Opposition bald als außerparlamentarische Opposition (APO) versteht. In den Protesten findet eine lang angestaute, weltweite Identitätskrise der Demokratie ihren Ausdruck, die ihre Wurzeln in einer zunehmenden Bürokratisierung und Selbstgefälligkeit der Konsumgesellschaft hat. Diese Konsumgesellschaft hat für Abweichler und Andersdenkende nur wenig übrig. Hellmut Hattler:
»Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger war die gesellschaftliche Polarisierung ohnehin schon sehr stark. Wenn du dann gesagt hast, du willst raus aus dem bürgerlichen Ding, dann warst du sofort abgestempelt, und zwar nicht nur als Gammler. Die Leute waren zum Teil richtig aggressiv. Was man sich von stinknormalen Leuten auf der Straße zuweilen anhören musste, glaubt man heute gar nicht mehr: ›Zuchthaus, an die Wand stellen‹ – das gab es damals alles noch. Das war nicht alles so lustig, wie sich das heute anhört.«
Gegen Ende des Jahrzehnts kommt es in Berlin zu Studentenunruhen, die sich zur Bewegung der sogenannten 68er ausweiten. Die Zeit für den Umbruch scheint gekommen. »Man war liberal, anarchisch, man hat keinen Millimeter frei gegeben«, erzählt Peter Leopold, der zu den politisch wie musikalisch radikalsten Köpfen zählt. »Wir wollten alles ganz anders machen.« Es sind dieselben politisch-gesellschaftlichen Ursachen, die nun auch in der Musik eine Palastrevolte einläuten.
»Wenn ich an die späten Sechziger zurückdenke, weiß ich, dass ich zunächst zunehmend unzufriedener geworden bin und dann angefangen habe, nach irgendwelchen neuen Wegen zu forschen. Ich hatte noch gar keine klare Vorstellung, wohin das gehen sollte.«
– Michael Rother, Gitarrist von Kraftwerk, NEU! und Harmonia –
»Wir waren auf der Suche nach unserer eigenen Identität. Es war ein Bedürfnis, etwas Eigenes zu machen.«
– Lothar Stahl –
»Wir hatten diese ganze Geschichte satt!«
– Hans-Joachim Irmler –
Noch Anfang 1966 dröhnen aus deutschen Übungskellern holprige Versionen von »(I Can’t Get No) Satisfaction« oder »Sweet Little Sixteen«. Andere bemühen sich in heute längst vergessenen Eigenkompositionen, dem Sound aus Übersee möglichst nahezukommen. 1967 gelingt der nach britischem Muster geformten Beat-Kapelle The Rattles mit »The Witch« sogar der erste internationale Hit aus Westdeutschland. Nach wie vor aber hängt die deutsche Rockmusik am Rockzipfel ihrer großen angelsächsischen Schwester. »Ich habe mich damals immer noch an englischen und amerikanischen Musikern orientiert«, gesteht der ehemalige Düül-Schlagzeuger Peter Leopold rückblickend.
Viele Bands sind es jedoch leid, als zweitklassige Kopien den Samstagabend im Jugendclub zu bestreiten. »Ich glaube, wir sind die erste Generation, die das abschüttelte«, so Ralf Hütter (Kraftwerk) 1975 in einem Interview mit dem US-amerikanischen Musikjournalisten Lester Bangs. »Wir können nicht leugnen, dass wir aus Deutschland stammen, denn die deutsche Mentalität […] wird immer ein Teil unseres Benehmens sein.«
Der britische Beat und die Rockmusik als uramerikanisches Phänomen sind zwar zweifellos auch die Wurzeln des Krautrock, andererseits zeigt jedoch gerade die amerikanische Jugendkultur der Sechziger, dass es möglich ist, sich über eine eigene Musik zu definieren und von gesellschaftlichen Fesseln zu befreien. Wie eine solche Musikkultur aussehen kann, haben die Besatzer auf deutschen Bühnen hautnah vorgemacht. »Man merkte, dass die Musiker, die man bewunderte, ihre eigene Sache verfolgten«, erzählt Roman Bunka. »Das hat natürlich dazu angespornt, sich selbst auf den Weg zu machen. In dieser Hinsicht war das auch eine klare Vorbildfunktion.«
Münchener, Düsseldorfer und Berliner Lokalmatadoren arbeiten nun hartnäckig daran, sich von ihren übermächtigen Vorbildern abzunabeln. Doch der Wille zum Umbruch allein genügt nicht. Was fehlt, ist musikalische Orientierungshilfe. Zum Dreh- und Angelpunkt wird so die Suche nach einer Ausgangsbasis für das eigene Schaffen. Kraan-Bassist Hellmut Hattler erinnert sich noch genau an einen Nachmittag im Haus der Eltern seines Freundes Jan Fride: »Wir saßen bei Jan im Wohnzimmer. Seine Eltern besaßen so eine große Braun-Stereoanlage. Es war ein ruhiger, sonniger Nachmittag. Ich sagte, ›eigentlich sollten wir eigene Stücke spielen‹. Jan antwortete, ›wie willst du denn das machen?‹«
»Mein Bruder Ulrich, der heute Musiklehrer ist, hat damals zu mir gesagt, ›sag mal, hörst du immer noch Dixieland?‹ Ich antwortete, ›na, und was hörst du?‹ Er sagte nur, ›Free Jazz‹. Das war ein Schlag ins Gesicht … das ging zur Sache.«
– Peter Leopold –
Für viele bietet der moderne Jazz neue Entfaltungsmöglichkeiten. Zur ersten Riege deutscher Jazzmusiker, die einen entscheidenden Schritt in Richtung progressiver Formen und Spielweisen wagen, gehören Mitte der Sechziger unter anderem der Pianist und Komponist Wolfgang Dauner, der Posaunist Albert Mangelsdorff und der Saxofonist Peter Brötzmann. Doch auch der Jazz, einst Synonym geistig-musikalischer Freiheit, droht in bürgerlicher Spießigkeit zu verkrusten: »Jazz ist zum Kulturgut stilisiert und damit in den Konsumprozess bürgerlicher Kunstverwalter integriert worden«, wettert der Publizist Rolf-Ulrich Kaiser 1969 in seinem Buch der neuen Pop-Musik. Der Begriff ›Jazz‹ stehe für »die Überreste einer vormals spontanen und vitalen Kreativität. Jazz hört man sich in luxuriösen oder wenigstens erhabenen Sälen an; extra dafür zubereitet, gepudert, parfümiert und frisiert wie für einen Opernbesuch.« Wie Kaiser können sich viele Fans und Musiker mit der akademischen Schlips-und-Kragen-Mentalität mancher Veranstaltungen nicht mehr identifizieren. »Die normale (Jazz-) Szene in den Sechzigern war konservativ«, sagt Christian Burchard. »Die haben gespielt, was gerade gefragt war – Standard-Jazz.«
In »angesagten« Lokalen wie dem Ulmer Jazzkeller hingegen legt man großen Wert auf ein fortschrittliches Programm. Unter den regelmäßigen Besuchern ist auch der junge Hellmut Hattler: »Nachdem wir mit fünfzehn, sechzehn Beat und Soul abgehakt hatten, waren wir fasziniert von der Free-Jazz-Szene. Über gemäßigte Sachen wie Albert Ayler und John Coltrane haben wir uns dann in die Extreme reingehört – das war eine Zeit lang eine sehr intensive Hör- und Verarbeitungsgeschichte.«
Wegbereitern wie Coltrane, Coleman, Eric Dolphy, Sun Ra oder Pharoah Sanders folgend, experimentieren deutsche Gruppen mit freier Tonalität, dissonanten Akkorden, neuen Spieltechniken und einer geradezu ekstatischen Intensität – und wagen sich so auf ein Terrain vor, das auch für die Jazz-Nation USA noch größtenteils Neuland ist. »Meiner Ansicht nach wurde der Free Jazz in den Clubs von Köln erfunden« sagt Hans-Joachim Irmler. »Er hat sich dann nach New York fortgepflanzt und ist später als Neuheit aus Amerika verkauft worden.« Diese These mag zwar einigermaßen gewagt klingen, doch ganz Unrecht hat der Faust-Orgler damit nicht: Während der Sechzigerjahre bildet sich ein europäischer Free Jazz heraus, an dessen Entwicklung deutsche Musiker wie Brötzmann, Gunter Hampel, Joachim Kühn, Manfred Schoof oder Alexander von Schlippenbach maßgeblich beteiligt sind.
Der oft auch als »Avantgarde-Jazz« bezeichnete Stil bietet endlich eine Möglichkeit, der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen. In einer Konzertbesprechung aus dem Jahre 1969 schreibt die Ulmer Schwäbische Zeitung über die neu gegründete Veith Wolbrandt Group, aus welcher später Kraan hervorgehen soll:
»Die Gruppe nimmt bekannte Themen und variiert sie im eigenen Arrangement zu dem Sound, den sie für richtig hält. Dabei gelingt es ihnen, den Stil der ›Kinder von Marx und Coca Cola‹ zu interpretieren. Gitarre und Querflöte simulieren Drogenrausch, unterbrochen von dem harten Schlagzeug und dem Bass. Den Melodieinstrumenten gelingt es immer wieder, eine ›verträumte‹ Atmosphäre zu schaffen.«
Dem Free Jazz komme für die Entwicklung der deutschen Rockmusik »eine Schlüsselrolle als musikalische und soziale Revolution zu«, betont Roman Bunka. »Es war ein sehr starker Einfluss. Free Jazz war ein Mythos.« Ein Mythos, der eine sehr reale Wirkung entfaltet: Das bequem gewordene Jazzpublikum zeigt sich von den schrillen Tönen zu beiden Seiten des Atlantiks gleichermaßen schockiert. »The New Thing« ist nicht nur Musik, sondern auch lautstarker Protest einer jungen Generation gegen soziale Ungerechtigkeit und verstaubte Konventionen. Die jazzbegeisterte deutsche Jugend nimmt diesen Ansatz mit Feuereifer auf. Hellmut Hattler: »In der Jugend ist alles voller Leidenschaft … Es gab damals eine Band namens Progressive Jazz Group Ulm. Auf dem Plakat war mein entblößtes Hinterteil mit einer Zigarette drin zu sehen. Das war schon unglaublich.«
Gleichzeitig mit dem Free Jazz dringt auch eine neue Popmusik an deutsche Ohren, die das musikalische und inhaltliche Format der Beat-Single sprengt. In »Kill For Peace« singen die New Yorker Fugs um den Beatnik-Poeten Tuli Kupferberg gegen den Vietnamkrieg an, Frank Zappa rüttelt an der bürgerlichen Sexualmoral und propagiert die Revolution. Diese »Underground-Musik« übt eine bislang ungekannte Faszination aus: »Sie ereignet sich innerhalb einer Gesellschaft, die dem Menschen verwehrt, über sich selbst zu verfügen«, schreibt Rolf-Ulrich Kaiser euphorisch. »Untergrund« sei die »direkte Beziehung der Musik zur politischen und sozialen Situation, in der die Gruppe agiert«.
Die gesellschaftskritischen Textbotschaften spiegeln sich in aggressiven Gitarrenriffs und drogenschwangeren Instrumentalteilen wider. Inhalt und Form verschmelzen zu einer Einheit, die den konservativen Vorgaben der Musikindustrie zuwiderhandelt und eine eigene Sprache sucht. Resultat ist eine Musik, wie sie auch vielen deutschen Rockmusikern vorschwebt. »Irgendwann kommt eine Generation und sagt, ›Hoppla, wie lange soll diese Verarschung noch weitergehen‹«, kommentiert Othmar Schreckeneder, Betreiber von Schneeball Records, den raschen Siegeszug der »neuen Popmusik«. »Das war bei uns genau dasselbe. Es gab eine Popmusik, die war so schlimm und verlogen, dass sich niemand mehr mit ihr anfreunden konnte. Plötzlich hörte man aus irgendwelchen Ecken etwas ganz anderes.«
MC5, Blue Cheer, die Doors oder Jimi Hendrix brechen Tabus – und geben ihren deutschen Eleven damit buchstäblich einen Baukasten für eine eigene Popmusik an die Hand. Roman Bunka schwärmt noch heute von den kostbaren Langspielplatten, die mit einem Preis von um die 20 Mark (bei einem Netto-Durchschnittsgehalt von knapp 700 Mark) regelmäßig Löcher in die Haushaltskasse reißen: »In der Rockmusik gab es wichtige Bewegungen: The Greatful Dead, die stundenlang improvisierten, Zappa mit seinen Endlos-Gitarrensoli, Cream – all diese Doppel-LPs mit den endlos langen Sessions.«