Krebs fühlen - Bettina Hitzer - E-Book

Krebs fühlen E-Book

Bettina Hitzer

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Beschreibung

Die Diagnose "Krebs" war früher ein Todesurteil. Heute ist dies nicht mehr der Fall. Es dauerte lange, bis Ärzte, Krankenschwestern, Krebspatienten und ihre Angehörigen sich auf ihre Gefühle einließen, die Krebskrankheiten auslösen: Zuversicht, Lebensangst, Lebensfreude, Verzweiflung, Mut, Trauer, Leid, Apathie. Bettina Hitzer schildert, wie es zu dieser Gefühlsrevolution in Medizin und Gesellschaft kam. Konfrontiert mit Krebs nehmen wir heute unseren menschlichen Körper anders wahr. Krankheit, Behinderung, Leiden und Tod empfinden wir heute ganz anders, denn wir sind fähig, unsere Gefühle auszudrücken. Heute wird in Krankenhäusern, in Reha-Zentren und bei öffentlichen Kampagnen zur Früherkennung wie auch im Vier-Augen-Gespräch empathischer mitempfunden und dies den Patienten mitgeteilt. Bettina Hitzer schildert historische Zusammenhänge zwischen Krankheit und Gefühl, die bisher kaum beachtet werden. Einfühlsam, beispielhaft und ermutigend schildert sie diese bis heute unbemerkte Kulturgeschichte der Gefühle am Beispiel von Krebs, dem "König aller Krankheiten". Diese Revolution der Gefühle hat die Medizin grundlegend verändert und die deutsche Gesellschaft erstaunlich gewandelt. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Humanen Medizin, die von Technik, Maschinen und Programmen unterstützt wird, ohne unser Gesundheitssystem zu beherrschen. Gefühle helfen zu überleben und im eigenen Leben anzukommen. Gerade Krebserkrankungen zeigen, dass wir dem Leben nicht mehr Tage, aber unseren Tagen mehr Leben geben können – vor allem durch das, was wir empfinden.

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Seitenzahl: 1009

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Bettina Hitzer

Krebs fühlen

Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von Luis Jiminez Aranda, »The Visit of the Doctor«, 1897, © akg-images

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96459-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11589-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Kapitel 1

Gefühlsgeschichte schreiben

Kapitel 2

Krebs erklären und erforschen

Die experimentelle Krebsforschung

Die verborgene Wissensgeschichte

Gefühlsanästhesie und Schuldfrage nach 1945

Krebs-Persönlichkeiten: Dominante Mütter und gefühlstaube Töchter

Zeitdiagnosen – die (Un-)Fähigkeit zu Trauer, Wut und Zorn

Psychoonkologie und Psychoneuroimmunologie

Kapitel 3

Krebs erkennen

Die Erfindung einer heilbaren Krankheit

Gefühlsresonanzen in der Zwischenkriegszeit

Die Pflicht zur Selbstbeobachtung in der NS-»Volksgemeinschaft«

Sozialistische Lebensfreude oder erhobener Zeigefinger in DDR und Bundesrepublik

Glück, Gesundheit, Glaube – die Macht des guten Gefühls

Kapitel 4

Über Krebs sprechen

Der Krebs, das Tabu und der Tod

Variationen des Schweigens

Hoffnung in der Nachkriegszeit

Von sich selbst erzählen

Gesprächsstrategien im Zeitalter der Empathie

Kapitel 5

Krebs erfahren

Verschwiegene Angst, verborgener Ekel

(K)ein schneller Weg zurück

Im »Strahlenbunker«

Gefühlslogiken der Chemotherapie

Hoffnung: Versprechen oder Last?

Kapitel 6

Krebs fühlen im 20. Jahrhundert

Anhang

Dank

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Personenregister

Sachregister

Bildteil

Für Christoph

Felix, Carlotta und Henrietta

Abb. 1: Ferdinand Hodler, Porträt(1) der(1) Valentine Godé-Darel, um(1) 1910

Im Tafelteil befindet sich die farbige Version des Porträts der Valentine Godé-Darel ebenso wie drei weitere Gemälde aus dem Zyklus von Ferdinand Hodler.

Kapitel 1

Gefühlsgeschichte schreiben

Mit dem Abstand von mehr als 100 Jahren blickt uns aus diesem Porträt die(2) damals 37-jährige Valentine Godé-Darel in(2) die Augen, festgehalten über eine längere Zeit hinweg von Ferdinand Hodler, Schweizer(2) Symbolist und Maler des Jugendstils. 1910, als Hodler dieses(3) Bild seiner Geliebten malte, wusste Valentine Godé-Darel noch(3) nicht, dass sie an Unterleibskrebs erkranken würde, einer zu diesem Zeitpunkt fast immer tödlichen Krankheit. Zwei Jahre später zeigten sich jedoch die ersten Krankheitszeichen und kurz darauf bekam ihre Krankheit auch einen Namen: Krebs. Hodler, der(4) sich bereits zuvor in seinem Werk häufig mit dem Tod auseinandergesetzt(1) hatte, begleitete das Sterben Valentine(1) Godé-Darels malend(4) bis zum letzten Tag ihres Lebens am 25. Januar 1915. Mehr als 50 Ölgemälde und weit über 100 Zeichnungen dokumentieren Hodlers Blick(5) auf seine Geliebte, viele zeigen ihren körperlichen Verfall ebenso wie ihre zunehmende Zurückgezogenheit in sich selbst, ihren Blick, der sich dem Betrachter mehr und mehr entzieht.

Dieser Zyklus als bildliches Protokoll der Jahre, in denen eine Frau mit Krebs lebte und(1) an Krebs starb, ist einzigartig, nicht nur für seine Zeit, das frühe 20. Jahrhundert. Er öffnet ein Fenster, durch das der Betrachter aus dem Abstand eines Jahrhunderts berührt wird, durch das er auf die Unausweichlichkeit des Sterbens, auf(2) die Zerstörung durch Krankheit und die Fähigkeit zu Leiden und(1) Mitleiden, auf die (Un-)Möglichkeit von Nähe im Sterben blicken(3) kann – eine zeitlose Begegnung. Daneben aber erzählen die Bilder von einem Krankheitsverlauf und einem Sterbeprozess, die(4) eine Zeit und einen Ort haben, von den Gefühlen des(1) Malenden und der Sterbenden, die(5) in diese Zeit und an diesen Ort gehören.

Fast 100 Jahre später starb der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. 44(1)-jährig hatte er erfahren, dass in seinem Kopf ein bösartiger Tumor wuchs(1), ein Glioblastom. Mehr als drei Jahre lang protokollierte er(1) in einem Blog, was er tat, dachte, fühlte, wie er operiert, bestrahlt(1) und(1) mit Medikamenten behandelt wurde, wie sein Körper und sein Geist reagierten und wie Kraft und Fähigkeiten ihn schließlich verließen. Sechs Tage, bevor er sich am 26. August 2013 in Berlin erschoss, veröffentlichte Herrndorf den(2) letzten Eintrag auf seinem Blog, den seine Freunde nach seinem Tod unter(2) dem Titel »Arbeit und Struktur« herausgaben.[1] Doch trotz der von ihm selbst initiierten öffentlichen Sichtbarkeit seiner Krankheit und seines Sterbens erteilte(6) Herrndorf jedem Versuch seines Internetpublikums, mit ihm persönlich in Kontakt zu treten, eine klare Absage, erlaubte er – insofern Valentine Godé-Darel ähnlich(5) – den Blick von außen, aber nicht die persönliche Begegnung.

Abb. 2: Selbstporträt Wolfgang(1) Herrndorfs, gepostet(3) unter dem Eintrag vom 12. Juni 2012

In einem seiner letzten Gedichte kreisten seine Gedanken um die Frage von Distanz und Nähe, um die grundsätzliche Unverstehbarkeit und Unteilbarkeit von Gefühl und(2) Erfahrung im Leben und Sterben.

Niemand(7) kommt an mich heran

bis an die Stunde meines Todes.

Und(3) auch dann wird niemand kommen.

Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.[2]

Fühlen wir alle gleich?

Der hier angedeutete Blick auf zwei Menschen, deren Krebserkrankung und Sterben in(8) unterschiedlicher Weise öffentlich erzählt wurde, verweist auf zwei meiner Grundannahmen. Sie geben Antwort auf zwei radikal entgegengesetzte Fragen. Zunächst: Sind die Gefühle nicht(3) das ganz Eigene, Innere, das keinem anderen Menschen wirklich mitgeteilt werden kann, insbesondere nicht im Moment des Leidens und(2) Sterbens als(9) Moment der existentiellen Einsamkeit? Wie kann ich als Historikerin beanspruchen, eine Geschichte dieser weder mitteilbaren noch zu verallgemeinernden Gefühle schreiben(4) zu wollen? – Dann: Fürchten nicht Menschen zu aller Zeit in gleicher Weise schwere Krankheiten, sei es die Pest, die Tuberkulose oder eben den Krebs? Sind es nicht die immer gleichen Gefühle der(5) Verzweiflung, Trauer(1) und(1) Angst, vielleicht(1) auch der Resignation und des Sich-Fügens, der Hoffnung und(1) der Wut, die(1) Menschen bewegen, wenn sie mit einer tödlichen Krankheit konfrontiert werden, einer für alle Menschen in ihrer Radikalität letztlich gleichen Herausforderung? Ist es also gerade im Hinblick auf eine lebensbedrohliche Krankheit wie Krebs nur das Gewand der Gefühle, das(6) im Lauf der Geschichte ausgetauscht wird, nicht aber ihre tatsächliche Gestalt?

Als Menschen auf der Suche nach Halt und Sinn, erfüllt von dem Wunsch, berührt zu werden, lesen und betrachten wir vergangene Zeugnisse wie die Bilder der Valentine Godé-Darel, als(6) ob wir sie unmittelbar verstehen oder doch zumindest leicht übersetzen könnten, als ob wir mit allen Menschen über die Zeit hinweg eine Art lingua franca, ein Grundvokabular der Gefühle teilten(7): Liebe, Angst, Verzweiflung(2), Trauer(2). Diese(2) Annahme ist keineswegs naiv oder trivial, sondern aus ontologischer Sicht legitim. Aus historiographischer Sicht ist sie jedoch fragwürdig, denn die Vorstellung, Gefühle blieben(8) sich in ihrer Grundsubstanz immer gleich, entpuppt sich als höchst voraussetzungsreich.

Heute sind es vor allem die kognitive Psychologie und(1) die Neurowissenschaften, die ihren Forschungen das Axiom einer Universalität der Gefühle zugrunde(9) legten. Am deutlichsten kam dies in der jüngeren Vergangenheit in der Suche nach den sogenannten basic emotions, einem bestimmten Set universal gleicher Grundgefühle, zum(10) Ausdruck.[3] Doch auch aus den Reihen der neurowissenschaftlichen Emotionsforschung wird diese Annahme zunehmend kritisiert und relativiert.[4]

Der ganz andere Blick – Gefühle(11) und Geschichte

Aus Sicht der Emotionsgeschichte sind Gefühle zunächst(12) einmal das, was Menschen als Gefühl beschreiben(13) und erleben.[5] Gefühle haben immer eine körperliche Entsprechung, da Nervenreizungen, Synapsenverbindungen ebenso wie biochemische Vorgänge das Fühlen begleiten. Doch gerade mit Blick auf die damit in vielem verwandte Schmerzforschung wird(1) deutlich, dass die Relevanz, Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit durch den Blick auf das körperlich Nachweisbare allein nicht zu erfassen sind.[6] Die Schmerzforschung ist(2) konfrontiert mit Phänomenen wie dem Phantomschmerz, dem chronischen Schmerz(1) ohne(1) erkennbare Ursache, dem nicht gefühlten Schmerz des(2) Soldaten in der Kampfsituation sowie der Möglichkeit der mentalen Schmerzregulation. Dementsprechend(3) ringt sie seit langem mit dem Problem, dass Schmerz zwar(4) zweifellos an den Körper gebunden ist, dennoch aber selbst bei ähnlichem körperlichen Befund vollkommen unterschiedlich empfunden werden kann.

Wenn die Emotionsgeschichte Gefühl nicht(14) als feststehende analytische Kategorie versteht, so wie es die Sozialgeschichte etwa mit dem Begriff der Klasse vorgeführt hat, muss sie ihren Gegenstand anders bestimmen. Die Alternative könnte lauten, nach den jeweiligen historischen Begrifflichkeiten Ausschau zu halten und deren Bedeutungen und Verwendungsweisen im Sinne der Historischen Semantik als Gegenstand zu definieren: Gefühl ist(15) immer das, was die Menschen als solches empfunden und benannt haben. Mit einer solchen, aus den Quellen herausgelesenen Definition des Gefühls und(16) der Gefühle kann(17) das Gefühl ebenso(18) wie einzelne Gefühle dann(19) auch dort aufgefunden werden, wo der Begriff selber fehlt. Ebenso können historische Bedeutungsverschiebungen von Gefühlsbegriffen nachvollzogen werden.

Doch stößt dieses Vorgehen immer dann an eine Grenze, wenn die Kontinuität der Begrifflichkeiten abbricht oder der zentrale Begriff des Gefühls fehlt(20). Handelt es sich etwa noch um eine Gefühlsgeschichte, wenn(21) von Gefühlen gar(22) nicht mehr oder noch gar nicht die Rede ist? Wenn nur Sentimente, Leidenschaften und Passionen zur Sprache kommen, die sich zwar – zugegeben – historisch-begrifflich mit dem späteren Begriff des Gefühls verbinden(23) lassen, aber doch mit vielfachen semantischen Verschiebungen? Sicherlich ist hier die Brücke zeitgenössischer Übersetzungsversuche ein zwar anspruchsvoller, aber methodisch vielversprechender Weg.[7] Aber scheint er nicht kaum gangbar in einem Projekt wie diesem, in dem es nicht zentral um ein bestimmtes Gefühl und(24) dessen Geschichte geht, sondern um eine vielgesichtige Analyse des historischen Verhältnisses von Gefühl und(25) Gefühlen einerseits(26) und der Auseinandersetzung mit der Krebskrankheit andererseits?

Denn das, was diese Gefühlsgeschichte auszeichnet(27), ist nicht das Bemühen, einen weiteren bisher vernachlässigten Begriff ins Tableau der Geschichte einzufügen. Die Gefühlsgeschichte gewinnt(28) ihre Bedeutung, weil sie beansprucht, mit dem Gefühl einen(29) in mancher Hinsicht besonderen und bedeutsamen Gegenstand zu erforschen. Damit ist der Punkt erreicht, an dem ich so etwas wie eine historisch informierte Basisdefinition des Gefühls geben(30) möchte, die versuchsweise universale Gültigkeit beansprucht.

Ich fasse das Gefühl als(31) eine Empfindung des Menschen, die sich auf der historisch variabel verstandenen Grenze von Körper und Nicht-Körper bewegt. Fühlen ist an Sinnesempfindungen gebunden, ist aber doch mehr als die bloße Registrierung eines Körperzustands oder einer körperlichen Reaktion. Genauso wenig geht das Gefühl im(32) Denken auf. Worin dieses Mehr des Gefühls besteht(33), wo genau es im Hinblick auf Körper und Nicht-Körper zu verorten ist – all dies ist nicht Teil meiner Basisdefinition, sondern lässt sich nur im Rückgriff auf historisch und kulturell variable Konzepte des Gefühls erschließen(34). So verstanden ist die Fähigkeit, Gefühle zu(35) empfinden, eine Grundtatsache menschlicher Existenz als einer körperlichen und sozialen Existenz. So wie die Fähigkeit zum Sprechen dem Menschen angeboren ist, das Sprechen und die Sprache jedoch gelernt werden müssen, ist auch das Fühlen Ergebnis von Lernprozessen, in deren Verlauf ein grundsätzliches Verständnis davon erlernt wird, was Gefühle sind(36) und wozu sie gut (oder schlecht) sein können, welche Gefühle es(37) gibt, wie diese sich anfühlen und benannt werden, welche Rhetorik der Gefühle im(38) je verschiedenen sozialen Miteinander angebracht ist, ob und wie Gefühle bearbeitet(39) werden können.

Bei diesen Lernprozessen geht es also nicht allein um das Erlernen von Ausdrucks- und Sagbarkeitsregeln, sondern auch um die Prägung des Fühlens selbst, das nur als Möglichkeit immer schon da ist. Nicht nur das: Diese Annahme beansprucht, die spätestens(40) seit der westlichen Moderne angenommene Unterscheidung von innerem »authentischen« Gefühl(1) und(41) äußerem, durch Gefühlsregeln bestimmten(42) Ausdruck in Frage zu stellen.[8] Denn die bereits im inneren Gespräch mit mir selbst vorgenommene(2) Wahrnehmung, Benennung oder Beschreibung eines Gefühlszustands greift auf erlernte Begriffe zurück und damit auf ein Netz aus Bedeutungszuschreibungen, Normen, Regeln sowie körperlichen und sprachlichen Ausdrucksformen. Dieser Prozess der Navigation des Gefühls, um(43) den Begriff des amerikanischen Historikers William M. Reddy zu(1) gebrauchen, überschreitet die Trennung zwischen einem Innen und einem Außen des Gefühls.[9] Das bedeutet auch, dass das benannte Gefühl nicht(44) alles umgreift, was der Mensch fühlt. Genau dies erscheint sogar als besonderes Charakteristikum des Gefühls, die(45) Tatsache, dass Gefühle an(46) ihren Rändern unscharf bleiben. Aus diesem Grund sind Prozesse der Gefühlsnavigation oft(47) nicht endgültig, erfolgen immer wieder aufs Neue und führen dann zu einem anderen Ergebnis. Diese immer neuen Suchbewegungen tragen ihrerseits zum Wandel von Gefühlskonzepten und(48) -bewertungen bei.[10]

So betrachtet sind Gefühle also(49) aus Sicht der Emotionsgeschichte universal (als grundsätzliche Fähigkeit zum Gefühl), individuell(50) (als bis zu einem gewissen Grad ganz eigene Gefühlsnavigation einer Person) und(51) historisch (als Ergebnis dieser Navigationsprozesse in der sozialen Kommunikation). Damit verliert die Angst vor(3) oder in der Krebskrankheit ihre anfangs konstatierte Fraglosigkeit. Die Angst änderte(4) ihre Gestalt, weil sich Krebskranke im Verlauf des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Räumen aufgehalten haben, sich mit verschiedenartigen Therapien konfrontiert(1) sahen, wechselnden Heilungschancen begegneten(1), weil Ärzte, Schwestern und(1) Pfleger ihnen je nach historischem Kontext anders gegenübertraten. Doch auch die Art und Weise, wie sich Angst anfühlte(5), veränderte sich, weil sich Vorstellungen über die Natur von Angst, über(6) ihren Sinn, ihren Wert, ihre Rationalität wandelten: Denn wenn ich Angst für(7) Feigheit halte, verachte ich mich vielleicht für meine Angst, suche(8) womöglich in Einsamkeit mit meiner Angst fertig(9) zu werden, weil ich sie verstecken möchte. Halte ich Angst für(10) würdelos, kann(1) mir das Bemühen um Würde innere(2) Festigkeit geben – oder mich in die Verzweiflung treiben(3). Erachte ich Angst für(11) schädlich, macht mir meine Angst eventuell(12) sogar zusätzlich Angst, sorgt(13) dafür, dass ich mich schuldig fühle(1) – und lässt mich unter Umständen Hilfe suchen, damit es mir gelingt, meine Angst zu(14) überwinden und in Hoffnung umzuwandeln(2).

Angst – genauso(15) wie jedes andere Gefühl – kann(52) sich also sehr unterschiedlich anfühlen. Auch wenn diese Angst immer(16) meine Angst bleibt(17), ist ein großer Teil der Fühlweisen meiner Angst das(18) Ergebnis von Geschichte: Die Angst ist(19) also weder historisch kontingent noch vollkommen determiniert. Und genau um diese historisch geprägten Fühlweisen geht(53)(20) es in dieser Gefühlsgeschichte der(54) Krebskrankheit.

Wozu Gefühlsgeschichte?(55)

Im 20. Jahrhundert gewann die Auseinandersetzung mit der Relevanz von Gefühlen für(56) die Krebserkrankung eine herausragende Bedeutung. Sie prägte Diskussionen über die Natur des Selbst, des(1) Körpers und des Todes, und(4) Krebs avancierte zur viel gebrauchten Metapher politischer Bewegungen und politischer Kultur. Krebs wurde mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert zu einer Leitkrankheit Westeuropas und der USA.[11] Zwar gab es die Krebskrankheit bereits in der Antike, und es finden sich Hinweise darauf, dass Krebs auch im Mittelalter zu den gefürchteten, da nur schwer heilbaren und(2) für ihre Schmerzhaftigkeit berüchtigten(5) Krankheiten zählte.[12] Allerdings war das, was mittelalterliche oder frühneuzeitliche Ärzte als Krebs benannten, ein eher seltenes Leiden. Meist(3) wurde Krebs diagnostiziert, wenn Geschwüre und Tumoren äußerlich(2) sichtbar waren, das heißt überwiegend als Haut-, Gesichts(1)- oder Brustkrebs. Innere(1) Krebserkrankungen waren zwar nicht unbekannt, wurden aber selten als solche diagnostiziert.

Dies änderte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Chirurgen nach(1) Einführung der Äthernarkose sowie(1) der Anti- und später Asepsis weiter(1) ins Innere des Körpers vorwagten. Zur gleichen Zeit wandelten sich Vorstellungen über das hohe Alter, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr per se als pathologisch galt(1), so dass der Befund »Altersschwäche« seltener als Todesursache auf(5) den Totenscheinen akzeptiert wurde.[13] Zunehmend wurde nach einer im engeren Sinne »krankhaften« Todesursache Ausschau(6) gehalten, so dass Pathologen öfter(2) Obduktionen vornahmen und auf diese Weise Krebs als Todesursache identifizierten(7), wo wenige Jahrzehnte zuvor hohes Alter als Erklärung ausgereicht hätte. Parallel wuchs das Interesse an einer detaillierten statistischen Erfassung(1) der Welt, das sich unter anderem in einer weiter ausdifferenzierten Todesursachenstatistik niederschlug. Krebs wurde 1905 erstmals im Deutschen Reich als eigenständige Todesursache statistisch(8) erfasst(2).[14] Bereits nach wenigen Erhebungen wurde deutlich, dass mehr Menschen an Krebs verstarben als zuvor angenommen. Damit wurde Krebs zum Thema, das sowohl in der Zeitungsöffentlichkeit als auch in internen Behördenschreiben diskutiert wurde.

Die öffentliche Meinung war sich überwiegend darin einig, dass die Zahl der Krebskranken und -toten ständig zunehme. Von Ärzten, Gesundheitspolitikern und(1) Journalisten wurde diese Beobachtung dadurch erklärt, dass Krebs eine Zivilisationskrankheit sei, also in irgendeiner noch nicht genau zu erklärenden Weise auf die veränderten Lebensumstände in den zivilisierten Ländern zurückzuführen sei.[15] Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, gründeten Ärzte und Gesundheitspolitiker in(2) Europa ebenso wie in den USA, in Asien und in Südamerika Gesellschaften zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit, so zum Beispiel im Deutschen Reich (1900), in Großbritannien und Spanien (1902), in Ungarn (1903) und Portugal (1904), in Österreich, Dänemark und Schweden (1905), in Frankreich und den USA (1906), in Japan (1907) und in der Schweiz (1910).[16]

Die Zellularpathologie Rudolf(1) Virchows, eine(1) der medizinischen Denkrevolutionen dieser Jahre, spielte für die Wahrnehmung und Erklärung dieser Krankheit eine große Rolle. Denn durch Virchows Forschungen(2) wurde deutlich, dass Krebs auf zellulärer Ebene identifiziert werden konnte. Außerdem entdeckte man nun, dass Krebszellen den gesunden Körperzellen ähnelten, auch wenn sie sich durch bestimmte Eigenschaften wie ihre übermäßig große Vermehrungsgeschwindigkeit von diesen unterscheiden ließen. Einerseits wurde Krebs auf diese Weise neu definiert, nämlich als »Entartung« vormals gesunder Zellen, die lokal entsteht und dann um sich greift. Andererseits boten die Untersuchungstechniken der Zellularpathologie ein(2) scheinbar eindeutiges Kriterium, um Krebstumoren von(3) anderen, nun als gutartig definierten Tumoren zu(4) unterscheiden: die Wachstums- und Stoffwechseleigenschaften der Zellen.[17] Zwar unterschieden auch zuvor Kliniker durch Tast- und Sichtdiagnose zwischen lebensbedrohlichen und weitgehend harmlosen Tumoren. Doch(5) die im Labor getroffene Entscheidung verhieß größere Eindeutigkeit.

Neben die Chirurgie, als(2) deren Domäne die Krebskrankheit im 19. Jahrhundert galt, trat damit auf diagnostischer Ebene die Pathologie.[18] In(3) therapeutischer Hinsicht etablierte sich um 1900 die Radiologie als Hilfs- oder Alternativanwendung zur Chirurgie, zunächst(3) in Gestalt von Röntgenbestrahlungen, bald(2) auch in Form radioaktiver Behandlungen. Damit(2) gewannen medizinische Disziplinen Einfluss auf die Krebsdiagnose und -therapie, die in der Folgezeit Vorstellungen vom Körper und von der Gesellschaft, von gesund und krank, von Naturbeherrschung und Naturzerstörung ebenso wie von Kampf und Bedrohung prägen sollten.

Noch heute ist Krebs eine Leitkrankheit der westlichen Welt. Viele Menschen werden als Patienten oder(1) als deren Angehörige und Freunde mit Krebs direkt konfrontiert. Krebs wird in Umfragen und Medien regelmäßig als eine der am meisten gefürchteten Krankheiten identifiziert. Die medizinische Forschung, die(1) nach sogenannten Onkogenen(1), das heißt krebsdisponierenden Genen(1), sucht, und zu einer individualisierenden Betrachtung der Krebskrankheit tendiert, stößt Debatten über die Natur des Menschen und die Möglichkeit einer in uns verborgenen, aus unserem Inneren stammenden Bedrohung an. Diese Diskussionen zwingen uns, der beunruhigenden Vorstellung der Krebskrankheit als einer »distorted version of our normal selves« zu begegnen, die wir möglicherweise niemals vollständig »besiegen« können, ohne uns selbst zu vernichten.[19] Das heutige Verständnis von Risikofaktoren und(1) möglichen Präventionsmaßnahmen stellt(1) uns vor die Notwendigkeit, über das dem Leben und unserem Körper eingeschriebene Risiko nachzudenken(2) sowie abzuwägen, welchen Preis wir für ein Mehr an relativer Sicherheit zu zahlen bereit sind. Damit wirft die Krankheit Krebs in ihren mannigfaltigen Facetten die Frage nach den Grenzen der heutigen Medizin auf – im therapeutischen, im menschlichen und(1) im ethischen ebenso(1) wie im ökonomischen Sinn.

Seit Beginn der 1990er Jahre sind die sogenannten »emerging diseases« als ganz anders geartetes Bedrohungsszenario an die Seite der Krebskrankheit getreten.[20] Dahinter steht die Sorge, dass(21) hoch ansteckende, bisher(1) wenig oder gänzlich unbekannte Viruserkrankungen vom Tier auf den Menschen überspringen und eine Pandemie auslösen könnten, der die Mediziner zunächst weitgehend machtlos gegenüberstehen würden. Der letztlich schnell unter Kontrolle gebrachte Ausbruch der Lungenkrankheit SARS in den Jahren 2002/03 oder die Ebola-Epidemie von(1) 2014 stehen für diese Form einer neuartigen Bedrohung. Doch auch in anderer Hinsicht kann man die späten 1980er Jahre als eine Übergangsperiode im Hinblick auf die Krebskrankheit bezeichnen.

Die Chemotherapie(1) etablierte sich im Laufe der 1970er Jahre als fester Bestandteil vieler Krebstherapien und weckte durch ihre Erfolge bei der Behandlung der(3) zuvor als unheilbar geltenden(1) Leukämie ebenso(1) wie des Hodgkin-Lymphoms große(1) Erwartungen. Damit einher ging die Hinwendung zur sogenannten integrativen Therapie, die von vorneherein alle beteiligten(4) Spezialisten bei der Ausarbeitung eines Therapieplans einbeziehen sollte. Zugleich bedeutete dieser Ansatz auch insofern einen Paradigmenwechsel, als Krebs nun auch von Schulmedizinern als eine Krankheit begriffen wurde, die den »ganzen« Menschen betrifft. In der Konsequenz wurden »adjuvante« oder »komplementäre« Therapien, die(1) auf die Stärkung des Körpers und das körperliche Wohlbefinden der(1) Patienten zielten(2), stärker einbezogen. Mit Blick auf die »Lebensqualität« der(1) Patienten im(3) »Leben mit Krebs« – so zwei neue Schlagworte – wurden psychische Aspekte stärker berücksichtigt und in die Hände von Psychoonkologen gelegt(1). Institutionell wurde dem mit der Gründung von Tumorzentren Rechnung(1) getragen, die auch die Nachsorge und(1) Rehabilitation organisieren sowie soziale Hilfen vermitteln sollten. Das erste bundesdeutsche Tumorzentrum wurde(2) zwar bereits 1967 an der Universitätsklinik Essen-Duisburg nach dem Vorbild der amerikanischen Comprehensive Cancer Centers gegründet, weitere Gründungen erfolgten aber erst ab den späten 1970er Jahren. Mit diesen Tumorzentren erschien(3) die Praxis, die Diagnose dem Patienten zu(4) verheimlichen, endgültig unzeitgemäß – sie markieren den Endpunkt einer Entwicklung, die bereits lange zuvor begonnen hatte.

Zwei andere Bewegungen machten Krebs dezidiert zum öffentlichen Thema: zum einen die Hospizbewegung, die(1) in Deutschland von vielen lokalen Vereinen getragen wurde, zum anderen die Gründung von Selbsthilfegruppen seit(1) den 1980er Jahren. Diese Gruppen dien(t)en dazu, die Interessen, Probleme, Forderungen und Gefühle von(57) an Krebs erkrankten Menschen zu formulieren und diesen mehr öffentliche Sichtbarkeit zu verleihen. Hier konnten Menschen während oder nach einer Krebstherapie Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig unterstützen und Hilfe organisieren.

Erst seit Beginn der 1980er Jahre lässt sich ein signifikanter Anstieg der Heilungsraten vieler(3), wenn auch längst nicht aller Krebskrankheiten feststellen. Deshalb zählen immer mehr Onkologen Krebs(2) inzwischen zu den chronischen Krankheiten(2). Denn viele Krebserkrankungen lassen sich so behandeln, dass die Erkrankten entweder endgültig geheilt werden(4) oder aber so lange mit kontrollierbaren Tumoren leben(6) können(2), dass sie schließlich an einem anderen Leiden sterben(4). Die(10) Bedeutung dieses Wandels legte die britische Historikerin Joanna Baines eindrucksvoll(1) dar, indem sie die Krankheitsgeschichten ihrer Großmutter und ihrer Mutter mit(1) ihrer eigenen, noch nicht zu Ende gelebten Krebsgeschichte konfrontierte.[21]

Die hier erzählte Geschichte der Krebskrankheit setzt in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts an, als die Krankheit Krebs ihren Aufstieg zur Leitkrankheit des Jahrhunderts begann, in einer Zeit der wachsenden Angst vor(22) Krebs, wie es der französische Historiker Pierre Darmon formulierte(1).[22] Sie endet schließlich mit den 1990er Jahren und nimmt damit noch den Beginn des deutlich veränderten neuen Krebsregimes in den Blick.

Die große Unsicherheit

Ein(1) konstitutives Merkmal der Krebsgeschichte im 20. Jahrhundert ist Unsicherheit – Unsicherheit(2) in(3) einer Epoche, in der Sicherheit zunehmend zu einem gesellschaftlichen Leitbegriff wurde. Diese Unsicherheit lässt(4) sich auf vielen Ebenen identifizieren. Unsicherheit kennzeichnete(5) schon die Diagnose. Zwar hatte die Zellularpathologie Kriterien(3) entwickelt, mit denen sich per definitionem Krebszellen unter dem Mikroskop erkennen ließen. Aber bedeuteten Krebszellen im mikroskopischen Schnitt, dass jemand an Krebs erkrankt war? Bereits im frühen 20. Jahrhundert hatten Kliniker beobachtet, dass sich manche Krebserkrankungen nur sehr langsam und damit nicht mehr innerhalb der Lebensspanne des Patienten zum(5) tödlichen Krebs entwickelten, während andere Tumoren rasant(7) wuchsen, metastasierten und(1) schnell zum Tod führten(9). Wie sollte man die einen von den anderen unterscheiden? Mit den im Verlauf des 20. Jahrhunderts stetig verfeinerten Diagnosetechniken konnten bald auch Zellen entdeckt werden, die »abnorm« waren, aber nicht alle Eigenschaften einer Krebszelle zeigten. Handelte es sich bei diesen Zellen immer um Vorstufen von Krebszellen, wie es die Begriffe carcinoma in situ oder präkanzerös nahelegten? Mussten diese also ausnahmslos als Krebs behandelt werden, damit sie sich nicht zu Krebszellen entwickelten? Viele Ärzte waren sich dieser diagnostischen Unsicherheit bewusst(6), wenn sie den Patienten auch(6) meistens verborgen blieb und erst im späten 20. Jahrhundert breiter diskutiert wurde. Denn die Entscheidung, »abnorme« Zellen im Zweifelsfall als Krebs zu behandeln, um kein für den Patienten möglicherweise(7) tödliches Risiko einzugehen(3), trafen die Ärzte in der Regel ohne den Patienten.

Nicht(8) weniger unsicher waren(7) Therapie und(5) Prognose. Schlug(1) die gewählte Therapie bei(6) dem einen Patienten an(9), versagte sie bei einem anderen mit dem scheinbar gleichen Krebs, wieder ein anderer schien auf die gleiche Therapie zunächst(7) gut zu reagieren, bald traten jedoch Rezidive oder(1) Metastasen auf(2), die schnell zum Tod führten(10). Die längste Zeit des 20. Jahrhunderts konnten diese Unterschiede weder vorhergesagt noch erklärt werden. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts fand man Unterscheidungsmerkmale der scheinbar gleichen Organkrebse auf molekularer beziehungsweise genetischer Ebene(1), etwa bestimmte Hormonrezeptoren beim(1) Brustkrebs oder(2) krebsdisponierende Gene(2), die heute dazu benutzt werden, Frauen auf ihr Brust- und Eierstockkrebsrisiko zu(4) testen oder bestimmte Chemotherapien von(2) vorneherein als unwirksam auszuschließen. Dementsprechend unsicher waren(8) Aussagen über die verbleibende Lebenszeit der an Krebs erkrankten Menschen. Zwar griffen Ärzte bei ihren Prognosen auf(2) klinische Erfahrungen oder auf Krebsstatistiken auf der Grundlage von Stadieneinteilungen zurück. Oft erlebten sie jedoch, dass den Menschen deutlich weniger oder überraschend mehr Lebenszeit blieb als erwartet und vorhergesagt.

Auch in Fragen der Ätiologie blieb die Unsicherheit ein(9) ständiger Begleiter.[23] Viele Theorien der Krebsentstehung wurden erforscht: So prüfte man in Labor und Klinik, ob chemische Stoffe, Strahlen, Verletzungen(3), Traumata, Parasiten, Viruserkrankungen, genetische Faktoren(1), Genussmittel, Nahrungsmittel, psychische Dispositionen und(3) Gefühle als(58) Krebsursachen in Frage kämen. Aber was waren die entscheidenden Faktoren dafür, dass aus einzelnen Krebszellen die Krankheit Krebs wurde? Ging immer eine systemische Schwächung des Körpers voraus oder begann der Krebs stets lokal begrenzt? Für die Karzinogenität vieler(1) Stoffe ließen sich experimentell oder(1) epidemiologisch Nachweise(2) erbringen. Die Berufskrebse, wie etwa der sogenannte Schneeberger Lungenkrebs, wiesen(1) bereits früh auf die krebserregende Wirkung bestimmter Elemente hin, die alltägliche Praxis der Radiologie zeigte, dass Strahlen Tumoren(4) verursachen(8) konnten, psychologische Tests(2) und daraus erstellte Persönlichkeitsprofile von(1) Krebskranken schienen auf die Beteiligung von psychischen Faktoren zu deuten – und diese Liste ließe sich fortsetzen. Dennoch blieb die Frage nach der einen Krebsursache mehr oder weniger offen. Immer fraglicher schien es im Laufe des 20. Jahrhunderts, ob sich überhaupt die eine Krebsursache finden ließe.

Der amerikanische Krebsforscher Bert Vogelstein, der(1) als einer der ersten an der Sequenzierung von Krebsgenomen arbeitete, argumentiert, die Krebskrankheit eines jeden Patienten sei(10) einzigartig, da sich jeder Krebstumor aus den einzigartigen Genen eines Menschen durch jeweils einzigartige Mutationen entwickelt.[24] Wenn diese Erkenntnis auch verhältnismäßig neu ist, wurde doch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen unterschiedlichen Krebskrankheiten je nach Lokalisation des Tumors und(9) Gewebsherkunft der Krebszellen unterschieden. Diese Unterscheidungen waren nicht nur bedeutsam für die Wahl der Therapie, sondern(8) auch dafür, wie Menschen ihre Krebskrankheit wahrgenommen haben, mit welcher Form der Sichtbarkeit, der Tabuisierung, der(1) Versehrtheit sie umgehen mussten.

Dennoch soll in dieser Geschichte der Krebskrankheit zunächst nicht zwischen verschiedenen Krebserkrankungen unterschieden werden. Denn bei aller Unterschiedlichkeit sind auf der hier im Mittelpunkt stehenden Ebene der Gefühlspraktiken und(59) des Gefühlswissens die Gemeinsamkeiten groß, war die Vorstellung von Krebs als einer Krankheit dominant, so dass die Verschiedenartigkeit von Krebserkrankungen nur dann thematisiert wird, wenn sie deutliche Unterschiede in den emotionalen Praktiken und Wissensbeständen nach sich zog.

Die fehlenden Gewissheiten angesichts einer von vielen als individuelle und gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommenen Krankheit öffneten einen Raum, in dem Gefühle eine(60) besondere Bedeutung erhielten. Handeln und Entscheiden (auch die Entscheidung, nicht zu handeln) waren gefragt. Angesichts der Unsicherheit auf(10) allen Ebenen spielten Gefühle als(61) Entscheidungshilfe und Überzeugungsmittel eine große Rolle. Wenn es um Krebs ging, schien der Tod immer(11) ganz nah, ohne dass die »Betroffenen« wussten, wie nah. Die existentielle Bedrohung stand jedoch – anders etwa als im Fall der Grippeepidemien des(3) 20. Jahrhunderts – nicht unmittelbar bevor. Darum setzte die Begegnung mit Krebs komplexe und langwierige Gefühlsnavigationen, -beziehungen und -praktiken in Gang. Diese stehen hier im Mittelpunkt.

Wo spielt diese Geschichte?

Über Krebs wurde im 20. Jahrhundert überall geredet oder beredt geschwiegen: auf der Straße, beim Bäcker oder Friseur, bei der Zeitungslektüre im Café, in Film- oder(1) Fernsehstudios, auf(1) Bürofluren oder im Wohnzimmer, in Parlamenten, Vortragssälen oder Gotteshäusern. Es gab jedoch auch Räume, in denen die Krebskrankheit dauerhaft im Vordergrund stand, deren Gestalt und tatsächliche Benutzung wesentlich durch die Begegnung mit der Krebskrankheit bestimmt wurde. Neben dieser konkreten Dimension des Räumlichen findet sich eine metaphorische Raumdimension in den Schriften von Medizinern, Journalisten, Politikern und direkt Betroffenen. Die Vorstellung, die Krebskrankheit herrsche über ein Reich, unterwerfe den Kranken unter dessen Regeln und Gesetze, ist eine Metapher, die(1) schon mit Rudolf Virchows Idee(3) des Zellenstaats angelegt war, sich aber in unterschiedlicher Form durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch finden lässt. Diese Raummetapher ebenso wie die tatsächliche Existenz von »Krebs-Räumen« im 20. Jahrhundert legen es nahe, die Gefühlsgeschichte der(62) Krebskrankheit an und in diesen Räumen aufzusuchen.[25]

So stehen vier Räume im Vordergrund, in denen Menschen im 20. Jahrhundert vorrangig mit Krebs konfrontiert wurden: die Räume des Forschens, die Räume der Früherkennung, die(1) Räume der Diagnosemitteilung sowie(1) schließlich die Räume der Behandlung, des(9) Weiterlebens oder Sterbens. In(11) diesen Räumen wurde ein bestimmtes Verständnis der Krebskrankheit entworfen. Dort fand dieses Wissen Eingang in Praktiken, wurde durch diese verändert und immer wieder neu geschaffen. Gefühle waren(63) ein wesentlicher Bestandteil dieser Praktiken. Teil des »Krebswissens« war Gefühlswissen(64), das heißt Vorstellungen darüber, welche Gefühle und(65) Gefühlshaltungen heilsam(66), schädlich(5), hilfreich oder störend sein könnten. Dieses Gefühlswissen prägte(67) die Begegnungen zwischen den Patienten und(11) dem medizinischen Personal. Es floss in die Architektur und Gestaltung der Räume und Dinge ein, die für die Krebsbehandlung geschaffen(10) wurden. Annahmen über Gefühle und(68) deren Wirkungsweisen wurden bei der Vermittlung von Krebswissen an das Laienpublikum diskutiert. Ebenso beeinflusste diese Art von Gefühlswissen den(69) Umgang mit Krebspatienten während(12) und nach der eigentlichen medizinischen Behandlung sowie(11) mit denjenigen Menschen, bei denen Ärzte und Ärztinnen keine Chance auf Heilung mehr(6) sahen.

Krebs erklären und erforschen, Krebs erkennen, über Krebs sprechen und Krebs erfahren – so steht es auf den Schildern der Türen, die zu den hier in vier Kapiteln erkundeten Räumen führen. Ob man die Tür eines solchen Raumes in Deutschland, in den USA, in Spanien oder Großbritannien öffnete, war in mancher Hinsicht kaum von Bedeutung, da viele Debatten transnational geführt wurden. Die Unterschiede zwischen Westeuropa, den USA, manchmal auch Osteuropa und Südamerika waren im Hinblick auf die Benennung allgemeiner Probleme und Fragen oft minimal. Dort allerdings, wo es um konkrete Praktiken in diesen Räumen geht, lassen sich zum Teil deutliche Unterschiede ausmachen. Zudem wurde die Gestaltung dieser Räume wesentlich mitbestimmt durch medizinische, berufsständische und institutionelle Traditionen sowie durch die Struktur von Gesundheitssystemen und deren Finanzierung, die überwiegend im Rahmen der Nationalgeschichte zu fassen sind. Diese Geschichte hat darum ihren Ort in Deutschland, allerdings immer mit dem Blick auf mögliche Transfers und Verflechtungen im Transnationalen.

Eine deutsche Geschichte, die mit der Wende zum 20. Jahrhundert beginnt und um 1990 endet, steht vor einem Problem: Wie soll sie nach 1945 weitererzählt werden? Ich habe mich dafür entschieden, keinen systematischen Vergleich zwischen DDR- und BRD-Geschichte zu verfolgen. Stattdessen schreibe ich die Jahrzehnte zwischen 1945/49 und den 1990er Jahren als eine in zwei Strängen nebeneinander verlaufende Geschichte – zwei Stränge, die in manchen Räumen so nah beieinander bleiben, dass sie als eine Geschichte mit unterschiedlichen Ausprägungen gelten können. In anderen Räumen dagegen sind die Unterschiede größer, so dass die jeweiligen Entwicklungen voneinander getrennt dargestellt werden.[26]

Im ersten Raum dieser Geschichte wird die Krebskrankheit erforscht, und so nimmt dieses Kapitel die Leserinnen und Leser mit(1) in Labore und Klinikstationen. Um den Ursachen der Krebskrankheit auf die Spur zu kommen, wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts zahlreiche Faktoren erkundet. Zugleich wurde eine Unzahl an Stoffen im Laborexperiment und(2) in klinischen Studien auf(1) ihre therapeutische Wirksamkeit geprüft. Hier steht allerdings eine Forschungsfrage im Mittelpunkt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur an den Rändern der akademischen Medizin verfolgt und erst seit den 1940er Jahren von der Forschung in(2) den Blick genommen wurde: die Frage nach der Rolle von Gefühlen bei(70) der Entstehung von Krebs.[27] Auch wenn dieser Zusammenhang also erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Schlagwort »Psychosomatik« intensiver(1) erforscht wurde, ist das weitgehende Fehlen einer psychosomatischen Krebsforschung(2) in(3) der ersten Jahrhunderthälfte für eine Gefühlsgeschichte der(71) Krebskrankheit ebenfalls aufschlussreich. Denn der Blick sowohl auf die Leerstelle als auch auf den »Boom« der Psychosomatik enthüllt(3), wie Körper, Gefühl und(72) Krebs jeweils verstanden wurden und wie dieses Verständnis Krebsforschung und(4) Krebsbehandlung beeinflusst hat.

Hier(12) wird also gefragt, warum es Krebsforschern und(5) -forscherinnen zunächst plausibel erschien, Krebs jenseits der Gefühle zu(73) erforschen, und auf welchen Wegen die Gefühle dann(74) schließlich doch Eingang in die Krebsforschung fanden(6). Eine Rolle spielten dabei auch Metaphern vom Staat als Körper. Denn das Ineinanderblenden von individuellem Körper und Staatskörper erweist sich in der Geschichte als zentraler Aspekt der Krebspsychosomatik, die(4) den Anspruch erhob, auf der Grundlage einer »ganzheitlichen«, »holistischen(1)« oder(2) auch »psychosozialen« Betrachtung des(1) kranken Menschen zu arbeiten, um nur einige der zeitgenössischen Begrifflichkeiten zu nennen.

Das zweite Kapitel betritt den Raum, in dem das Wissen über Krebs an medizinische Laien vermittelt werden sollte. Ziel war es, über Krebs aufzuklären, um jeden und jede für Frühsymptome zu(1) sensibilisieren sowie mit Früherkennungsangeboten und(2) möglichen Präventionsstrategien vertraut(2) zu machen. Die Rolle, Wirkungsweise und Bedeutung von Gefühlen wurden(75) hier von Beginn an intensiv und kontrovers diskutiert. Konnte über Krebs überhaupt öffentlich gesprochen werden, ohne fatale Gefühle von Angst und Panik zu erzeugen? Welche Gefühle waren(76) hilfreich, um Menschen zu mehr Wachsamkeit gegenüber ihrem Körper zu erziehen – vor dem Hintergrund wechselnder Vorstellungen von Vorsorge und(3) Prävention, Sozial(4)- und Rassenhygiene, Gesundheit(1) und Krankheit, Wohlbefinden und(2) Glück? Und(1) wie sollte man dabei vorgehen? Mediziner, Gesundheitspolitiker, Kuratoren(3) und(1) Filmemacher debattierten(2) darüber, wie man Ausstellungsräume gestalten(2), welche Bilder und Objekte man auswählen, welche Geschichten erzählen sollte, um Gefühl und(77) Wissen in angemessener Weise zu bilden. Die dabei entwickelten Techniken der Wissensvermittlung griffen zurück auf medienpsychologische Modelle(3), aber auch auf Vorstellungen über die Bedeutung von Gefühlen in(78) der Krebskrankheit. Zugleich blieben sie nicht ohne Wirkung auf den Umgang mit Gefühlen im(79) Rahmen der Krebsbehandlung – und(13) sei es nur, dass das Verschweigen der Krebsdiagnose durch das immer lautere Reden über Krebs im Raum der Wissensvermittlung erschwert wurde.

In den beiden ersten Räumen dieser Krebsgeschichte wurde Wissen über Krebs erzeugt und weitergegeben – von und für Menschen, die nicht an Krebs erkrankt waren. Ihnen stand es frei, diese Räume zu betreten oder wieder zu verlassen. Anders die beiden Räume, die im zweiten Teil dieser Krebsgeschichte aufgesucht werden: Wer diese beiden Räume betrat, war zur Auseinandersetzung mit der Krebskrankheit gezwungen, hatte buchstäblich mit Krebs zu tun – als an Krebs erkrankter Mensch, als Angehöriger oder Freund, als Krankenschwester oder(2) -pfleger, als behandelnde Ärztin oder verantwortlicher Arzt. Schwestern und(3) Ärzte konnten nach Dienstschluss diese Räume hinter sich lassen, nicht so die Krebskranken und oft auch nicht deren Angehörige und Freunde.

Viele Selbsterzählungen von(2) an Krebs erkrankten Menschen beschreiben die Diagnose als den Moment, in dem aus dem gesunden Menschen der krebskranke Mensch wurde – wenn es auch bereits zuvor einen Verdacht gegeben hatte, die Diagnose also nicht gänzlich unerwartet kam. Die Diagnose war ein Moment des Übergangs. Durch ihn hindurch betrat der betroffene Mensch Räume, die er zuvor oft gar nicht oder nur oberflächlich kannte, deren Regeln, Benutzungsweisen, Atmosphären, therapeutische »Dinge« ihm fremd waren, die er nun aber am eigenen Leib in einer Situation existentieller Bedrohung erfuhr. Nicht selten erlebten die betroffenen Menschen diesen Moment als Übergang in ein anderes Selbst, das(2) von nun an von der Krebskrankheit bestimmt wurde. Dennoch ist die Diagnose als Moment des Übergangs kein statisches Element. Sie hat selbst eine Geschichte: Ob und wie Ärzte ihren Patienten die(13) Diagnose mitteilten, wie scharf die Grenze zwischen Krebs und Nicht-Krebs gezogen wurde, welches Wissen Patienten und(14) Ärzte in dieses Gespräch mitnahmen, wie eingreifend und langwierig die folgenden Therapien waren(14) – all dies beeinflusste die Art und Weise, in der die Diagnose als Moment des Übertritts von der einen in die andere Existenz erfahren und gefühlt wurde(80).

Doch hier bleibt das dritte Kapitel nicht stehen. Daneben steht die Frage, mit welchen Argumenten Ärzte, Theologen, Philosophen und Juristen über die Frage der »Wahrheit« am Krankenbett stritten. In diesen Diskussionen nahm das Gefühl der(81) Hoffnung eine(3) zentrale Rolle ein: als Frage danach, was Hoffnung ist(4) und worauf sie sich richten kann, ebenso wie als Nachdenken darüber, was Hoffnung für(5) das Leben und Überleben von Menschen bedeutet, wie zerstörerisch, zulässig oder normal Verzweiflung ist(4).

Im Anschluss an das Diagnosekapitel tritt diese Geschichte in die Räume der Krebsbehandlung ein(15): So werden die Krankensäle und -zimmer der Chirurgie, der(4) Inneren Klinik und Gynäkologie, die wenigen schon früh speziell für Krebskranke eingerichteten Krankenhäuser, die eigens für die Strahlentherapie geschaffenen(5) Räumlichkeiten und schließlich die historisch jüngeren onkologischen Stationen(3) besucht, auf denen an Krebs erkrankte Menschen chemotherapeutisch behandelt(3) wurden. Dort trafen Patienten und(15) deren Angehörige, medizinisches Personal und therapeutische »Dinge« aufeinander.[28] Orte, Dinge und Menschen vermaßen und bestimmten den von den Patienten erlebten(16) und mit Gefühlen ausgestatteten(82) Raum ihrer Krankheitserfahrung. Nicht die jeweils individuelle Erfahrung, sondern Bedingungen dieser Erfahrung werden in diesem Kapitel erschlossen.

Die Räume der Krebsbehandlung waren(16) in einem dreifachen Sinn durchlässig. Erstens wurden die Räume von Therapie und(17) Forschung oft(7) für die Patienten unsichtbar(17) und für das medizinische Personal kaum unterscheidbar übereinander geschoben. Die Effekte von Strahlen und(6) Chemotherapeutika wurden(4) nicht nur in Laboren, sondern ebenso in Kliniken erforscht. Dieses Ineinanderblenden beider Räume führte dazu, dass Forschung und(8) Behandlung sich(18) in ihren wechselseitigen Logiken durchdrangen.[29]

Zweitens waren die Räume der Behandlung durchlässig(19) gegenüber der »äußeren« Welt. Patienten, Angehörige(18) und medizinisches Personal brachten bereits Wissen über Krebs, Gefühle, Körper(83) und Schmerz mit(6) und trugen ein nunmehr verändertes Wissen in sich, wenn sie die Klinik wieder verließen – in den Intervallen zwischen den Therapiezyklen, als Geheilte oder Sterbende, als(12) begleitende Verwandte oder am Ende eines Tages auf der Station. Darum fragt dieses Kapitel auch nach den Wechselwirkungen zwischen einer inneren Welt der Krebsbehandlung und einer äußeren Welt, in der Gefühle ganz anderen Einflüssen und Erwartungen unterlagen.

Drittens lässt sich der Raum der Behandlung nicht(20) eindeutig abgrenzen von den Räumen des Sterbens und(13) des Überlebens: Wann war eine Krebsbehandlung abgeschlossen(21)? Wann endete die kurative Krebsbehandlung, weil(22) das Sterben begann(14)? Dies waren Fragen, die Ärzte im Verlauf des 20. Jahrhunderts unterschiedlich beantworteten. Zu Beginn des Jahrhunderts fiel die Antwort oft eindeutiger aus, im späten 20. Jahrhundert erschien die Grenze zwischen Therapie und(23) Nachsorge oder(2) Therapie und(24) Palliativbehandlung dagegen(1) oft verschwommen. Diese Übergänge, so unklar sie sich auch darstellten, forderten Entscheidungen von Ärzten und Patienten, denen(19) dieses Kapitel nachgehen möchte: Sollten (ehemals) Krebskranke über die auf Heilung gerichtete(7) Therapie hinaus(25) betreut werden? Wer war für die Menschen verantwortlich, die als unheilbar galten(2)? Wo fanden sie einen Ort zum Sterben? Was(15) sollten sterbende Menschen(16) fühlen, was fühlten sie wirklich? Die Antworten schufen neue Räume und verschlossen andere. Sie definierten, was Würde war(3), was Lebenssinn oder Lebensqualität. Sie gaben Strukturen vor, in denen Menschen ihre Beziehungen zu anderen und zu sich selbst gestalteten(1) und mit ihren Gefühlen füllten.

Historischer Blick, Moral und Linearität – Thesen

Barb, in diesem Moment ist es unglaublich wichtig, dass Du all Deine Energie zusammennimmst, um mit Dir selbst in(2) Einklang zu kommen, vielleicht sogar glücklich zu(2) sein. Krebs zu bekommen ist eine schlimme Sache und es gibt keine Antwort auf das Warum. Aber Dein Leben in Wut und(2) Verbitterung zu verbringen, ob Du nun noch ein Jahr oder 51 Jahre vor Dir hast, ist so eine Verschwendung […]. Ich hoffe, Du(6) findest in Dir Frieden. Du verdienst es. Wir alle verdienen es.[30]

So oder ähnlich lauteten die Reaktionen auf ein Posting, das die amerikanische Kolumnistin Barbara Ehrenreich zu(1) Beginn des 21. Jahrhunderts auf einer Krebsselbsthilfeseite publizierte(3). Unter dem Titel »Angry« beschrieb sie die Nebenwirkungen ihrer(1) Chemotherapie. Ebenso(5) tat sie ihren Ärger über Krankenkassenbestimmungen(1), krebserregende Umweltgifte und(1) die in den USA populäre »Rosa-Schleifen-Kultur« der Brustkrebsselbsthilfegruppen(4) kund(3). In den Reaktionen auf ihr Posting erkannte Ehrenreich den(2) Ausdruck einer normativen Erwartung, wonach jede(r) der eigenen Krebserkrankung positiv begegnen(1), sie als Chance zu(1) einem Neuanfang glücklich annehmen(3) sollte. Ehrenreich antwortete(3) darauf mit einem Generalangriff auf das, was sie als amerikanische Kultur des(1) positiven Denkens ausmachte und was sie in der englischen Ausgabe ihrer Streitschrift polemisch mit »Smile or Die« betitelte.

Doch sind derart normative Gefühlsregime kein(84) Novum der Gegenwart. Oft ging der Appell, sich neuen Gefühlen gegenüber(85) zu öffnen, mit einer Herabwürdigung anderer Gefühle und(86) Gefühlshaltungen einher(87). Diese Prozesse waren für die jeweiligen Zeitgenossen nicht leicht zu durchschauen und noch schwerer zu durchbrechen, weil Gefühle oft(88) als »natürlich« und »authentisch« verstanden(2) wurden. Die in unterschiedlicher Weise normativ aufgeladenen Gefühlsregime in(89) ihrer jeweiligen Reichweite und Gestaltungskraft sichtbar zu machen, ist ein Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Denn nur das konkrete Wissen um die Historizität dieser Gefühlsregime und(90) ihrer Auswirkungen, ihrer »Kosten« und ihres »Gewinns«, kann helfen, einen freieren Blick auf gegenwärtige Gefühlsregime zu(91) gewinnen, und weitet den »Denkraum« der Gefühle auf(92) dem Resonanzboden der historischen Erfahrung.

Daraus folgt, dass dieses Buch keine einfache Fortschrittserzählung bietet, etwa als Geschichte von der Abschaffung eines gefühlsverkrüppelnden Tabus zugunsten(2) eines in Gefühlsdingen freieren(93) Umgangs mit der Krebskrankheit. Umgekehrt liefert das Buch aber auch keine Niedergangserzählung, die die »Übernahme« des Gefühls durch(94) Psychologen und Therapeuten im Dienste eines neoliberalen Menschenbilds beklagen würde.

Stattdessen fragt dieses Buch nach historischen Entwicklungen jenseits einer simplen Linearität. Einzelne Gefühle spielen(95) in dieser Geschichte eine herausgehobene Rolle – Angst, Trauer(23), Hoffnung(3), auch(7) Scham, Ekel(1) und(1) Wut. Insbesondere(3) über die Angst ist(24) in den vergangenen Jahren viel geschrieben worden.[31] Einige Historiker, Philosophen und Soziologen erkennen in der Angst die(25) Signatur des 20. Jahrhunderts, bezeichnen dieses etwa in Anlehnung an W. H. Audens Versepos(1) von 1947 als »Zeitalter der Angst« oder(26) verstehen die Bundesrepublik als eine »Republik der Angst«.[32] Doch ist Angst tatsächlich(27) durchweg das dominierende Gefühl? Lassen(96) sich nicht vielmehr Konjunkturen erkennen, in deren Verlauf Angst mal(28) mehr, mal weniger im Vordergrund stand? Veränderte sich Angst, weg(29) von konkreten und externalisierten Ängsten, wie(30) sie das Ende des 19. Jahrhunderts kennzeichneten, hin zu einer diffusen Angst, die(31) althergebrachte Grenzziehungen zwischen Innen und Außen überschreitet und zu einer Individualisierung der Gesellschaft beiträgt?[33] Wie passt die Krebsangst in(32) diese Entwicklung ebenso wie in die von anderen Historikern skizzierten Konturen einer Angstgeschichte(33) des 20. Jahrhunderts, in dem Konzepte wie Risiko und(5) Sicherheit an Bedeutung gewinnen?[34] Lassen(2) sich vergleichbare Konjunkturen für andere zentrale Gefühle dieser(97) Krebsgeschichte dechiffrieren?

Dieses Buch erkundet auch, welcher Zusammenhang zwischen den Konjunkturen einzelner Gefühle und einem Wandel der Haltung zum Gefühl bestand(98). Folgt man gängigen emotionshistorischen Erzählungen, herrschte klirrende Kälte in Gefühlsdingen, als(1) das 20. Jahrhundert anbrach. Peter Stearns beschrieb(1) den Aufstieg einer viktorianischen Haltung der emotionalen Kühle (»cool emotionology«) im späten 19. Jahrhundert, die sich auch auf den Gefühlshabitus des Wissenschaftlers ausgewirkt habe.[35] Doch setzte sich das auf Rationalität gegründete Wissenschaftsideal der Objektivität gegenüber dem Staunen und dem Wunder nicht bereits 100 Jahre zuvor durch, wie Lorraine Daston und(1) Peter Galison gezeigt(1) haben?[36] Wie also lässt sich das Verhältnis von Wissenschafts- und Emotionsgeschichte und von beiden zur allgemeinen Geschichte im konkreten empirischen Fall bestimmen? Diese Frage begleitet diese Krebsgeschichte bei ihrem Gang durch das 20. Jahrhundert. Denn folgt man Helmut Lethen, lastete(1) die emotionale Eiszeit noch auf den 1920er Jahren.[37] Rationalisierung wurde zu einem Leitbegriff dieser Zeit – verstanden als Orientierung an Idealen der Planbarkeit, der wissenschaftlichen Berechnung sowie der technischen Umsetzung. Explizit richtete sich dies gegen eine bestimmte Form des gefühlsbestimmten Handelns(99), nahm damit aber zugleich das Gefühl ins(100) Visier, das selbst rationalisiert werden sollte. Die extremen politischen Bewegungen der 1920er und 1930er Jahre, die Gewalt und Gefühle planvoll(101) nutzten, nahmen diesen Trend auf, verstanden aber Gefühle selbst als irrational(102).[38]

Die Gleichsetzung von Gefühl und(103) Irrationalität erreichte ihren Höhepunkt in der bundesdeutschen Nachkriegszeit, als Gefühle im(104) Blick auf den Nationalsozialismus als(1) dem Verstand unzugänglich galten und unter dem Signum der Gefühlsbeherrschung in den privaten Raum verbannt wurden.[39] In der DDR nutzte die Politik den öffentlichen Appell an das Gefühl in(105) den 1950er Jahren, um die Bindung an den Staat und dessen Verbündete herzustellen.[40] In den späten 1960er Jahren kam es in der Bundesrepublik schließlich zu einer schrittweisen Aufwertung von Gefühlen, die(106) zunächst von den sozialen Bewegungen ausging und im linksalternativen Milieu erprobt wurde.[41] Ob es einen vergleichbaren Trend etwa in der Friedensbewegung der DDR gab, wäre noch zu zeigen.

Zur gleichen Zeit beschleunigte sich eine Verwissenschaftlichung des(1) Emotionalen, die im 19. Jahrhundert mit der neu geschaffenen Disziplin der Psychologie begonnen(4) hatte und mit der Psychoanalyse fortgeschrieben(1) wurde, nun aber in der Kognitionspsychologie ebenso(5) wie in den Kultur- und Sozialwissenschaften Fuß fasste.[42] Dieser Trend traf in den 1970er Jahren auf eine beispiellose Ausweitung des Therapeutischen, die die Grenzen zwischen normal und pathologisch zunehmend(4) verwischte und das Ideal einer schier grenzenlosen Modifizierbarkeit des Gefühls festschrieb(107).[43] Emotionale Selbstregulierung schien(5) möglich – ein bald unüberschaubares Heer von Experten, Ratgebern und(1) Techniken zur Gefühlsarbeit stand zur Verfügung. Ob mit dieser Entwicklung ein neuer moralischer Imperativ der emotionalen Selbstregulation etabliert wurde, ist eine bis heute ungelöste Frage.[44]

Dies ist in groben Pinselstrichen das Panorama des 20. Jahrhunderts, wie es die bisherige emotionshistorische Forschung entworfen(9) hat. Vor diesem Hintergrund betritt dieses Buch nun die vier Räume, in denen die Begegnung mit der Krebskrankheit stattfand, in denen forschend, wissend, handelnd und leidend Gefühle definiert(108), vermittelt und gelebt wurden.

Kapitel 2

Krebs erklären und erforschen

Als die 29-jährige Frau S. im Herbst 1974 die wenigen Stufen zur Heidelberger Klinik in der Bergheimer Straße erklommen hatte, blieb sie einen Augenblick auf dem Absatz vor dem hohen gründerzeitlichen Portal mit dem etwas altertümlichen Schriftzug »Frauen-Klinik« stehen. Vielleicht dachte sie daran, wie viele Frauen vor ihr diese Tür durchschritten hatten, voller Vorfreude oder voll Bangen, mit Schmerzen oder(7) nur mit einer Frage im Herzen so wie sie. Denn sie sollte ja nur zur Abklärung kommen, »ob es harmlos sei«, so hatte ihr der niedergelassene Gynäkologe gesagt, als er ihr das etwas auffällige Ergebnis des Routineabstrichs mitteilte, den sie wenige Tage zuvor zur Vorsorge hatte(5) machen lassen. Auf sie wartete eine weitere gynäkologische Untersuchung, vielleicht eine Röntgenaufnahme. Darum war sie ein wenig überrascht, als die Ambulanzschwester sie in das Arztzimmer führte und der Arzt sie mit den Worten begrüßte: »Wir werden nun bei Ihnen einige Tests zu wissenschaftlichen Zwecken durchführen, zu denen alle Frauen Ihrer Altersgruppe hinzugezogen werden.« Was konnte das mit ihrem verdächtigen Befund zu tun haben? Als sie vorsichtig nachfragte, versprach ihr der Arzt, ihr nach Abschluss der Tests weitere Erläuterungen zu geben.

Zunächst fragte er sie nach ihrem Privatleben, ihrer persönlichen Geschichte. Sie berichtete davon, wie sie ihren späteren Mann kennenlernte und gleich heiratete, um zu Hause ausziehen zu können. Wie es schon bald Konflikte mit ihrem Mann gab, der wenig Verständnis für ihre Gefühle gehabt(109), bei dem immer nur sein Geschäft im Vordergrund gestanden habe. Wie er sie fortwährend betrogen habe und die Ehe nach zehn Jahren endlich geschieden worden sei. Auch über die Beziehung zu ihren Eltern und(1) ihrem jüngeren Bruder wollte der Arzt Näheres wissen, und nach einigem Zögern berichtete sie von ihrem strengen Vater, für den nur der Bruder zählte, von ihrer besorgten Mutter, die(2) ihr kaum Luft zum Atmen gelassen habe.

Sie blickte den Arzt erwartungsvoll an: Beginnt nun die eigentliche Untersuchung? Aber der Arzt zog eine Tafel aus einer Mappe, legte sie auf den Schreibtisch und sagte: »In diesen Klecksbildern kann man allerlei Dinge sehen; nun sagen Sie mir, was Sie sehen, was es Ihrer Meinung nach sein könnte oder woran es Sie erinnert.« Etwas verwirrt betrachtete Frau S. die Bilder, die sie ein wenig an die gefalteten Tintenklecksbilder ihres Sohnes erinnerten, mit denen er stolz seine ersten Schmetterlinge gemalt hatte. »Darf ich die Tafeln auch drehen?« fragte Frau S. etwas verunsichert. Sachlich erwiderte der Arzt: »Das bleibt ganz Ihnen überlassen.« Sie nahm eine Tafel in die Hand. Einen Moment lang erfasste sie Unruhe und Ärger. Sie dachte daran, dass sie ja gekommen war, um die Sache klären zu lassen. Stattdessen saß sie nun hier und sollte sich irgendwelche Klecksbilder ansehen. Dann aber seufzte sie unmerklich und konzentrierte sich auf das Bild.

Abb. 3: Erste Tafel aus dem Rorschach-Test(1)

Sollte das eine Fledermaus sein – oder eine Motte? Fragend und mit leiser Stimme probierte sie die Antwort. Noch neun weitere Tafeln bekam sie zu sehen, manche auch in hellen Farben, hübsch, aber ein wenig verwirrend. Immer wieder hakte der Arzt nach, insistierte: »Manche Leute sehen auf diesen Tafeln mehr als ein Ding – wenn das bei Ihnen auch der Fall ist, dann sagen Sie es mir bitte.« Sie fühlte sich etwas einfältig. Offenbar wussten andere besser Bescheid als sie. Als sie endlich alle zehn Tafeln gesehen hatte, legte ihr der Arzt alle noch einmal vor und las ihr ihre Antworten vor, fragte nach, welche Teile dieser oder jener Kleckszeichnung sie veranlasst hatten, darin einen Teppich oder eine Spinne zu erkennen. Endlich war es vorbei.

Aber mit der Untersuchung ging es immer noch nicht los. Nun sollte sie Fragen beantworten, ankreuzen, ob es stimme oder nicht. »Ich bin ungern mit noch unbekannten Menschen zusammen.« – Stimmt das? Ihre Gedanken schweiften ab, sie dachte an den letzten Elternabend: Ja, stimmt. Nachdenklich beobachtete sie der Arzt, während sie die Kästchen ankreuzte. Ob sie wohl Krebs hatte? Nachdem sich Frau S. eine halbe Stunde lang durch die 114 Fragen gearbeitet hatte, sagte der Arzt: »Das ist nun der letzte Test« und legte ihr nochmals einen Stapel Papier vor. Wieder sollte sie die für sie zutreffenden Aussagen ankreuzen. Manche der 49 Fragen erschienen ihr seltsam. Verstohlen schaute Frau S. auf den Arzt, als sie las: »Ich empfinde mein Sexualleben als(1) zufriedenstellend.« Aber er ist ja Arzt, also ein Kreuz bei nein, dann las sie: »Für manche Menschen kann der Tod eine(12) Erlösung bedeuten.« Plötzliche Kälte breitete sich in ihr aus, was soll das heißen? Hat das etwas zu tun mit …? Noch 26 Fragen, dann war sie durch. Erleichtert und ein wenig beklommen sah sie auf die Uhr. Fast zwei Stunden waren vergangen, seit sie die schwere Tür zur Klinik geöffnet hatte. Der Arzt sah sie an und lächelte: »Jetzt haben Sie es geschafft. Dann wollen wir mal mit der Untersuchung loslegen.«

Das, was nun kam, nahm sie völlig in Anspruch. Die Fragen und die merkwürdigen Klecksbilder vergaß sie bald. Der Krebs, die Operation, die(3) Bestrahlung und(7) die vielen weiteren Operationen, um(4) die Folgen dieser Therapien einigermaßen(26) erträglich zu gestalten, verlangten ihre ganze Kraft.

Die hier beschriebene Szene beruht auf Fakten. Frau S. wurde im Rahmen einer Studie des Doktoranden Michael Holm-Hadulla befragt(1), die dieser zwischen September 1973 und September 1976 an der Heidelberger Universitäts-Frauenklinik durchführte.[1] Anders als die Mehrzahl medizinischer Doktorarbeiten wurde diese 1982 in Buchform als Beiheft zur Zeitschrift für Psychosomatische Medizin(5) und Psychosomatik veröffentlicht(6), versehen mit einem Vorwort von Holm-Hadullas Doktorvater(2) Walter Bräutigam, der(1) als Nachfolger Alexander Mitscherlichs seit(1) 1968 die Heidelberger Psychosomatische Klinik(7), das »Flaggschiff« der bundesdeutschen Psychosomatik, leitete(8). Sogar Der Spiegel erwähnte 1977 die Studie Holm-Hadullas als(3) ein Puzzlestück im Streit um die zum Titelthema avancierte Frage: »Krebs durch Seelenschmerz und(1) soziale Qual?«[2]

Diese Aufmerksamkeit für die Ergebnisse einer einzelnen medizinischen Doktorarbeit ist ungewöhnlich. An ihr lässt sich ablesen, dass in den 1970er Jahren die Frage nach der Rolle von Gefühlen und(110) anderen psychischen Faktoren bei der Entstehung der Krebskrankheit zum Thema medizinisch-psychologischer Forschung(6) geworden(10) war und in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde. Frau S., die genau zu diesem Zeitpunkt mit der Verdachtsdiagnose Krebs in die Klinik kam, wurde auf diese Weise zum Gegenstand der Krebsforschung, bevor(11) ihre Diagnose gesichert war. Ob sie in diesem Moment verstand, worum es bei dieser Studie ging, bleibt offen.

Aufmerksame Leserinnen und Leser der(2) großen Publikumszeitschriften hatten bereits in den Jahren zuvor Hinweise auf Forschungen zur möglichen psychosomatischen Krebsentstehung(9) finden können.[3]

Doch die Vorstellung, Gefühle könnten(111) die Entstehung von Krebs beeinflussen, ist keineswegs erst ein Produkt jener Jahre. Im Gegenteil: Viele Jahrhunderte lang galt es als ausgemacht, dass traurige Gefühle, besonders(4) wenn sie länger das Leben überschatteten, Krebs auslösen könnten. So heißt es im sogenannten Krünitz, einer der ersten und umfangreichsten deutschsprachigen Enzyklopädien der Frühen Neuzeit: »Am häufigsten aber scheint er [der Krebs] wohl schwarzgallichten (atrabilarischen) Ursprunges zu seyn; wenigstens zeigt die Erfahrung, daß Kummer, Sorge, Gram, ihn sehr oft veranlassen […].«[4]

Deutlich wird hier der Bezug zur Humoralpathologie des(1)(5) spätantiken Arztes Galenos von(1) Pergamon, der ein Übermaß an schwarzer Galle, einen von vier Körpersäften, mit der Melancholie in Verbindung brachte und eine größere Anfälligkeit von Melancholikern für Krebserkrankungen behauptete. Galens Vier-Säfte-Lehre(2) hatte(2) die mittelalterliche Medizin dominiert und bis weit in die Frühe Neuzeit geprägt.[5] Bis ins späte 19. Jahrhundert wurden »deprimirende Gemüthsaffekte« für die Entstehung von Krebs verantwortlich gemacht, allerdings nicht mehr ausschließlich auf der Grundlage der als überholt geltenden Humoralpathologie, sondern(3) im Hinblick auf eine Ermüdung von Körper und Geist durch eine Überbeanspruchung der Nerven, wie es zeitgenössischen Körpervorstellungen entsprach.[6] Diese jahrhundertealte Tradition war jedoch von vielen Ärzten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunächst ad acta gelegt worden.

Warum verlor diese Tradition in der »offiziellen« Schulmedizin im frühen 20. Jahrhundert zunächst an Überzeugungskraft? Trifft es überhaupt zu, dass sich die medizinische Forschung danach für längere Zeit nicht mehr für die Gefühle der Patientinnen und Patienten interessierte, den Blick durch das Mikroskop auf die Zelle der Erkundung der Gefühle vorzog? Was geschah also in der »Interimszeit« zwischen etwa 1890 und 1950 mit der Annahme, Gefühle und(112) Gefühlshaltungen seien(113) der Schlüssel, um die Frage nach dem dunklen Ursprung der Krebserkrankung zu beantworten? Und schließlich: Wieso gewannen psychosomatische Deutungen(10) der Krebskrankheit in der Nachkriegszeit an Ansehen? Welche(12) medizinischen, physiologischen, psychologischen(1), möglicherweise(7) auch gesellschaftlichen und politischen Faktoren waren dafür verantwortlich?

Der forschende Blick des Psychosomatikers auf(11) die Persönlichkeit »seiner(2)« Krebspatienten veränderte(20) die Beziehung zwischen(1) beiden. Auch die Erfahrungen und Selbstbilder der(1) Betroffenen konnten dadurch beeinflusst werden. Diese Veränderungen blieben nicht auf das Arztzimmer und die Behandlungsräume beschränkt, sondern bezogen die Gesellschaft, das »Soziale«, mit ein, wie es die anfangs geschilderten Erlebnisse der Frau S. bereits erahnen lassen. Wie weit sich die psychosomatische Deutung(12) der Krebskrankheit als Modus der Verarbeitung und Diskussion historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen etablierte, wird in diesem Kapitel erschlossen werden. Die Frage nach Verknüpfung oder Entkoppelung von individueller und gesellschaftlicher Pathologie in(6) der psychosomatischen Diskussion(13) über Krebs zählt demnach zu den Grundsatzproblemen, die diesen Gang durch ein Jahrhundert psychosomatischer Krebsforschung(14) kennzeichnen. Ihre(13) je nach Zeitläufen unterschiedliche Beantwortung hatte – wie die anschließenden Kapitel zeigen werden – eminente Rückwirkungen auf das Reden über Krebs ebenso wie auf das Leben mit Krebs.

Die experimentelle Krebsforschung(3)

Die(14) psychosomatische Krebsforschung(15) bewegte(15) sich im 20. Jahrhundert in einem Feld, das von der experimentellen Krebsforschung(4) abgesteckt(16) wurde. Ohne die Konzepte und Labortechniken der als wissenschaftlich anerkannten Forschung zumindest(17) in groben Zügen zu kennen, lässt sich nicht verstehen, wie und warum psychosomatische Krebsforschung(16) lange(18) ein Schattendasein fristete und warum sie schließlich für einen kurzen Moment, just als sich die Heidelbergerin Frau S. in der Klinik auf Gebärmutterhalskrebs untersuchen(1) ließ, zu einer wissenschaftlichen Tatsache (Ludwik Fleck) wurde(1). Darum steht an dieser Stelle zunächst eine Skizze der Modelle, Techniken und institutionellen Bedingungen, die die experimentelle Erforschung(5) der Krebsursachen im 20. Jahrhundert bestimmt haben.[7]

1905, im ersten Jahr ihres Bestehens, startete die Zeitschrift Medizinische Klinik eine Umfrage unter ihren Lesern, um deren Ansichten über die Ursachen der Krebserkrankung in Erfahrung zu bringen. Als erster Beitrag wurde die Antwort von Vinzenz Czerny abgedruckt(1). Czerny war(2) einer der damals bekanntesten deutschen Chirurgen, der(5) sich insbesondere auf dem Feld der Krebschirurgie einen(6) Namen gemacht hatte und der genau zu jener Zeit damit beschäftigt war, Spendengelder zur Gründung eines Krebsforschungsinstituts in Heidelberg zu sammeln. Czernys Antwort war(3) ausgesprochen vieldeutig. Sie bezeugte, wie viele unterschiedliche, einander widersprechende Theorien der Krebsentstehung zu diesem Zeitpunkt erwogen wurden.

Mit einiger Skepsis referierte Czerny die(4) »zelluläre Theorie«, nach der Krebszellen aus versprengten embryonalen Zellen entstehen würden, die im Laufe des Lebens durch »chemische Reizung, durch verminderte Widerstandsfähigkeit der Mesodermalgebilde, durch seelischen Kummer(1) […] oder durch ein Trauma plötzlich zu wachsen anfangen und bösartig« würden (Reiz- und Traumatheorie).[8] Mehr Gewicht maß er der Theorie von der parasitären Entstehung der Krebserkrankung zu. Diese befand sich grundsätzlich – anders als die Reiz- und Traumatheorie – im Einklang mit dem Paradigma der Bakteriologie, das Robert Koch in(1) den 1880er Jahren formuliert hatte und das auf der Grundannahme fußte, dass jede Krankheit durch einen Keim verursacht werde und dass dieser zweifelsfrei zu identifizieren sei, wenn drei Bedingungen zutrafen: Erstens musste der Erreger in jedem einzelnen Fall dieser Krankheit zu finden sein. Zweitens sollte es möglich sein, den Erreger zu isolieren und zu züchten. Und drittens musste dieser Keim, wenn er auf ein Tier übertragen wurde – geimpft wurde, wie(1) es damals hieß –, bei diesem Tier die gleiche Krankheit verursachen und wiederum aus diesem Tier zu isolieren sein.[9]

Die Suche nach einem möglichen Krebsbacillus hatte bereits in den Jahren zuvor Anlass zu einer Vielzahl von Tierexperimenten gegeben(1), in deren Verlauf man versucht hatte, Krebszellen von einer Maus auf die andere zu übertragen oder aber Tiere mit dem Serum menschlicher Krebspatienten zu(21) »impfen«. Diese(2) Experimente hatten(6) gezeigt, dass sich Krebs in bestimmten Fällen von einem Tier oder Menschen auf ein anderes Tier übertragen ließ, in anderen jedoch nicht, ohne dass man Erfolg oder Misserfolg der »Impfversuche« hätte erklären können. Ebenso widersprüchlich waren klinische Beobachtungen, die in manchen Familien ein(2) gehäuftes Auftreten von Krebserkrankungen zutage gefördert hatten. Vor allem der sogenannte cancer à deux, das mehr oder weniger gleichzeitige Auftreten einer Krebserkrankung bei Ehepaaren, schien auf eine Infektion hinzuweisen(2). Die große Zahl der singulär auftretenden Krebserkrankungen stellte diese These wiederum in Frage. Nur eines war offensichtlich: Dass die Ursachenforschung bei Krebs komplizierter war als im klassischen und so überaus erfolgreichen Beispiel der Bakteriologie, dem von Robert Koch entdeckten(2) Tuberkuloseerreger.[10] So räumte auch Czerny in(5) seiner Zuschrift an die Medizinische Klinik