PREPPER - Band 4 - Tom Abrahams - E-Book

PREPPER - Band 4 E-Book

Tom Abrahams

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Beschreibung

Der Sturm ist vorbei. Ein langer Weg liegt vor ihnen. Das Überleben ist alles andere als sicher. In der vierten Folge der PREPPER-Saga laufen alle Wege zusammen. Jack Warrant führt seine Familie in Sicherheit, doch die Reise ist voller Gefahren. Das Gray-Team steht vor einer neuen Herausforderung, die es zu zerreißen droht. Gouverneur Chris Fine begibt sich auf eine eigene Reise, in der Hoffnung, sich an die letzten Fäden der Macht zu klammern, die er noch in seinen Händen hält. "Prepper" ist die neueste apokalyptische Abenteuerreihe von Traveler-Autor Tom Abrahams.

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Seitenzahl: 423

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Copyright © 2024 Tom Abrahams

Dieses Buch ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Schauplätze, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

www.tomabrahamsbooks.com

Deutsche Erstausgabe

Originaltitel: PREPPER Book 4

Copyright Gesamtausgabe © 2025 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd.

Kontaktinformation:

[email protected]

LUZIFER Verlag Cyprus Ltd.

House U10, Toscana Hills, Poumboulinas Street, 8873 Argaka, Polis, Cyprus

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlag: Michael Schubert | Luzifer-Verlag

Übersetzung: Peter Mehler

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2025) lektoriert.

ISBN: 978-3-95835-934-5

eISBN: 978-3-95835-935-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALT

KAPITEL 1 AUSTIN, TEXAS SECHS MONATE VOR DEM NETZAUSFALL

KAPITEL 2 BASTROP, TEXAS SECHS MONATE SPÄTER, NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 3 IRGENDWO IM ZENTRALEN WEST-TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 4 BASTROP, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 5 TRAVIS COUNTY, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 6 BASTROP, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 7 NÖRDLICH VON FREDERICKSBURG, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 8 BASTROP, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 9 LOS ANGELES, KALIFORNIEN NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 10 BASTROP, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 11 SICHERES HAUS, ORT UNBEKANNT NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 12 HIGHWAY 71, GARFIELD, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 13 SICHERES HAUS, ORT UNBEKANNT NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 14 PFLUGERVILLE, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 15 DAIR HAFIR, SYRIEN 01. JANUAR 2012

KAPITEL 16 PFLUGERVILLE, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 17 DAIR HAFIR, SYRIEN 01. JANUAR 2012

KAPITEL 18 PFLUGERVILLE, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 19 DAIR HAFIR, SYRIEN 01. JANUAR 2012

KAPITEL 20 PFLUGERVILLE, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 21 LOS ANGELES, KALIFORNIEN NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 22 LAKEWAY, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 23 LOS ANGELES, KALIFORNIEN NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 24 HILL COUNTRY, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 25 IRGENDWO IM ZENTRALEN WEST-TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 26 IRGENDWO IM ZENTRALEN WEST-TEXAS NETZAUSFALL, TAG 15

KAPITEL 27 HILL COUNTRY, TEXAS NETZAUSFALL, TAG 16

Für Courtney, Luke und Sam

»Um zu überleben ist es oft nötig, zu kämpfen, und um zu kämpfen, muss man sich schmutzig machen.«

GEORGE ORWELL

KAPITEL 1 AUSTIN, TEXAS SECHS MONATE VOR DEM NETZAUSFALL

Noel Slate balancierte ein Tablett mit dem Kartoffelsalat und dem Bananenpudding, zu deren Auswahl ihn sein Gastgeber genötigt hatte. Jetzt stand er vor einem großen Mann mit einem Messer in der Hand an einer Theke.

»Nehmen Sie das Brisket-Sandwich.«

Slate beäugte seinen Gastgeber misstrauisch. Chris Fine war der Gouverneur von Texas, und unter normalen Umständen wäre Noel dem Wunsch bereitwillig nachgekommen und hätte das empfohlene Hauptgericht gewählt. Doch ihre Beziehung war angespannt.

»Vertrauen Sie mir«, sagte Fine.

Das begleitende Augenzwinkern zerstreute Noels Bedenken hinsichtlich der Wahl nicht. Waren die Rippchen nicht die bessere Option?

»Wenn Sie Ihre Freundin schon hintergehen«, sagte Fine, »dann mit einem Supermodel. In diesem Fall ist das das Brisket-Sandwich.«

Noel musterte die anderen Platten. Alle anderen in seiner Gruppe hatten sich für das Brisket-Sandwich entschieden. Er gab dem Gruppenzwang nach und deutete mit Kinn auf den Kellner mit dem Messer.

»Ich nehme das Brisket-Sandwich.«

»Geschnitten oder geschnetzelt?«

Noel warf Fine einen Blick zu. Fine verstand die Frage.

»Geben Sie ihm das Geschnittene«, sagte Fine.

Der Kellner nickte. »Sicher, Herr Gouverneur. Schön, Sie wiederzusehen. Meine Frau und ich haben beide für Sie gestimmt.«

Fine grinste und stellte sein Tablett vor sich auf die Theke. Er streckte die Hand aus. »Das weiß ich zu schätzen«, sagte er. »Ich gebe alles, um mir das zu verdienen.«

Der Mann hob eine behandschuhte Hand und wedelte verlegen damit.

»Ah«, sagte Fine. »Dann lieber ein angetäuschter Fastgruß. Wir wollen ja nicht das DSHS auf Sie ansetzen.«

Die Männer taten so, als würden sie die Fäuste aneinanderstoßen. Noel sah den Gouverneur an und zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Das DHSH?«, sagte Fine. »Department of State Health Services. Staatliches Gesundheitsministerium.«

Noel nickte.

Eine Frau neben dem Kellner tippte etwas in die Kasse vor ihm ein. »Das ist ein Sandwich mit Brisketscheiben, ein Kartoffelsalat und ein Bananenpudding. Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Gern.«

Sie drehte einen Becher von einem Stapel um und stellte ihn auf Noels Tablett. »Das macht dann 27,91.«

Noel hätte es vorgezogen, in seinem Büro über der 'FĒNIKS-Zentrale in Südkalifornien zu essen. Die Aussicht wäre besser, das Essen wäre seine Wahl und das schwierige Gespräch fände in seinem Revier statt. Er mochte es, die Kontrolle zu haben, die Oberhand.

Nach Texas zu reisen entsprach nicht seiner Vorstellung von Kontrolle, auch wenn der Gouverneur zugestimmt hatte, Noel nach dessen Zeitplan zu treffen. Nachdem es der Politiker versäumt hatte, seinen Teil der Abmachung einzuhalten, war es mühsam gewesen, Fine dazu zu bringen, auf Anrufe oder SMS zu reagieren, und so hatte Noel der Reise zugestimmt. Er würde mitspielen und Fine sein falsches Starker-Mann-Gehabe zugestehen, diese arrogante, aber zugängliche Fassade, die ihn an die Macht gebracht hatte, bis die Zeit gekommen war, die Verstellung aufzugeben.

Noel tippte sein Handy an einen Kartenleser. Er gab ein Trinkgeld von fünfundzwanzig Prozent und bedankte sich bei der Frau. Sie dankte ihm ebenfalls, und er trug sein Tablett zu einem Tisch, an dem bereits Fines Assistent Parker Michaels saß. Zwei Tische weiter saß sein eigener Leibwächter, Lucas Brick, über ein Tablett gebeugt, zwei DPS-Troopern gegenüber, die als Fines Begleitschutz dienten. Noel kannte ihre Namen nicht, aber beide gebärdeten sich mit der gleichen Arroganz wie Brick. Offensichtlich handelte es sich um Ex-Soldaten, die in den paramilitärischen Sektor gewechselt, beziehungsweise Gesetzeshüter geworden waren.

Noel setzte sich Fine gegenüber in die Nische.

Sofort nahm er Noels leeren Becher. »Süßer Tee?«

Noel zuckte mit den Schultern. »Wenn schon, denn schon.«

Parker, der Noel schräg gegenüber saß, lächelte und zeigte auf das Sandwich auf Noels Tablett. »So etwas haben Sie noch nie gegessen. Sie haben die richtige Wahl getroffen. Das ist die beste Rinderbrust, die es gibt, eindeutig. Damit will ich Stubbs, Iron Works oder Franklins nicht schlecht machen. Die sind alle hervorragend, aber ich träume von diesem Sandwich. Kein Scherz.«

»Ich esse nicht viel Fleisch«, sagte Noel. »Meine Freundin hat mich auf diesen veganen, glutenfreien Trip gebracht. Im Grunde trinke ich Smoothies und esse Pappe.«

»Und wie läuft das für Sie?«, fragte Parker. »Smooch hat mir erzählt, dass sie eine starke Persönlichkeit ist.«

Noel richtete sich auf und sah Parker mit schmalen Augen an. »Sie kennen Smooch?«

Parker senkte den Blick auf sein Sandwich. Er öffnete den Mund, schloss ihn und öffnete ihn wieder. »Nicht wirklich. Wir haben ein paar Mal miteinander telefoniert und einige E-Mails geschrieben.«

»Und warum genau?«, fragte Noel.

»Nun ja.« Parker wägte seine Antwort ab »Ich kümmere mich um die Kommunikation mit dem Gouverneur, und soweit ich weiß, kümmert sich Smooch darum, wenn es eine technische Frage auf 'FĒNIKS' Seite gibt. Das ist doch richtig, oder?«

Noel stellte diese Antwort zwar infrage, aber sie war faktisch korrekt. Er war nicht das Technologiegenie, für das die Welt ihn hielt. Er war der Ideengeber, und Tyler »Smooch« Wallace war der Tech-Guru, der die große Vision verwirklichte.

»Bitte sehr.« Fine stellte einen Becher voll geeisten süßen Tees vor Noel auf den Tisch. »So süß wie irgend möglich.«

Fine setzte sich neben Parker, Noel gegenüber. Er rieb die Hände und nahm eine Papierserviette von seinem Tablett, faltete sie auseinander und steckte sie in den aufgeknöpften Hemdkragen.

Noel sah sich um. Terry Black's BBQ war im Stil einer Vintage-Räucherei eingerichtet. Dunkles Holz und schwere Tische bevölkerten den Raum. Es war laut und geschäftig. Alle unterhielten sich zwischen den einzelnen Bissen Fleisch.

Unmengen von Menschen saß an Picknicktischen auf der weitläufigen Terrasse, die sich von der Fassade des Restaurants bis zur Straße davor erstreckte. Die Mitarbeiter räumten die Tische schnellstmöglich ab, um Platz für die nächsten hungrigen Gäste zu schaffen, die bereit waren, sich den Bauch mit Rippchen, Rindfleisch, Truthahn oder Würstchen vollzuschlagen. Manche bestellten sogar Kombiteller mit mehr als einer Fleischsorte.

Nachdem er sich monatelang alles annähernd Essbare versagt hatte, war Noel unsicher, welches Chaos die Rinderbrust in seinem Magen anrichten würde. Und doch: Je länger er dasaß und den verführerischen Duft einatmete, desto gewillter war er, das Risiko einzugehen.

Parker Michaels hatte keine Zeit verschwendet, sondern sich sofort über sein Sandwich hergemacht. Es war bereits zur Hälfte verschwunden, und ein großer Teil davon steckte in seinen Backen, bevor Noel überhaupt eine Gabel in die Hand genommen hatte.

Fine hielt sein Sandwich in beiden Händen. »Sie können Soße drauf tun, aber ich würde das nicht machen. Es ist so zart, so saftig. Es wäre ein Verbrechen, etwas darauf zu tun. Sie wissen schon, wie wenn man Steaksauce auf ein Filet Mignon gäbe.«

Noel verstand, warum seine Gastgeber so schnell essen wollten. Sie wollten das anstehende schwierige Gespräch aufschieben. Ein klassisches Vermeidungsverhalten; Politiker waren darin ausgezeichnet. Noel durchschaute es, schätzte aber, dass es wenig schaden würde, ihr Spiel für den Moment mitzuspielen.

Er beschloss, mit dem Kartoffelsalat zu warten, legte die Gabel weg und nahm das Sandwich. Das weiche Brötchen in beiden Händen haltend biss er ab. Dann nochmal. Und nochmal.

Fine lachte leise und tupfte sich die Mundwinkel mit einer Serviette ab. »Ich hatte Recht, nicht wahr, Noel? Die beste verdammte Rinderbrust diesseits von überall.«

Noel nickte, stimmte mit vollem Mund zu. Er war sich nicht sicher, ob die schmackhafte Delikatesse so köstlich war, weil er so lange auf Fleisch verzichtet hatte oder weil sie einfach dermaßen gut war. Es spielte keine Rolle. Die Rinderbrust hatte einen rauchigen, vollen Geschmack und zerging ihm auf der Zunge. So etwas hatte er noch nie gekostet, und während er das Fleisch in weniger als einem Dutzend Bissen aufaß, zweifelte Noel am Verstand seiner Freundin. Wieso war das schlecht? Definitiv würde er, wenn er wieder in Los Angeles war, mit ihr über eine Mäßigung ihrer extremen Ernährungsweise sprechen.

Fine trank von seinem süßen Tee. Er nahm einen Eiswürfel zwischen die Zähne und zerkaute ihn. Sein Sandwich war fort, und seine gute Laune auch.

»Ich bin bereit, wenn Sie es sind«, sagte er. »Sie können den Kartoffelsalat aufessen und vom Bananenpudding probieren, oder wir können gleich zur Sache kommen. Mir ist klar, dass Sie nicht wegen des Barbecues den ganzen Weg nach Austin auf sich genommen haben.«

Noel nahm seine Gabel und stach in den Kartoffelsalat. Milchprodukte aß er ebenfalls nicht, und der Gedanke, der Rindfleischparade entweder Kartoffelsalat oder Pudding folgen zu lassen, war wenig verlockend. So gut das Sandwich auch gewesen war, er wollte sein Glück nicht überstrapazieren. Noel ließ die Gabel in einem Kartoffelstück stecken. Er lehnte sich in der Nische zurück und wischte sich den Mund mit einer zerknüllten Serviette ab. »Sie haben Recht. Ich bin nicht wegen einer Mahlzeit, die ich auch zu Hause hätte haben können, quer durchs Land geflogen.«

Fine lachte und zeigte auf die Fettflecken auf Noels Teller. »Das können Sie nur hier bekommen. Lassen Sie die Spielchen.«

Noel zuckte mit den Schultern. »Na schön. Es war gut, das muss ich zugeben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es den Preis wert war, Herr Gouverneur.«

»Barbecue ist teuer.«

»Sie auch«, sagte Noel, »und beim Barbecue habe ich wenigstens bekommen, was angekündigt wurde.«

Fine lächelte schmal. Es war die Art von falscher Freundlichkeit, die Noel schon auf den Gesichtern unzähliger Gegner, die erkannten, dass sie verlieren würden, auftauchen gesehen hatte.

»Also ist das Mittagessen vorbei?«, fragte Fine. »Wir kommen zur Sache?«

Noel begegnete dem aalglatten Ausdruck mit einem Lächeln. »Hier ist mein Problem. Sie haben mich übers Ohr gehauen. Wir hatten einen Deal. Sie haben ihn gebrochen. Ich bin hier, um herauszufinden, was Sie deswegen unternehmen wollen.«

Fine nahm seinen Becher. Kondenswasser tropfte auf die Serviette, die in seinem Hemdkragen steckte, als er einen großen Schluck trank.

»Er unternimmt gar nichts«, sagte Parker. »Er hat es versucht. Es hat nicht geklappt. Es gibt keine Neigung …«

»Sie habe ich nicht gefragt, Parker«, unterbrach Noel ihn. »Ich habe Ihren Chef gefragt. Das ist ein Gespräch unter Erwachsenen.«

Parker beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf Noel. Bevor er etwas sagen konnte, streckte Fine eine Hand aus und brachte ihn zum Schweigen. Als Friedensangebot schenkte er Noel ein freundliches Politikerlächeln.

»Aber, aber«, sagte er. »Es gibt keinen Grund zur Feindseligkeit. Parker wollte nur helfen. Aber Sie haben Recht, Noel, das ist eine Sache zwischen Ihnen und mir.«

»Also, was tun Sie jetzt? Ich habe Ihnen das Gesetz übergeben. Meine Mitarbeiter haben es geschrieben. Sie haben es eingehend geprüft. Sie haben es denjenigen in Repräsentantenhaus und Senat gegeben, von denen Sie sagten, sie seien anpassungsfähig und würden sicherstellen, dass unsere Forderungen im Plenum Stimmen bekäme. Das ist aber nicht passiert.«

»So ist es nicht ganz gewesen«, sagte Fine. »Ich habe Ihnen versprochen, alles mir Mögliche zu tun, um die Agenda voranzutreiben. Verdammt, ich habe sie in meiner Rede zur Lage des Staates zu Beginn der Legislaturperiode zu einer Priorität gemacht. Es war ein Notfallthema. Wissen Sie noch?«

Noel nickte. »Ich erinnere mich. Ich saß auf der Besuchergalerie. Ich habe gesehen, wie Sie die Rede im Plenarsaal gehalten haben, und habe Ihre Worte stumm mitgesprochen, weil meine Mitarbeiter diesen Teil geschrieben haben. Wissen Sie noch?«

Fine streckte die Hand über den Tisch, tauchte einen Finger in Noels Bananenpudding und steckte ihn sich in den Mund.

Noel nahm den Becher mit dem Pudding und stellte ihn vor Fine. Er sah über beide Schultern und studierte die Tische in ihrer unmittelbaren Nähe, um sich zu vergewissern, dass niemand lauschte. Eigentlich war es egal. Was Noel zu sagen hatte, musste gesagt werden.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihr heutiges Verhalten verstehe, Herr Gouverneur. Sie haben mit dem Versprechen, ein günstiges Umfeld für mich und meine Investoren zu schaffen, Geld entgegengenommen. Sie haben es nicht geschafft …«

Fine hielt einen Finger hoch. »Merken Sie sich den Gedanken.«

Fine erhob sich und ging durchs Restaurant zur Getränkestation. Daneben fand er einen Löffel und trug ihn zum Tisch zurück. Er steckte ihn in den Bananenpudding und setzte sich wieder Noel gegenüber in die Nische.

»Bitte«, sagte Fine, »fahren Sie fort.«

»Sie haben es nicht geschafft, uns zu liefern, wofür wir bezahlt haben«, sagte Noel, »und das ist ein Problem. Aber möglicherweise gibt eine Lösung.«

»Und die wäre?«, fragte Fine.

Der Gouverneur nahm den Löffel aus dem Pudding und aß. Beim Anblick des Desserts war Noel überzeugt, dass es in der Lage wäre, Typ-2-Diabetes auszulösen.

»Die Legislaturperiode ist noch nicht vorbei«, sagte Noel. »Sie …«

»Nicht genug Zeit«, sagte Parker. »Wir müssten es durch die Ausschüsse bringen, und bei denen stauen sich andere, dringendere Gesetze. Wir stehen so kurz vor der Unterbrechung, dass wir keiner der beiden Kammern noch mehr Arbeit aufbürden können. Wittman würde an die Decke gehen. Barragan auch.«

Noel sah Parker missbilligend an. »Wo ist eigentlich Carrie?«

»Carrie?« Fine schaufelte sich Pudding in den Mund.

»Ihre rechte Hand?«, fragte Noel. »Ihre Stabschefin? Die frühere Miss America?«

»Sie ist anderweitig beschäftigt.«

»Okay. Warum ist sie nicht hier? Und wo sind Ihr Direktor für Legislativangelegenheiten und Ihr Referatsleiter für Politik? Sind sie nicht in die Angelegenheit eingeweiht? Sollten sie nicht auch etwas von dem Pudding abbekommen?«

Fine hatte den Mund voll. Parker antwortete an seiner Stelle. Er war der Redegewandte.

»Wir haben das intern behandelt«, sagte Parker. »Es ist ein heikles Thema, und wir sahen keine Notwendigkeit, den Kreis weiter zu ziehen als nötig.«

Noel sah an seinen Gastgebern vorbei durch die Fenster zur Terrasse. Dahinter kroch der Verkehr über die Barton Springs Road. In Austin war es beinahe so schlimm wie in Los Angeles. Es graute ihm vor der langsamen Fahrt zurück zum Flughafen. Sein Blick wanderte wieder zu Fine. Noel zuckte mit den Schultern und präsentierte eine Alternative, mit einer Nonchalance, von der er hoffte, dass sie den Gouverneur zum Handeln bewegen würde.

Zielgerichtete Wut hatte nicht funktioniert.

»Berufen Sie eine Sondersitzung ein.«

Fine lehnte sich zurück. Er sah Parker an, dann wieder Noel. »Eine Sondersitzung wofür?«

»Für meinen Gesetzentwurf«, sagte Noel. »Bestellen Sie alle wieder ein und geben Sie ihnen dreißig Tage Zeit, um den Wortlaut zu genehmigen und das Umfeld für das zu schaffen, was wir erreichen wollen.«

»Die Subventionen und Steuererleichterungen gesetzlich verankern, die Sie und Ihre Kollegen haben wollen? Verlangen Sie das von mir?«

Noel beugte sich näher und senkte die Stimme. »Ich habe Sie bereits dafür bezahlt.«

»Sehen Sie, Noel«, sagte Fine, »die Sache ist die: Das ist zu offensichtlich. Es würde zu viele Fragen aufwerfen.«

»Sie können aber Sondersitzungen für Offensichtliches einberufen«, sagte Noel. »Rick Perry hat es auch getan. Greg Abbott ebenfalls. Die einzige Macht, die Sie haben, von Ernennungen abgesehen, ist Ihr Vetorecht und die Fähigkeit, Sondersitzungen einzuberufen.«

Fine brauste auf. »Der Job beinhaltet mehr Macht als das, Noel. Ich …«

»Ach, bitte«, sagte Noel. »Ersparen Sie mir das.«

Wieder sah er durchs Fenster. Was würde ohne Autos mit Austin passieren? Sein Fokus bewegte sich ins Innere des Restaurants. Die meisten Gäste waren am Handy. Selbst wenn sie in Gespräche mit ihren jeweiligen Tischnachbarn vertieft waren, hielten sie ihre Geräte in der Hand, oder sie lagen mit dem Display nach oben neben ihrem Tablett. Konnte irgendjemand hier ohne die Art von Konnektivität, die die moderne Technologie bot, funktionieren? Sein Blick fiel auf seinen Leibwächter, Lucas Brick. Auf dem Flug hierher hatte Brick ausführlich über ein Buch gesprochen, das er gerade las. Brick war für gewöhnlich ein Mann weniger Worte. Noel hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten Ex-Militärs nur sprachen, wenn sie angesprochen wurden, oder dass sie mit dem, was sie sagten, sehr vorsichtig waren. Aber Brick war im Flugzeug ein wahres Plappermaul gewesen. Das hatte Noel sogar zu ihm gesagt; er hatte ihn »Chatty Cathy« genannt.

»Was ist eine Chatty Cathy?«, hatte Brick gefragt.

»Das ist eine alte Puppe«, hatte Noel gesagt. »Ein Vintage-Modell von Mattel. Wir haben die Rechte erworben und versuchen, das Konzept mittels KI zu modernisieren. In Partnerschaft mit einem Spielzeug-Startup.«

»Sie bezeichnen mich als Puppe? So eine mit Schnüren am Rücken?«

Noel hatte gesagt: »So ähnlich.«

»Wie eine Marionette?«

Noel hatte seinen Fehler erkannt und sich entschuldigt. »Das war nur eine Redewendung, mehr nicht. Erzähl mir mehr über das Buch.«

Brick hatte die Geschichte einer Gesellschaft ohne Strom und elektronische Kommunikation erzählt. Er hatte gesagt, das Buch sei ein Bestseller und sehr spannend.

Noel war aufgefallen, dass er Brick noch nie mit einem Buch gesehen hatte. Wer hätte das gedacht? Vielleicht las der Mann nachts im Bett oder auf einer App auf seinem Gerät. Im hauseigenen App Store bot 'FĒNIKS eine E-Book-Bibliothek samt Anwendung an.

Während er sich die Flut von Ausreden des doppelzüngigen Politikers ihm gegenüber anhörte, fragte er sich, welche Auswirkungen es auf die texanische Wirtschaft hätte, wenn man den Strom abschalten würde. Inwiefern würde die Isolierung des Bundesstaates von allen anderen seine Fähigkeit beeinträchtigen, sich vom Ausfall zu erholen?

Er leckte sich über die Lippen und funkelte Fine an. Noel Slate war keine einschüchternde Gestalt. Wenn überhaupt, war er ungewollt zu einer Karikatur des Silicon-Valley-Idioten geworden. Trotzdem gab er sich alle Mühe, sich aufzubauen und Fine keinen Zweifel daran zu lassen, wer das letzte Wort haben würde.

»Wenn Sie das in den letzten Tagen der Legislaturperiode nicht hinbekommen«, sagte Noel, »und Sie nicht bereit sind, eine Sondersitzung einzuberufen, dann sehe ich mich gezwungen, Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen.«

Fine lachte nervös. »Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass Ihnen nicht gefallen wird, was ich dann tue, und dass Sie nicht mehr Gouverneur sein wollen, wenn es so weit ist.«

»Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, Drohungen auszusprechen«, warf Parker ein. »Damit ist niemandem geholfen. Und vergessen Sie nicht, dass Sie derjenige sind, der bestochen …«

Fine stieß Parker mit dem Ellbogen an. Seine gute Laune war so verschwunden wie der Bananenpudding und das Brisket-Sandwich davor.

»Das ist keine Drohung«, sagte Noel. »Es ist ein Versprechen. Im Gegensatz zu Ihrem Chef halte ich meine Versprechen. Und was das hässliche Wort mit den neun Buchstaben angeht, das Ihnen einen Stoß in die Rippen eingebracht hat, habe ich keine Ahnung, wovon Sie reden. Solche Dinge erfordern ein Quid pro quo. Zwei gewaschene Hände. Das ist nicht passiert.«

»Was für eine Art von Versprechen ist das?«, fragte Fine. Seine dezente Wichtigtuerei war der Sorge um seine politische Zukunft gewichen.

Noel holte sein Handy aus der Tasche seiner Jogginghose und hielt es mit dem Display zum Gouverneur hoch. Er spürte, dass sich die Oberhand im Gespräch verlagert hatte. Das Pendel schlug wieder in seine Richtung aus. »Folgen Sie mir in den sozialen Medien?«, fragte er.

»Nein«, sagte Fine. »Sollte ich?«

»Das wäre vielleicht ganz gut«, sagte Noel. »Das ist mein Profil.«

Er justierte das Display.

NOEL SLATE.

'FĒNIKS TECH CEO. MILLIARDÄR. ALTERNDER PHILANTHROP. AUFSTREBENDER MISANTHROP.

MAG HEIßE SCHOKOLADE UND UMGEKEHRTE HAREM-ROMCOMS.

Er erwartete ein Lachen oder eine spöttische Bemerkung. Stattdessen betrachtete der Gouverneur das Display mit schmalen Augen.

»Hm«, sagte Fine. »Nur dreihundert Millionen Follower?«

»Nur.«

»Und Sie selbst folgen nur einer Person?«, fragte Fine.

»Ja.«

»Wem?«

»Schauen Sie sich mein Profil an, dann werden Sie es sehen. Ich zitiere gerne Shakespeare und Norman Lear, mögen sie in Frieden ruhen. Manchmal ist es schwer, die beiden von einander zu unterscheiden.«

»Ich habe doch Ihre Handynummer«, sagte Fine. »Warum sollte ich Ihnen folgen?«

»Sie werden es doch sicher kommen sehen wollen, wenn sich Ihre Macht dem Ende neigt, oder nicht?«

»Wenn es Ihnen so viel bedeutet«, sagte Fine, »wird Parker Ihnen folgen.«

»Das tue ich schon«, sagte Parker.

Noel lächelte wie die Grinsekatze. Er schob sein Handy in die weiche Tasche seiner bequemen Jogginghose zurück. Nach der Mahlzeit, die er verdrückt hatte, war er froh, sich lieber bequem statt stylisch angezogen zu haben. Er musterte beide Männer. Das war es, was Noel besser konnte als die meisten: Menschen lesen. Er hatte die Gabe, hinter die Fassade blicken zu können. Der Mann suchte nach Schwächen und nutzte sie aus. Dadurch hatte er es so weit gebracht. Chris Fine mochte zwar der Gouverneur von Texas sein, aber er war viel zu leicht zu lesen. Er und sein Assistent Parker hatten Angst. Sie waren in seinen Kaninchenbau gestürzt und hatten die falsche Pillenfarbe gewählt. Fine hatte sich mit dem Falschen angelegt, und er würde den wahren Preis seines Verrats erfahren.

»Ich gebe Ihnen Zeit bis zum Herbst«, sagte Noel. »Wenn Sie bis dahin keinen Weg gefunden haben, zu tun, was wir besprochen haben, wird es Konsequenzen geben. Schlicht und einfach.«

»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte Fine, »aber etwas an der ganzen Sache fand ich schon immer merkwürdig.«

»Was denn?«

»Sie sind ein Tech-Milliardär und was ihre Biografie auf der Seite sonst noch so sagt, aber dieser Deal, den Sie wollen, grenzt ans Sozialistische. Sie wollten die Welt auf Kosten des Marktes zu einem saubereren, besseren Ort machen. Ich habe noch nie einen Milliardär getroffen, der nicht für den freien Markt gewesen wäre.«

Noel neigte den Kopf. »So naiv sind Sie doch nicht, oder?«

Fine runzelte die Stirn. Er verdrehte die Augen.

»Vielleicht ja doch«, sagte Noel. »Alles in meiner Welt ist eine Transaktion. Ich habe null Interesse an der Umwelt. Na ja, ich bin insoweit an ihrem Schutz interessiert, wie es einen Geldregen bedeutet. Macht liegt in der Kontrolle dessen, was die Menschen wollen. Das ist eine gute Annahme, und viele der veröffentlichten Analysen beweisen, dass alle saubere Luft, sauberes Wasser und Zugang zu einer erstklassigen Infrastruktur wollen. Das ist nicht auf Texas oder die USA beschränkt. Es gilt für jeden, überall.«

Fine schien über Noels Behauptung nachzudenken. Weder der Gouverneur noch das Wunderkind, Parker Michaels, machten Anstalten, seinen Argumenten zu widersprechen. Er hatte ihre Aufmerksamkeit.

»Derjenige, der einen Weg findet, das zu bieten, ist derjenige, der die Zukunft kontrolliert, Herr Gouverneur. Ich biete Ihnen die Chance, direkt zu Anfang in etwas einzusteigen, das Sie augenscheinlich nicht verstehen. Oder falls doch, wollen Sie nicht mit mir zusammen im Expressaufzug fahren, obwohl ich Ihnen einen Schlüssel dafür angeboten habe.«

Die Verstellung war verflogen, und Fines Miene verriet seine Sorge. In Ermangelung einer echten Antwort warf er mit leeren Drohungen um sich. »Ich könnte damit zu den Behörden gehen. Sie haben Geld beigesteuert. Das tun viele. Für diese Zuwendung gibt es verschiedene Erklärungen, und es gibt keinerlei Beweise für ein Fehlverhalten. Ich …«

»Kein Fehlverhalten?« Noel lachte leise. »Reden Sie sich das ruhig ein, wenn Sie dann nachts besser schlafen können, Herr Gouverneur. Ich bin hier fertig. Wir wissen beide, dass Sie, falls Sie keine ernsten Schritte unternehmen, um die Sache wieder ins Lot zu bringen, auf der Verliererseite stehen. Wenn es in neunzig Tagen keinen Beschluss gibt, werden Sie es bereuen, mich je kennengelernt zu haben.«

Noel schlüpfte aus der Nische. Er gestikulierte zu Brick, der sich mit einer Serviette den Mund abwischte und einen halbvollen Teller Rippchen, die aussahen, als hätte man sie einem Brontosaurier entnommen, stehen ließ.

»Ich bereue es schon jetzt.«

»Das glaube ich gern.«

Noel verließ den Tisch und ging die kurze Treppe zum Ausgang hinunter. Brick folgte ihm, bis sie die Tür erreichten. Dann übernahm der Bodyguard die Führung und hielt Noel die Tür auf. Sie gingen in die Sonne und die Hitze hinaus.

»Hier draußen ist es wie in einer Sauna«, sagte Noel.

Brick ging neben ihm her zum Auto, das auf einem überfüllten Parkplatz rechter Hand vom Restaurant stand.

Noel wischte sich über die Stirn. »Kannst du dir vorstellen, ohne Klimaanlage hier zu leben?«

Brick antwortete nicht, und Noel nahm an, dass der Leibwächter die Frage als rhetorisch aufgefasst hatte. Der wartende SUV lief. Ein angeheuerter Fahrer hinter dem Lenkrad trank ein Getränk, das mit Namen und Logo eines hiesigen Ladens namens Lucky Lab Coffee Co. versehen war. Als er Noel bemerkte, senkte er den Becher hastig.

Brick öffnete die Tür. Sein Blick überprüfte die Umgebung auf Bedrohungen, während Noel in den kühlen Passagierraum glitt. Der SUV war sauber und verströmte einen Neuwagengeruch.

»Ist der gut?«, fragte er den Fahrer.

»Sir?«

»Der Kaffee?«

»Ja, Sir«, sagte er. »Er ist ausgezeichnet. Die haben auch unglaublich gute Chai Chocolate Chip Cookies. Ich …«

»Wir halten dort auf dem Weg zum Flughafen an«, sagte Noel. »Ich könnte was Süßes vertragen.«

Brick setzte sich auf den Beifahrersitz, zog den Sicherheitsgurt über seine breite Brust und sah Noel über die Schulter hinweg an. »Habe ich das richtig gehört, dass Sie einen Zwischenstopp auf dem Weg zum Flughafen vorgeschlagen haben?«

»Ja«, sagte Noel. »Ich will was für den Heimweg. Irgendwas, dass den sauren Geschmack aus meinem Mund vertreibt.«

Brick drehte sich halb zu Noel um. Die Bewegung zog den Gurt straff. »Hat Ihnen Ihr Mittagessen nicht geschmeckt? Meines war hervorragend.«

»Das Essen war super. Es liegt an der Gesellschaft.«

Der Fahrer stellte den SUV auf Fahren und rollte vom Parkplatz. Er überquerte die Straße und bog links ab. Nach zehn Minuten hielten sie am Coffee Shop westlich der Universität. Nach einer Dreiviertelstunde waren sie in der Luft.

Noel stützte sich auf den Walnussholztisch vor seinem Sitz. Er betrachtete den kleinen Flachbildschirm neben seinem Ellbogen, der die Live-Bilder von der Flugzeugnase zeigte. Sie befanden sich im Steigflug, und die Sicht durchs Fenster war wesentlich besser. Unter ihm lag der großartige Bundesstaat Texas. Das Grün und Braun schwand, und die Zersiedelung, die sich von Austin bis zu den weniger bevölkerten Vororten ausbreitete, lichtete sich zunehmend; die Ausläufer wurden immer schmaler.

Er wandte sich vom Fenster ab und sah, dass Brick seinem Sitz zurückgelehnt hatte. Seine Finger waren vor der Brust verschränkt und er trug eine Schlafmaske.

»Bist du wach?«, fragte Noel.

»Jetzt schon.«

»Was war das für eine Geschichte mit der Kanone?«

»Welche Geschichte?«

»Die von der Fahne, die du mir erzählt hast.«

Brick stellte seinen Sitzen gerade. »Ist das Ihr Ernst?«

»Ja. Erzähl mir die Geschichte noch mal, dann kannst du schlafen.«

Brick starrte ihn lange an. Er verdrehte die Augen, befeuchtete die Lippen und erzählte aufs Neue die legendäre Version der Ereignisse von Gonzales, Texas, aus dem Jahr 1835, zu Beginn der texanischen Revolution gegen Mexiko, bei der es um eine geborgte Kanone ging.

»… wollten sie nicht zurückgeben«, sagte Brick. »Als die mexikanische Armee sie dann beschlagnahmen wollte, bastelten zwei junge Frauen namens Caroline und Eveline eine Fahne. Darauf war ein Bild der Kanone, zusammen mit einem Stern und den Worten kommt und holt sie euch.«

»Was ist mit der Kanone passiert?«

»Sie ging verloren und wurde schließlich wiedergefunden. Sie steht in einem Museum in Gonzales.«

»Und jetzt sind diese Fahne und der Spruch überall auf Flaggen, Pins, Tassen und T-Shirts?«

Brick zog die Schlafmaske runter und lehnte den Sitz zurück. »Ja. Warum?«

»Es ging mir nur durch den Kopf«, sagte Noel. »Das ist alles.«

Er dachte über die Geschichte nach. Fünf Worte. Die Texaner hatten die Tradition, sich mit Fünfwort-Slogans zu definieren.

Da war die Warnung der Anti-Müll-Kampagne Mach keinen Müll mit Texas, und es gab den legendären Widerstand Kommt und holt sie euch.

Noel spürte, wie sich das Flugzeug unter ihm stabilisierte, und dachte über sein Vorhaben nach. Er tippte auf den Bildschirm neben seinem Ellbogen, und das Bild wechselte zu einer satellitengestützten Trackingkarte. Sie waren noch zwei Stunden und vierzig Minuten von ihrem Ziel entfernt. Das waren zwei Stunden und vierzig Minuten, um an seinem Plan zu arbeiten.

Er rief nach der Flugbegleiterin und bat um ein Glas Pellegrino mit Orangengeschmack. Als sie mit der Flasche und einem Glas voll Eis zurückkam, schenkte sie ihm ein, und er bedankte sich.

Noel nahm einen Schluck und ließ das kohlensäurehaltige Wasser im Mund sprudeln. Er schluckte den schwachen Hauch von Zitrusfrüchten hinunter und lächelte. Trotz seiner Enttäuschung über das Wissen, dass der Gouverneur ihre Vereinbarung nicht erfüllen würde, konnte aus dieser misslichen Lage noch etwas Gutes entstehen. Noel konnte das Negative zu seinem Vorteil nutzen.

»Ich werde mich mit Texas anlegen«, murmelte er leise, »und ich werde ihnen alles nehmen, was ihnen lieb ist.«

KAPITEL 2 BASTROP, TEXAS SECHS MONATE SPÄTER, NETZAUSFALL, TAG 15

Ein riesiger Biber mit vorstehenden Zähnen grinste aus dem leuchtend gelben Kreis, der zwölf Meter über dem Boden hing. Im ganzen Leben war Jack Warrant noch nie so froh gewesen, das allgegenwärtige Gesicht des Maskottchens zu sehen.

»Denkst du, es ist okay, reinzugehen?«, fragte Betty. »Das letzte Mal war es ein Chaos, und alles Wertvolle war weg.«

Zweieinhalb Tage zuvor hatten sie es im Buc-ee's in Waller County versucht. Die Regale hatten bis auf eine Flasche Hot Sauce und eine einsame Packung halb aufgegessenen Fudge nichts Essbares zu bieten gehabt. Die Toiletten, die früher als makellos gegolten hatten und ein Anziehungspunkt für müde Reisende gewesen waren, waren dunkel und muffig. Jack hatte entschieden, dass es zu unsicher war, sich in die Waschräume hineinzuwagen, und so hatten sie auf diesen Luxus verzichtet.

»Ich kann vorgehen und auskundschaften«, sagte Jack. »Wenn es sich nicht lohnt, gehen wir weiter. Wir müssen wahrscheinlich sowieso Zeit aufholen, nachdem wir heute Morgen so spät aufgestanden sind.«

In Bettys Miene lag ein Hauch von Traurigkeit. Sie warf einen Blick auf ihre Kinder, die etwa zwanzig Meter entfernt am Straßenrand standen. Jasper, Jenna und Joey passten auf ihre neu adoptierten Geschwister Ellie und Ava Radner auf, deren Eltern sie wenige Tage nach Beginn der Krise im Stich gelassen hatten.

»Sie haben den Schlaf gebraucht«, sagte Betty. »Wir sind jetzt schon seit Tagen nonstop auf den Beinen.«

Jack rückte den Rucksack auf seinen schmerzenden Schultern zurecht. Die Haut unter seinem schweißnassen T-Shirt war wund. In den letzten vier Tagen waren sie bis zu zehn Stunden täglich gelaufen. Wären es nur Jack und Betty gewesen, wären sie vielleicht schon in ihrem Haus in Hill Country angekommen, hätten die vierhundert Kilometer in weniger als vier Tagen zurückgelegt. Aber mit den Kindern mussten sie das Tempo drosseln.

Abwechselnd hatten sie das Jüngste, die noch nicht einmal dreijährige Ava, getragen. Ein paar Minuten lang konnte sie unsicher laufen, aber die meiste Zeit verbrachte sie auf Jacks, Bettys oder Jaspers Schultern, was ihr Tempo verlangsamte. Das machte sie verwundbarer für mögliche Gefahren, denen sie aber dank Martillos Satellitenübertragungen über den tragbaren Garmin inReach-Textkommunikator und dank schierem Glück entgangen waren.

»Wenn nur der Truck eine Option gewesen wäre«, sagte Jack. »Ich bereue, was ich getan habe.«

Betty stieß ihn mit der Schulter an. »Du hast unseren Sohn gerettet, auch wenn du den Truck kaputt gemacht hast. Das ist nicht das Ende der Welt.«

Jack lachte leise. »Doch, genau das ist es.«

Sie rang sich ein Lächeln ab.

Jack gab ihr seine Waffe und zog den schweren Rucksack ab. Er legte ihn auf den Boden, hockte sich hin, um ihn zu öffnen, und holte einen kleineren, leer zusammengefalteten Rucksack heraus. Mit einer schnellen Drehung des Handgelenks schüttelte er ihn auf und schulterte ihn anschließend. Falls er im Laden was Gutes finden würde, müsste er es irgendwie tragen können.

Jack nahm die Waffe von Betty zurück. Er überprüfte sie, um sicherzugehen, dass er sie voll geladen hatte.

»Ich bin gleich wieder da« sagte er. »Kommst du klar?«

Sie tippte die 9-Millimeter-Glock an ihrer Hüfte an. »Ich komme klar.«

Jack hatte eines der AR-7-Gewehre der Familie. Jasper hatte das andere und trug die Mossberg in einem Gurt auf dem Rücken.

Jack stieß Betty mit der Schulter an und machte sich auf den Weg über den abschüssigen Parkplatz zum riesigen Gemischtwarenladen hinauf. Den Kopf hin und her drehend, um sich ein Bild der Lage zu machen, bewegte er sich auf die vielen Zapfsäulen zu. Obwohl es sich um einen weitläufigen Platz handelte, auf dem es keine oder nur wenige Verstecke für Angreifer gab, wollte er kein Risiko eingehen. Seine Oberschenkel brannten, als er die steile Steigung hinaufging, und wieder einmal beklagte er den Verlust seines Trucks.

Er war ein alter F-150. Jack hatte ihn geerbt und sich große Mühe gegeben, ihn in gutem Zustand zu halten. Als EMPs praktisch alle anderen Fahrzeuge lahmgelegt hatten, hatte sein Ford ihn nach Hause gebracht. Er hatte ihn zu seinem Lagerraum und zurück gebracht, als er die Vorräte zu Hause hatte auffüllen wollen, und er hätte ihr Transportmittel sein sollen, falls sie sich entschlossen hätten, abzuhauen.

Jack hatte den Truck als Waffe und Rammbock benutzt, als Gangster seinen Sohn entführt und Lösegeld gefordert hatten. Dabei hatte er einen Reifen geplättet und eine Felge verbogen. Außerdem war durch den Aufprall eine bereits undichte Kühlmittelleitung gerissen. Der Truck war unbrauchbar geworden, und Jack machte sich mit jedem Kilometer, den sie zu Fuß zurücklegten, stumme Vorwürfe. Sie hatten noch gut hundert Kilometer vor sich. Es würde noch drei oder vier Tage dauern, bis sie ihr Ziel erreichten.

Jack ging unter dem ausladenden Vordach hindurch, das die achtundvierzig Zapfsäulen vor dem Laden überdachte. Buc-ee's war mehr als nur ein Supermarkt. Der Laden in Bastrop war fast sechstausend Quadratmeter groß. Der Parkplatz fasste mehr als sechshundertfünfzig Fahrzeuge, und es gab alles zu kaufen, von Brisket-Sandwiches, Fudge und T-Shirts bis hin zu Wohnaccessoires mit Texas-Motiven. Vor der Apokalypse war Buc-ee's aber besonders für seine tadellos sauberen Toiletten bekannt gewesen.

Er erreichte den Haupteingang des Geschäfts und trat rechts neben den Glasvorbau mit den Schiebetüren an beiden Enden. Er versuchte, durch die großen Fenster zu spähen, sah aber nur sein eigenes Spiegelbild und das des Parkplatzes hinter sich.

Jack hob das Gewehr. Er richtete es aus, drückte den Kolben an die schmerzende Schulter und ging leicht in die Knie. Mit dem Finger auf dem Abzugsbügel ging er um die Seite herum zu dem Eingang, der nach Osten in Richtung Highway 71 zeigte.

Die Schiebetür stand einen Spalt offen. Jemand hatte sie so weit aus dem Rahmen gehebelt, dass Jack hindurch passte. Als er durch die Öffnung schlüpfte, blieb eine Seite seines Rucksacks hängen. Er riss die linke Schulter nach vorne und befreite sich. Die Anspannung, einen potenziell gefährlichen Ort zu erkunden, beschleunigte seinen Puls.

Der Eingangsbereich war zwölf Meter lang und viereinhalb Meter breit. Die üblichen Stapel von Campingstühlen, Wildfutterstationen und Grillgeräten fehlten, bis auf eine Futterstation, die umgefallen war.

Jack bog rechts ab und betrat den Laden. Durch die Fenster des Eingangs warf die Sonne ein graues Licht in den eigentlichen Einkaufsbereich. Links und rechts von ihm waren die Kassen. Er fand es seltsam, dass ihn keine Angestellten in roten T-Shirts begrüßten.

»Willkommen bei Buc-ee's«, sagten sie normalerweise unisono zu jedem, der den Laden betrat und an ihren Kassen vorbeiging.

Es war noch immer schwer zu begreifen, dass die beiden Anschläge, die Texas in Ungewissheit gestürzt hatten, erst zwei Wochen zurücklagen. Irgendwie kam es ihm vor, als hätten seine Familie und er seit diesem unvorstellbaren Ereignis schon ein ganzes Leben gelebt. Buc-ee's zu betreten verstärkte dieses Gefühl der Zeitverschiebung. Mit dem schummrigen Licht und den dunklen Ecken wirkte der Ort, als hätten ihn die Menschen in einer anderen Epoche aufgegeben.

Der saure Geruch von verderbenden Lebensmitteln riss ihn aus seinen Gedanken. Die Theke links von ihm, auf der handgemachte Fleischsandwiches, Pommes, Kroketten und Frühstückstacos lagen, war die Quelle des fauligen Geruchs.

Jack wandte sich ab und ging zu den Regalen mit den abgepackten Snacks. Sie nahmen die halbe Länge des Ladens ein, und Jack wusste, wenn es in diesem Laden irgendwas Verwertbares gab, dann dort.

Er ging an umgestürzten Auslagen und kaputten Salsa-Gläsern vorbei. Als er in einen der Gänge einbog und das auf seinem AR-7 montierte Licht einschaltete, knirschten seine Stiefel über die Scherben. Der helle LED-Strahl fegte über die größtenteils leeren Regale. Eine teilweise zerdrückte Dose Kartoffelchips mit Cheddar-Geschmack lag ganz hinten auf einem mittleren Regalbrett zu seiner Rechten auf der Seite. Jack ging in die Hocke. Er sah sich um und legte das Gewehr auf den Boden, bevor er den Rucksack abstreifte.

Sein T-Shirt klebte schweißnass an seinem Rücken. Jack fasste hin, zog den Stoff von der Haut und öffnete anschließend den Reißverschluss des Rucksacks. Er nahm die Dose und legte sie unten hinein.

Er blieb unten und lauschte auf Geräusche, während er mit dem Gewehr-LED nach weiteren Lebensmitteln suchte. Das belastete seinen unteren Rücken, hielt ihn aber aus der Sichtlinie potenzieller Feinde heraus. So bewegte er sich einen Gang hinauf und einen anderen hinunter, bis er die Seite des Geschäfts erreicht hatte. Seine Bemühungen brachten ihm zwei Tüten mit honiggerösteten Sesamstangen, eine Packung trompetenförmiger Maissnacks und eine Rolle SweeTarts ein. Außerdem fand er eine halb leere Tüte mit ungeschälten Pistazien und drei Einzelpackungen gezuckerte Haferflocken. Es war nicht viel, aber immerhin etwas.

Jack stand auf. Seine Knie und sein unterer Rücken schmerzten, aber er eilte an der Seite des Ladens entlang, um zwei weitere Kassen herum und zu der Glaswand mit den vom Boden bis zur Decke reichenden Getränkekühlschränken.

Die Kühlschränke säumten die Rückwand des Gebäudes. Jack hielt sich an ihnen, während er weiterging, und überprüfte jeden Einzelnen auf übrig gebliebene Getränke. Er fand zwei Dosen Bier, das nicht nur zum Trinken gut war, eine Flasche aromatisiertes Sprudelwasser und drei kleine Packungen Vollmilch. Die Milch könnten sie vielleicht zum Backen verwenden, sobald sie in ihrem Haus in Hill Country angekommen waren.

Jack erreichte den gemeinsamen Eingang zu den Toiletten. Die Damentoiletten lagen links, die Herrentoiletten rechts. Der üble Geruch von verfaultem Fleisch wurde stärker. Gleichzeitig lag noch ein anderer widerlicher Geruch in der Luft. Jack kam er bekannt vor, aber er konnte ihn nicht zuordnen. Er brachte ihn beinahe zum Würgen. Er zögerte am Eingang und drehte den Kopf nach links, um die durch den Geruch ausgelöste aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Dort entdeckte er die Goldgrube.

Entlang der Wand, vorbei an den Toiletten und der Kaffeetheke, hingen Säcke mit Dörrfleisch von Haken. Jack eilte hin, hochkonzentriert und mit Tunnelblick. Er lehnte das Gewehr an die Wand, zog den Rucksack ab und begann, ihn mit dem Dörrfleisch zu füllen. Das meiste davon war so gewürzt oder aromatisiert, dass es normalerweise nicht so beliebt war, aber das dehydrierte, gesalzene Fleisch war ein Lebensretter.

Sie hatten zwar genügend Vorräte für ihre voraussichtlich acht- bis neuntägige Reise dabei, aber das Dörrfleisch war ein leichter und proteinreicher Mahlzeitenersatz. Es war reich an Nährstoffen und würde ihnen die dringend benötigte Energie für den Rest der langen Reise liefern. Ganz abgesehen davon, dass die versiegelten Beutel ein bis zwei Jahre haltbar waren.

Von seinem Glück überwältigt stopfte Jack einen Beutel nach dem anderen in den Rucksack. Das letzte Buc-ee's, an dem sie Halt gemacht hatten, hatte nichts von Wert zu bieten gehabt. Er griff nach dem letzten Beutel, einer Putenvariante mit Jalapeño-Geschmack, als eine leise Stimme ihn mit über den Kopf ausgestrecktem Arm erstarren ließ.

»Auf die Knie.«

Jack begann, sich umzudrehen. Ein Stoß in den Rücken schob ihn gegen die Wand. Einer der Dörrfleischhaken stach ihm in die Rippen.

»Nicht umdrehen. Geh einfach auf die Knie.«

Die Stimme gehörte einem Mann. Sie war rau und klang, als hätte er Schleifpapier über die Stimmbänder gezogen. Jack gehorchte nicht. Langsam hob er die andere Hand, die den offenen Rucksack festhielt.

»Was wollen Sie?«, fragte Jack.

»Ich will, dass du dich hinkniest.«

»Das mache ich nicht«, sagte Jack. »Nicht, so lange Sie mir nicht sagen, was Sie wollen.«

Jack warf einen verstohlenen Blick auf sein Gewehr. Er hatte das Licht ausgeschaltet, und die Waffe lehnte beinahe wie getarnt an der Lamellenwand. Sie war außer Reichweite.

»Du hast keine große Wahl.«

Jack hörte das Klicken einer halbautomatischen Pistole, als eine Patrone in die Kammer geladen wurde. Der Mann drückte ihm den Lauf in den Rücken, direkt an die Wirbelsäule.

»Kann ich meinen Rucksack auf den Boden stellen?«

»Langsam.«

Jack gehorchte. Er senkte die Arme und stellte den offenen Rucksack neben sich auf den Boden.

»Jetzt gehen auf die Knie. Ich werde dir ein paar Fragen stellen. Ich will die Wahrheit hören.«

»Warum …«

Der Mann brüllte: »Tu es!«

Jack ging zunächst auf ein Knie, dann aufs zweite. Der harte Boden unter seinen Kniescheiben machte es ihm schwer, sich aufrecht zu halten.

Der Mann richtete den Lauf auf Jacks Oberkopf. »Wie viele andere? Lüg mich nicht an. Wenn ich glaube, dass du lügst, jage ich dir eine Kugel in den Kopf.«

»Wie viele andere was?«

»Personen, du Idiot. Wie viele andere Personen sind bei dir?«

»Ich bin allein.«

»Allein?«

»Allein.«

»Das kaufe ich dir nicht ab«, sagte der Mann. »Lüg mich nicht an. Das nimmt kein gutes Ende für dich. Niemand ist so dumm, allein zu reisen. Da draußen ist es zu gefährlich geworden. Die Welt ist am Ar–«

»Sind Sie denn allein?«, fragte Jack.

»Ich stelle hier die Fragen«, knurrte der Mann mit einem deutlichen texanischen Akzent. »Wen hast du noch dabei?«

»Sehen Sie noch jemanden?«

Jack wappnete sich, rechnete fast damit, dass der Mann ihn für seine Unverschämtheit mit der Pistole schlagen oder ihn erschießen würde. Andererseits dachte er, wenn der Mann ihn töten wollte, hätte er es wohl schon längst getan. Mörder töteten. Sie zögerten nicht und führten keine Gespräche. Das zumindest redete Jack sich ein, während er seine Lage beklagte.

»Wie bist du hierher gekommen?«

»Zu Fuß.«

»Von wo?«

Jacks Ungeduld überwog seine Angst. »Hören Sie, Mann, sagen Sie mir einfach, was Sie wollen, und lassen Sie mich weiterziehen.«

»Erstens will ich, dass du verschwindest. Dieser Ort gehört mir. Mir allein.«

»Okay«, sagte Jack. »Das ist kein Problem. Lassen Sie mich aufstehen, meine Sachen nehmen und …«

»Nein, den Rucksack lässt du hier. Du hast ihn mit meinen Sachen vollgepackt.«

Jack schloss die Augen. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine Knie. Er hielt es nicht länger aus, sie zu belasten.

»Deshalb glaube ich«, sagte der Mann, »dass du mit einem leeren Rucksack hergekommen bist. Wo sind deine anderen Sachen?«

Der Mann tippte Jacks Hinterkopf mit dem Lauf der Waffe an. Er schnalzte mit der Zunge wie ein enttäuschtes Elternteil.

Jack zog am Rucksackriemen, den er noch in der Hand hielt. »Das ist alles. Mehr habe ich nicht.«

»Ich glaube dir nicht. Aufstehen.«

Jack rührte sich nicht von der Stelle.

»Steh …«

Jack drehte sich um und schwang den schweren Rucksack. Die ungelenke Bewegung erzeugte nur wenig Wucht, aber sie genügte, um den Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er stolperte seitwärts. Jack ließ den Rucksack los, stürzte sich auf den Mann und riss ihn zu Boden.

Sie prallten gegen die Seite eines Regals mit Kaffeezubehör. Die Pistole des Mannes rutschte über den Boden. Er war größer, als Jack angenommen hatte, und als Jack sich zu lösen versuchte, packte der Mann einen seiner Arme und verdrehte ihn. Er schlang den Unterarm um Jacks Brust und drückte zu.

Jack wehrte sich gegen den stärkeren, größeren Mann. Er trat und schlug um sich, konnte sich aber nicht befreien. Der Mann grunzte. Sein übelriechender, heißer Atem strömte über Jacks Hals.

Sie rollten in ein anderes Regal, das umkippte. Eine schwere Metallkiste fiel dem Mann auf die Schulter. Er schrie auf. Das verschaffte Jack einen winzigen Moment, um sich zu entfernen, aber der Mann erwischte seinen Knöchel. Jack trat wieder zu und traf ihn mit dem Stiefelabsatz. Er rappelte sich auf. Sein Schwung trug ihn zu weit vorwärts, und er knallte mit der Schulter gegen die Wand, an der er das Dörrfleisch gefunden hatte.

Dort hatte er auch sein Gewehr zurückgelassen. Jack griff danach, umfasste den langen Lauf und eilte in die völlige Dunkelheit der Damentoilette.

Der Gestank war überwältigend, und Jack würgte. In seinem Kopf drehte sich alles, und die Dunkelheit erschwerte ihm die Orientierung. Er überlegte, die LED am Gewehr einzuschalten, entschied sich aber dagegen. Sich zu verstecken war wichtiger.

Jack fand eine Wand und tastete sich mit leisen Schritten, um nicht entdeckt zu werden, daran entlang. Er atmete flach durch den offenen Mund, um kein Geräusch zu machen, und blieb stehen, als er auf einige Waschbecken stieß. Jack betastete das glatte Porzellan mit einer Hand und folgte dem Becken bis zum Rand. Als der Angreifer das Badezimmer betrat, duckte er sich unter die Waschbecken und wich den freiliegenden Röhrensiphons aus.

»Es hätte nicht so kommen müssen«, knurrte der Angreifer. »Du hättest mir nur die Wahrheit sagen müssen, dann hättest du dich wichtigeren Dingen zuwenden können. Du bist wie alle anderen. Du hast gelogen. Jetzt kommst du hier nie mehr raus. Du wirst hier sterben.«

Seine Stimme hallte von den Fliesen und dem Porzellan wider. Er machte behutsame Schritte.

Jack hielt den Mund offen und atmete so langsam wie möglich. Sein Herz hämmerte wild gegen seinen Brustkorb. Obwohl sein Finger am Gewehrabzug lag, widerstand er dem Drang, wahllos in die Dunkelheit zu schießen.

Eine Toilettentür flog auf und knallte gegen die Kabinenwand. Jack erschrak und stieß sich die Schulter am Chromrohr neben sich an. Der Zusammenstoß hätte beinahe seine Position verraten, wäre nicht unmittelbar nach dem Öffnen der Tür ein Schuss gefallen.

Er war unfassbar laut. Jacks Ohren klingelten. Der Mann musste seine Pistole vom Boden vor den Waschräumen aufgehoben haben. Jack versuchte, sich an Marke und Modell zu erinnern. Es gelang ihm nicht, und er hatte keine Ahnung, wie viele Kugeln der Kerl im Magazin haben mochte.

9-mm-Pistolen fassten zwischen sechs und zwanzig Patronen. Fünfzehn waren üblich. Das Magazin seiner Glock hatte diese Kapazität. Seine Pistole, die draußen bei seiner Familie war, fasste dank eines verlängerten Magazinkastens allerdings bis zu fünfunddreißig Patronen.

Die Pistole, die er dem Mann entrissen hatte, hatte kein verlängertes Magazin. Trotzdem musste er davon ausgehen, dass die Waffe mindestens fünfzehn Schuss fasste. All das überdachte er innerhalb von zwei Sekunden und kam zu dem Schluss, dass der Mann noch vierzehn Kugeln hatte.

»Und ich hörte etwas wie eine Stimme mitten unter den vier Wesen sagen: Ein Maß Weizen für einen Silbergroschen und drei Maß Gerste für einen Silbergroschen; aber dem Öl und Wein tu keinen Schaden!«

Jack erkannte den Vers als biblisch, konnte ihn aber nicht zuordnen. Obwohl er ein gläubiger Mensch war, zitierte er nie aus der Heiligen Schrift.

»Offenbarung 6:6«, sagte der Mann. »Bist du bereit, Lügner? Bist du auf das Kommende vorbereitet? Ich habe die Zeichen gesehen. Ich bin bereit.«

Ein weiteres Türenknallen, gefolgt von einem weiteren Schuss. Wieder zuckte Jack zusammen. Es war wie eine Szene aus einem spannenden Thriller, nur im Dunkeln und während des Weltuntergangs. Jack sperrte den Mund weit auf, um die Ohren freizubekommen. Dreizehn Kugeln übrig.

»Und als es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Wesens sagen: Komm!«

Peng. Noch ein Schuss. Zwölf.

Jack versuchte, seine genaue Position zu bestimmen, aber die Echos erschwerten das. Wenn er sicher sein könnte, dass der Mann ihm den Rücken zuwandte, könnte er das Licht seines Gewehrs einschalten und ihn erledigen, bevor er ihn ausfindig machte und auf ihn schoss.

Peng. Noch ein Schuss. Elf. Wie viele Kabinen gab es, und wie lange würde es dauern, bis sich der Mann den Waschbecken zuwandte?

»Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen Name war: der Tod, und die Hölle zog mit ihm einher. Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit Schwert und Hunger und Tod und durch die wilden Tiere auf Erden.«

Jack änderte seine Meinung. Das war kein Thriller. Es war ein Horrorfilm.

Peng. Zehn Schüsse übrig.

»Und die Könige auf Erden und die Großen und die Obersten und die Reichen und die Gewaltigen und alle Sklaven und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen der Berge.«

Jacks unterer Rücken krampfte sich zusammen, und er verlagerte sein Körpergewicht. Dabei spürte er etwas links neben sich. Es war schwer und solide, gab aber unter seiner Hüfte nach, als er sich bewegte. Er hielt das Gewehr mit der rechten Hand in Position und streckte die linke aus.

»Wer bist du, der sich versteckt?«, rief der Mann. »Bist du ein Oberster? Bist du reich? Bist du gewaltig?«

Peng. Neun Schüsse übrig.

Jack spürte etwas Kaltes, aber Vertrautes unter den Fingerspitzen. Zunächst konnte er es nicht zuordnen. Dann berührte er Haarsträhnen. Lange Haarsträhnen, die über die Rundung eines Ohrs fielen.

Er unterdrückte ein Keuchen und riss die Hand zurück. Dabei verlor er das Gleichgewicht. Er fiel auf den rechten Ellbogen. Diesmal konnte er das Geräusch nicht verbergen.

»Da bist du ja«, sagte der Mann. »Da bist du endlich.«

Jack schluckte die Galle hinunter, die ihm in die Kehle gestiegen war. Die Mischung aus fauligem Gestank, Anspannung und der Enthüllung neben ihm war beinahe zu viel für ihn. Er fasste sich wieder und drückte sich mit dem Rücken an die Wand unter dem Waschbecken. Dann bewegte sich erneut, setzte sich auf den Hintern, zog die Knie an und richtete das Gewehr zwischen den Beinen hindurch nach vorne. Sein Finger fand den Abzug wieder.

Der Mann kam näher. Jack hörte ihn. Er schlug etwas auf den Waschtisch über ihm. War es seine Faust? Was es auch war, der Mann schlug rhythmisch, während er sich näherte. Schweiß brannte in Jacks Augen. Er blinzelte ihn weg und richtete das Gewehr nach links auf den Mann.

Er konnte kaum zwei Meter von ihm entfernt sein, aber in der Dunkelheit konnte Jack ihn nicht sehen. Er war doch links von ihm. Oder rechts?