Kristallschnee - Svea Lundberg - E-Book

Kristallschnee E-Book

Svea Lundberg

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Beschreibung

Bei einem nächtlichen Polizeieinsatz trifft Streifenpolizist Jannis auf den Jugendamtsmitarbeiter Felix. Zwischen den beiden Männern funkt es heftig, doch Felix ist zunächst nicht bereit, sich auf eine Beziehung einzulassen. Außerdem lässt Jannis der Fall der kleinen Amelia keine Ruhe, die er vor ihrem gewalttätigen Vater schützen musste. Während Felix versucht, das kleine Mädchen in einer Pflegefamilie unterzubringen, geraten beide Männer in einen Drogensumpf ungeahnten Ausmaßes. Und plötzlich ist ihre wackelige Beziehung für Felix überlebenswichtig …

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Svea Lundberg

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com/

Bildrechte:

© Stefano Cavoretto – shutterstock.com

© byheaven – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-945934-66-1

ISBN 978-3-945934-67-8 (epub)

Inhalt:

Bei einem nächtlichen Polizeieinsatz trifft Streifenpolizist Jannis auf den Jugendamtsmitarbeiter Felix. Zwischen den beiden Männern funkt es heftig, doch Felix ist zunächst nicht bereit, sich auf eine Beziehung einzulassen. Außerdem lässt Jannis der Fall der kleinen Amelia keine Ruhe, die er vor ihrem gewalttätigen Vater schützen musste. Während Felix versucht, das kleine Mädchen in einer Pflegefamilie unterzubringen, geraten beide Männer in einen Drogensumpf ungeahnten Ausmaßes. Und plötzlich ist ihre wackelige Beziehung für Felix überlebenswichtig …

Kapitel 1 - Jannis 

»Da steht also dieser komplett abgefuckte Kerl neben mir, schielt mich an und fragt, ob ich Dope für ihn dabeihätte. Der hat einfach nicht geschnallt, dass ich von der Polizei bin.«

Das tiefe Lachen meines Streifenpartners übertönte beinahe meine letzten Worte. »Nicht dein Ernst, Jannis. Du warst doch in Uniform, oder?«

»Klar, aber – «

Das Piepsen des Funkgeräts unterbrach unseren Wortwechsel. Neben mir brummte Klaus etwas Unverständliches. Vermutlich hatte er sich bereits auf sein Feierabendbier eingestellt.

»Stuttgart 1/284 von Stuttgart 1/25 kommen.«

Noch immer grinsend nahm ich den Funkspruch entgegen. »Stuttgart 1/284 hört.«

»Sind Sie gerade im Einsatz?« Die Stimme des Wachhabenden erklang gepresst durch den Lautsprecher.

»Nein, wir sind frei«, gab ich zur Antwort. »Befinden uns nahe Uhlandshöhe.«

»Fahren Sie mal in die Schellbergstraße. Eine Anwohnerin meldet Randale in der Nachbarwohnung. Dort lebt ein alleinerziehender Vater mit seiner kleinen Tochter. Die Dame macht sich Sorgen um das Mädchen.«

Seufzend warf ich Klaus einen vielsagenden Blick zu. Häusliche Gewalt gegen eine Schutzbefohlene. Das hatte uns gerade noch gefehlt, so kurz vor Feierabend.

»Okay, wir schauen vorbei.«

Der Kollege nannte mir die Hausnummer und den Namen der Anruferin.

»1/284 verstanden.«

Klaus schaltete bereits das Blaulicht ein und trat das Gaspedal durch. Schweigend fuhren wir durch das abendliche Stuttgarter Ostviertel. Ich starrte aus dem beschlagenen Fenster zu meiner Rechten und sah die Straßenlaternen an uns vorbeihuschen. Draußen hatte es vor gut einer Stunde wieder zu schneien begonnen. Bei unserem Glück und Klaus’ Fahrstil würde diese Einsatzfahrt noch mit einem Totalschaden enden. Nicht, dass er wie ein Irrer durch die Gegend raste, aber 80km/h in der 50er-Zone waren schon eine Hausnummer. Immerhin bedeutete das Blaulicht keinen Freifahrtschein zur unbedachten Raserei, schon gar nicht bei Schneematsch auf der Fahrbahn.

Ich warf einen Blick auf meinen gut zwanzig Jahre älteren Kollegen neben mir. Wie immer, wenn Klaus bei einem Einsatz hinter dem Steuer saß, hatte sich eine tiefe Falte auf seiner Stirn gebildet. Gleichzeitig spielte ein kaum merkliches Grinsen um seine Lippen. Er wirkte beinahe wie ein kleiner Junge, dem die Eltern endlich erlaubt hatten, auf der Kirmes den Autoscooter auszuprobieren. Nur dass unsere Einsatzfahrten in den seltensten Fällen ähnlich amüsant waren wie ein Rummelbesuch.

Wenige Minuten später hielten wir vor einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne sah ich eine ältere Dame in der Haustür stehen.

»Frau Maier?«, sprach ich sie an, während ich mich umständlich aus dem Streifenwagen hievte. Das vollgepackte Holster vertrug sich einfach nicht mit dem vergleichsweise niedrigen Einstieg der E-Klasse.

»Gut, dass Sie da sind, Herr Wachtmeister.«

Ich verkniff mir ein Grinsen. Erst kürzlich hatten einige Kollegen Wetten darüber abgeschlossen, wie oft man in einer Schicht als »Wachtmeister« angesprochen wurde.

Die Dame streckte mir die Hand entgegen. Sie wirkte aufgeregt. Rote Flecken hatten sich auf ihren Wangen gebildet, aber vielleicht rührten diese auch von der Kälte her.

»So oft habe ich mir schon gedacht, dass der Herr Krawczyk seine Tochter schlägt«, sprudelte es aus der Frau heraus. »Aber die Nachbarn wollten mir ja nicht glauben.«

Hinter mir stieß Klaus ein missbilligendes Brummen aus. ›Ja, ja, immer erst bei den Nachbarn beschweren‹, schien es zu sagen.

»Jetzt mal ganz langsam, Frau Maier. Als Sie auf dem Revier angerufen haben, sagten Sie, der Herr – « Ich war noch nie besonders gut darin gewesen, mir Namen zu merken. »Sie meinten, in der Nachbarwohnung wäre es ungewöhnlich laut.«

Mit einem Ohr lauschte ich in die Nacht und tatsächlich schien es in der Wohnung schräg über unserem Standpunkt lauter zuzugehen, als es für einen Dienstagabend normal gewesen wäre.

»Ja, der Herr Krawczyk hat sicher wieder getrunken. Seit einer halben Stunde schon randaliert er in seiner Wohnung. Und die kleine Amelia ist da drin. Bitte –« Sie schielte auf das Namensschild an meiner Uniform. »Herr Wiesner, Sie müssen da mal nachschauen.«

»Das machen wir.« Ich schob die Dame sanft, aber bestimmt vor mir her in den Hausflur. »Gehen Sie bitte in Ihre Wohnung, Frau Maier.«

Ich erwartete Widerworte, doch sie schwieg und führte uns durch einen kahlen Flur in den dritten Stock. Über die Schulter warf ich einen Blick zu Klaus. Seine Miene war verkniffen und ich verstand ihn nur zu gut. Wenn Kinder in einen Fall involviert waren, belastete das auch den erfahrensten Beamten.

Noch einmal bedeutete ich Frau Maier, sich in ihre Wohnung zurückzuziehen. Sie tat es, doch ich hätte schwören können, dass sie hinter der Tür stehen blieb und am Spion klebte, um nichts zu verpassen.

Mein Kollege hatte inzwischen an der gegenüberliegenden Tür geklopft. Nichts regte sich – oder eher: Niemand beachtete das Klopfen. Von drinnen hörten wir Poltern und Schreie. Die aufgebrachte Stimme eines Mannes, aber kein Kinderweinen.

»Sag mal, zerlegt der sein Mobiliar?«, brummte Klaus und lauter rief er: »Polizei, öffnen Sie die Tür!«

Nichts. Nur ein Krachen, als schleudere jemand voller Wucht Möbelstücke gegen die Wand. Ich streifte mir sicherheitshalber meine Einsatzhandschuhe über. Noch einmal versuchte mein Kollege lautstark, auf uns aufmerksam zu machen. Keine Reaktion. Ein heller Schrei übertönte den Lärm aus der Wohnung. Die kindliche Stimme ließ meinen ohnehin schon erhöhten Puls nach oben schießen. Mein Blick flog über den Türrahmen.

»Mir reicht’s! Geh mal zur Seite.«

Die Tür gab schon beim ersten Tritt etwas nach. Ein Hoch auf Stuttgarts Altbauten! Zwei, drei weitere gezielte Tritte auf dieselbe Stelle und ich hatte freie Sicht auf einen über die Maßen verdreckten Flur. Die Hand auf dem Holster tastete ich mich im diffusen Licht einer einzelnen Glühbirne über haufenweise dreckige Wäsche und alte Pizzakartons.

»Herr Krawczyk, hier ist die Polizei!«, rief Klaus in den Flur hinein.

Einen kurzen Moment herrschte Stille. Mein eigener Herzschlag hallte mir in den Ohren. Stille war nur selten ein gutes Zeichen. Ich spähte zu meiner Rechten in ein versifftes Badezimmer. Aus dem Augenwinkel sah ich Klaus, der, statt mir direkt zu folgen, den Kopf in ein anderes Zimmer streckte.

»Was habt ihr scheiß Bullen in meiner Wohnung zu suchen?«

Na, guten Tag erst mal! Hinter mir hörte ich Klaus verärgert schnaufen.

»Sie sind ein wenig laut, Herr Krawczyk. Kommen Sie mal mit erhobenen Händen in den Flur.«

»Einen Dreck komm ich in den Flur!«

Gut, dann kommen wir eben zu Ihnen. Am anderen Ende des Ganges wurde eine angelehnte Tür aufgerissen. Im Schummerlicht zeichneten sich die Umrisse eines hochgewachsenen, schlaksigen Mannes ab. Er schwankte bedenklich. In der Rechten hielt er etwas, das einmal ein Stuhl gewesen sein musste. Ich wollte ihm eine neuerliche Warnung zurufen, doch da flog das demolierte Möbelstück bereits in unsere Richtung.

»Herr Krawczyk, jetzt ist es aber mal gut!« Klaus’ Stimme donnerte durch den Flur. Ich hätte es ja etwas drastischer ausgedrückt. »Beruhigen Sie sich! Wir – «

»Drecksbullenschweine!« Der Mann bückte sich, suchte offenbar nach etwas Handfesterem. Meine Hände ballten sich ohne mein Zutun zu Fäusten. Mein Herz wummerte heftig gegen meinen Brustkorb.

Wozu jahrelang Abwehr- und Zugriffstechniken gelernt? Drei rasche Schritte und ich war bei ihm. Mit der Rechten hielt ich den Kerl an der Schulter fest, streckte ihm mit der Linken den Arm durch. Der Druck auf die Schulter ließ ihn nach vorne taumeln. Ich erhielt kaum Gegenwehr. Hätte auch anders ausgehen können, schoss es mir durch den Kopf. Ich drückte ihn bäuchlings auf den Boden. Er stank nach Alkohol, vielleicht stand er auch unter Drogen. Nicht selten entwickelten Menschen in diesem Zustand ungeahnte Kräfte, wogegen ihr Schmerzempfinden gegen den Nullpunkt sank.

Ich fixierte den linken Arm des Mannes auf dessen Rücken. Mit dem rechten Knie hielt ich ihn am Boden.

»Geben Sie den anderen Arm her.«

»Kurwa! Lass mich – «

»Ruhe! Den Arm!«

Ein Schwall an osteuropäischen sowie deutschen Schimpfwörtern schwappte mir entgegen. Ein gezielter Druck auf den Schmerzpunkt unter dem Ohr brachte den Kerl dazu, aufzujaulen. Der Körper erschlaffte unter mir, sodass ich ihm den Arm auf den Rücken drehen konnte. Klaus reichte mir die Handschellen.

»Haben wir uns jetzt beruhigt?«, knurrte ich und zerrte den Mann in eine sitzende Position hoch.

Schweigen.

Ich drückte den Kerl mit dem Rücken gegen die Wand. Ein einziger Blick bestärkte meine Vermutung bezüglich seines Wahrnehmungszustandes. Inmitten von roten Rändern lagen so stark geweitete Pupillen, dass der Farbton der Augen im Schummerlicht nicht zu erkennen war.

»Sitzenbleiben«, kommandierte ich, wagte es jedoch nicht, mich zu entfernen. Ich riskierte einen Blick an ihm vorbei in die vollkommen demolierte Küche. Zerschlagenes Geschirr lag zwischen zusammengetretenen Stühlen. Klaus ging neben dem Küchentisch in die Hocke. Da erst sah ich das Mädchen, das darunter kauerte. Sie hielt einen Plüschteddy umklammert und sah aus großen Augen zu Klaus auf. Der streckte ihr eine Hand entgegen. Ich verstand nicht, was er zu der Kleinen sagte, da der Kerl neben mir schon wieder zu pöbeln begann.

»Lasst meine Tochter in Ruhe! Ich schwöre, wenn einer von euch Bullen meine Kleine anrührt, dann –«

»Jetzt halten Sie mal die Luft an! Offenbar versteckt sich Ihre Tochter wegen Ihnen unter dem Tisch, also seien Sie mal einen Moment ruhig!«

Auf Klaus’ gutes Zureden hin krabbelte das Mädchen aus seinem Versteck hervor. Offenbar fand sie Männer in Uniform weitaus weniger beängstigend als ihren eigenen Vater. Sie ergriff Klaus’ Hand und ließ sich von ihm an uns vorbeiführen.

»Vielleicht kann Frau Maier kurz auf sie aufpassen.« Ich bedeutete meinem Kollegen, das Kind schnellstmöglich aus der Wohnung zu bringen.

»Ihr bringt meine Tochter nicht zu dieser Schnepfe! Ich werde – «

»Sie werden sich jetzt beruhigen.« Ich erhob mich und versuchte, die Verwünschungen und Beleidigungen zu ignorieren, die mir der Mann an den Kopf warf. Sein Verhalten war für mich schließlich nichts Ungewöhnliches. Dennoch zerrte ich ihn ein wenig gröber, als es vielleicht notwendig gewesen wäre, auf die Füße.

»Wir gehen jetzt zum Streifenwagen. Sie begleiten uns aufs Revier.«

»Einen Scheiß werd ich!« Sein verbaler Ausbruch war heftiger als die halbherzigen Versuche, sich gegen meinen Griff zu wehren. Offenbar bewirkte der vermutete Mix aus Alkohol und Drogen bei ihm keine Kraftzunahme.

»Amelia! Der Teddy!«

Mein Blick sprang zwischen dem Mädchen und ihrem Vater hin und her. Sie hatte den Teddy doch bei sich. Hielt das Stofftier, das einen knallroten Rucksack auf dem Rücken trug, fest an sich gepresst, während Klaus sie behutsam aus der Wohnung schob.

Der Mann versuchte erneut, sich loszureißen, doch als seine Tochter aus unserem Blickfeld verschwunden war, gab er plötzlich nach. Mit einem Mal stand er neben mir wie ein Häuflein Elend. Den Blick gesenkt, die Schultern nach vorne gezogen. Ich wartete einen Moment, bis ich hörte, dass Frau Maier Klaus und Amelia in Empfang nahm und die Tür der Nachbarwohnung ins Schloss fiel.

»Kommen Sie. Wir gehen zum Auto.«

Der Mann schien sich in sein Schicksal zu ergeben. Klaglos ließ er sich von mir nach draußen führen. Vielleicht ahnte er, was nun folgen würde. Sollte er seine Tochter nicht angerührt haben, hatte er kaum etwas zu befürchten. Weder Alkohol- noch Drogenkonsum waren strafbar, auch nicht das Zerlegen des eigenen Mobiliars.

Ungewollt grub ich die Finger tiefer in das zerschlissene Hemd des Mannes. Wenn seine Tochter keine Anzeichen von Misshandlung oder Vernachlässigung aufwies, würde er das Kind vermutlich in wenigen Tagen wieder unter seine Fittiche nehmen können. Auch wenn ich dabei kein gutes Gefühl hatte, stand es nicht in meiner Macht, darüber zu entscheiden. Das konnte nur das Jugendamt, doch allein die Vorstellung, Amelia wieder in seiner Nähe zu wissen, ließ mich hart die Luft ausstoßen.

»Kopf einziehen und rein da.« Ich bugsierte den Mann auf die Rückbank des Streifenwagens und knallte die Autotür zu. Schwer ausatmend lehnte ich mich dagegen und starrte in die schwach erleuchtete Dunkelheit. Kleine Schneeflocken tanzten im Lichtkegel einer Straßenlaterne. Ein viel zu friedlicher Anblick für einen solchen Abend. Ich lauschte auf das rasche Wummern meines Herzens, zwang mich dazu, ruhig und gleichmäßig zu atmen.

Ich schielte in den Wagen hinein. Sollte Krawczyk sein Kind nicht misshandelt haben, waren Anzeigen wegen Beleidigung und Ruhestörung sowie ein vom Jugendamt angeordneter Drogentest das Einzige, was ihm drohte. Letzterer würde ihm unter Umständen noch die meisten Schwierigkeiten machen. Ich wusste nicht, ob ich hoffen sollte, dass der Test meine Vermutungen über einen möglichen Konsum widerlegte und er seine Tochter wiederbekam. Oder ob es nicht besser wäre, man würde ihm das Sorgerecht entziehen – wenn er überhaupt der Erziehungsberechtigte war. Man wusste ja nie …

Kurze Zeit später trat Klaus ins Freie. Er hielt sein Handy am Ohr und murmelte irgendeine Zustimmung hinein, ehe er es zurück in seine Tasche steckte.

»Ich habe schon mit dem Jugendamt telefoniert. Das Mädel hat Glück im Unglück, wir müssen sie nicht ins Heim bringen. Ein Vertreter hatte gerade einen Kontrollbesuch in der Nähe und kommt gleich vorbei, um Amelia abzuholen.« Er warf einen prüfenden Blick in den Streifenwagen. »Hast du ihn schon durchs System gelassen?«

Ertappt grinste ich meinen Kollegen an.

»Ich übernehme das«, brummte Klaus und kletterte ins Auto. Er war einfach eine gute Seele.

Das leise Summen meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Ich streifte meine Handschuhe ab und kramte das Gerät aus der Jackentasche. Eine Erinnerung blinkte auf dem Display – Tabletten Pablo. Der Gedanke an meinen Stafford Terrier ließ mich wehmütig lächeln. Pablo hatte sich beim Spazierengehen eine Scherbe in die Pfote getreten und musste seit drei Tagen Antibiotika schlucken. Nur zur Vorsicht, aber mein Hund verabscheute jegliche Art von Medikamenten und fraß momentan aus Protest nur Leberwursthäppchen.

»Entschuldigung?«

Eine fremde Stimme neben mir ließ mich zusammenzucken. Wo war ich nur mit meinen Gedanken?

»Felix Kulmbach.« Ein dunkelblonder Mann Ende zwanzig streckte mir eine Hand entgegen. »Hat meine Kollegin mit Ihnen telefoniert?«

Aha, der Typ vom Jugendamt. Das nannte ich mal einen Zufall, dass er so schnell vor Ort sein konnte. Noch dazu hatte er sicher schon längst Feierabend. Ich ergriff die mir dargebotene Hand.

»Nein«, beeilte ich mich zu antworten. »Mit meinem Kollegen, Herrn Weber. Sie kommen, um Amelia abzuholen?«

Er nickte. »So wurde es mir gesagt. Wir werden sie zumindest vorerst in Obhut nehmen.«

Kam es mir nur so vor, oder drückte dieser Felix meine Hand ein wenig zu lange? Seine Augen saugten sich förmlich an meinen fest. Im Laternenlicht schimmerten sie dunkelgrün.

»Gut.« Ich räusperte mich. »Sie ist bei der Nachbarin, Frau Maier. Ich bringe Sie hin.«

Mit einem Klopfen gegen die Autoscheibe machte ich Klaus darauf aufmerksam, dass ich ihn kurz mit dem Randale-Vater allein ließ. Dann stapfte ich mit großen Schritten zum Haus hinüber. Nicht, dass ich es übermäßig eilig gehabt hätte, den Jugendamtsmitarbeiter zu Amelia zu bringen, doch mich machten seine Blicke im Rücken nervös. Meine Nerven waren heute offenbar nicht die besten.

Amelia saß bei Frau Maier auf dem Sofa und nippte an einer Tasse dampfendem Kakao. Ihre runden Kinderwangen hatten wieder etwas Farbe angenommen. Ihr Kuscheltier sah auf ihrem Schoß, als wolle es auch an der heißen Schokolade nippen.

Kulmbach ließ sich neben der Kleinen nieder und bewunderte ihren Teddy. Sie wirkte schüchtern, doch er schien recht schnell einen Draht zu ihr zu finden. Vielleicht lag es daran, dass er optisch der typische Sozialwuschel war. So eine Art Mann, dem das soziale Engagement quasi auf der Stirn geschrieben stand.

Darüber hinaus brauchte ich keine sonderlich feinen Antennen, um mir sicher zu sein, dass er schwul war. Ich seufzte. Jetzt wurde ich also auch noch sarkastisch. Nur weil ich mich nicht in enge Röhrenjeans quetschte und kein einziges rosafarbenes Kleidungsstück besaß, war es das gute Recht eines jeden anderen, sämtliche Klischees zu bedienen. Wenn ich ehrlich war, störte mich auch nicht sein Aussehen, sondern der Umstand, dass ich meinen Blick nicht von seinen sanft lächelnden Lippen wenden konnte. Oder wollte.

Innerlich murrend riss ich mich los und wandte mich an Frau Maier, die Amelia und Kulmbach mit Argusaugen beobachtete. Sie schien sich wirklich um das Wohl des Mädchens zu sorgen.

»Wir wären dann fertig«, ließ ich sie wissen. »Vielen Dank, dass Sie uns informiert haben.«

»Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Wo bringen Sie Amelia denn hin?« Obwohl die Frage an mich gerichtet war, wandte der Jugendamtsmitarbeiter sich zu ihr um. Sein Blick streifte dabei den meinen.

»Normalerweise müsste Amelia erst mal ins Jugendheim.« Er vergewisserte sich kurz, dass die Kleine in eine geflüsterte Unterhaltung mit ihrem Teddy vertieft war, ehe er weitersprach: »Aber wir haben zum Glück eine Familie, die Kinder auch kurzfristig für ein paar Tage aufnehmen kann, bis geklärt ist, wie es weitergeht.«

Frau Maier seufzte, schien aber beruhigt zu sein. Sie setzte sich neben Amelia auf das Sofa und wuschelte der Kleinen durchs Haar.

»Ich würde morgen auf dem Revier anrufen.« Kulmbach schaute mich fragend an. »Sind Sie im Dienst?«

»Ja, morgens und vormittags bis 13 Uhr. Es ist das Revier Ostendstraße. Sie haben die Durchwahl?«

»Hab ich im Büro. Bis dann.« Er wandte sich wieder dem Mädchen zu, das sich schutzsuchend an den Teddy kuschelte. Ich beobachtete die drei einen kurzen Moment, dann wandte ich mich um. Es wurde eindeutig Zeit für den Feierabend.

Kapitel 2 - Felix

Nach einer viel zu kurzen Nacht erwachte ich mit dröhnenden Kopfschmerzen. Stöhnend vergrub ich das Gesicht im Kissen. Das linderte jedoch weder das Hämmern in meinem Schädel noch dämpfte es das schrille Klingeln des Smartphones. Blind tastete ich nach dem Gerät und stellte es auf Snooze. Normalerweise kam ich unter der Woche gut aus dem Bett, aber heute brauchte ich die fünf Minuten bis zum nächsten Klingeln, um wach zu werden. Ich erinnerte mich schemenhaft an einen Traum, in dem ein Mann in Uniform eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Dazwischen tauchten immer wieder Amelias große blaue Augen auf.

Seufzend schälte ich mich beim erneuten Handyweckruf aus dem Bett. Janine hatte mir schon oft eingebläut, ich solle die Schicksale der Kinder und Jugendlichen, die wir betreuten, nicht so nahe an mich heranlassen. Leicht gesagt. Ich war nun mal kein solch ignoranter Holzklotz wie manch anderer Sachbearbeiter und deswegen würde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um die bestmöglichste Lösung für Amelia zu finden. Wie auch immer diese aussehen mochte …

In Gedanken versunken stolperte ich auf dem Flur beinahe in meine Mitbewohnerin hinein. Statt mich anzumaulen, grinste Anni mich unter ihrem Pony hinweg gut gelaunt an.

»Guten Morgen. Du bist spät dran heute.«

»Mmh«, brummte ich nur und schob mich an ihr vorbei ins Badezimmer. Vor dem ersten Blick in den Spiegel war ich nie besonders gesprächig. Anni folgte mir. Ihr Spiegelbild sah mich aus sanften, graublauen Augen durchdringend an.

»Was?«, grummelte ich ihr entgegen. »Kann man sich nicht mal in Ruhe die Zähne putzen?«

»Nein, nicht wenn du aussiehst, als hättest du die halbe Nacht nicht geschlafen.«

Ich stieß einen langen Seufzer aus. Meistens liebte ich Anni dafür, dass sie mir sofort ansah, wenn etwas nicht stimmte. Am heutigen Morgen hätte ich sie gerne dafür verflucht.

»Erzähl, was ist los? Stress auf der Arbeit?«

Schulterzuckend lehnte ich mich gegen das Waschbecken. »Sozusagen. Ich habe gestern nach Feierabend noch ein kleines Mädchen von ihrem Vater weggeholt.«

In Annis Augen trat der ehrlich mitfühlende Glanz, der mich immer tief berührte. Sie sagte nichts, also fuhr ich fort: »Ich habe sie erst mal zu den Meibachs gegeben. Du weißt schon, Daniela und Martin, unsere erste Anlaufstelle für solche Fälle. Wie auch immer … Ich muss gleich mal auf dem Polizeirevier anrufen, ob die irgendwelche Neuigkeiten haben, die für die Sorgerechtsprüfung relevant sein könnten.«

»Das heißt, die Kleine kann nicht zurück zu ihrem Vater? Was ist mit der Mutter?«

»Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht viel über das Mädchen. Sie war zwar recht zugänglich, aber ich wollte sie nicht gleich zu sehr ausfragen.«

Anni kam näher und umarmte mich lange und fest. »Du wirst schon das Richtige machen«, murmelte sie und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Wie immer.«

Sie blinzelte mir aufmunternd zu. »Orangensaft und Müsli stehen in der Küche. Ich muss los. Mach’s gut!«

»Hmm, danke.«

Anni verschwand aus dem Badezimmer und mir fiel auf, dass ich sie mal wieder zu unserem Lieblingsitaliener einladen sollte. Sie war einfach ein Engel, meine engste Vertraute. Wir kannten uns seit Sandkastentagen. Damals hatte ich oft auf die kleine Anna-Maria aus der Nachbarschaft aufpassen müssen. Ich grinste bei dem Gedanken, denn heute war es eher umgekehrt. Anni war die Vernünftigere von uns beiden.

In der Dusche fand ich einen ihrer BHs. Sie mochte besonnener sein, jedoch nicht ordentlicher. Keine Ahnung, weshalb man einen BH in der Dusche liegen ließ. Ich fischte das nasse Stück Stoff aus der Kabine und war versucht, es in ihren Zahnputzbecher zu stecken. Wann würde sie endlich lernen, Ordnung zu halten?

Der Anflug von Ärger verflüchtigte sich, als ich frisch geduscht und angezogen in die Küche tappte und dort ein liebevoll verziertes Müslischälchen vorfand. Anni hatte sich sogar die Mühe gemacht, frische Erdbeeren zu schneiden. Wo sie die mitten im Winter herbekommen hatte, war mir zwar schleierhaft, doch so genau wollte ich es auch gar nicht wissen.

Während des Frühstücks kreisten meine Gedanken unentwegt um Amelia und ich stellte mir im Kopf bereits eine Liste mit Punkten zusammen, um die ich mich kümmern musste: Polizei anrufen, danach eventuell den Familienrichter, den Vater überprüfen, nach der Mutter suchen.

Ich stürzte meinen Orangensaft hinunter und verließ beinahe fluchtartig die Wohnung. Mit einem Mal hatte ich es wahnsinnig eilig, zur Arbeit zu kommen.

~~~

Auf dem Jugendamt angekommen, fand ich das Büro verlassen vor. Ein prüfender Blick auf die Uhr zeigte mir, dass Janine erst in einer halben Stunde auftauchen würde. Normalerweise plauderten wir die ersten zehn Minuten bei einem Kaffee, ehe wir uns an die Arbeit machten. Heute war mir die Stille im Büro gerade recht. So konnte ich in aller Ruhe auf dem Polizeirevier anrufen.

Ob ich den Polizisten ans Telefon bekommen würde, der mich gestern zu Amelia gebracht hatte? Ich erinnerte mich gut – zu gut – an seine braunen Augen. Das leichte Zittern meiner Finger, während ich die Nummer wählte, schob ich auf den Umstand, dass mich Männer in Uniform schon immer nervös gemacht hatten. Nicht, dass mich alle Bahnschaffner einschüchterten, aber wenn jeder Polizist so gut aussehen würde wie der Kerl gestern …

»Hallo? Wer spricht denn da, bitte?«

Mit einem Mal saß ich kerzengerade auf meinem Bürostuhl. Hatte ich in Gedanken an diesen Polizisten tatsächlich überhört, dass am anderen Ende jemand in der Leitung war?

»Kulmbach.« Ich räusperte mich. »Hier ist Felix Kulmbach vom Jugendamt Stuttgart. Ich rufe wegen Herrn Krawczyk an, dem wir gestern die Tochter entzogen haben. Ich hätte hier ein Aktenzeichen.«

Ich nannte die Zahlenkombination und hörte den Wachhabenden auf einer Tastatur herumtippen.

»Sagen Sie, ist der Kollege Wiesner zufällig zu sprechen?«

»Wiesner? Hat er den Fall aufgenommen?«

Ich bejahte.

»Okay, Moment.« Der Telefonhörer wurde beiseitegelegt. »Hey Leute, ist Jannis gerade da?«

Ich lächelte unvermittelt. Jannis hieß er also.

»Herr Wiesner kommt gerade von der Streife rein«, erklärte mir der Polizeibeamte. »Sagen Sie mir Ihre Durchwahl, dann ruft er gleich zurück.«

Ein wenig verdutzt nannte ich meine Nummer. Dass Polizisten zurückriefen, kam nur in den seltensten Fällen vor. Sicher hätte mir auch der Kollege sagen können, was mit Amelias Vater geschehen war.

Ich hastete zur Kaffeemaschine und sah zu, wie die braune Flüssigkeit dampfend in den Becher gluckerte. Ungeduldig tippten meine Finger auf dem Tisch herum. Mein Blick huschte immer wieder zum Telefon. Es dauerte gute fünf Minuten, ehe das erlösende Klingeln ertönte. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und räusperte mich noch einmal.

»Jugendamt Stuttgart, Kulmbach am Apparat.«

»Wiesner, vom Polizeirevier fünf. Sie haben wegen Herrn Krawczyk angerufen?«

Ich lehnte mich auf dem Drehstuhl zurück. Die Stimme am anderen Ende klang warm. Es war eine jener Stimmen, von denen man sich gerne stundenlang etwas vorlesen ließ. Mal abgesehen davon, dass ich mir die Zeit nur sehr selten mit Büchern vertrieb. In meiner freien Zeit musste ich unter Leute. Wobei ich für einen Mann wie Jannis beinahe überlegen könnte, mit dem Lesen anzufangen …

»Genau. Ich habe die kleine Amelia zur Inobhutnahme gegeben. Für das weitere Sorgerechtsverfahren wäre es hilfreich, wenn ich von Ihnen ein paar Informationen bekommen könnte.«

Ein Seufzen in den Hörer. »Leider kann ich Ihnen nicht viel sagen. Mein Kollege hat eine Anzeige wegen Widerstands geschrieben. Wir haben den Herrn bei uns in der Zelle ausnüchtern lassen. Es bestand der Verdacht, dass er nicht nur Alkohol, sondern auch Betäubungsmittel konsumiert hat. Da der Konsum jedoch nicht strafbar ist und er sich, nachdem er im Auto saß, kooperativ gezeigt hat, bestand kein dringlicher Grund, einen Bluttest anzuordnen.«

Mit einer solchen Antwort hatte ich bereits gerechnet. Obwohl mir das kaum weiterhalf, hatte ich die Infos stichwortartig mitgeschrieben. Mit dem Bleistift kratzte ich mich nachdenklich an der Schläfe.

»Das ist in Ordnung, Herr Wiesner. Wir werden den Fall zur Prüfung ans Familiengericht weiterleiten. Der zuständige Richter kann einen Drogentest anordnen. Dennoch hilft mir Ihre Auskunft bei einer Einschätzung.«

»Okay.« Eine kurze Stille in der Leitung. »Hat das Mädchen denn irgendwelche Spuren von Misshandlung aufgewiesen?«

Meine Lippen zuckten wie zu einem Lächeln. Sein Interesse rührte mich.

»Wie es aussieht nicht. Aber sie muss erst noch von einem Arzt gründlich untersucht werden. Ich hatte ja gestern nicht allzu viel Zeit mit ihr.«

»Das heißt, Sie geben das Mädchen vielleicht zu ihm zurück?« In seiner Stimme schwang dasselbe Unbehagen mit, das auch mich erfasste, wenn ich mir vorstellte, Amelia wieder zu ihrem Vater zurückzubringen.

»Möglich«, entgegnete ich ausweichend. »Ich werde prüfen, ob er in der Lage ist, seine Tochter gut zu versorgen und wenn nicht –«

»Dann werden Sie sicher die beste Lösung finden.«

Ja, das hatte Anni auch schon gesagt. Ich seufzte.

»Okay, wenn Sie noch Fragen haben, wissen Sie ja, wo Sie uns erreichen. Der Fall ist im System, das heißt, jeder Kollege kann Ihnen Auskunft geben.«

»Danke, Herr Wiesner. Auf Wiederhören.«

»Bis dann.«

Das Tuten in der Leitung machte mich darauf aufmerksam, dass unser Gespräch beendet war. Hatte er »bis dann« gesagt? Erwartete er wirklich, dass ich noch einmal anrief? Unsinn, schalt ich mich selbst. Das war nur eine Floskel.

Ehe ich weiter über Jannis Wiesner nachgrübeln konnte, wählte ich die Nummer des Familienrichters meines Vertrauens. Sollte Milosz Krawczyk tatsächlich nicht in der Lage sein, seine Tochter gut zu versorgen, würde ich das herausfinden und alle Hebel in Bewegung setzen, um für das Mädchen einen besseren Platz zu finden. Auch wenn das vertraute Umfeld der Familie eigentlich der beste Platz sein sollte.

~~~

Ich schaltete den Motor meines klapprigen Opels ab und kramte in meiner Umhängetasche nach dem Gutachten, das ich noch an diesem Morgen verfasst hatte. An einem Sonntag! Anni hatte mich für verrückt erklärt, doch ich wollte Amelias Fall so schnell es ging vorantreiben.

Wie ich vom ersten Moment an vermutet hatte, würde Milosz Krawczyk das Sorgerecht entzogen werden. Noch einmal überflog ich die Zeilen. Ich hatte mich beherrschen müssen, beim Verfassen des Gutachtens sachlich zu bleiben. Krawczyk hatte sich kooperativ gezeigt und den angeordneten Drogentest umgehend abgelegt. Das Ergebnis aber sprach deutlich gegen ihn. In seinem Blut und Urin waren sowohl Rückstände von Kokain als auch geringe Mengen Crystal nachgewiesen worden. Zusammengerechnet mit dem Krawall in der Wohnung waren das allein schon Gründe genug, ihm sein Kind zu entziehen. Hinzukamen die Aussagen der Nachbarn, die einstimmig verlauten ließen, Amelia sei oft allein in der Wohnung und der Vater komme immer wieder betrunken nach Hause.

»Idiot«, presste ich hervor. Zu gerne hätte ich dem Kerl meine Meinung ins Gesicht geschrien. Stattdessen faltete ich das Schreiben wieder feinsäuberlich zusammen. Vielleicht hatte Janine recht und ich war viel zu emotional für den Job als Sachbearbeiter. Obwohl mich der Gedanke an Herrn Krawczyk in Rage versetzte, tat er mir im selben Moment beinahe leid. Er war nach dem Tod seiner Frau vor knapp drei Jahren in den Drogensumpf abgerutscht. Vom Jugendamt seines damaligen Wohnsitzes habe er keinerlei Hilfe erhalten. Inwieweit diese Aussagen zutrafen, konnte ich nicht beurteilen. Jedoch wusste ich aus eigener Erfahrung zu gut, dass sich auf manchen Ämtern nur Vollpfosten ihre faulen Ärsche platt drückten – immer zum Leidwesen der Kinder. Ab jetzt würde es im Falle Amelia anders laufen. Das schwor ich mir, als ich an der Tür der Kurzzeitpflegefamilie klingelte und mir das kleine Mädchen die Tür öffnete.

Sie strahlte mich an. »Hallo, Felix.«

Ihr breites Lächeln versetzte mir einen Stich ins Herz. Wie schafften es Kinder nur, selbst nach solchen Erlebnissen, ihr ehrliches Lachen beizubehalten? Ich konnte nicht anders und ging in die Knie, wuschelte Amelia durch das blondgelockte Haar.

»Nicht die Haare«, kicherte sie. Ich erinnerte mich, dass sie mir bei unserem Kennenlernen stolz erzählt hatte, dass sie sich ihren Zopf bereits selber flechten konnte – und das mit fünf.

Hinter ihr trat Daniela Meibach in den Flur. Sie und ihr Mann waren die erste Anlaufstelle für uns, wenn es darum ging, ein Kind kurzfristig für einige Tage in Obhut zu nehmen.

»Felix«, sie drückte herzlich meine Hand. »Kommen Sie rein. Ich hatte Sie nicht erwartet an einem Sonntag.«

Noch bevor ich mich selbstständig in Gang setzen konnte, zog Amelia mich mit sich ins Wohnzimmer. Es war ein Wunder, dass das Mädchen schon nach wenigen Tagen in der Familie so aufblühte. Es tat mir im Herzen weh zu wissen, dass ich sie sehr bald in eine neue Pflegefamilie stecken musste. Das würde dann hoffentlich für immer sein.

Daniela schickte Amelia zum Spielen und sie trollte sich ohne Murren. In der rechten Hand hielt sie ihren Teddy mit dem knallroten Rucksack. Das Plüschtier schien ihr ständiger Begleiter zu sein. Nicht ungewöhnlich für ein Kind in ihrem Alter und dennoch kam es mir so vor, als klammere sie sich hilflos an das Tierchen.

Während Daniela uns Kaffee einschenkte, berichtete ich ihr in knappen Worten von den Entwicklungen im Sorgerechtsfall. Ich hatte schnell Amelias Tante mütterlicherseits ausfindig machen können. Momentan prüfte eine Kollegin, ob Alexandra Klever als Pflegemutter in Frage kam. Eine alleinstehende, kinderlose Witwe mochte auf den ersten Blick nicht die ideale Lösung sein, doch da sie die einzige Verwandte Amelias in Stuttgarts Umgebung war, kam sie dennoch als Pflegemutter in Betracht. Da Milosz Krawczyk seine Tochter nicht misshandelt hatte, bestand kein dringlicher Grund, ihm den Kontakt zu Amelia komplett zu versagen. Und ich war ohnehin ein Freund davon, Kinder eher bei Familienangehörigen unterzubringen, als bei Wildfremden.

»Amelia ist uns schon sehr ans Herz gewachsen«, beteuerte Daniela. »Sie ist ein richtiger Sonnenschein.«

Daran zweifelte ich nicht. Sie war eines jener Kinder, deren Lachen ansteckte. Ein Mädchen, bei dem es mir in der Seele wehtat, zu wissen, dass sie in ihrem kurzen Leben bereits Dinge erlebt hatte, die man keinem Kind wünschte.

Ich hatte oft versucht, mich in Eltern hineinzuversetzen, denen das eigene Leben so sehr über den Kopf wuchs, dass sie nicht mehr anständig für ihre Kinder sorgten. Beim besten Willen, ich konnte es nicht verstehen. »Kunststück«, würden manche sagen, »du hast ja auch keine Kinder und wirst wahrscheinlich nie welche haben.« Nein, würde ich wohl wirklich nicht. Und es mochte sein, dass ich mit meinem Job als Sozialarbeiter diesen Umstand zu kompensieren suchte. Trotzdem, wie konnte man ein Mädchen wie Amelia unbeachtet in der Ecke sitzen lassen? Weggestellt, wie ein unliebsam gewordenes Dekostück.

Einer spontanen Eingebung folgend, fragte ich: »Daniela, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mit Amelia für ein, zwei Stunden auf den Spielplatz gehe?«

»Natürlich nicht. Sie würden mir sogar einen Gefallen tun. Mein Mann ist zum Renovieren bei Freunden und kommt erst spät nach Hause. Ich wollte die Zutaten für Raclette vorbereiten. Normalerweise lasse ich die Kinder ja immer mithelfen, aber Amelia ist beim Gemüseschnippeln ein bisschen übereifrig.«

Danielas Worte brachten mich zum Grinsen. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie Amelia ein regelrechtes Gemüsemassaker veranstaltete. Ihre Kurzzeitpflegemutter schien die Aussicht weniger amüsant zu finden. Also packten wir Amelia rasch in Winterschuhe und eine dicke Jacke und ich stapfte mit ihr durch den Schnee in Richtung Spielplatz. Ihren Teddy hielt sie nach wie vor fest an sich gedrückt.

Kapitel 3 - Felix

Die Schneeflocken, die sich zu einem glitzernden Kissen auf der Schaukel zusammengefunden hatten, stoben unter der Bewegung meiner Hand auf und rieselten zu Boden. Ich sah zu Amelia, die mich mit großen Augen beobachtete. Ihr Blick wirkte traurig, als sei sie enttäuscht darüber, dass ich ihr das Schneekissen davongepustet hatte. Doch ich wollte vermeiden, dass sie sich gleich in den ersten Minuten auf dem Spielplatz die Hose durchnässte. Sobald ich sie zu ihrer Tante gebracht hatte, würde ich dafür sorgen, dass sie eine ordentliche Schneehose bekam.

»Soll ich dich hochheben?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ihre blonden Locken wippten dabei neckisch unter der blauen Wollmütze hervor.

»Nein, ich kann das allein«, verkündete sie und kletterte umständlich auf die Schaukel.

»Komm, ich nehm dir deinen Teddy ab.«

Ein noch heftigeres Kopfschütteln als zuvor war die Antwort. »Nein, Balou soll auch schaukeln.«

»Dein Bär heißt Balou?«

Das Strahlen kehrte auf Amelias rundes Gesicht zurück. »Ja. Kannst du uns anschubsen?«

»Na klar.« Ich beäugte misstrauisch, wie die Kleine sich mit einem Arm um das Schaukelseil klammerte und in der anderen Hand ihr Plüschtier hielt. »Aber pass auf, dass Balou und du nicht runterfallt.«

Zunächst zaghaft setzte ich die Schaukel in Bewegung. Amelia jauchzte und ich konnte ihr Lachen vor mir sehen, obwohl ich hinter ihr stand und eigentlich nur die Mütze und ihre Locken vor der Nase hatte. Sie brabbelte etwas zu ihrem Teddy. Weiß der Geier, weshalb sie so vernarrt in das Tierchen war. Es war nicht mal besonders hübsch. Das Bärengesicht etwas zerknautscht, die Pranken übermäßig groß und der rote Rucksack stach sich farblich furchtbar mit dem goldbraunen Fell. Aber Amelia schien ihren Balou zu lieben wie ein Haustier. Und wenn dieses plüschige Etwas ihr Trost zu spenden vermochte, sollte es mir nur recht sein. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich als Kind etwas Vergleichbares gehabt hatte. Am Rande fiel mir ein Stoffschaf ein, aber –

»Stopp, stopp, stopp!« Amelias Rufe rissen mich aus meinen Gedanken.

»Was?« Ich stoppte die Schaukel, spürte mein Herz wummern. Doch ich konnte nicht erkennen, was sie so in Aufregung versetzte.

»Der Rucksack!« Sie deutete nach unten. Unweit der Schaukel leuchtete das knallrote Teil im Schnee. Na, solange nicht die Kleine von der Schaukel fiel …

Ich hob das Stoffbeutelchen auf. »Da ist ein Träger gerissen. Das ist nicht schlimm. Schau, ich stecke ihn ein, und wenn wir wieder zu Hause sind, kann Daniela ihn sicher wieder zusammennähen.« Noch während ich die Worte sprach, kam mir in den Sinn, wie verwirrend es für Amelia sein musste, dass ich von Zuhause