kritisch weiß sein - Jule Bönkost - E-Book

kritisch weiß sein E-Book

Jule Bönkost

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Beschreibung

Jule Bönkost – Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Dozentin und 'weiß' – engagiert sich seit vielen Jahren gegen Rassismus und für diskriminierungskritische Bildung. "kritisch weiß sein" entstand aus der Überzeugung, dass es sich auch für 'Weiße' lohnt, sich ihrer eigenen Verstrickung in Rassismus bewusst zu werden und diesem den Kampf anzusagen. Mit ihrer theoretisch reflektierten und überaus praktischen Anleitung zum Mitmachen möchte Jule Bönkost auch andere 'Weiße' sensibilisieren und zu rassismuskritischem Handeln ermutigen. Hierzu gibt sie konkrete Werkzeuge an die Hand und erklärt, wie das eigene 'Weiß'sein genutzt werden kann (und sollte), um dem täglich erlebbaren strukturellen Rassismus etwas entgegenzusetzen. Mit zahlreichen erfahrungsbasierten Hinweisen, Beispielen aus der Praxis, Übungen und Fragen zur Selbstreflexion möchte das Buch denjenigen ein hilfreicher Wegweiser sein, die sich für eine Welt einsetzen, die lebenswert für alle Menschen ist.

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Seitenzahl: 427

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Dr. phil. Jule Bönkost ist Amerikanistin und Kulturwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Trainerin, Beraterin, Lektorin und Autorin im Bereich diskriminierungskritische Bildung mit den Schwerpunkten Rassismus, Kritisches Weiß-Sein und Allyship. Sie ist Mitautorin des rassismuskritischen Kinder- und Jugendbuchs Rassismus geht uns alle an und Herausgeberin des Sammelbandes Unteilbar. Bündnisse gegen Rassismus.

Jule Bönkost

Kritisch weiß sein

Eine Anleitung zum Mitmachen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Jule Bönkost: Kritisch weiß sein

1. Auflage, September 2023

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2023

ISBN 978-3-95405-174-8

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Einleitung

1 Zum Kontext von Weiß-Sein: Rassismus

2 Sozialisiert, um weiß zu sein – Wie wir unsere weißen Privilegien verteidigen

3 »Was habe ich davon?« – Warum es sich für uns lohnt, gegen Rassismus einzutreten

4 Bewusstwerdung: Entwicklung einer rassismuskritischen Haltung

5 Can’t Stop the Feeling – Rassismuskritisches Handeln ist ein emotionaler Lernprozess

6 Weißes rassismuskritisches Handeln

7 Das De_Stabilisationsdreieck als Reflexionstool für rassismuskritische Praxis

8 White Allyship – Im Kampf gegen Rassismus verbündet handeln

9 Ressourcen für rassismuskritisches Handeln aus weißer Position

10 Handlungsbereiche weißer Verbündeter

11 Rassismus hinter den Kulissen – Wenn wir unter uns sind

12 Lerntagebuch für weiße Spaßverderber*innen

13 Bleib dran und halte durch!

Nachwort – Zu diesem Buch und dem Weg dahin

Anmerkungen

Literatur

Für T. und J.

Einleitung

Vor Kurzem erhielt ich wieder einmal eine kritische Leser*innenzuschrift zu einem Artikel von mir. Nach Meinung des Absenders hatte ich sie offenbar dringend nötig:

»In dem Artikel, den ich über Sie gelesen habe, bezeichnen Sie sich als weiße Person. Wenn das Foto, das dem Artikel beiliegt, der Realität entspricht, dann sind Sie nicht weiß! Das würde mich auch wundern, denn ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen weißen Menschen gesehen. Manche Menschen sind blass, manche haben eine fahle Gesichtshaut, manche sind aschgrau. Aber weiß? Es gibt keinen Menschen mit weißer Haut! Legen Sie Ihre Hand auf den weißen Hintergrund dieser Mail, Sie werden mir recht geben. Die Bezeichnung weiß für eine Hautfarbe ist also eine willkürliche Bezeichnung für Menschen europäischer Herkunft ähnlich der Bezeichnung arisch für Menschen mit germanischen Vorfahren. Einen Menschen als Weißen zu bezeichnen, ist purer Rassismus.«

Einen Tag, nachdem mich diese Nachricht erreicht hatte, veranstaltete ich einen Workshop zu Rassismus. Das ist mein Job, den ich mittlerweile seit vielen Jahren mache. Der Workshop verlief insgesamt gut. Schon bei der Vorstellungsrunde zeigte sich, dass alle Anwesenden Rassismus offensichtlich ablehnten. Ich trug einige einführende Worte zu Rassismus vor. Dann machten wir Übungen. So wie eben in einem Workshop üblich. Einen Tag lang beschäftigten wir uns intensiv mit dem Thema. Es war ein abwechslungsreicher Tag. Wir diskutierten viel. Zwischenzeitlich wurde es recht hitzig und einmal sogar etwas lauter. Am Ende bat ich die Teilnehmenden, ihre wichtigsten Erkenntnisse aus dem Workshop miteinander zu teilen. Die erste Person sagte: »Also dieser Punkt, die eigenen Privilegien mitzudenken in der Prägung der eigenen Erfahrungen und was das für meinen Umgang mit Rassismusvorfällen bedeutet, das war für mich neu.« Dem schlossen sich andere an. Weitere Gedanken kamen hinzu. Einige ergänzten noch, dass es ein »sehr anstrengender Tag« gewesen sei. Alle waren weiß. Und es handelte sich um einen Workshop zu Rassismus speziell für Weiße.

Selbst erlebte Beispiele wie diese aus meiner Arbeit als Autorin und Referentin zu rassismuskritischer Bildung sind die Motivation für dieses Buch. Wie der Workshop ist dieses Buch eine Einladung an Weiße, mehr über das eigene Weiß-Sein herauszufinden sowie Möglichkeiten für rassismuskritisches Handeln aus weißer Position kennenzulernen und wahrzunehmen. Wenn ich im Folgenden das ›Du‹ nutze, darfst du dich also angesprochen fühlen, wenn du weiß bist. Weil ich selbst ebenfalls weiß bin und damit die Erfahrungen weißer Menschen teile, schreibe ich auch im ›Wir‹. Damit meine ich dann entsprechend alle Weißen. Vielleicht bist du aber gar nicht weiß, sondern BIPoC und erlebst selbst Rassismus. Dann bist du genauso herzlich zum Lesen eingeladen. Vielleicht ist es interessant für dich, wie ich rassistische Strukturen rund um das Verhalten Weißer, die du eventuell selber gut kennst, benenne und darin einordne, wie Rassismus funktioniert.

›Weiß‹ ist kein sehr gängiger Ausdruck. Das Gros der Thematisierung von Rassismus in Deutschland kommt bis heute ohne den Begriff aus. Dabei ist Weiß-Sein sehr bedeutsam für Rassismus. In der akademischen Rassismusforschung ist der Begriff ›Weiß-Sein‹ mittlerweile fest etabliert. Seit den 1980er-Jahren ist ›weiß‹ die zentrale Analysekategorie der Kritischen Weißseinsforschung. Sie beschäftigt sich damit, was Rassismus für diejenigen Menschen bedeutet, die Rassismus nicht potenziell selbst erleben, und hat zwischenzeitlich auch in Deutschland Fuß gefasst.

Warum wird dennoch allgemein so wenig über Weiß-Sein gesprochen, wenn es um Rassismus geht? Was ist überhaupt damit gemeint, wenn Menschen als ›weiß‹ beschrieben werden? Wie hängt das mit Rassismus zusammen? Vielleicht stellst du dir diese Fragen, ähnlich wie die Teilnehmenden meines Workshops, von dem ich oben erzählt habe? Dann freue ich mich, dass du dieses Buch in den Händen hältst. Ich habe es für dich geschrieben. Vielleicht hast du dich auch schon etwas mehr mit Rassismus beschäftigt und der Begriff ›weiß‹ ist nicht ganz neu für dich? Vielleicht fragst du dich nun aber, was es heißt, weiß zu sein und gegen Rassismus einzutreten? Was White Allyship bedeutet? Auch dann bist du hier richtig. Denn darum soll es gehen. Vielleicht beschäftigst du dich auch schon lange kritisch mit Rassismus, aber merkst, wie schwer es ist, das, was du gelernt hast, gegen ihn praktisch umzusetzen? Oftmals ist es in der Praxis schwieriger, als es theoretisch so manches Mal klingt. Vielleicht kommst du an manchen Stellen einfach nicht weiter? Merkst, dass du dem Rassismus nicht ganz entkommen kannst, oder fragst dich, ob du als weiße Person überhaupt rassismuskritisch handeln kannst oder darfst. Dieses Buch ist dann auch für dich gedacht. Es soll in den Kapiteln um die Rolle von Emotionen und Abwehr gehen, genauso wie um Verstrickung. Mit dem De_Stabilisationsdreieck stelle ich dir ein Werkzeug vor, dass dir dabei helfen soll, Rassismus bestmöglich zu durchbrechen und mit Spannungen und Widersprüchen besser umzugehen. Ermutigen will ich dich außerdem, indem ich aufzeigen werde, dass wir als Weiße von rassismuskritischem Handeln gewinnen. Indem es um die spezifischen Chancen geht, die unsere weiße Position mitbringt, wenn es darum geht, Rassismus entgegenzutreten. Neben Ressourcen für unser rassismuskritisches Handeln aus weißer Position diskutiere ich außerdem Aufgabenbereiche hierfür. Mit dem Lerntagebuch für weiße Spaßverderber*innen, das ich dir vorstellen werde, kannst du dein Handeln gegen Rassismus auch nach dem Lesen dieses Buches fortwährend reflektieren und verbessern.

Egal, wo du in deinem Lernprozess über Rassismus stehst, ich möchte dir mit diesem Buch gleichzeitig Anregungen für Selbstreflexion und konkrete Praxistipps geben. In den einzelnen Kapiteln lade ich dich immer wieder an den passenden Stellen mit Reflexionsfragen dazu ein, über deine eigene Beziehung zu Rassismus und dein Handeln gegen ihn nachzudenken. Außerdem habe ich mir einige Übungen überlegt, mit denen du zusätzlich in den Lernprozess zu kritischem Weiß-Sein einsteigen kannst. Rassismus abzulehnen ist nicht genug. Was auch immer dich zu diesem Buch gebracht hat, ich hoffe, dass du mit dem Lesen viele Impulse erhältst, um dich aktiv aus weißer Position gegen Rassismus stark zu machen.

Ich will und muss aber auch gleich sagen: Dieses Buch bietet keine einfachen Lösungen. Es ist keine simple To-do-Liste. Was ich dir mitgeben möchte, sind bestimmte Blickrichtungen, Denkweisen und Perspektiven auf Rassismus und unser Weiß-Sein, um dir damit Anregungen für dein rassismuskritisches Lernen und Handeln zu geben. Damit richtet sich das Buch auch an alle, die sich in der rassismuskritischen Bildungsarbeit mit der Zielgruppe Weiße beschäftigen. Im weitesten Sinne ist das Buch für alle geschrieben, die sich für eine positionierungssensible Auseinandersetzung mit Weiß-Sein sowie die Herausforderungen und Möglichkeiten interessieren, die mit dem Handeln gegen Rassismus aus weißer Position verbunden sind.

Ein bisschen Theorie muss sein. Um Weiß-Sein und rassismuskritisches Handeln zu verstehen, brauchen wir ein paar theoretische Grundlagen. Im Alltag bleibt beim Thema Rassismus viel Wichtiges unangesprochen. In der Forschung hingegen gibt es meist zahlreiche Erkenntnisse dazu. Ein Blick dorthin lohnt sich also. Mit diesem Buch beziehe ich mich insbesondere auf neueste Erkenntnisse der angloamerikanischen und deutschen Rassismusforschung, die für unser Handeln gegen Rassismus aus weißer Position wertvoll sind. Entlang der verschiedenen Fragen, durch die sich dieses Buch hangelt, möchte ich dir außerdem von mir erzählen. Ich greife auf meine Erfahrungen zurück, die ich als Referentin von vielen Hundert Bildungsveranstaltungen zum Thema Rassismus und Weiß-Sein mit überwiegend weißen Teilnehmenden gesammelt habe. Diese Praxiserfahrung, von der ich ausführlich berichten werde, bildet neben der Forschung das zweite Standbein dieses Buches. Und dann gibt es schließlich noch eine dritte Grundlage: mein eigenes Weiß-Sein und, vor allem, meine Entwicklung, mein Lernen in diesem Bereich. Ich bin weiß und will mich gegen Rassismus stellen. Bis heute lerne ich dazu, was das bedeutet. Aus jedem Workshop, den ich veranstalte, nehme ich auch für mich etwas mit. Auch über diese eigenen Lernerfahrungen zu Rassismus und das Handeln gegen ihn als Weiße schreibe ich in diesem Buch. Damit will ich die gegenwärtige Sachliteratur zu Rassismus, die BIPoC Autor*innen zu verdanken ist, um eine selbstreflexive Beschäftigung aus weißer Perspektive ergänzen. Last but not least – wenn auch absolut relevant: Ich habe dieses Buch weder vornehmlich der Forschung noch meiner eigenen Reflexion zu verdanken. Es geht zurück auf die vielfältigen Kämpfe gegen Rassismus von BIPoC, die beides überhaupt erst möglich gemacht haben.

Was ich dir mitgeben möchte, ist damit auch das: Vielleicht interessiert es dich zu erfahren, wie andere Weiße mit den Schwierigkeiten zurechtkommen, die das Lernen und Sprechen über Rassismus oder rassismuskritisches Handeln als weiße Person mit sich bringen? Dazu möchte ich meine eigenen Erfahrungen, auch als weiße Referentin zu Diskriminierung und Rassismus, mit dir teilen. Ich bin überzeugt, dass es wichtig und gewinnbringend ist, wenn Weiße zu Weißen über Rassismus sprechen und dabei auch die eigenen Lernerfahrungen teilen. Ich schreibe bewusst und ganz explizit aus weißprivilegierter Perspektive, um andere Weiße dazu zu ermutigen, Weiß-Sein kritisch in den Blick zu nehmen und aufbauend darauf gegen Rassismus vorzugehen. Mit den Inhalten der Kapitel teile ich mit dir insbesondere die Aspekte, die für mein eigenes Lernen über Rassismus bedeutsam und wertvoll waren und von denen ich aus meiner Arbeit weiß, dass sie auch anderen Weißen geholfen haben. Ich hoffe, dass das auch dich dabei unterstützt, einen besseren Umgang mit Rassismus zu finden.

Mit diesem Buch will ich schließlich als Weiße zu weißen Menschen wie dem Absender der an mich verfassten Nachricht weiter oben sprechen. Auch wenn das Buch solche Personen vielleicht gar nicht als Lesende erreicht. Wer eine Beschäftigung mit Weiß-Sein so vehement ablehnt, dass er*sie den Zeit- und Energieaufwand auf sich nimmt, sich hinzusetzen, um anderen dazu schriftlich die eigene Meinung zu verkünden, ist sicherlich nicht sehr interessiert. Wobei, die Person oben hat ja auch einen Artikel von mir gelesen. Es besteht also Hoffnung. So oder so, ich möchte mich mit diesem Buch gegen herkömmliche weiße Argumente positionieren und aus weißer Sicht anderen Weißen erklären: Das Sprechen über Weiß-Sein spaltet nicht. Es ist nicht rassistisch! Und ob ihr es glaubt oder nicht, mittlerweile gibt es auch viele Weiße, die das wissen. Uns will ich mit diesem Buch eine Stimme geben. Achtung Spoiler: Ich hasse weiße Menschen nicht. Zur Erinnerung, ich bin selbst weiß. Und damit komme ich gut klar. Rassismus geht uns als Weiße an. Das macht uns zu Weißen. Was ich will, ist, dass es allen Weißen, die so denken wie der Absender der Nachricht oben und die das verleugnen, unbequem wird. Und wenn es nur deshalb so ist, weil es dieses Buch gibt. Diese Personen sollen wissen, und sei es nur, weil sie mitbekommen, dass dieses Buch existiert, dass andere Weiße nicht bereit sind, ihre rassistischen Sichtweisen durchzuwinken. Diese Leute mögen erkennen, dass Weiße, die sich auf den rassismuskritischen Weg machen, nicht alles verlieren, nicht verzweifeln, nicht tot umfallen, sondern glücklich weiterleben können und das sogar zufriedener als bisher. Wie gesagt, soll dieses Buch beschreiben, warum es sich für uns als Weiße lohnt, Rassismus zu durchbrechen und darin für uns eine große Chance liegt. Warum es gleichzeitig nicht immer einfach ist, als Weiße*r über Rassismus zu lernen und gegen ihn vorzugehen, darum soll es ebenfalls in diesem Buch gehen.

Damit kann und will dieses Buch gleichzeitig vieles andere nicht sein. Dieses Buch ist keine klassische Einführung in Rassismus. Aus weißer Perspektive geschrieben, bietet dieses Buch über Weiß-Sein nur einen Bruchteil von Wissen über Rassismus an. Gerade auch, um aus weißer Position besser zu verstehen, wie Rassismus in Deutschland alltäglich funktioniert, lohnen sich Bücher von BIPoC Autor*innen wie z.B. Tupoka Ogette, Alice Hasters, Noa Sow oder Mohamed Amjahid. Es gibt mittlerweile so viele lesenswerte Bücher genauso wie hörenswerte Podcasts zu Rassismus, die mehr Raum bieten, den es auch braucht, um Rassismus als historisch gewachsene und bis heute fortwährende Form von struktureller Diskriminierung zu erklären. Dieses Buch kann und will eine Beschäftigung mit solchen Beiträgen nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Aber auch wir gehen das Thema von vorne an. Mit dem ersten Kapitel möchte ich zunächst wesentliche Strukturen von Rassismus ansprechen. Mit dieser Grundlage können wir dann konkreter auf Weiß-Sein als eine Folge von Rassismus eingehen. Die weiteren Kapitel bauen aufeinander auf. Inhaltlich und praktisch hängt alles sehr eng zusammen. Die Kapitel gliedern die Inhalte lediglich theoretisch auf, sodass wir im Verlauf immer tiefer in das Thema einsteigen können. Weil alle Aspekte, um die es gehen soll, ihren Ursprung in demselben Problem, nämlich Rassismus haben, gibt es an einigen Stellen kleine Wiederholungen, um die Verbindungen jeweils aufzuzeigen und den Gedanken weiterzuentwickeln. Denn es gibt auch eine klare Struktur: Für den Aufbau habe ich mich an den Lernbedürfnissen Weißer, die beginnen, über Rassismus zu lernen, orientiert. Das Buch führt dich durch Fragestellungen der verschiedenen Lernphasen, die in der Forschung zum Lernen Weißer über Rassismus diskutiert werden. Wenn du dich noch nicht mit Rassismus auseinandergesetzt hast, bietet es sich also an, das Buch linear zu lesen. Falls du dich schon mehr mit strukturellem Rassismus auseinandergesetzt hast, ist vielleicht das zweite Kapitel zu weißen Privilegien ein passender Einstieg für dich. Du kannst natürlich auch gleich zu den Kapiteln blättern, die dich gerade am meisten interessieren und zu den Aspekten und Fragestellungen passen, mit denen du dich aktuell beschäftigst. Wir sind an unterschiedlichen Punkten in unseren Lernprozessen. Auch darauf ist das Buch abgestellt. Es kann außerdem nicht mehr als ein theoretischer Schnelldurchlauf durch die verschiedenen Stadien und Fragestellungen sein, die uns als Weiße beim Lernen über Rassismus begleiten. Vielleicht ist dieses Buch auch ein Begleiter in deinem individuellen Lernprozess, auf den du immer mal wieder und dann mit den für dich jeweils passenden Kapiteln zurückgreifen magst.

Und noch ein Hinweis: Alle Beiträge, die ich von Workshopteilnehmenden wiedergebe, habe ich anonymisiert und mit meinen eigenen Worten wiedergegeben. Wenn ich Namen nenne, sind diese geändert und fiktiv. Zwecks Anonymisierung sind jegliche Beschreibungen von Workshop-Gruppen ebenfalls fiktiv.

Das Missverständnis als kommunikativer Regelfall: Rassismus und Sprache

Aus meinen Workshops weiß ich, dass es für Weiße eines der größten Bedürfnisse beim Lernen über Rassismus ist, die ›richtigen‹ Begriffe zu lernen. Ich möchte dazu gleich festhalten: Ganz so einfach ist das Ganze leider nicht. Sprache ist immer ein Abbild der jeweils historisch gegebenen Gesellschaft. Momentan gibt es Rassismus in der Gesellschaft. Deshalb ist es leider unmöglich, auf eine komplett rassismusfreie Sprache zurückzugreifen. Diese existiert nicht, weil es Rassismus gibt. Die gute Nachricht lautet: Wir können sehr wohl eine Sprache entwickeln und verwenden, mit der wir Rassismus hinterfragen. Das ist dann eine sogenannte rassismuskritische Sprache. Dazu gehören auch der Begriff ›weiß‹ und rassismuskritische Selbstbezeichnungen von Menschen und Gruppen mit Rassismuserfahrungen, z.B. ›BIPoC‹. Da ich diese beiden Ausdrücke, weiß und BIPoC, bereits verwendet habe, möchte ich sie hier kurz in den rassismuskritischen Sprachgebrauch einordnen. So kannst du von Beginn an nachvollziehen, wie ich die Begriffe verwende. Ganz nach dem Motto: Sind die Begriffe unklar, bleiben auch die mit ihnen zum Ausdruck gebrachten Gedanken unklar. Im Folgenden werden uns diese Ausdrücke deshalb noch ausführlicher beschäftigen.

Ich benutze den Begriff ›weiß‹ als kritische Analysekategorie. Damit befasse ich mich mit der Frage, wie Rassismus all diejenigen Menschen berührt, die keine Rassismuserfahrung machen. Ich meine mit ›weiß‹ eine privilegierte soziale Position, die von Rassismus erzeugt wird. Aufgrund dieser Bedeutung wird der Ausdruck üblicherweise kursiv gesetzt. Das ist eine rassismussensible Schreibweise, die aus der Kritischen Weißseinsforschung stammt. Sie soll anzeigen, dass keine biologische Kategorie gemeint ist.

Um Gruppen zu bezeichnen, die Rassismus erfahren, benutze ich die politische Selbstbezeichnung dieser Gruppen. Ich verwende ›BIPoC‹, wenn alle Menschen gemeint sind, die Rassismuserfahrungen machen, egal wie unterschiedlich diese Erfahrungen ausfallen mögen. Die Abkürzung BIPoC steht für Black, Indigenous und People of Color. Sie stammt ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum. Im Deutschen wird sie aktuell zunehmend gebräuchlicher. Diese Selbstbezeichnung in Akronymform erkennt gemeinsame, aber auch gruppenspezifische Rassismuserfahrungen an. Black bezieht sich auf Menschen mit afrikanischer oder afrodiasporischer Geschichte. Indigenous steht für die Nachfahren der Menschen, die im Kontext des europäischen Kolonialismus, vor allem in Amerika, kolonisiert wurden. People of Color ist ein weiterer Oberbegriff. Er bezieht sich ebenfalls auf alle Menschen, die Rassismus erleben. In Deutschland wird die Selbstbezeichnung People of Color schon seit einigen Jahren in rassismuskritischen Kreisen verwendet. Ursprünglich wurde dieser Begriff in den USA während der Bürger*innenrechtsbewegung geprägt. Er ist nicht mit den rassistischen Fremdbezeichnungen ›colored people‹ bzw. ›Farbige‹ zu verwechseln und wird nicht ins Deutsche übersetzt.

Geht es um eine gruppenspezifische Erfahrung von Rassismus, verwende ich Selbstbezeichnungen wie z.B. Schwarz, mit denen eben solche geteilten Rassismuserfahrungen sichtbar gemacht werden. Schwarz wird als Selbstbezeichnung immer großgeschrieben. Das markiert – vergleichbar mit der Kursivsetzung von weiß –, dass es sich hierbei nicht um eine natürliche Eigenschaft, sondern eine soziale Position handelt.

Vielleicht sind diese Begriffe neu und ungewohnt für dich. Das kann ich gut verstehen. Sie gehören nicht zur Alltagssprache. Doch du wirst beim Lesen sicherlich merken, wenn sie uns häufiger begegnen und wir auch selbst beginnen, sie zu verwenden, gewöhnt man sich schnell an sie. Genauso wie an eine rassismussensible Sprache insgesamt. Wenn wir die Ausdrücke dann noch richtig verstehen, dann können sie für uns sehr nützlich sein, um Rassismus zu kritisieren. Ich hoffe, dieses Buch hilft dir dabei, das zu erkennen. Es soll dir insgesamt dabei helfen, dich beim Sprechen über Rassismus sicherer zu fühlen.

Und zum Schluss: Für eine gendergerechte Sprache verwende ich das Gendersternchen (z.B. Schüler*innen), um möglichst alle Menschen anzusprechen und einzubeziehen. Das Sternchen weist darauf hin, dass jenseits des Dualismus von Männlichkeit und Weiblichkeit vielfältige weitere geschlechtliche Identitäten existieren.

1 Zum Kontext von Weiß-Sein: Rassismus

Bevor ich begann, mich mit Rassismus zu beschäftigen, hatte ich keine Ahnung von meinem Weiß-Sein. Ich erinnere mich, dass mir der Begriff ›weiß‹ schon einige Male vorher begegnet war. Doch seine Bedeutung erschloss sich mir erst bewusst, als ich anfing, Rassismus besser zu begreifen. Kein Wunder, denn Weiß-Sein bezieht sich direkt auf Rassismus. Ohne Rassismus zu verstehen, können wir unser Weiß-Sein auch nicht erfassen. Wenn wir uns mit dem Thema Weiß-Sein und unserer eigenen weißen Identität auseinandersetzen, muss dies deshalb immer damit anfangen, dass wir uns ein klares Verständnis davon verschaffen, was Rassismus ist. Erst darauf baut dann alles Weitere auf.

Reflexionsfragen

Bevor wir einsteigen, nimm dir etwas Zeit und überleg einmal, was dir zum Begriff Rassismus einfällt:

Wie definierst du Rassismus für dich selbst? Was würdest du erzählen, wenn dich andere, z.B. Freund*innen, Familienmitglieder oder Arbeitskolleg*innen, nach einer Erklärung fragen?Wann ist dir der Begriff Rassismus das letzte Mal begegnet? Wer hat ihn verwendet? Worauf hat er sich da bezogen? Wurde der Begriff erläutert?Wo ist dir der Begriff Rassismus in letzter Zeit in den Medien begegnet? In welchen Medien war das? Wer hat den Begriff benutzt? Welche Botschaft sollte vermeintlich verbreitet werden?

Wie Kraut und Rüben: Begrifflich geht es durcheinander

Wir können erst dann erfolgreich rassismuskritisch handeln, wenn wir verstehen, wie Rassismus genau funktioniert. Weil rassismuskritisch zu handeln, ganz einfach bedeutet, dieses Funktionieren von Rassismus gezielt zu unterbrechen. Nun ist Rassismus aber kein einfaches Thema. Es kann nicht mit wenigen Worten erklärt werden. Dafür ist Rassismus viel zu komplex. Deshalb ist er auch nicht leicht zu verstehen. Ihn zu begreifen, braucht einiges an Zeit. Denn hierfür müssen wir uns zunächst ein komplexes Wissen über Rassismus aneignen.

Ein weiterer Grund, warum es gar nicht so einfach ist, Rassismus zu begreifen, ist das begriffliche Durcheinander, wenn über ihn gesprochen wird. Ich halte es für eine der größten Herausforderungen für kollektives rassismuskritisches Handeln, dass wir in der Gesellschaft keine einvernehmliche Sprache haben, um über Rassismus in der notwendigen Schärfe zu reden. Der Begriffswirrwarr kommt insbesondere daher, dass wir unter vielen der relevanten Begriffe nicht alle das Gleiche verstehen. So wird der Begriff ›Rassismus‹ zum Beispiel häufig mit dem Begriff ›Diskriminierung‹ vertauscht. Dabei meinen die beiden Ausdrücke nicht das Gleiche. Wenn über Diskriminierung und Rassismus gesprochen wird, gerät so einiges durcheinander. Nicht selten wird dann aneinander vorbeigeredet. Für mich ist es bezeichnend, dass, wenn die Begriffe Diskriminierung und Rassismus vorkommen, so gut wie nie erklärt wird, was damit eigentlich genau gemeint sein soll. Denn beide alltagssprachlich benutzten Begriffe erklären sich nicht selbst. Wäre es deshalb nicht sinnvoll, sie zumindest kurz zu definieren? Damit sich die Menschen untereinander besser verstehen lernen? Bei Talkshow-Runden zum Beispiel lässt sich gut beobachten, dass, wenn es um Rassismus und Diskriminierung geht, offensichtlich kaum eine*r Bedenken hat, falsch verstanden zu werden. Manchmal wird hierzu stundenlang diskutiert, ohne dass ein einziges Mal dargelegt wird, worauf sich die Diskutierenden mit Diskriminierung oder Rassismus überhaupt beziehen. Es scheint so, als wüssten alle wie selbstverständlich, was gemeint ist. Dabei kann genau hiervon keinesfalls ausgegangen werden. Im Gegenteil. Das liegt insbesondere auch daran, dass die Begriffe Diskriminierung und Rassismus im Alltag anders ausgelegt werden, als dies in der Forschung der Fall ist, und diese verschiedenen Begriffsverständnisse sich teils widersprechen.

Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist strukturell

Lass uns zunächst den Begriff Diskriminierung genauer anschauen. Das ist sinnvoll, denn er ist der übergeordnete Begriff. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff Diskriminierung häufig verwendet, um alle möglichen Formen der Benachteiligung anzusprechen. In meinen Workshops verwende ich an dieser Stelle oft mein Kuchen-Beispiel, das ich wirklich erlebt habe. Es geht so: Auf einer Tagung stand ich zur Pause am Kaffee- und Kuchenbuffet in der Schlange. Vor mir standen zwei Personen, Person A und Person B. Person A schnappte Person B das letzte Kuchenstück vor der Nase weg. Darüber war Person B offensichtlich wenig erfreut und erklärte laut: »Das ist jetzt aber eine Diskriminierung!« Wenn ich dieses Beispiel erzähle, sehe ich fast immer ein Schmunzeln auf den Gesichtern der Teilnehmenden. Ich glaube, der*die ein oder andere fühlt sich dann ein bisschen ertappt. Ich bin mir sicher, die meisten von uns kennen Situationen wie diese oder haben den Begriff Diskriminierung vielleicht sogar schon selbst einmal so benutzt. Denn im Alltag wird er häufig verwendet, wenn eine Person ausdrücken will, dass sie etwas als ihr gegenüber besonders unfair empfindet.

Häufig wird der Begriff Diskriminierung auch mit ›Beleidigung‹, ›Demütigung‹ oder ›Vorurteil‹ gleichgesetzt. Demnach ist jede missachtende Aussage, herabwürdigende Äußerung oder voreilige Meinung über eine Person automatisch auch diskriminierend. All diese alltäglichen Auffassungen von Diskriminierung sind nicht besonders hilfreich, wenn wir uns mit Rassismus beschäftigen wollen. Denn tatsächlich können nicht alle Menschen gleichermaßen diskriminieren und diskriminiert werden. So wie der Begriff Diskriminierung im Alltag meistens verwendet wird, scheint es aber so. Er bezieht sich nur auf die individuelle Interaktion. Über die individuelle Ebene geht er dann nicht hinaus. Bei Diskriminierung geht es aber genau darum. Die individuelle diskriminierende Handlung ist mit viel mehr verbunden als dem Geschehen in der einzelnen Situation. Sie bedeutet immer eine Ausübung von struktureller Macht, die aus sozialen Verhältnissen resultiert. Sie dient dazu, Herrschaftsinteressen durchzusetzen. Denn die individuelle Diskriminierung stützt diskriminierende soziale Strukturen, die wiederum zu struktureller Ungleichheit führen. Diskriminierung bezeichnet demnach, dass diskriminierende Praxen auf individueller, institutioneller und struktureller Ebene ineinandergreifen.

Diskriminierung wirkt also auf unterschiedlichen sozialen Ebenen. Auf der individuellen Ebene prägt sie unser Fühlen, Denken und Handeln. So ist sie Teil unseres zwischenmenschlichen Miteinanders. Gleichzeitig wirkt Diskriminierung in Institutionen. Hier äußert sie sich auch noch jenseits des individuellen Handelns von Menschen. Es gibt sie hier ebenfalls in bewährten Routinen, Maßnahmen und Verfahrensweisen von Organisationen. Diskriminierung manifestiert sich zudem in gesellschaftlich geteiltem Wissen. Dazu gehören zum Beispiel Vorstellungen davon, was als ›normal‹ und was als ›anders‹ und ›fremd‹ gilt. In diesem Zusammenhang sind auch Vorurteile ganz relevant. All das zusammengenommen bewirkt wiederum, dass Individuen und soziale Gruppen in der Gesellschaft ungleiche Teilhabechancen haben. Konkret bedeutet das, dass nicht alle Menschen den gleichen Zugang zum Beispiel zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeit oder den Ausbildungs- und Wohnungsmarkt haben. Hier wird Diskriminierung strukturell erfahrbar. Die einzelne Diskriminierung, egal wie klein und beiläufig sie vielleicht ist, ist also problematisch, nicht allein, weil sie unfair oder beleidigend sein mag, sondern weil sie mit einem System verbunden ist, das für Menschen ungleiche Lebenschancen festlegt und dazu beiträgt, dieses System aufrechtzuerhalten. Wenn Diskriminierung so verstanden wird, dann wird von ›struktureller Diskriminierung‹ gesprochen.

Für das Sprechen über Diskriminierung finde ich den Ausdruck ›strukturelle Diskriminierung‹ sehr hilfreich. Mit dem Adjektiv ›strukturell‹ vor ›Diskriminierung‹ kann ich ausdrücken, dass ich mit Diskriminierung eben nicht unfaire Situationen wie das Wegschnappen des letzten Kuchenstücks am Buffet oder ein beleidigendes Verhalten meine. Ich kann sprachlich ausdrücken, dass es mir um ein komplexes gesamtgesellschaftliches Machtsystem geht bzw. darum, wie eine bestimmte einzelne Handlung darin verstrickt ist. So sind Missverständnisse möglicherweise vermeidbar und andere können eher nachvollziehen, worum es mir geht. Die Herausforderung bleibt jedoch, dass mein Gegenüber vielleicht nicht versteht, was mit struktureller Diskriminierung gemeint ist. Denn meiner Erfahrung nach wissen das die meisten von uns leider nicht. Haben wir das jedoch untereinander – mit der notwendigen Zeit und Ruhe – einmal geklärt, kann der Begriff ›strukturelle Diskriminierung‹ sehr nützlich sein, um sich von anderen gängigen Assoziationen, die mit dem Begriff Diskriminierung verbunden sind, abzugrenzen und ein gutes Gespräch über Diskriminierung zu führen.

Diskriminierung ist also ein großer, vielschichtiger Begriff. Vieles gehört dazu. In wissenschaftlichen Texten wird oft im Plural von Diskriminierungen gesprochen. Denn es gibt viele verschiedene Formen von Diskriminierung, die ich hier nur beispielhaft benennen will. Dazu gehört Ableismus, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Eine andere Form von Diskriminierung ist Klassismus, die Diskriminierung hinsichtlich der sozialen Herkunft. Genauso gehört Sexismus dazu. Das ist selbst wiederum ein großer Begriff. Unter ihn fallen neben der Diskriminierung von Frauen, Mädchen und nichtbinären Menschen auch Trans- und Homofeindlichkeit. Dann gibt es noch Ageism, die Diskriminierung von alten Menschen, und Adultismus, die Diskriminierung von Kindern und jungen Menschen. Und schließlich zählt zu den verschiedenen Diskriminierungsformen Rassismus, der also eine Form von Diskriminierung neben anderen darstellt.

Alle Formen von Diskriminierung haben einiges gemeinsam. Sie unterteilen Menschen in soziale Gruppen. Die Gruppeneinteilung geschieht anhand willkürlich gewählter Merkmale, wie beispielsweise der sexuellen Orientierung. Allen Menschen, die eine bestimmte Ausprägung des Merkmals aufweisen oder vermeintlich aufweisen, werden bestimmte Wesenszüge zugeschrieben. Entscheidend dabei ist nun, dass dies immer mit Bewertungen verbunden ist. Mit den Vorurteilen über die sozialen Gruppen werden diese entweder auf- oder abgewertet. Diese Kategorisierungen und Wertungen werden vorgenommen, um die reale Ungleichbehandlung der sozialen Gruppen samt den aus ihr folgenden gesellschaftlichen Benachteiligungen herzustellen und zu rechtfertigen. Deshalb lautet die aus dem Bereich der Forschung stammende Kurzdefinition von Diskriminierung auch: Diskriminierung ist die Verbindung von Vorurteilen mit struktureller Macht.

Die Begriffe ›Vorurteil‹ und ›Diskriminierung‹ meinen also nicht das Gleiche. Es gibt nämlich auch viele Vorurteile, die nicht mit gesellschaftlicher Macht verknüpft sind, wie sie eben für Diskriminierung relevant ist. Zwei solche Vorurteile sind zum Beispiel: ›Alle Einwohner*innen Bayerns tragen Lederhosen und Dirndl‹ oder ›Kleingärtner*innen sind spießig‹. Das mögen viele Menschen glauben. Doch es ist nicht so, dass alle Einwohner*innen Bayerns oder alle Kleingärtner*innen als soziale Gruppen unter anderem aufgrund dieser Vorurteile weniger soziale Teilhabechancen haben als der Rest der Bevölkerung in Deutschland. Das Vorurteil verbleibt hier auf der individuellen Ebene. Es ist nicht mit der institutionellen und der strukturellen Ebene verbunden, mit denen die Macht ins Spiel kommt. Im Gegensatz dazu sind diskriminierende Vorurteile grundsätzlich mit diesen zwei Ebenen verbunden. Sie dienen immer dazu, die Gruppe, über die das Vorurteil existiert, abzuwerten und so ihre institutionelle und strukturelle Ausgrenzung zu legitimieren. So kann zum Beispiel das sexistische Vorurteil, Frauen seien fürsorglich, verständnisvoll und emotional, in Verbindung mit der Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen gebracht werden. Denn damit werden Frauen ›härtere‹ Führungseigenschaften abgesprochen, die wiederum mit vermeintlich männlichen Eigenschaften, wie ehrgeizig, kraftvoll und durchsetzungsstark, verbunden werden.

Die Begriffe ›Vorurteile‹ und ›Diskriminierung‹ dürfen also nicht verwechselt werden. Vorurteile sind nicht per se diskriminierend. Sie sind außerdem lebensnotwendig, weshalb wir sie alle haben. Vorurteile helfen uns, Informationen in der komplexen Welt zu verarbeiten. Wir stecken Menschen bedauerlicherweise häufig in Schubladen, um uns im Alltag zurechtzufinden und unser Verhalten diesen Menschen gegenüber zu legitimieren. Ein Teil unserer Vorurteile ist problematisch, weil sie gleichzeitig diskriminierend sind. Solche diskriminierenden Vorurteile beziehen sich immer wertend auf vermeintliche Eigenschaften von sozialen Gruppen, die strukturelle Diskriminierung erfahren, und müssen mit dieser strukturellen Diskriminierung im Zusammenhang betrachtet werden.

»Und wo fängt das Ganze an?«

In meinen Workshops werde ich immer und immer wieder gefragt: »Wo fängt Diskriminierung an?« »Woher weiß ich, ob etwas nur beleidigend war oder schon diskriminierend ist?« Auch hier hilft uns ein Blick darauf weiter, wie die individuelle, institutionelle und strukturelle Ebene von Diskriminierung ineinandergreifen. Eine Beleidigung, Erniedrigung oder Abwertung ist diskriminierend, wenn sie sich auf ein Identitätsmerkmal bezieht, aufgrund dessen Menschen und Gruppen strukturelle Diskriminierungserfahrungen machen. Wenn also eine Person beleidigt wird, weil sie zum Beispiel weiblich, homosexuell, alt, behindert oder BIPoC ist, dann handelt es sich um eine Diskriminierung. Wenn bei einer Beleidigung solche Identitätsmerkmale, wegen der Menschen Diskriminierungserfahrungen machen, wiederum keine Rolle spielen, dann nicht. Solche Herabwürdigungen können aber trotzdem verletzend und belastend sein. Wenn sie über einen längeren Zeitraum andauern, können sie als psychische Gewalt schwere seelische Verletzungen bei den Betroffenen hervorrufen. Wenn mich jemand unabhängig von meiner sozialen Position ›Arschloch‹ nennt, betrifft mich das und es wühlt mich auf. Es hat aber nicht das politische Ausmaß wie eine diskriminierende Beleidigung. Es geht hier also nicht darum, eine Erfahrung im Sinne von ›schlimmer oder nicht schlimmer‹ für die betroffene Person zu bewerten, sondern um besagte begriffliche Klarheit, die wir brauchen, um Diskriminierung analysescharf und effektiv zu begegnen.

Für diskriminierende Handlungen gilt, anders als für nicht-diskriminierende Herabsetzungen, dass sie nicht nur ein direktes Opfer haben, sondern sich indirekt auch gegen alle Menschen richten, die über das gleiche (zugeschriebene) Merkmal verfügen wie die diskriminierte Person. Mit diesen Handlungen wird ein gesellschaftliches System gestützt, das alle Menschen mit diesem (zugeschriebenen) Merkmal benachteiligt. Die Sexismuserfahrung einer anderen Frau zum Beispiel bekräftigt ein System, das auch mich als Frau sowie alle anderen Frauen unterdrückt. Theoretisch ist also gut differenzierbar, wie sich Diskriminierungen von nichtdiskriminierenden Ausgrenzungen und Herabsetzungen unterscheiden. Praktisch ist es häufig trotzdem nicht leicht, eine Situation genau einzuordnen. Nicht immer tritt eine diskriminierende Handlung gleich deutlich erkennbar hervor. Wenn mich eine Person als ›Drecksfotze‹ beschimpft, handelt es sich offensichtlich um eine sexistische Beleidigung. Der Ausdruck greift Geschlechtsidentität unmissverständlich auf. Wenn mir eine Person hingegen den Mittelfinger zeigt, kann das ein sexistischer Umgang sein oder nicht. Das hängt dann davon ab, ob ich beleidigt werde, weil ich eine Frau bin oder nicht. Wenn eine Diskriminierung das Gewand einer möglichen individuellen Beleidigung trägt, kann es deshalb schwierig sein, eine diskriminierende Handlung nachzuweisen.

Für uns alle relevant, aber nicht auf die gleiche Weise

Noch ein letzter Punkt zu Diskriminierung allgemein, bevor wir zu Rassismus kommen. Denn das Folgende wird später noch wichtig sein und ist für Weiß-Sein ohnehin vermutlich das Relevanteste: Diskriminierung prägt die Lebenserfahrungen von uns allen. Hiervon ist niemand ausgenommen. Jede Form von Diskriminierung berührt uns alle, allerdings nicht auf die gleiche Weise. Jede Form von Diskriminierung bewirkt, dass es eine bevorteilte soziale Gruppe und eine benachteiligte soziale Gruppe im Zusammenhang mit dieser Diskriminierungsform gibt. Diese zwei Seiten von Diskriminierung beziehen sich immer aufeinander. Die eine soziale Gruppe wird bevorteilt, weil eine andere soziale Gruppe benachteiligt wird. Jede*r von uns erlebt im Hinblick auf jede Diskriminierungsform also entweder Vorteile oder Nachteile in der Gesellschaft. Mit Blick auf unsere individuelle Identität stellt sich also lediglich die Frage, zu welcher Gruppe wir jeweils gehören. Meistens fällt es uns einfacher, unsere Zugehörigkeiten zu benachteiligten sozialen Gruppen wahrzunehmen als unsere Zugehörigkeiten zu privilegierten Gruppen. Das ist kein Wunder. Wenn wir Diskriminierung selbst erfahren, sind wir sensibler für die mit ihr verbundenen Ausschlüsse, weil wir sie mit allen ihren Herausforderungen selbst erleben.

In der Forschung wird von Privilegierung und Deprivilegierung gesprochen, um diese zwei Seiten von Diskriminierung zu beschreiben. Auch wenn die Begriffe technisch klingen, eignen sie sich doch sehr gut für ein Sprechen über Diskriminierung, das möglichst unmissverständlich ist. Wenn ich sage »Ich nehme hier eine strukturelle Diskriminierung wahr, weil diese Entscheidung Weiße privilegiert und BIPoC deprivilegiert«, ist das etwas ganz anderes als zu sagen: »Ich finde das unfair, weil das Max bevorteilt.« Sicherlich kann es sein, dass ich beide Male an strukturelle Diskriminierung denke und sie meine. Doch dass das mit der zweiten Formulierung auch so bei anderen ankommt, ist unwahrscheinlich. Wir denken meistens eben nicht an soziale Machtverhältnisse, wenn wir individuelle Ausschlüsse beobachten. Wenn wir aber untereinander ein strukturelles Diskriminierungsverständnis zugrunde gelegt haben und dann von Privilegien oder einer Deprivilegierung sprechen, ist im besten Fall allen automatisch klar, worüber wir sprechen.

Achte einmal darauf, wo du in der nächsten Zeit die Begriffe ›Diskriminierung‹ und ›Rassismus‹ hörst oder liest. Was wird dann genau darunter verstanden? Werden damit gesamtgesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse gemeint? Oder werden die Ausdrücke anders ausgelegt und wenn ja, wie?

Reflexionsfragen

Was hast du bisher unter ›Diskriminierung‹ verstanden?Was war in dem Abschnitt interessant und neu für dich?Gibt es andere Diskriminierungsformen als Rassismus, mit denen du dich schon tiefer beschäftigt hast? Was war der Auslöser hierfür?Wie definierst du deine eigene Identität im Hinblick auf Diskriminierung, z.B. Sexismus, Ableismus, Klassismus, Adultismus oder Ageismus? Welche Formen von Diskriminierung erlebst du selbst? Im Hinblick auf welche Formen von Diskriminierung befindest du dich auf der privilegierten Seite?

Rassismus – eine Form von Diskriminierung

Rassismus ist also eine Form von struktureller Diskriminierung. Das ist heute in der Forschung Konsens, also wissenschaftlich unstrittig. Die Krux ist nun, dass im Alltag mit Rassismus überwiegend gerade kein strukturelles Phänomen gemeint wird, weil es an einem Verständnis der strukturellen Dimension von Diskriminierung hapert. Dieses Problem zieht sich durch den Umgang mit allen Formen von Diskriminierung, und so bleibt vieles unberücksichtigt, was tatsächlich elementar ist, um Rassismus zu verstehen und letztendlich erfolgreich rassismuskritisch handeln zu können.

Im Alltag wird Rassismus überwiegend als Ausnahmeerscheinung betrachtet. Viele denken bei Rassismus an Hass, gewalttätige Übergriffe und Anschläge auf Unterkünfte für geflüchtete Menschen. Also an Einzelfälle. Demnach geht Rassismus von Einzeltäter*innen aus und alle, die rassistisch handeln, tun dies absichtlich und teilen menschenverachtende Ansichten. Auch wenn Rassismus in politischen Talkshows und Film- und Radiobeiträgen durchaus thematisiert wird, so wird er doch oft auf eine mehr oder weniger große Randerscheinung reduziert. Rassistisch sind die ›anderen‹, diejenigen, die die AfD oder andere rechtspopulistische Parteien wählen. Auch dann wird Rassismus auf eine bewusste persönliche Einstellung reduziert – und das nicht selten mit vollem Einsatz. Als z.B. kürzlich in den Medien die Debatte um rassistische Repräsentationen in den Winnetou Erzählungen Karl Mays aufflammte, schrieb die weiße Politikerin und ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger auf Twitter: »Ich finde diese #Winnetou Debatte einfach nur grauenvoll […] Ich habe 45 Karl May Bücher gelesen. Und bin weder Rassistin noch Anhängerin des Kolonialismus.«[1] Mittlerweile haben fast 9.000 Personen diese Nachricht geliked. ›Rassistisch? Ich doch nicht!‹, ist das, was am lautesten aus der ohnehin nur sporadisch breiter geführten Diskussion über Rassismus in Deutschland herausschallt. Nicht zuletzt tragen die immer wieder aufkommenden Berichterstattungen zu Rassismus in den USA dazu bei, dass viele Menschen Rassismus als ein Problem anderenorts wahrnehmen, das Deutschland kaum oder gar nicht betrifft. Mittlerweile gibt es zu diesen verbreiteten verkürzten Sichtweisen auf Rassismus sogar Daten. 2022 erschien die erste Studie, die umfassend analysiert, wie die Menschen in Deutschland Rassismus wahrnehmen. Sie trägt den vielsagenden Titel Rassistische Realitäten. Für die repräsentative Umfrage wurden rund 5.000 Menschen befragt. Herausgekommen ist dabei, dass 60% der Bevölkerung der Aussage zustimmen, dass Rassismus in erster Linie von Rechtsextremen ausgeht. Mehr als ein Drittel (35%) verortet ihn vor allem in den USA.[2]

Indem Rassismus sowohl sozial als auch räumlich externalisiert wird, ist er für viele Menschen genau eines nicht, nämlich ein Problem in Deutschland, das uns alle etwas angeht. Diese Ansicht hält sich hartnäckig, obwohl BIPoC auf vielfältige Weise genauso wie die Forschung nicht erst seit gestern anderes aufzeigen. Und ja, vor allem in den letzten Jahren hat sich etwas getan. Nach dem rassistischen Mord an George Floyd in den USA im Jahr 2020 weitete sich die internationale Black-Lives-Matter-Bewegung auch nach Deutschland aus. Noch nie gab es so viele neue Bücher, Podcasts, Videos und Interviews dazu, wie Rassismus funktioniert, wie seitdem. Viele davon auch noch kostenfrei und nur einen Klick entfernt. Noch nie wurde in Deutschland über Rassismus so viel gesprochen wie in jüngster Vergangenheit. Betonung auf Vergangenheit. Denn die breite Aufmerksamkeit, die das Thema Rassismus vor Kurzem erhalten hat, ist mittlerweile auch schon wieder Geschichte. Und wir müssen ehrlich zu uns sein, sie hat bei vielen Bürger*innen keine breite Wirkung hinterlassen. Das hat ganz sicher auch damit zu tun, dass viele Rassismus immer noch nicht richtig verstanden haben.

Dass Rassismus bis heute von vielen verengt als eine Randerscheinung verstanden wird, ist kein Zufall. So wie Rassismus herkömmlich ausgelegt wird, ist es schwierig, sich seiner umfassenden Wirkweise bewusst zu werden. Rassismus erscheint den meisten Weißen für sich selbst nicht relevant. Und wenn ich dieser Auffassung bin, dass Rassismus für mich nicht bedeutsam ist, warum sollte ich mich dann dazu informieren und weiterbilden? So beißt sich die Katze in den Schwanz. Das gängige Rassismusverständnis ist mit dafür verantwortlich, dass Rassismus weiter existiert. Was als Problem wahrgenommen wird, ist immer Ausdruck bestehender gesellschaftlicher Normen. Und wir leben in einer rassistischen Gesellschaft, in der struktureller Rassismus nicht ein Problem sein darf, das Weiße angeht, sondern unerkannt fortbestehen soll.

Selbstverständlich gibt es auch bewussten Rassismus. Die NSU-Morde und die Anschläge in Hanau, Chemnitz und Halle sind die noch bekannteren Beispiele hierfür. Vorsätzlicher Rassismus ist aber keine Ausnahme, wie es viele meinen. In Deutschland sind Rechtsextremismus und offene rassistische Gewalt, die auf dem Glauben der Höherwertigkeit weißer Menschen aufbauen, allgegenwärtig. Rund 22.000 Angriffe von rechts pro Jahr zeigen das. Das bedeutet, dass im Schnitt alle 24 Minuten solch eine rechte Straftat geschieht.[3] Der absichtsvolle Rassismus stellt wiederum nur die Spitze des Eisbergs dar. Rassismus umfasst noch viel mehr. So wichtig und unverzichtbar die Bekämpfung von Rechtsradikalismus auch ist, muss rassismuskritisches Handeln doch noch mehr umfassen. Zudem machen BIPoC nicht alle dieselben Rassismuserfahrungen. Es gibt unterschiedliche Formen von Rassismus. In der Forschung wird deshalb manchmal auch im Plural von Rassismen gesprochen. Eine Form ist zum Beispiel antimuslimischer Rassismus, der sich gegen Menschen richtet, die als muslimisch wahrgenommen werden. Andere Formen sind Gadjé-Rassismus, von dem Sint*izze und Rom*nja betroffen sind, und Anti-Asiatischer-Rassismus, den Menschen erleben, die als asiatisch gelesen werden. Dann gibt es noch Anti-Schwarzer Rassismus, der auch als Kolonialrassismus bezeichnet wird, weil seine Anfänge in der Kolonialzeit liegen. Damit betrifft Rassismus viele Menschen und soziale Gruppen und das in Teilen auch unterschiedlich. Die Studie Rassistische Realitäten kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als ein Fünftel der Bevölkerung direkt von Rassismus betroffen ist. Noch viel mehr Menschen kommen mit Rassismus in Berührung. Fast jede*r Zweite der im Rahmen der Untersuchung Befragten gibt an, eine BIPoC Person zu kennen, die von rassistischen Erfahrungen erzählt hat. Fast genauso viele haben schon einmal einen rassistischen Vorfall beobachtet.[4] Rassismus ist also keine Ausnahme, sondern die Regel. Auch deshalb, weil wir ihn sehr oft gar nicht erkennen.

Absicht ist nicht immer die Seele der Tat

Rassismus schlägt sich in allen Bereichen des vielfältigen alltäglichen Lebens nieder. Er hat viele Facetten. Er steckt zum Beispiel in Sprache und Kommunikation. Relevant sind dabei keinesfalls nur Begrifflichkeiten, wie der massenmediale Diskurs regelmäßig suggeriert. Rassismus kann schon in Blicken und Gesten zum Ausdruck kommen. Häufig passiert er alles andere als bewusst. Dann baut er auf tief verinnerlichten Denk- und Handlungsweisen auf, die meistens schon im Kindesalter erlernt wurden und uns ganz normal vorkommen. Weil Rassismus so tief darin verwurzelt ist, wie wir uns selbst, andere und die Welt wahrnehmen, passieren die meisten rassistischen Handlungen unbewusst. Sehr oft ist deshalb auch keine böse Absicht im Spiel. Die meisten von uns nehmen schlichtweg nicht wahr, inwiefern viele unserer Handlungen rassistisch wirken. Ich bin mir sicher, dass, wenn wir alle darum wissen würden, viele anders handeln würden. Ich habe so viele Menschen bei ihren Lernprozessen begleitet, die rückblickend bestürzt über ihr eigenes früheres Handeln waren und mittlerweile viele Dinge geändert haben.

Den meisten von uns ist nicht klar, dass wir auch rassistisch handeln können, wenn wir keine schlechten Absichten haben. Egal wie konstruktiv man es auch verpackt, wenn Feedback zu rassistischem Verhalten geäußert wird, wird normalerweise so reagiert: »Das war nicht so gemeint«. So als wäre die Sache damit erledigt. Keine böse Absicht, also Schwamm drüber und jetzt bitte weiter im Protokoll. Die dahinterstehende ›Logik‹ lautet: Weil es nicht rassistisch gemeint war, kann es auch nicht problematisch, ergo rassistisch gewesen sein. Auf diese Weise lebt sich das weit verbreitete verkürzte Verständnis von Rassismus als vorsätzliches Handeln in unserer Sprache und in unserem Umgang aus. Und ignoriert wird, dass die einzelne rassistische Handlung als eine Äußerung von Diskriminierung an ein System eines strukturellen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisses gebunden ist, ob ich das will oder nicht. Rassistische Begriffe, Kommentare oder Witze sind rassistisch, weil sie rassistische Denkweisen weitertransportieren, weil sie BIPoC als soziale Gruppe herabwürdigen und Weiße aufwerten und weil diese Denkweisen die real bestehende strukturelle Benachteiligung von BIPoC aufrechterhalten. Eine solche Wirkung kann sich auch völlig unabhängig von der Absicht entfalten.

Um beim Beispiel Sprache zu bleiben: Ob eine bestimmte Aussage eine rassistische Botschaft enthält oder nicht, darauf habe ich keinen Einfluss. Ich kann nicht individuell frei entscheiden, mit welchen Bedeutungen die Wörter, die ich benutze, aufgeladen sind. Dahinter stehen sozial geteilte Wissensbestände, in denen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln. Zudem ist Sprache nicht nur Abbild der Welt. Sie wirkt zugleich immer in die Gesellschaft samt ihren Machtstrukturen hinein. Wenn tatsächlich nur die Absicht darüber entscheiden würde, ob eine Aussage rassistisch ist, dann könnten wir uns die auch immer wieder medial geführte Diskussion über Sprache und Rassismus komplett ersparen. Sie wäre dann überflüssig. Rassismus wäre dann lediglich ein beliebiges Handeln ohne jeglichen sozialen Bezugsrahmen. Das ist natürlich Unsinn, schon allein deshalb, weil es ein solches sozial losgelöstes menschliches Handeln nicht gibt.

Wenn wir eine Person auf rassistisches Verhalten hinweisen und sie »Das war nicht meine Absicht« erwidert, dann liefert uns das also eine wichtige Information. Es zeigt an, dass ihr höchstwahrscheinlich die strukturelle Dimension von Rassismus nicht bewusst ist. Im Weiteren reden wir dann sehr wahrscheinlich aneinander vorbei, weil wir unter Rassismus verschiedene Dinge verstehen. Dann hilft es auch nicht viel, wenn wir fix erklären, dass wir eigentlich strukturellen Rassismus meinen. Niemand kann innerhalb eines einzigen Gespräches ein komplexes strukturelles Rassismusverständnis entwickeln und das dann auch noch problemlos auf etwas gerade Geschehenes übertragen. Leider. Ich selbst habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, inwiefern ganz alltägliche kleine Erfahrungen Teile eines großen überindividuellen Herrschaftssystems darstellen. Ich weiß, dass ich von anderen Weißen nicht erwarten kann, Rassismus von jetzt auf gleich erkennen zu können, weil ich das selbst nie gekonnt hätte. Umso wichtiger ist es, dass wir akzeptieren, was Kritiker*innen des Rassismus mittlerweile fast in jedem zweiten Satz erklären. Das können wir hier kurz und knapp als Merksatz so festhalten: Ausschlaggebend dafür, ob eine Handlung rassistisch ist oder nicht, ist nicht die Absicht, sondern wie die (Sprach-)Handlung wirkt. Dabei geht es um die Wirkungen in Bezug auf das umfassende System Rassismus genauso wie um die ganz konkreten Effekte für einzelne betroffene Personen. Wie eine betroffene Person damit umgeht, insbesondere nach außen hin, ist dann noch einmal etwas ganz anderes. Zum Beispiel ist es ja theoretisch möglich, dass eine Person mit Rassismuserfahrung bei einem rassistischen Witz mitlacht. Das macht aber den Witz nicht weniger rassistisch.

»Wir Deutschen sind weiß« aka »Woher kommst du?«

Ich sprach davon, dass es häufig passiert, dass wir beim Thema Rassismus aneinander vorbeireden, weil viele Rassismus auf absichtsvolles bewusstes Handeln reduzieren. Dafür möchte ich noch ein Beispiel geben: die ›Woher kommst du?‹-Frage, die Weiße an BIPoC richten, ohne die Person überhaupt näher kennengelernt zu haben. Die Frage ist ein mittlerweile vergleichsweise häufig diskutiertes Beispiel dafür, wie sich Rassismus in Deutschland sprachlich ausdrückt. Doch viele verstehen ihre Problematik immer noch nicht. Kaum einer meiner Workshops vergeht, ohne dass Teilnehmende die ›Woher kommst du?‹-Frage als Beispiel anbringen. Meistens wird dann gesagt, es handle sich bei der Frage doch nur um ein ehrliches Interesse am Gegenüber. Um Neugierde. Diese Sichtweise wird auffällig vehement verteidigt. Nicht selten wird völlig empört reagiert, wenn ich die Frage als Beispiel von Rassismus einordne. Denn es ist genau diese Neugierde, die bereits in Rassismus verstrickt ist. Das heißt, die Neugierde mag da sein, aber hinter ihr steckt eben noch mehr.

Die ›Woher kommst du?‹-Frage macht nur Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass die befragte Person nicht aus Deutschland kommen kann. Antwortet die Person z.B. »Oldenburg«, dann wird nachgehakt und sie muss hören: »Nein, ich meine, woher kommst du wirklich?« Und hier liegt das Problem: In der Frage drückt sich die in Deutschland hartnäckig anhaltende Annahme aus, dass Deutsche weiß sind und BIPoC deshalb nicht deutsch sein können. Mit anderen Worten: Wenn wir eine BIPoC Person fragen, »Woher kommst du?«, dann sprechen wir ihr, genauso wie allen anderen BIPoC, ab, deutsch zu sein. Eigentlich fragen wir: »Aus welchem anderen Land kommst du?«, wobei zum Beispiel bei Schwarzen Personen als Antwort ein afrikanisches Land erwartet wird. Wir kommunizieren also zwischen den Zeilen: »Du gehörst nicht zu uns. Du bist anders.« Das ›Wir‹ und Deutsch-Sein verknüpfen wir gleichzeitig mit Weiß-Sein. Und heraus kommt die Botschaft: »Wir Deutschen sind weiß.« Deshalb stellen wir Weiße uns die Frage auch nicht untereinander auf diese Weise und als erstes, wenn wir eine neue weiße Person treffen – so wie es BIPoC immer wieder von uns erleben.

Natürlich gibt es in Deutschland viele BIPoC, die in Deutschland nicht zu Hause sind. Das gilt aber genauso für viele Weiße, die hier Urlaub machen, auf Geschäftsreise sind oder sich aus welchem Grund auch immer übergangsweise in Deutschland aufhalten. Und wenn ich eine Person neu kennenlerne und im Laufe des Gesprächs stellt sich dann heraus, dass sie nicht aus Deutschland kommt, und ich dann neugierig werde, wo sie herkommt, dann ist das natürlich nachvollziehbar. Die ›Woher kommst du?‹-Frage ist problematisch, weil BIPoC diese Frage ständig hören müssen, und zwar unabhängig davon, ob sie eine deutsche Staatsbürger*innenschaft besitzen und ob Deutschland ihr Zuhause ist oder nicht. Wir stellen die Frage, ohne zu wissen, ob die Person überhaupt woanders herkommt oder nicht. Damit kommunizieren wir, dass BIPoC nicht zum Deutschen gehören. Und selbst wenn die Person tatsächlich schon woanders gelebt haben sollte, reiht sich die Frage in tagtägliche Erfahrungen von rassistischen Fremdzuschreibungen ein. Wir stellen sie Menschen, die bereits in ihrem Alltag immer wieder erleben, dass ihnen die Zugehörigkeit in Deutschland abgesprochen wird. Ein PoC Freund von mir antwortete neulich, als er die ›Woher kommst du?‹-Frage mal wieder hören musste, schlicht: »Also eigentlich bin ich hier zu Hause«. Er ist in Ägypten geboren, aber lebt schon seit über 30 Jahren in Deutschland, spricht perfekt Deutsch und besitzt einen deutschen Pass. Doch seine Zugehörigkeit zu Deutschland wird ihm unter anderem mit der ›Woher kommst du?‹-Frage immer wieder abgesprochen, und zwar einzig und allein, weil er PoC ist. Mit der ›Woher kommst du?‹-Frage mag vielleicht keine böse Absicht verbunden sein. Trotzdem werden mit ihr rassistische Denkweisen wiederholt (›Deutsche sind weiß‹) und Fremdzuschreibungen vorgenommen, die für BIPoC eine Rassismuserfahrung darstellen.

»Ich werde wegen meines Dialekts auch immer wieder gefragt, woher ich komme!«, so lautet an dieser Stelle manchmal ein – nennen wir es – Einwand weißer Teilnehmender in meinen Workshops. Diese Erfahrung will ich nicht bestreiten. Ich kenne sie außerdem selbst. Wegen meines norddeutschen Akzents werde ich oft gefragt, woher ich komme. Wobei die Frage dann meistens eher direkt lautet: »Kommst du aus dem Norden?«, weil eben genau das angenommen wird. Das ist in diesem Fall aber kein Ausdruck der strukturellen Diskriminierung von Weißen oder aller Menschen aus Norddeutschland. Beides gibt es nämlich nicht. Das Ganze ist also keine vergleichbare Erfahrung zur ›Woher kommst du‹-Frage, die an BIPoC gerichtet ist. Als Weiße werden wir nicht gefragt, woher wir kommen, weil andere davon ausgehen, dass es einzig und allein aufgrund unseres Weiß-Seins das Ausland sein muss.

Der Umgang mit der ›Woher kommst du?‹-Frage, den ich in meinen Veranstaltungen regelmäßig erlebe, sagt für mich viel darüber aus, wie Rassismus in Deutschland funktioniert: Die meisten Menschen kennen die komplexe Wirkweise von Rassismus nicht. Sie nehmen nicht wahr, wie eigene verinnerlichte Denk- und Handlungsweisen, Selbst- und Fremdbilder sowie Sprache mit Rassismus verbunden sind. Wenn dann der Hinweis darauf kommt, dass bisher mit gutem Gewissen verwendete Ausdrücke und Formulierungen problematisch sind, kann das unangenehm sein. Es kann Scham- und Schuldgefühle auslösen. Deshalb wird mit Abwehr reagiert. Viele verspüren dann auch einen ›Rassismusvorwurf‹, den sie nicht hinnehmen möchten. Denn viele verstehen Rassismus eben so, wie er im Alltag ausgelegt wird, nämlich als das bewusste und absichtsvolle Handeln überzeugter Rassist*innen. Bei einer solchen Sicht auf Rassismus kommt es einer beleidigenden Anschuldigung gleich, wenn auf eigenes rassistisches Handeln hingewiesen wird. Was bei vielen ankommt, ist: ›Du bist ein schlechter Mensch‹. Wer will sich das schon sagen lassen?

In einem Workshop erklärte eine Teilnehmerin einmal, sie habe »höllische Angst davor, auf eigenes rassistisches Verhalten hingewiesen zu werden«. Was denn so ein Hinweis bei ihr auslöse, habe ich sie gefragt. Was sie dann fühle? Sie sagte, sie fühle sich dann zurückgewiesen und ungemocht. Genauso wenig wie wir uns von heute auf morgen ein strukturelles Rassismusverständnis aneignen können, können wir das, was wir bisher unter Rassismus verstanden haben, auf die Schnelle verlernen. Das Ganze ist nicht einfach in einem Tages-Workshop oder durch das Mitlaufen auf Protesten gegen Rassismus ablegbar. Ich nehme an, dass viele Weiße in meinen Veranstaltungen auch zum Ende noch denken, ich würde ihnen unterstellen, absichtlich rassistisch zu handeln. »Ich lass mir von Ihnen keinen Rassismus andichten«, ließ mich ein Teilnehmer neulich am Ende des gemeinsamen Tages wissen. Ich kann erklären, dass Rassismus auch unabsichtlich passieren kann. So sehr ich mich bemühe, häufig scheint das einfach nicht durchzudringen. Dass Rassismus nur vorsätzlich passiert, ist eine tief verinnerlichte Vorstellung. Deshalb kann ich die Empörung, die ich in meinen Workshops immer wieder erlebe, tatsächlich auch gut nachvollziehen. Denn wenn mir jemand ernsthaft vorwerfen würde, bewusst und intentional rassistisch zu handeln, würde ich mich ebenso dagegen wehren. Wahrscheinlich würde ich ähnlich betroffen und wütend reagieren. Nur meine ich genau das nicht. Mir geht es nicht darum, Weiße des bewussten Rassismus zu beschuldigen oder Weiße insgesamt als schlechte Menschen darzustellen. Leider wird rassismuskritischen Ansätzen genau das immer wieder unterstellt. Dabei tun sie das nicht. Im Gegenteil. Rassismuskritik ist uns Weißen