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Kritische Lebensereignisse gehören zum Erfahrungshorizont fast aller Menschen. Es gilt zu präzisieren, was Ereignisse als kritisch ausweist und welchen Platz sie jeweils im Leben (und auch in Lebenserinnerungen) einnehmen. Nicht selten führen solche Ereignisse zu tiefgreifenden Erschütterungen des Selbst- und Weltbildes, sie erzeugen Chaos im Kopf und drohen die Betroffenen in eine tiefe emotionale Krise zu stürzen. Inwieweit die Betroffenen daraus gestärkt hervorgehen oder in ihrer Handlungsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigt sind, hängt wesentlich von ihrem Bewältigungsverhalten ab. Dieses wird umfassend - als mentales wie auch als sozial interaktives Geschehen - beleuchtet. Abschließend wird illustriert, wie Hilfe im Umfeld kritischer Ereignisse (v. a. Krisenintervention) gestaltet sein kann. Aktuelle Erkenntnisse und Entwicklungen zusammengefasst in einem Kommentar zur 2. Auflage.
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Prof. Dr. Sigrun-Heide Filipp ist Professorin der Psychologie an der Universität Trier (Ende der Lehrtätigkeit 2008).
Dr. Peter Aymanns war bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Psychologie an der Universität Trier.
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2. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-032918-8
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epub: ISBN 978-3-17-032920-1
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Seit Erscheinen der Erstauflage dieses Buches sind weniger als zehn Jahre vergangen. Ein kurzer Blick in die Welt zeigt uns, dass unsere Thematik keinesfalls an Brisanz und Aktualität verloren hat: Ganze Gesellschaften und Millionen von Menschen befinden sich auf den »Schattenseiten« des Lebens. Und ein kurzer Blick in die Datenbanken unseres Faches zeigt uns, dass einzelne Stichwörter uns oft zu mehreren tausend einschlägigen Veröffentlichungen in den letzten Jahren führen. Was tun? Auf der einen Seite sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass unser Buch noch immer einen sehr guten Überblick der Forschungslandschaft zu kritischen Lebensereignissen bietet; auf der anderen Seite sind einige Themen in den Vordergrund gerückt, die wir mit subjektiver Akzentuierung und ohne jegliche Systematik auf den folgenden Seiten kurz darstellen wollen.1
Es ist nicht neu, Ereignisse in ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext und auf der Makroebene zu beleuchten (»history-graded events«; Kap. 2.2.4). Beispielhaft dafür standen Arbeiten, die der Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre oder unlängst der »Finanzkrise« des Jahres 2008 (Pruchno et al., 2017) gewidmet waren. In diesen Arbeiten ging es nicht darum, singuläre (kritische) Ereignisse und ihre vermuteten Folgen in den Blick zu nehmen, sondern sie waren darauf ausgerichtet, die soziohistorische Kontextualisierung lebenslanger Entwicklung zu illustrieren und nachzuweisen, wie sehr individuelle Entwicklungsverläufe von solchen »Makroereignissen« bestimmt sind und wie unterschiedlich die Folgen sind, die diese Ereignisse für einzelne Generationen resp. Geburtskohorten besessen haben.
Seit jeher und bis zum heutigen Tage sehen wir gänzlich andere Varianten zeitgeschichtlich verorteter Ereignisse: Unzählige Studien sind und waren dem kollektiven Leid gewidmet, von dem große Teile einer Bevölkerung betroffen waren. In diesen Studien ging es – ganz der tradierten Unterscheidung von »natural disasters« versus »man-made disasters« folgend – entweder um Überlebende großer Natur- und Umweltkatastrophen oder um Menschen, die Opfer der unterschiedlichsten Formen menschlicher Gewalt geworden waren. Bis heute gilt es dabei als unwidersprochener Befund, dass es die letztgenannten Erfahrungen sind, die nachhaltige Folgen für die Betroffenen zeitigen (zuletzt Brown et al., 2017). In den Blick geraten ist zudem kollektives Leid in der Folge von Kämpfen und Kriegen, von Folter und staatlicher Gewalt, von Flucht und Vertreibung – »Massentraumatisierung« hat sich hier inzwischen als Begriff eingebürgert. Dementsprechend sehen wir millionenfaches individuelles Leid bei den betroffenen Menschen, die (wiederkehrenden) traumatischen Erfahrungen ausgesetzt sind oder waren. Solche kollektiven wie individuellen Erfahrungen sind, wie wir wissen, weder erstmalig noch einmalig in der Geschichte von Menschen. Für unsere Tage neu daran ist indes, dass all dies eine nie dagewesene mediale Präsenz besitzt und wir – oft ungewollt – zu (virtuellen) Zeugen der vielen Tragödien in den entferntesten Winkeln dieser Erde werden. Bruchstückhaft haben diese Tragödien – wenn überhaupt – Eingang in die Forschung gefunden.
Über Jahrzehnte galt in der Belastungs- und Bewältigungsforschung das Interesse den Menschen, die in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt waren. Die (US-amerikanische) Forschung hatte sich anfangs bekanntlich den Veteranen des Vietnamkriegs oder der Koreakriege zugewandt, später ging es z. B. auch um Soldaten, die am Irak-Krieg teilgenommen hatten (Holbrook et al., 2010). Wittchen et al. (2012) haben über die Folgen berichtet, die bei deutschen Soldaten nach ihrem Einsatz in Afghanistan zu beobachten waren: Diese wiesen (bezogen auf eine Vergleichsgruppe von Soldaten ohne Auslandseinsatz) ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko auf, Symptome einer Belastungsstörung zu entwickeln. Und bis heute finden sich Studien, die in Deutschland mit Soldaten des Zweiten Weltkrieges (z. B. Nandi et al, 2014) oder mit Hinterbliebenen von im Zweiten Weltkrieg vermissten deutschen Soldaten (Orlowski et al., 2016) durchgeführt wurden. Diese und andere Befunde verweisen beispielhaft auf den langen Arm solcher Erfahrungen selbst über Jahrzehnte hinweg. Kurzum: Das Trauma von Kriegserfahrungen, das millionenfach, in vielen Ländern und fast zu allen Zeiten das Leben der Betroffenen verändert hat, findet bis heute entsprechende Aufmerksamkeit.
Zudem sind und waren Traumatisierungen nicht nur bei denjenigen zu beobachten, die direkt am Kriegsgeschehen beteiligt sind, sondern oft sind auch große Teile der Zivilbevölkerung in Regionen mit Kriegen oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen davon betroffen. Das Interesse gilt dabei zunehmend auch Kindern, die Terror ausgesetzt waren und/oder in Kriegsgebieten leben mussten, einschließlich jener, die als sog. »Kindersoldaten« missbraucht wurden (Hermenau et al., 2013; Masten & Narayan 2012; auch Fernando & Ferrari, 2013). Zwar ließ sich auch für diese Gruppen der aus der Traumaforschung berichtete »dose-response«-Gradient nachweisen, wonach die Folgen eines Ereignisses (oder einer Ereignisfolge) umso gravierender sind, je traumatischer und anhaltender diese Erfahrungen waren. Doch hat sich gerade für Stichproben von Kindern (und Jugendlichen) die Trennung oder der komplette Verlust von Eltern und Familien als ein zusätzlicher besonders kritischer Faktor erwiesen (vgl. die Metaanalyse von Furr et al., 2010). Zugleich wurde berichtet, dass bei Kindern seltener als bei Erwachsenen (bei vergleichbaren Belastungen) das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu sehen sei – viel häufiger seien bei ihnen Entwicklungsrückschritte oder -verzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten oder andere Belastungssymptome nachweisbar (siehe Fegert et al., 2018).
Zunehmend finden sich auch Studien mit Personen, die Opfer staatlicher Willkür bis hin zu Folterungen geworden sind (Gurris & Wenk-Ansohn, 2013), wobei Folter durchweg als die übelste Form der »man-made disasters« etikettiert wird, von der Menschen bis heute in vielen Ländern bedroht sind. Solche Beispiele zeugen davon, welche Abgründe sich in menschlichem Handeln auftun und was der Mensch dem Menschen zuzufügen in der Lage ist. Es sind Erfahrungen auf Seiten der Opfer, die ganz offensichtlich keine Entsprechungen in unserer Vorstellungswelt besitzen, weshalb sie eben im schlimmsten Sinne des Wortes »unfassbar« und so unendlich schwierig zu bewältigen sind. Auch die vielen Studien mit Überlebenden des Holocaust und vor allem die unzähligen Bücher, in denen diese Überlebenden ihre Erinnerungen niedergeschrieben haben, zeugen von solchen »unfassbaren« Erfahrungen und ihren Langzeitwirkungen. Zwischenzeitlich sind auch andere Opfer staatlicher Willkür in den Blick geraten – etwa Überlebende des Rote Khmer-Regimes in Kambodscha (Stammel et al., 2013) oder Personen, die ehemals in der DDR politisch inhaftiert worden waren (Maercker, Gäbler & Schützwohl, 2012) – um nur einige Beispiele zu nennen. Nicht selten ist in diesen Studien von einer »traumabezogenen Langzeitmorbidität« die Rede, deren Symptomatik noch nach Jahrzehnten erkennbar sei. Leid, das Menschen von anderen Menschen in welcher Form auch immer (intentional) zugefügt wird, stößt eben fast immer an die Grenzen des Bewältigens.
Auch Flucht und Vertreibung gehören wohl schon immer zu den größten Tragödien, von denen Massen von Menschen bis heute betroffen sind und waren. Mit Blick auf das Jahr 2014 wird von annähernd 60 Millionen Menschen ausgegangen, die weltweit auf der Flucht sind (Brown et al., 2017); das damit verbundene Leid dieser Millionen von Menschen bleibt und blieb den Forschern in aller Regel verborgen. [Vielleicht mag auch die Ehrfurcht vor dem unvorstellbaren Leiden der Betroffenen so manchen Impuls wissenschaftlicher Neugier unterdrücken?] Selbstredend gibt es Ausnahmen und empirische Evidenz mit Blick auf unterschiedliche Regionen und Epochen.
Erst kürzlich hat sich der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen (siehe Fegert et al., 2017) in einem Gutachten mit der Situation von aus Kriegsgebieten geflüchteten Familien und ihren Kindern befasst. Dort wird hervorgehoben, dass »Kinder aus Flüchtlingsfamilien wegen ihrer Traumatisierungen im Heimatland und der vielfältigen Belastungen durch die Flucht besonders gefährdet seien, gravierende kognitive und sozioemotionale Störungen zu entwickeln und in ihrem weiteren Entwicklungsverlauf nachhaltig beeinträchtigt zu sein« (S. 6). Diese Risiken seien zudem erheblich vergrößert, wenn die Eltern ihrerseits traumatisiert und deshalb kaum in der Lage seien, für ihre Kinder förderliche Lebensbedingungen mit zu schaffen. Folgerichtig sei es eine vordringliche Aufgabe, die Erziehungskompetenz von Flüchtlingseltern zu stärken. Dass es von jeher auch immer um die therapeutische Behandlung traumatisierter Erwachsener wie Kinder ging, zeigt die beindruckende Zahl von Arbeiten, die den Möglichkeiten professioneller Hilfen, der Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörungen und anderer Traumafolgen gewidmet sind (zuletzt Brown et al., 2017; zum Überblick auch Maercker, 2013).
Für eine Stichprobe von Personen, die in die Niederlande geflüchtet waren und dort im Durschnitt bereits über zehn Jahre lebten, berichten Huijts et al. (2012) eine hohe Prävalenz von Traumafolgestörungen. Lindert et al. (2018) haben in ihrer Übersichtsarbeit auf sehr hohe Prävalenzraten auch für Angst und Depression in Stichproben geflüchteter Personen verwiesen, zugleich aber betont, wie wenig letztlich in Deutschland (und vermutlich weit darüber hinaus) über die psychische Situation von geflüchteten Personen bekannt sei. Mit Blick auf die Folgen des Zweiten Weltkriegs haben Kuwert et al. (2012) bei einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung Erfahrungen von Flucht und Vertreibung ermittelt und dies für gut 12 Prozent der Befragten berichtet. Dabei zeigte diese Gruppe im Vergleich zu Personen ohne Fluchterfahrung auch noch 60 Jahre später deutlich erhöhte Symptome einer PTBS, wobei sich die Anzahl singulärer traumatisierender Erlebnisse, denen diese Menschen während der Flucht ausgesetzt waren, als der entscheidende Mediator erwies. Vor diesem Hintergrund mag es auch nicht verwundern, dass »Heimweh« erneut zu einem vielzitierten psychologischen Konstrukt avanciert ist, das nunmehr im Kontext von Flucht und Vertreibung ein neues Gesicht erhält (Übersicht siehe Stroebe, Schut & Naud, 2015).
Das verbreitete Interesse an (traumatischen) Ereignissen, die große Gruppen von Menschen bis hin zu ganzen Völkern betreffen, ist – wie soeben skizziert – der Tatsache geschuldet, dass die Welt an vielen Orten aus den Fugen geraten und millionenfaches Leid über große Bevölkerungsgruppen bis hin zu ganzen Völkern gekommen ist. Es wäre indes Sarkasmus pur und käme einer Verhöhnung der Opfer gleich, wollte man hier auf die alte Volksweisheit vertrauen, wonach »geteiltes« Leid eben nur »halbes« Leid sei (wie es zuweilen implizit bei »history-graded events« mitgeklungen war). Die Rede vom Teilen des Leids mag sich – wenn überhaupt – hin und wieder aufdrängen, wenn es im Zuge von technischen Desastern oder (Natur)Katastrophen zu einer Solidarisierung der Opfer und zu wechselseitiger Unterstützung oder nachhaltigen Formen der Vernetzung gekommen war und/oder wenn die Betroffenen das Geschehen mit mutueller Hilfe hatten bewältigen können. In allen Fällen aber werden Ereignisse auf der Makroebene stets transformiert in individuelles Schicksal und in das Leiden jedes einzelnen Menschen. Insofern geht es immer um die Kernfragen, wie sie in der Ereignisforschung seit jeher diskutiert werden: Wie gehen die Betroffenen mit dem fraglichen Ereignis um? Welche Folgen hat es für die Betroffenen? Welche individuellen Unterschiede in Risiken und Ressourcen sind erkennbar? Dies macht deutlich, dass die in unserem Buch dargelegten Themen und Befunde auch auf Analysen auch traumatischer Ereignisse anwendbar sind, obschon diese selbstredend auch Spezifika aufweisen, die über unser Verständnis von kritischen Ereignissen weit hinaus gehen.
Zugleich ist die begriffliche Festlegung, wonach es sich bei einem (kritischen) Ereignis um ein raumzeitlich eng umgrenztes (inzidentelles) Geschehen handle, unscharf geworden; denn viele Ereignisse, die heute im Fokus stehen, weisen entweder eine große zeitliche Erstreckung auf (z. B. Vertreibung), oder es handelt sich eben nicht um ein einmaliges Gesehen (z. B. Verwicklung in einen schweren Unfall), sondern um wiederkehrende Erfahrungen, denen die Betroffenen immer und immer wieder ausgesetzt sind. Das mag für Beteiligte an Kriegshandlungen ebenso gelten wie für jene, die in ihrer Kindheit Opfer sexualisierter Gewalt resp. sexuellen Missbrauchs geworden sind.
»Sexueller Missbrauch resp. Gewalt in der Kindheit« hat als Ereigniskategorie offenbar in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So betont Maercker (2013), dass er dazu erstmals in die Vierte Auflage seines Sammelbands ein entsprechendes Kapitel aufgenommen habe (Ehring, 2013). In der Tat fällt auf, dass auch einige Metaanalysen zu den (Langzeit-)Folgen belasteter Kindheiten »Sexualisierte Gewalt gegen Kinder« nicht durchgängig als spezielles Ereignis aufführen (z. B. Hiller et al., 2016; Trickey et al., 2012); oft wurden in den einzelnen Studien eher akzidentelle Ereignisse (z. B. Verwicklung in einen Verkehrsunfall, schwere Erkrankung, Naturkatastrophe) thematisiert. Natürlich ist die Erfahrung von Gewalt in der Kindheit weder ein neues noch ein seltenes Phänomen (für deutsche Stichproben z. B. Deegener, 2013; Schilling et al., 2016), wie auch der »lange Arm der Kindheit«, vor allem wenn diese von kritischen oder traumatischen Ereignissen überschattet war, immer ein Forschungsthema gewesen ist (Kap. 9.1). Wohl aber muss man hier auf den Mantel kollektiven Schweigens verweisen, unter dem verschiedene Formen körperlicher (sexualisierter) Gewalt gegen Kinder über Jahre oder Jahrzehnte verdeckt geblieben sind (was vermutlich für viele Regionen und Länder der Erde gilt). Mit Blick auf Deutschland denkt man zugleich an die schleppende Aufdeckung und den nunmehr öffentlich gewordenen Tatbestand des langjährigen Missbrauchs, dem Kinder und Jugendliche in Schulen, Internaten, (Sport-)Vereinen oder kirchlichen Einrichtungen ausgesetzt waren. Auch die Betroffenen ihrerseits fanden und finden in vielen Fällen keine Worte, um das Erlebte mitzuteilen und zu beschreiben, weshalb sich über Jahre zu dem kollektiven Schweigen auch die jeweils individuelle Sprachlosigkeit gesellt hat. Nicht übersehen werden darf selbstredend, dass Kinder immer auch innerhalb ihrer Familien oder Verwandtschaftssystemen zu Opfern sexueller Missbrauchs geworden sind und werden und sie auch dort mit einem kollektiven Schweigen konfrontiert sind.
Wie der Darstellung von Ehring (2013) zu entnehmen ist, sind die langfristigen, d. h. bis in das Erwachsenenalter hineinreichenden Folgen kindlicher Gewalt- und Missbrauchserfahrungen nicht (nur) als Symptome einer PTBS abzubilden, sondern diese manifestieren sich offenbar in einer Vielzahl komorbider Störungen. Daher müsse von einer »hohen Symptomkomplexität« (S. 400) gesprochen werden, deren Ausmaß mit Anzahl, Dauer und Schwere der in der Kindheit erlebten Traumata direkt korrespondiere. Dass zudem, wie Ehring (2013) weiter ausführt, in den einschlägigen (Meta-)Analysen, die der Effektivität psychotherapeutischer Behandlung einer PTBS gewidmet waren, Studien mit Erwachsenen, die in ihrer Kindheit Opfer sexueller und/oder körperlicher Gewalt gewesen waren, unterrepräsentiert seien, mag ein weiterer Beleg für den genannten »Mantel des Schweigens« sein. Vermutlich wird es noch lange dauern, bis die psychobiologische Forschung jene Veränderungen identifiziert hat, über die solche extrem aversiven Kindheitserfahrungen transformiert werden in die Entstehung körperlicher Erkrankungen und psychischer Störungen im Erwachsenenalter.
Im Gegensatz zu der klaren Umschreibung dessen, was Ereignisse zu »traumatischen« Erfahrungen macht (v. a. Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit), lässt sich bis heute nicht eindeutig explizieren, was Ereignisse als »kritisch« ausweist. Als gemeinsamen begrifflichen Kern teilen die einzelnen in der Forschung beachteten Ereignisse (Kap. 2.3), dass sie fundamentale Weltsichten sensu »positiver Illusionen« (»meine Welt ist ein sicherer Ort«) erschüttern, dass sie die Befriedigung zentraler Bedürfnisse (z. B. nach Zugehörigkeit, nach Selbstachtung, nach Vertrauen in andere und/oder in das eigene Tun etc.) verhindern oder erschweren und/oder dass sie von Angst und/oder Hilflosigkeit begleitet sind. Über die in diesem Sinne »kritischen« Ereignisse hinaus nehmen Verlustereignisse bis heute einen breiten Raum in der Forschung ein, und zwar Verluste normativer Art (z. B. Tod des Ehepartners im hohen Alter) wie auch Verluste in Form erwartungswidriger, non-normativer Zäsuren im Leben (z. B. Tod eines Kindes) bis hin zu Verlusten, die eingebettet sind in kollektives oder individuelles Trauma (z. B. Verlust der Heimat).
Korrespondierend mit dem Interesse an Verlust als breiter Ereigniskategorie findet bis heute der Verlauf des Trauerprozesses resp. finden die einzelnen Varianten der Verlustverarbeitung große Beachtung. Dies zeigt sich u. a. darin, dass prolongierte (komplizierte) Trauer ein prominentes Forschungsthema geblieben ist (z. B. Lundorf et al., 2017; Maccallum & Bryant, 2013; Stroebe, Schut & van den Bold, 2013). Zunehmend wird dabei auf die konzeptuelle Nähe prolongierter Trauer zu repetitivem Denken und Rumination (»grief rumination«; z. B. Eisma et al., 2015; Kap.7.2) verwiesen. Es geht dabei um Gedanken, die in Form des »vor sich hin Brütens« um den Verlust resp. die verlorene Person kreisen und die sich der willentlichen Kontrolle des Trauernden entziehen. Verlustbezogene Gedanken dominieren und verhindern, dass die Betroffenen – um im Sinne des »Dual process model of trauma« von Bonanno et al. (2011) zu sprechen – eine nach vorne gerichtete Perspektive einnehmen können. Ähnliches war bereits in dem »Zwei-Prozess-Modell des Trauerns« angesprochen worden (Stroebe & Schut, 1999; Kap. 6.2). Repetitives Denken resp. Rumination hat eben deshalb eine so lange Haltbarkeitsdauer, weil es den Betroffenen nicht gelingt, Kontrolle über ihr Denken zu gewinnen und ihre Aufmerksamkeit strategisch zu steuern (im Gegensatz zu »reflexivem« Ruminieren, das willentlicher Kontrolle unterliegt). Dies hat bekanntlich zur Folge, dass sich depressive Störungen entwickeln bzw. depressive Episoden zeitlich ausgedehnt und in ihrer Intensität verstärkt werden (Siegrist, Bellingrath & Kudielka, in press). Dass in der (habituellen) Neigung zu Rumination auch der Schlüssel zum Verständnis von Geschlechterunterschieden in depressiven Störungen liegt, erscheint als relativ gesichert (Shors et al., 2016). Zudem gilt das Interesse seit jeher auch den spezifischen Inhalten, um die repetitives Denken kreist. Diese mögen sich in Form von Reue, kontrafaktischem Denken, erlebter Ungerechtigkeit oder Schuldgefühlen nach dem Tod einer geliebten Person (z. B. Li et al., 2013) manifestieren und schwer zu tragende Lasten in sich bergen.
Folgerichtig wird Modellen der Aufmerksamkeitssteuerung bis heute besondere Beachtung geschenkt (Whitmer & Gottlieb, 2013); dies gilt insbesondere auch, wenn es um die Bewältigung traumatischer Ereignisse geht. Denn Defizite in der Aufmerksamkeitssteuerung, wie sie sich in ruminativem Denken offenbaren, befördern nicht nur Depression, sondern auch Angststörungen und das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln (z. B. Iqbal & Dar, 2015; Krenek & Majisto, 2013). Zudem gilt für traumatische Erfahrungen, dass sie zentrale Gedächtnisinhalte in Struktur und Funktion nachhaltig verändern und »böse Narben im Kopf« hinterlassen (wie Herta Flor in der FAZ vom 13. Dezember 2017 schrieb). Dies offenbart sich nicht nur in wiederkehrenden Intrusionen und »flashbacks«, die ihrerseits vom Unvermögen der Person zeugen, Kontrolle über ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen (zusammenfassend vgl. Maercker, 2013), sondern auch in dissoziativen Phänomenen als dem teilweisen oder vollständigen Unvermögen, die betreffenden Erfahrungen in das autobiografische Gedächtnis zu integrieren. Nach unserem Überblick hat diese Thematik eine außerordentliche Resonanz in der Forschung (auch und gerade mit Blick auf das breite Spektrum möglicher Interventionsansätze) gefunden.
Als gleichsam salutogenetisches Gegenstück zu repetitivem Denken und Rumination findet neuerdings die Flexibilität des Bewältigungsverhaltens besondere Beachtung: Wie Cheng et al. (2014) im Rahmen ihrer Metaanalyse hervorheben, wird »Flexibilität« höchst unterschiedlich konzeptualisiert und besitzen die einzelnen Varianten unterschiedliche adaptive Bedeutung. Eine Variante von Flexibilität wurde in den erwähnten dualen Modellen thematisiert, in denen der flexible Wechsel der Aufmerksamkeit von dem Vergangenen (Trauma, Verlust) auf das Künftige (Wiederherstellung, Erholung; vgl. »trauma focus vs. forward focus«; Bonanno et al., 2011) betont wird. In diesem (willentlich herbeigeführten?) Wechsel soll der Schlüssel für eine langfristig gelingende Bewältigung liegen. Eine völlig andere Konzeption von Flexibilität im Bewältigungsgeschehen liegt dem Zwei-Prozess-Modell von Brandtstädter zugrunde (vgl. »Das flexible Selbst«; Brandtstädter, 2007; Kap. 6.4), das breite Beachtung gefunden und zwischenzeitlich (auch international) eine Fülle empirischer Studien angeregt hat (zuletzt z. B. Martinet et al., 2017). Ursprünglich war diese Modellbildung zentriert um das Verständnis gelingenden Alterns resp. positiver (Selbst-)Entwicklung über die Lebensspanne, die als Folge des adaptiven Wechselspiels beider Formen der Handlungsregulation (siehe unten) aufgefasst wird. Doch lässt sich der Geltungsbereich dieses Modells nahtlos auf den Umgang mit kritischen Ereignissen (in Sonderheit den Umgang mit Verlusten) übertragen. Denn diese sind konzeptuell auch zu fassen als Ereignisse, die die Erreichung wichtiger Lebensziele dauerhaft blockieren und Handlungspfade verschließen und der Person »Loslassen!« als Imperativ auferlegen. Demgemäß stellt »flexible Zielanpassung« (Akkomodation) in dieser Situation den adaptiven Prozess dar, indem das Aufmerksamkeitsfeld (auch: nicht intentional) für alternative Ziele und Handlungspfade geweitet, die Valenz des jeweiligen alternativen Ziels aufgewertet und die Valenz des blockierten Ziels abgewertet wird. Hingegen würde der alternative Prozess »hartnäckige Zielverfolgung« (Assimilation) in Form des rigiden Festhaltens an Unerreichbarem oder der misslingenden Abwertung des Verlorenen etc. in dieser Situation in Depression (oder andere Störungen) münden. Es geht also im Kern um das ewige, oft so schmerzhafte Wechselspiel zwischen »Loslassen« (Müssen) und »Festhalten« (Wollen), wie es sich allgemein im Umgang mit Verlusterfahrungen offenbart. Nur am Rande sei auch auf einen anderen Pfad verwiesen: Koppe und Rothermund (2016) konnten zeigen, dass einer Stichprobe Depressiver die Zielablösung und das Loslassen (»Let it go«; hier: die Bearbeitung einer unlösbaren Aufgabe frühzeitig beenden) besser gelingt als einer Kontrollgruppe von Nicht-Depressiven. Dies mag an das Diktum vom »depressiven Realismus« erinnern, wonach Depressive die faktische Nicht-Kontrollierbarkeit einer Situation schneller erkennen als Nicht-Depressive und somit weniger der »Illusion der Kontrolle« erliegen. Beide Beispiele weiten auch den Blick für die »adaptiven« Seiten einer Depression. Es geht also in dem genannten Zwei-Prozess-Modell um grundlegende Mechanismen der Informationsverarbeitung im Visavis eines kritischen Ereignisses und um die Passung zwischen den situativen (d. h. ereignisspezifischen) Erfordernissen und den jeweiligen (automatischen wie strategischen) Varianten der Handlungsregulation. Dass es auf eben diesen »fit« ankomme, ist auch ein wichtiger Befund der oben erwähnten Metaanalyse von Cheng et al. (2014; hierzu auch Skinner & Zimmer-Gembeck, 2016).
Jenseits der unzähligen Arbeiten zu Trauma und Verlust und ihren Folgen hat »Stress« als Forschungsthema bis heute nichts an Aktualität eingebüßt, wie sich auch bis heute Forscherpersönlichkeiten der ersten Stunden zu Wort melden (z. B. Folkman, 2013). Was »Stress« für den Einzelnen sei und worin die Besonderheiten einzelner Stressoren zu sehen seien, ist indes weiterhin eine eher offene Frage. Denn während die Stärke eines Traumas (dessen »Dosis«) zwischen den Betroffenen in der Regel nicht stark variiert und vergleichbare Folgen produziert (vgl. das Konzept des »dose-response«-Gradienten; siehe oben), ist die Intensität eines Stressors bekanntlich weniger gut zu bestimmen. Das Erleben von Stress weist hohe interindividuelle Variationen auf, da ihm korrespondierend spezifische Ausgangslagen auf Seiten der Person zugeordnet sind. Beispielhaft lässt sich dies an den so gründlich untersuchten sozialen Stressoren illustrieren (vgl. die Prominenz des »Trier Social Stress Test«; vgl. Henze et al., 2017): Interindividuelle Unterschiede in dem Bedürfnis nach Nähe, Unterstützung oder Wertschätzung durch andere spielen hier eine entscheidende Rolle und bestimmen, wie »stressreich« Situationen sind resp. erlebt werden, in denen das Selbst öffentlich präsentiert wird (oder werden muss).
Ähnliches könnte man auch für Verlustereignisse postulieren, denn worin der Verlust im Einzelnen liegt, mag von Person zu Person sehr unterschiedlich sein (mit einer Ausnahme; siehe unten). Ganz anders stellt sich das für Traumata dar: Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit stellt eine menschliche Universalie dar; Erfahrungen von körperlicher Gewalt und Misshandlung bis hin zu Situationen, in denen das eigene Leben bedroht ist, können wohl kaum individuellen Deutungsmustern unterliegen. Und ähnliches kann man auch für den »Tod eines Kindes« vermuten, der bis heute als eine der gravierendsten Verlusterfahrungen gilt und für fast alle Betroffenen (vor allem für Mütter) eine vergleichbare Tragödie darstellt und kaum zu bewältigen ist (Christiansen, 2017; vgl. auch. das erhöhte Mortalitäts-, insbesondere Suizidrisiko in den ersten Tagen nach dem Verlust; z. B. Mogensen et al., 2016).
Seit jeher ist der gemeinsame Nenner all dieser Forschungsbemühungen die gesundheitsbezogenen Folgen der Konfrontation mit Trauma, Verlust oder Stress herauszuarbeiten, die vermittelnden Prozesse zu erhellen und jene Bedingungen zu identifizieren, die über diese Folgen mitentscheiden. Es geht eben nicht nur um die Frage, inwieweit solche Erfahrungen dem psychischen Wohlbefinden oder der Lebenszufriedenheit abträglich sind (was sie in aller Regel ja sind), sondern wann und unter welchen Umständen diese Erfahrungen ernsthafte gesundheitliche Schädigungen resp. psychische und/oder körperliche Erkrankungen nach sich ziehen.
Am weitesten vorangetrieben wurden diese differenzierten Analysen wohl innerhalb der Stressforschung, in der die frühen laborexperimentellen Ansätze wichtige Erweiterungen um den »Stress des Lebens« erfahren haben und zugleich die ökologische Validität vieler Laborexperimente bestätigt wurde (z. B. Henze et al., 2017). Diese Analysen sollten zum einen erhellen, welche Rolle die Art des Stressors (z. B. kognitive, soziale, körperliche Stressoren) spielt (zum Überblick Zänkert & Kudielka, in press); zum anderen sollten gerade die zwischen Stress und seinen gesundheitlichen Folgen vermittelnden Prozesse in den Blick genommen werden. Empirisches Arbeiten im Umfeld von »Stress« ist selbstredend leichter möglich, als wenn man Opfer kritischer oder gar traumatischer Ereignisse als Personenstichproben gewinnen will.
Mit Blick auf die zentralnervöse Verarbeitung von Stress und Trauma werden zunehmend neurobiologische Pfade und hirnmorphologische Veränderungen vermutet (zum Überblick z. B. Schmahl, 2013), wie auch die primären hormonellen Stressachsen, nämlich die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- und die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse im Zentrum stehen (schon Kudielka & Wüst, 2010; Zänkert & Kudielka, in press). Folgerichtig besitzen die jeweiligen Befunde wichtige verhaltensmedizinische Implikationen – beispielsweise wenn es um die Entstehung kardiovaskulärer Erkrankungen geht (Bellingrath, Wolfram & Kudielka, 2013; Siegrist & Kudielka, in press). Sumner et al. (2015) beispielsweise berichten, dass kardiovaskuläre Erkrankungen in der Folge traumatischer Erfahrungen vor allem bei Frauen nachweisbar seien. Nur am Rande sei vermerkt, dass sich in dem umfangreichen Datensatz von Scott et al., (2013) weder Krebserkrankungen noch ein erhöhtes Schlaganfallrisiko als korreliert erwiesen mit der Anzahl der von den Probanden berichteten belastenden Lebensereignisse (sensu »life-time exposure«).
Dass für die Folgen solcher Erfahrungen auch die Häufigkeit und Intensität negativen Affekts eine zentrale vermittelnde Rolle spielen, ist zu unterstellen, wie ja auch seit Jahrzehnten die Entstehung depressiver Störungen vor diesem Hintergrund rekonstruiert wird (Kap. 4.2; siehe oben). Dies gilt in Sonderheit für Verlusterfahrungen, welche mit depressiver Symptomatik bis hin zu erhöhter Suizidalität assoziiert sind (vgl. die Metanalyse von Liu & Miller, 2014). Immer geht es um die unterschiedlichen Bedingungen und differentiellen Verläufe, wie sie als Folge von Trauma, Verlust und Stress nachweisbar sind, und zwar mit Blick auf alle Arten von psychischen (auch bipolaren) Störungen (vgl. die Metaanalyse von Lex, Bazner & Meyer, 2016) einschließlich der gut dokumentierten Traumafolgestörungen wie auch für einige körperliche Erkrankungen (siehe oben). Dass wir es hier mit einer außerordentlich großen Variationsbreite individueller Reaktionen zu tun haben, zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Forschungslandschaft.
»Resilienz« hat in den letzten Jahren eine außergewöhnlich große Aufmerksamkeit erhalten. Bekanntlich galt das ursprüngliche Forschungsinteresse der Widerstandskraft von Kindern, die unter den widrigsten Umständen aufgewachsen waren und deren Entwicklung gleichwohl (ganz offensichtlich) positiv verlaufen ist (zuletzt Rutter, 2012). Mittlerweile ist Resilienz in Studien mit Erwachsenen oder im Kontext lebenslanger Entwicklung (z. B. Lerner et al., 2014) eine viel beachtete Konzeption, wie die Fülle der Studien oder Buchpublikationen verdeutlicht (z. B. Kumar, 2017; vgl. auch die Reihe »Studien zur Resilienzforschung«, erschienen beim Springer Verlag). Zunächst war auch im Umfeld der Anschläge von 09/11 von Resilienz die Rede, wie dies nun aktuell auch im Kontext von (Massen-)Traumatisierungen der Fall ist; letzteres hat Masten und Narayan (2013) veranlasst, in der Rückkehr des Resilienz-Konzepts in die Traumaforschung einen »dramatischen Perspektivenwechsel« zu sehen.
Trotz seiner Popularität ist und war der Begriff der »Resilienz« im Kern tautologisch: Resilienz wird jenen Personen attestiert, die nach extremen Belastungen nicht »umgefallen« sind resp. die dem jeweiligen Desaster etwas haben »entgegensetzen« können. Dabei wird in der Regel aus der Abwesenheit von Krankheit oder anderer negativer Folgen auf »Widerstandskraft« geschlossen und vermutet, dass diese Personen wohl über ein Bündel protektiver Faktoren verfügen müssten, das sie immunisiere gegen jedwede Unbill in der Folge solcher Erfahrungen. In diesem Sinne wird Resilienz gleichgesetzt mit dem Gelingen der Bewältigung eines spezifischen kritischen oder traumatischen Ereignisses. Darüber hinaus wird Resilienz auch als Persönlichkeitseigenschaft gefasst, die sich als interindividual difference-Variable entsprechend messen lasse (vgl. die »Resilienz–Skala«, für die mittlerweile bezogen auf Deutschland populationsstatistische Kennwerte vorliegen und die für Männer deutlich höhere Werte als für Frauen aufzeigt; siehe Kocalevent et al., 2015). Dies ging einher mit zahllosen Versuchen, Korrelate der Resilienz zu ermitteln, wobei das so populäre Konzept der Achtsamkeit (»mindfulness«; z. B. Davidson & Kraszniak, 2015) ebenso diskutiert wird wie das traditionsbeladene Konzept der »hardiness« (Kap. 9.5). Dass »Resilienz« im Kern viel zu tun haben soll mit einem hohem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, mit einem energetisierenden Optimismus (dem »Zaubertrank der Zuversicht«; Der Spiegel 1/2012, S. 117) sowie mit der Geborgenheit in engen sozialen Beziehungen resp. der sicheren Bindung an andere Menschen (Maercker & Hecker, 2015) ist weder überraschend noch reflektiert es etwas wirklich Neues: Wir sehen darin eine Auflistung der vielen seit jeher bekannten, empirisch gut bestätigten Bewältigungsressourcen, die summarisch in einem neuen begrifflichen Gewande abgebildet werden. Vielleicht ist auch deshalb immer wieder von Resilienz als einem »komplexen Konstrukt« die Rede, wobei nach unserem Kenntnisstand dessen interne Struktur (etwa im Sinne eines »Sekundärfaktors«) eben nicht hinreichend eruiert ist. Zudem wird in dieser Konzeption unterstellt, dass es sich um ein situationsinvariantes Merkmal handelt; denn die jeweiligen Anforderungen des zu bewältigenden Ereignisses oder Traumas bleiben gänzlich unbeachtet – Resilienz als hochgeneralisierter Schutzfaktor gegen alle Spielarten des Unglücks und der Tragödien im Leben? Insofern sieht es so aus, als habe die Frage »Wo nehmt ihr bloß die Stärke her?« (Zander, 2017) noch keine befriedigende Antwort gefunden.
Unlängst haben zudem Infurna und Luthar (2016) davor gewarnt, die Häufigkeit von »Resilienz« nach traumatischen Erfahrungen zu überschätzen. Diese Autoren beziehen sich dabei u. a. auf Befunde, die an Patienten nach einem Herzinfarkt oder an Soldaten, die aus Kriegsgebieten im Nahen Osten zurückgekehrt waren, gewonnen wurden: Mehr als zwei Drittel der Patienten resp. 85 Prozent der Soldaten seien als »resilient« diagnostiziert worden, was diesen Autoren zufolge aber in erster Linie erhebungs- und auswertungsmethodischen Fehlern geschuldet sei. Resilienz sei erst dann differentiell zu bestimmen, wenn diesbezügliche Indikatoren vor dem Eintritt des fraglichen Ereignisses erfasst worden seien und wenn deren Messung angemessen erfolgt und ihre Modellierung insbesondere hinsichtlich ihrer zeitlichen Veränderungsmuster geleistet worden sei. Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Autoren Re-Analysen des SOEP-Datensatzes mit Blick auf drei Typen kritischer Ereignisse – Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Tod des Ehepartners – vorgenommen und dazu Indikatoren der Lebenszufriedenheit über einen Zeitraum von 28 Jahren anhand differenzierter Zeitreihenanalysen in Beziehung gesetzt haben; ihre Befunde münden in die Schlussfolgerung »resilience is not common as thought«.
Wie eingangs erwähnt, gewinnt der Begriff »Resilienz« allenfalls dann an empirischem Gehalt, wenn man darin das Resultat einer gelungenen Bewältigung sehen will und den Bewältigungsprozess selbst entsprechend modellieren kann. In diesem Sinne haben Schwager und Rothermund (2017) Resilienz unlängst als Ausdruck und Folge erfolgreicher selbstregulatorischer Prozesse rekonstruiert und dargelegt, wie (automatische und strategische) Prozesse der Aufmerksamkeitssteuerung im Umgang mit einem nicht (mehr) erreichbaren Ziel es ermöglichen, andere Handlungspfade zu entdecken. Zweifellos ist dieses »Loslassen« gleichbedeutend mit einer in diesem Sinne »erfolgreichen« Bewältigung, und man mag der Person somit »Resilienz« attestieren. Es handelt sich also um eine Modellierung, die Vorhersagen darüber erlaubt, unter welchen (ereignisspezifischen) Bedingungen »Resilienz« zu erwarten ist und unter welchen nicht. Aus anderen Modellierungen des Bewältigungsgeschehens lassen sich solche Vorhersagen nicht immer so einfach ableiten, denn das Kriterium, an dem der Erfolg des Bewältigens »abschließend« zu bestimmen wäre, ist keineswegs immer so eindeutig definiert. Und oft findet man sich erneut mit Tautologien oder Vagheiten konfrontiert, wenn man beispielsweise liest, dass »positives Denken […] mit guten Outcomes verknüpft« sei (z. B. Pat-Horenczyk et al., 2015).
Allen belastenden Lebensereignissen wird unabhängig von ihrer Schwere und Dramatik das Potenzial der Überwindung, ja sogar das Potenzial der »Reifung« zugeschrieben – dieses Potenzial sei solchen Erfahrungen gleichsam immanent. Demgemäß wurde Resilienz über ihre protektive Variante hinaus (als Schutz vor Beeinträchtigungen der Gesundheit und des Wohlbefindens) auch in einer sog. »promotiven« Variante konzeptualisiert, indem sich Resilienz über die bloße Abwesenheit pathologischer Folgen hinaus auch in einem wie auch immer gearteten »Wachstum und Gewinn« offenbaren soll. Schon vor Jahren hatten Leipold und Greve (2009) auf die konzeptuelle Verknüpfung von »Bewältigung« und »Entwicklung« verwiesen, und es mag nicht verwundern, dass an dieser Stelle sogar wieder von »Weisheit« die Rede ist (Westrate & Gluck, 2017): Denn in der selbstreflexiven Form der Auseinandersetzung mit kritischen Lebensereignissen (vor allem in der »Suche nach Sinn«) liege ein Weg zur Gewinnung von »Weisheit«. Hingegen sei ein Bewältigungsverhalten, das auf das fragliche Ereignis selbst fokussiere (z. B. Neubewertung), »nur« der Erholung und Neuanpassung dienlich. Selbstredend kommt hier sofort ins Spiel, ob Sinnsuche als Prozess (mit ungewissem Ausgang) verstanden wird oder ob von Sinnfindung die Rede ist (Kap. 7.4; auch Park, 2010). Letztere wird immer wieder in Beziehung gesetzt zu »posttraumatischem Wachstum« und eben auch als der Kern von Resilienz angesehen. Doch hat sich bis heute nichts daran geändert, dass Wachstum in der Folge solcher Erfahrungen zumeist eine (salutogenetisch gleichwohl höchst bedeutsame) Täuschung darstellen kann (»illusorisches Wachstum«), das auf der Basis von Selbstberichten ermittelt wird und das Zöllner und Maercker (2006) schon vor vielen Jahren als die eine Seite des »Janus-Kopfes« beschrieben haben (Kap. 7.4).
Bei Durchsicht der zahllosen Studien hat es den Anschein, als sei von »posttraumatischem Wachstum« gerade und auch in der Auseinandersetzung mit schweren körperlichen Erkrankungen (oder auch nach dem Verlust des Partners) die Rede. Nun findet man zunehmend Versuche, Wachstum auch im Kontext von Flucht und Vertreibung zu analysieren: Sleijpen et al. (2016) haben dies an einer Stichprobe von geflüchteten Jugendlichen in den Niederlanden untersucht und festgestellt, dass subjektives Wachstum und Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung völlig unkorreliert waren. Auch die Längsschnittstudie von Engelhard et al. (2014), in die Soldaten aus dem Irak-Krieg einbezogen waren, ist hier aufschlussreich: Wahrgenommenes Wachstum 5 Monate nach Rückkehr aus dem Krieg erwies sich als ein Risikofaktor für das Auftreten einer posttraumatischen Belastungsstörung 15 Monate später (auch unter Kontrolle diverser Belastungsmaße und Persönlichkeitsvariablen, die vor Beginn der Kriegsteilnahme erfasst worden waren). Ungeachtet des Sachverhalts, dass wir bis heute nicht so genau wissen, was sich hinter »posttraumatischen Wachstum« verbergen soll, nimmt diese Begrifflichkeit dann sarkastische Züge an, wenn es um die Folgen schwerer Traumatisierungen geht und sich die Frage, ob die Betroffenen »etwas Gutes aus dem Schlimmen« haben lernen können, eigentlich schon aus ethischen Gründen verbietet.
»Keiner ist so reich, dass er auf einen Nachbarn verzichten könnte« ist ein sehr passendes Diktum, dessen Quelle uns unbekannt ist. Denn dass das soziale Umfeld, in das eine Person eingebunden ist, von zentraler Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden ist, scheint unbestritten –– was auch daran abzulesen ist, dass Einsamkeit immer wieder als gesundheitlicher Risikofaktor berichtet wird (siehe Beutel et al., 2017; Fried et al., 2015). Soziale Nähe resp. die Bindung an andere Menschen gewinnt vor allem an Bedeutung, wenn es um die Auseinandersetzung mit kritischen oder traumatischen Ereignissen geht: Seit jeher gilt »soziale Unterstützung« als einer wichtigsten Prädiktoren dafür, ob es in der Folge solcher Erfahrungen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder gar zu einer Belastungsstörung kommt oder nicht geht (Kap. 8). Über viele Jahre ging es dabei um einzelne Formen sozialer Unterstützung (z. B. emotionaler, instrumenteller Art; zuletzt Beutel et al., 2017) und ihre vermuteten positiven Funktionen für die Betroffenen. Mittlerweile wurde dieser Zugang ergänzt um das von Maercker und Horn (2013; siehe auch Maercker & Hecker, 2015) vorgelegte »Sozio-interpersonale Modell« des Bewältigungsgeschehens (spezifischer: der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen), das zu der bisherigen Unterstützungsforschung wesentliche Erweiterungen aufweist, und zwar hinsichtlich dreier Aspekte:
Zum ersten wird hervorgehoben, dass das Selbst als interdependente Struktur in Relation zu anderen Menschen gesehen werden müsse. Dies geht schon auf die traditionelle Unterscheidung von independenter und interdependenter Konstruktion des Selbst zurück (hierzu Filipp & Mayer, 2005); doch ist es mittlerweile unumstritten, dass das Selbst einer Person (auch in den sog. »individualistischen« Gesellschaften) nicht unabhängig von ihren sozialen Netzwerken und insofern stets »interdependent« gedacht werden müsse (z. B. Zander & Hannover, 2014). In der Folge der Konfrontation mit kritischen oder traumatischen Ereignissen rücken hier nun »soziale Affekte« in den Vordergrund, die sich erst aus der mentalen Repräsentation der sozialen Umwelt und/oder konkreter Personen konstituieren: Schuld und Scham ebenso wie Wut und Ärger, Gefühle der Rache und Drang nach Vergeltung sind der affektive Ausdruck dessen, dass das Selbst untrennbar verflochten ist mit anderen Menschen und dass solche Affekte nicht selten nach traumatischen »man-made disasters« den Bewältigungsprozess begleiten (und ihn vor allem erschweren).
Zum zweiten werden enge soziale Beziehungen vorwiegend hinsichtlich ihres kommunikativen Aspekts, genauer hinsichtlich ihrer dialogischen Struktur, betrachtet. Bislang war das Forschungsinteresse eher darauf gerichtet, Prozesse des Suchens und Gewährens von Hilfe zu analysieren und zu prüfen, welche inneren oder äußeren Barrieren soziale Unterstützung befördern oder behindern. Nun rückt die Frage in das Zentrum, ob und welche Möglichkeiten der betroffenen Person gegeben sind, das von ihr Erfahrene einem Gegenüber offenzulegen (sensu self-disclosure), und welche Reaktionen die Person damit bei ihrem Gegenüber auslöst. »Der Austausch von Lebensereignissen ist einer der wichtigsten Zugangswege für menschliche Annäherung« stellten Neuner, Schauer und Elbert (2013, S. 328) fest. Und da es bekanntlich zu den genuinen Merkmalen vieler kritischer (insbesondere traumatischer) Ereignisse gehört, dass sie in Sprachlosigkeit münden resp. in die Unfähigkeit, das Erlebte in Worte zu fassen, ist dieser Austausch wohl essentiell. Zuweilen ist sogar davon die Rede, dass solche Erfahrungen begleitet seien von »unausgesprochenen« oder gar von »unaussprechlichen« Geheimnissen. Insofern erhalten enge Beziehungen dadurch ihren besonderen Wert, dass die Betroffenen das Unfassbare in Worte und das Unaussprechliche in eine narrative Struktur kleiden können. Im günstigen Falle werde erst dadurch, so ist die Annahme, bei den Betroffenen die fortwährende Überflutung ihres Denkens und Fühlens durch die mit dem Ereignis assoziierten Inhalte eingedämmt, und erst so könnten sie allmählich eine subjektiv entlastende Rekonstruktion des Geschehens leisten.
Bekanntlich lässt sich ein solcher Prozess im Rahmen professioneller Krisenintervention auch unter gezielter Anleitung evozieren (vgl. »Narrative Exposition«). Wie Neuner et al. (2013) hervorheben, handelt es sich um ein effektives und effizientes Therapieverfahren, das auch in »ressourcenarmen Umwelten« (z. B. in Krisengebieten) einsetzbar sei. Das Verfahren zielt darauf, eine zeitliche und räumliche Verankerung der traumatischen Erfahrungen im autobiografischen Gedächtnis zu ermöglichen, so dass das »ungehemmte Feuern der Furchtstruktur« (S. 333), wie es sich in intrusiven Erinnerungen, Flashbacks und Albträumen offenbare, beendet werde. Erst dadurch würden auch wieder Erinnerungen an positive Ereignisse zugänglich und erhalte die Lebensgeschichte allmählich eine kohärente und identitätsstiftende Struktur.
Ähnliche Funktionen werden auch dem sog. »expressiven Schreiben« als einer Bewältigungsstrategie zugeschrieben (Kap. 7.8), die ein soziales Gegenüber nicht (zwingend) voraussetzt. Doch indem die Betroffenen auch beim Niederschreiben das Erfahrene in Worte fassen müssen, kann die Aufarbeitung dieser Erfahrungen und deren Integration in das autobiografische Gedächtnis gelingen und so langfristig eine Erholung gesichert werden – nicht zuletzt auch mit Blick darauf, dass die Betroffenen sich anderen Menschen wieder anschließen resp. anvertrauen können und das soziale Umfeld seine potenziell gesundheitsförderlichen Wirkungen entfalten kann.
Zum dritten wird das soziale Umfeld über die dyadische Struktur enger Beziehungen hinaus mit Blick auf den erweiterten sozialen und kulturellen Kontext beleuchtet. Dabei werden in dem Modell gerade jene traumatischen Erfahrungen thematisiert, von denen nicht nur einzelne Menschen, sondern (große) Gruppen von Menschen betroffen sind (siehe oben). Insofern ist es die interdependente Struktur des Leidens, die hier besondere Beachtung findet. Es wird sich wohl erst noch zeigen müssen, ob damit in der Tat unterschiedliche Folgen für die von kollektivem vs. individuellem Leid betroffenen Menschen verbunden sind. Zudem werden auf der Makroebene auch die vorherrschenden religiösen Bindungen und/oder kulturellen Wertorientierungen in den Blick genommen. Daraus ergibt sich als eine zentrale Anschlussfrage, welchen Deutungen das jeweilige kritische oder traumatische Ereignis unterliegt und ob den Betroffenen überhaupt der Status eines »Opfers« zugeschrieben wird oder nicht. Gesellschaften, die ihren von solchen Erfahrungen betroffenen Mitgliedern den Status als »Opfer« verweigern und ihnen die entsprechende Beachtung nicht zukommen lassen, lassen diese Menschen mit allem ihrem Leid alleine und befördern bei ihnen Bitterkeit, Fatalismus und das Gefühl eines sinnentleerten Lebens. Dass solche Gefühle wiederum soziale Isolation verstärken oder den Rückzug aus sozialen Netzwerken nachgerade befördern, liegt auf der Hand. Zudem schreien bekanntlich »man-made disasters« auf Seiten der Opfer nach Rache und Vergeltung, zumindest aber nach »ausgleichender Gerechtigkeit« – wie denn von jeher dem Erleben von Ungerechtigkeit auf Seiten der Opfer eine Schlüsselrolle für den gesamten Bewältigungsprozess zugeschrieben wird (hierzu Montada, 2012). Daher ist es nur folgerichtig, wenn Maercker und Hecker (2015) fordern, dass entsprechende Maßnahmen und Programme zumindest auf kommunaler Ebene implementiert werden und die von solchem Leid Betroffenen eine Stimme und ein Gesicht erhalten sollten.
Dass mittlerweile ganze Gesellschaften als »traumatisiert« bezeichnet worden sind, führt uns zurück an den Beginn dieser Ausführungen: Die Welt ist an vielen Orten aus dem Ruder gelaufen, sie erscheint in einem Zustand permanenter Unruhe – es ist »die neue Weltunordnung«, von der Lüders (2015) spricht und die weit über den Nahen Osten hinaus auch in vielen anderen Teilen der Erde erkennbar wird. Terror, Trauma und Tod erscheinen als die Alliterationen dieser Tage, und die Tragödien spielen sich zuweilen in Regionen ab, in die selbst die unermüdlichsten Helfer oft nicht gelangen können, während wir selbst jedwede Tragödie in Echtzeit und ungefiltert durch jedwede Einordnung virtuell miterleben. All dieses war und ist verknüpft mit millionenfachem unendlichem Leid, welches das Vorstellungsvermögen der meisten von uns übersteigt – und viele von uns können die entsprechenden Bilder und Berichte kaum ertragen. An dieser Stelle mag man auch Susan Sontag erwähnen, die sich in ihrem Buch »Das Leiden anderer betrachten« mit dem Thema »Kriegsfotografie« befasst hatte. Sie sagt, sie habe ihre ursprüngliche Ansicht, dass der Mensch durch solche Bilder abstumpfe, revidiert. Ganz im Gegenteil hätten solche Bilder eine andere Botschaft: »Das Bild sagt: Setz dem ein Ende, interveniere, handle! Und dies ist die entscheidende, die korrekte Reaktion.«
Es sind solche Bilder, die unsere Reflexionen über Lebenskrisen und über den Umgang mit kritischen Lebensereignissen in ein anderes Licht rücken: Auch wenn die Psychologie reich an Einsichten dazu sein mag, wie das Leiden der Opfer grundsätzlich – vielleicht zuweilen nur in einem winzigen Maße – gemildert werden könnte, so sind und bleiben doch auch wir als diejenigen, die Psychologie in Forschung und Anwendung betreiben, hilflos und fassungslos. Es ist die Welt, die sich im »Krisenmodus« befindet, diagnostiziert Lüders. Die Psychologie hat Lösungen für viele Probleme anzubieten (Tschechne, 2013), sie hätte sicher auch Ideen und Lösungen, wie Staaten oder Regionen in ruhigeren Gewässern verbleiben oder aus dem Krisenmodus befreit und in eine neue Ordnung überführt werden könnten. Doch unsere Disziplin ist unendlich weit entfernt von jenen, die weltweit Macht und Einfluss besitzen und die bis heute und wohl auf absehbare Zeit »den Wind säen«.
Dem ist nichts hinzuzufügen außer Dank an wache Köpfe und hilfreiche Hände (vor allem an Sigrid Jeske-Wörfel, Sabine Götz, Sarah Albig sowie an Ann-Sophie Theis), Dank an Dr. Manfred Fischer als aufmerksamen Vor-Leser sowie Dank an unseren Verlag.
Trier, im Sommer 2018 Sigrun-Heide Filipp & Peter Aymanns
Abb. 1: Cartoon von Jules Stauber (1920–2008); mit freundlicher Genehmigung von Claudine und Fabian Stauber
1 Alle in das »Vorwort zur 2. Auflage« neu aufgenommenen Literaturhinweise wurden in das bestehende Literaturverzeichnis integriert. Hingegen wurde dieses Vorwort in dem Personen- und Sachregister nicht berücksichtigt.
Vorwort zur 2. Auflage
1 Kritische Lebensereignisse – eine erste Annäherung
1.1 Alltag, kritische Ereignisse und Lebenskrisen
1.2 Leitfragen der Ereignis- und Bewältigungsforschung – eine Übersicht
2 Der zweifache Blick: Kritische Lebensereignisse als Stressoren und als Typus der Lebenserfahrung
2.1 Kritische Lebensereignisse aus stresstheoretischer Perspektive
2.2 Kritische Lebensereignisse als Typus der Lebenserfahrung
2.2.1 »Zeit« und die Typisierung von Lebenserfahrung
2.2.2 Der »normale« Lebenslauf: Altersgebundene Ereignisse und Transitionen
2.2.3 Vom Hoffen und Sehnen: Der Nicht-Eintritt »normaler« Ereignisse
2.2.4 Zeitgeschichtliche Ereignisse und kollektive Traumata
2.2.5 Jenseits des »Normalen«: Non-normative Ereignisse
2.3 Merkmale und Besonderheiten kritischer Lebensereignisse
2.4 Resümee und ein heuristisches Analysemodell
3 Registrierung kritischer Lebensereignisse und ihrer Schwere
3.1 Quantifizierung der Stressbelastung über Ereignislisten
3.2 Erfassung kritischer Lebensereignisse über Interviewmethoden
3.3 Analysen ausgewählter Einzelereignisse
3.4 Kritische Lebensereignisse als Gegenstand von history analyses
3.5 Resümee
4 Die stresstheoretische Perspektive: Machen kritische Lebensereignisse krank?
4.1 Folgen kritischer Lebensereignisse für die körperliche Gesundheit
4.1.1 Der Beitrag der psychobiologischen Stressforschung
4.1.2 Betrachtung ausgewählter Krankheitsbilder
4.2 Kritische Lebensereignisse als Vorläufer psychischer Störungen
4.2.1 Posttraumatische Belastungsstörung
4.2.2 Depressive Störungen
4.3 Negativer Affekt und Depressivität als gemeinsamer Schlüssel?
4.4 Resümee
5 Die entwicklungstheoretische Perspektive: Machen kritische Lebensereignisse stark?
5.1 Veränderungen der Persönlichkeit
5.2 Veränderungen in Ziel- und Motivstrukturen
5.3 Veränderungen in Wertorientierungen und Überzeugungssystemen
5.4 Veränderungen als persönliches Wachstum
5.5 Resümee
6 Die differentielle Perspektive: Bewältigung als Schlüsselkonzept
6.1 Die Ausgangslage
6.2 Konturierung des Forschungsgegenstands »Bewältigung«
6.3 Die Frage nach dem Glück in »glücksfernen« Zeiten
6.4 Modelle des Bewältigens: Im Reich der Dichotomien
6.5 Bewältigung durch Transformation – illustriert am Abschied von geliebten Menschen
6.6 Resümee
7 Bewältigung als mentales Geschehen
7.1 Aufmerksamkeitssteuerung im Umgang mit schlimmen Nachrichten
7.2 Bewältigung durch repetitives Denken
7.3 Bewältigung durch komparatives Denken
7.3.1 Soziale Vergleiche
7.3.2 Temporale Vergleiche
7.3.3 Hypothetische Vergleiche und kontrafaktisches Denken
7.4 Bewältigung als Suche nach Antworten auf das »Warum?« und »Wozu?«
7.4.1 Kausalattributive Strukturierung des Geschehens
7.4.2 Konstruktion von Sinn
7.4.3 Konstruktion positiver Folgen
7.5 Bewältigung als Konsistenzsicherung und Verteidigung des Selbst
7.6 Bewältigung als Abschied von unerreichbaren Zielen und »falschen« Hoffnungen
7.7 Bewältigung als Unterdrückung negativer Gefühle und Gedanken
7.8 Bewältigung durch »expressives Schreiben«
7.9 Resümee
8 Bewältigung als sozial-interaktives Geschehen
8.1 Suche nach sozialer Nähe und Anschluss
8.2 Mobilisierung sozialer Unterstützung und das Teilen des Leids
8.3 Gemeinsames Leid: Bewältigungsverhalten in Familien und Paarbeziehungen
8.4 Bewältigung durch Hilfehandeln für andere
8.5 Das soziale Umfeld als Bewältigungsressource
8.5.1 Soziale Unterstützung – ein facettenreiches Konstrukt
8.5.2 Soziale Unterstützung und ihre protektiven Wirkungen
8.5.3 Die beruhigende Nähe anderer
8.5.4 Soziale Unterstützung als Einflussnahme auf den Bewältigungsprozess
8.5.5 Von den Kosten und Grenzen sozialer Unterstützung
8.6 Resümee
9 Personale Ressourcen und Risiken im Bewältigungsgeschehen
9.1 Einführende Begriffsbestimmungen
9.2 Religiosität und Spiritualität
9.3 Optimismus und Pessimismus
9.4 Hoffnung und Hoffnungslosigkeit
9.5 Widerstandskraft und Kontrollüberzeugungen
9.6 Positive und negative Affektivität
9.7 Humor
9.8 Körperliche Fitness und Funktionsstatus
9.9 Selbstaufmerksamkeit
9.10 Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit und Struktur des Selbstkonzepts
9.11 Die Rolle früher Erfahrungen
9.12 Resümee
10 Psychologische Hilfen im Umfeld kritischer Lebensereignisse
10.1 Grundzüge der Krisenintervention
10.2 Entwicklungsberatung als Krisenprävention
10.3 »Erste Hilfe« nach kollektiven Traumata
10.4 Resümee
11 Der umgekehrte Blick: Was geht dem Eintritt kritischer Lebensereignisse voraus?
11.1 Soziale Gruppierungsvariablen und der Eintritt kritischer Lebensereignisse
11.2 Soziale Einbindung und der Eintritt kritischer Lebensereignisse
11.3 Persönlichkeit und der Eintritt kritischer Lebensereignisse
11.4 Resümee
12 Kritische Lebensereignisse als Gegenstand autobiographischen Erinnerns
12.1 Die einzelnen Lebensalter im Fokus autobiographischer Erinnerungen
12.1.1 Jugendalter und frühes Erwachsenenalter als »ereignisreiche« Jahre?
12.1.2 Jugend- und frühes Erwachsenenalter als »goldene« Jahre?
12.2 Erinnerungen an emotional bedeutsame Ereignisse im Leben
12.2.1 Die »Verlässlichkeit« autobiographischer Erinnerungen
12.2.2 Qualität der Erinnerungen an kritische und traumatische Ereignisse
12.3 Resümee
Literatur
Personenverzeichnis
Stichwortverzeichnis
»Life is complicated«, meinten vor vielen Jahren G. A. Miller, Galanter und Pribram (1960) und verfassten damit ein populäres Epigramm. »Life is filled with perils«, formulierte unlängst Bonanno (2005, S. 135). Mit Ortega y Gasset lässt sich noch eine düstere Variante hinzufügen: »Leben ist seinem inneren Wesen nach ein ständiger Schiffbruch« – eine Metapher, die uns den Untergang unmittelbar vor Augen führt. Schopenhauer hat darauf verwiesen, »dass der Zweck unseres Daseins nicht der ist, glücklich zu sein«, und vermutlich könnte man Bände füllen mit Spruchweisheiten und Reflexionen, die den Gegenstand dieses Buches »Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen« auf vielfältige Weise berühren.2 In der Tat: Das Leben lässt sich nicht nur einfach »leben«, vieles müssen wir »bewältigen«. Es konfrontiert uns ohne Vorwarnung mit Schicksalsschlägen, denen wir oft fassungslos gegenüberstehen; es ist reich an kleineren und größeren Katastrophen, denen wir uns schutzlos ausgeliefert fühlen; es konfrontiert uns mit dem Verlust geliebter Menschen und lässt uns ratlos in der Kälte zurück. Kurzum – zum Leben gehört auch das, womit sich dieses Buch beschäftigt: »Schattenseiten« in Form belastender, kritischer oder gar traumatischer Lebensereignisse, in Form existentieller Herausforderungen und Lebenskrisen und all der vielfältigen Erfahrungen, die weit jenseits dessen liegen, was den Alltag von Menschen ausmacht.
Was heißt »Alltag«?
Alltag, psychologisch betrachtet, bedeutet: Die Menschen, die Orte, die Objekte, die Räume – alles, was unsere soziale, gegenständliche und räumliche Umwelt konstituiert, ist uns weitgehend vertraut. Wir finden Geordnetes und Gegliedertes vor; Ereignisse, Abläufe und das Verhalten unserer Mitmenschen erscheinen uns weitgehend vorhersagbar; wir wissen, was wir tun wollen oder tun müssen; wir haben Ziele, die wir verfolgen, und wir kennen die Wege, die uns zu diesen Zielen führen; wir wissen um Sinn und Zweck unseres Tuns; wir finden in aller Regel Erklärungen für das, was um uns geschieht, für das Verhalten unserer Mitmenschen wie auch für die Ergebnisse unseres eigenen Handelns.
Alltag heißt, dass wir Handlungsroutinen verfügbar haben, die wenig Reflexivität und Planungsaktivitäten erfordern und die uns entlasten; Zieloptionen und Handlungspläne müssen nicht immer wieder aufs Neue überdacht oder auf mögliche unerwünschte Nebenfolgen hin überprüft werden. Alltag bedeutet ein System von Gewohnheiten, aus dem wir ontische Sicherheit gewinnen. Denn indem wir Gewohnheiten haben, wissen wir, wer wir sind; sie schützen uns vor Ängsten, indem sie uns signalisieren, dass »das Morgen eine Wiederholung des Heute« sein wird (Simone de Beauvoir). Und wenn wir – je nach individueller Disposition – mehr oder minder häufig diesem Alltag entfliehen, so unterliegt dies unserer dezisionalen Kontrolle, es erweitert unseren Erfahrungshorizont und mag den Blick in ein »glückliches« Leben gestatten, dessen hedonische Qualität indes erst der Kontrastierung zu »Alltag« entspringt, wie uns die Opponenten-Theorie des Wohlbefindens seit langem lehrt (R. L. Solomon, 1980).
Alltag heißt: »Vieles passt.« Was wir tun können und tun wollen, findet seine Entsprechung in dem, was wir tun dürfen und tun sollen – also in den Handlungsmöglichkeiten, die unsere Umwelt für uns bereithält. Unser Denken und Handeln ist eingebettet in ein Passungsgefüge zwischen uns und unserer sozialen, räumlichen und dinglichen Umwelt, d. h. es herrscht eine relative Passung zwischen Handlungsoptionen und Handlungsmöglichkeiten auf der einen Seite und Handlungsspielräumen und Anforderungen auf der anderen Seite. Gleichzeitig befindet sich das Person-Umwelt-Passungsgefüge in steter Veränderung und in Zuständen des Fließgleichgewichts, indem wir durch vielfältige Austausch- und Rückkopplungsprozesse mit unserer Umwelt dynamisch verflochten sind und diese Prozesse zu einer fortwährenden Verfeinerung dieses Passungsgefüges beitragen.
Aber nicht nur auf der Ebene unseres Tuns ist dieses Passungsgefüge zu verorten, sondern auch auf der Ebene unserer Überzeugungen resp. der subjektiven Theorien, die wir über die Welt (als interne Umweltmodelle) und über uns selbst (als interne Selbstmodelle) aufgebaut haben. Solche subjektiven Theorien stellen einen Interpretations- und Handlungsrahmen bereit, an dem wir uns orientieren und der Grundlage unseres Tuns ist. Wir glauben, dass die Welt ein sicherer Ort sei, dass die Menschen, mit denen wir unseren Mikrokosmos teilen, uns wohl gesonnen seien, dass man einer guten Freundin ein Geheimnis anvertrauen könne, und dass unser Leben bei dem Piloten unseres Flugzeuges in sicheren Händen sei. All dies (und noch so vieles mehr) macht die in aller Regel unhinterfragten Gewissheiten aus, auf deren Grundlage wir unser Leben gestalten und die unser Leben zugleich in helles Licht tauchen – wir sind mit uns und unserer Welt im Reinen.
Man mag subjektive Theorien auch »positive Illusionen« (S. E. Taylor & Brown, 1988) oder »assumptive worlds« (Janoff-Bulman, 1992) nennen – ihre Funktionen sind nicht zu unterschätzen: Subjektive Theorien stiften Ordnung, wo ansonsten Chaos wäre; sie ermöglichen Sinndeutung, wo ansonsten Nichtverstehen regieren würde; sie liefern uns Erklärungen, wo wir ansonsten Unerklärlichem gegenüberständen; sie gestatten uns Vorhersagen, wo Künftiges ansonsten im Dunklen läge; sie verknüpfen unsere eigene Existenz mit dem, was um uns herum Wirklichkeit ist; sie gestatten es uns, uns selbst im Strom der Zeiten, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinweg als unveränderlich zu erleben, und sie versehen uns mit der Gewissheit, dass wir die Dinge, die wir anpacken, schon meistern werden. All dieses ist »Alltag« im besten Sinne des Wortes; all dieses ermöglicht »adaptives Funktionieren«, und all dieses macht Wohlbefinden, Lebensqualität und zuweilen auch »Glück« aus.
Kritische Lebensereignisse werfen Menschen aus ihrem Alltag, das Leben steht gleichsam auf dem Kopf. Unser aller Leben hält solche Erfahrungen bereit, wir fühlen uns vom Leben in die Zange genommen, und auch das Leben der vermeintlichen Glückspilze ist nicht frei von dem Eintritt des einen oder anderen kritischen Ereignisses. Bei aller Unterschiedlichkeit ist es die grundlegende Eigenschaft kritischer Lebensereignisse, dass sie das Person-Umwelt-Passungsgefüge attackieren, es in einen Zustand des Ungleichgewichts überführen, dass sie subjektive Theorien als die bislang unhinterfragten Gewissheiten erschüttern und dass sie heftige Emotionen auszulösen in der Lage sind und den Betroffenen nicht selten den Schlaf, den Appetit und die Lebenslust rauben. Die Botschaft, die solche Ereignisse transportieren, lautet in aller Regel, dass die Welt nicht mehr die ist, die sie einmal war, und dass auch die Betroffenen nicht mehr die sind, die sie einmal waren. Die bisherige Sicht der Dinge greift nicht mehr; die Person und ihre Umwelt – sie passen nicht mehr zueinander.
Damit geht auch einher, dass die Quelle für das entstandene Ungleichgewicht nicht nur in äußeren Ereignissen liegt und dass kritische Lebensereignisse nicht notwendigerweise oder nicht ausschließlich »in der Welt da draußen« passieren. Die Quelle für das entstandene Ungleichgewicht kann eben auch in der Person selbst liegen, ohne dass sich in deren äußerem Leben (scheinbar) etwas geändert hat. In diesem Sinne mag etwa der Verlust so mancher Illusion (z. B. dass man dem guten Freund trauen darf) gleichermaßen ein kritisches Lebensereignis darstellen wie der (als unverdient erlebte) Verlust des Arbeitsplatzes oder die Mitteilung des Arztes, dass das Hörvermögen irreversibel geschädigt sei.
Kritische Lebensereignisse bringen unser Leben aus dem Takt; sie werfen uns aus der (von uns eingeschlagenen, womöglich sogar »vorgezeichneten«) Bahn; sie durchkreuzen unsere Pläne; sie stellen unsere Überzeugungen und das, was wir für richtig erachtet und woran wir geglaubt haben, auf den Prüfstand. Zuweilen kommen kritische Lebensereignisse auch in Gestalt traumatischer Erfahrungen oder gar existentieller Bedrohung daher, welche die Belastbarkeit der Betroffenen zumeist übersteigen und in ihrer Dramatik zu Hilflosigkeit, Gefühlen der Ohnmacht bis hin zu einem tiefgreifenden Verlust der Handlungsorientierung führen und damit in eine Lebenskrise münden mögen.
Was ist eine Krise?
Der Begriff »Krise« leitet sich ab aus dem griechischen Wort »crisis« und bedeutet dort soviel wie Scheidung, Streit oder Entscheidung nach einem Konflikt (vgl. Koseleck, 1976). Seine etymologische Wurzel geht zurück auf das Wort »krinein« (= trennen) und verweist darauf, dass Krisen etwas mit der Unterbrechung von Gewohntem zu tun haben, also ein einschneidendes Geschehen beschreiben.
Wir begegnen dem Begriff »Krise« in vielen Bereichen: Die »Bankenkrise« und die »Finanzkrise« (oder gar »Weltwirtschaftskrise«) sind derzeit in aller Munde; man spricht von politischen und ökonomischen Krisen, von Versorgungskrisen, von Absatzkrisen, und zuweilen wirft man dem politischen Gegner vor, er rede die Krisen nur herbei. Zweifellos haben krisenhafte Transformationsprozesse auf der Ebene zentraler gesellschaftlicher Institutionen weitreichende Wirkungen, die sich auf allen nachgeordneten Systemebenen (sensu Bronfenbrenner, 1981) in Form negativer Ereignisse entfalten können bis hin zum Leben der einzelnen Individuen (z. B. in Form des Zerfalls langjähriger Ehen oder erhöhten Suchtmittelkonsums). Schließlich ist und war vor allem in der Medizin die Rede von »Krise«, welche den Höhe- und Wendepunkt innerhalb eines Krankheitsverlaufs markiert, an dem sich die Frage »Tod oder Leben« entscheidet, wie dies bekanntlich schon für die Fieberkrise des Mittelalters gegolten hatte.
Gemeint ist der Wendepunkt in einem Entwicklungsgeschehen mit unsicherem Ausgang als konstituierendes Merkmal des Krisenbegriffs. Das chinesische Wort für Krise (weiji), das die beiden Elemente »Gefahr« und »Möglichkeit« umfasst (vgl. Hausmann, 2003), bringt damit die Dialektik des Krisengeschehens unmittelbar zum Ausdruck. Krise kennzeichnet den Zustand eines labilen Gleichgewichts und maximaler Unsicherheit, denn eine Prognose, in welche Richtung die Krise sich auflösen wird, ist auf ihrem Höhepunkt nicht möglich. Und obschon in dem Begriff »Krise« die Möglichkeit zu einer Wende zum Guten gleichermaßen mitgedacht ist wie die Wende zum Schlechten, ist in unserer Alltagssprache und auch im subjektiven Erleben von Menschen »Krise« mit einer starken negativen Wertung versehen. Offenbar wird im Zustand der Krise eher eine Wendung zum Schlimmeren befürchtet oder für viel wahrscheinlicher gehalten als eine Wende zum Guten: Denn hielte man einen glücklichen Ausgang für gleich wahrscheinlich wie einen schlechten, spräche man im Alltag vermutlich viel seltener von Krisen.
Eine psychische Krise kann mit Ulich (1987, S. 51) definiert werden als »ein belastender, temporärer, in seinem Verlauf und in seinen Folgen offener Veränderungsprozess der Person, der gekennzeichnet ist durch eine Unterbrechung der Kontinuität des Erlebens und Handelns, durch eine partielle Desintegration der Handlungsorganisation und eine Destabilisierung im emotionalen Bereich«. Lebenskrisen sind zeitlich umgrenzte Situationen, in denen Menschen mehr oder minder plötzlich erkennen, dass das Passungsgefüge zwischen ihnen und ihrer Umwelt nicht mehr gegeben ist, dass dieses Ungleichgewicht aber auch nicht durch einen einfachen »korrigierenden« Eingriff auf der einen oder anderen Seite rasch behoben werden könnte. Die Auseinandersetzung mit einem kritischen Lebensereignis droht dann in einen krisenhaften Verlauf einzumünden, wenn alle Versuche der Reorganisation der Person-Umwelt-Passung zu misslingen scheinen und auch der damit eingehende negative Affekt nicht reguliert werden kann. Die Person gerät dann in den Teufelskreis einer wachsenden Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten und Problemlösefähigkeiten begleitet von einer zunehmenden emotionalen Destabilisierung.
Kommer und Röhrle (1981) haben ein Stadienmodell der Krisenentwicklung vorgelegt, das diesen Verlauf sehr anschaulich beschreibt: Von der anfänglichen Handlungserschwernis im Zuge eines belastenden Ereignisses geht es in einem nächsten Schritt über zu der Phase der Handlungsbeeinträchtigung, die – sofern sie nicht überwunden werden kann – nun in eine Phase der Desorientierung und damit in die Krise im engeren Sinne mündet. In dieser letzten Phase erleben Menschen eine tiefe Verunsicherung hinsichtlich dessen, was sie (letztlich) wollen und was sie nicht wollen und wie alternative Wege der Zielerreichung aussehen oder wie sie für sich ein »neues Leben« gestalten könnten. Auf der Verhaltensebene zeigt sich dies in desorganisierten und wenig koordinierten Verhaltensabläufen, häufig sind Überaktivität oder aber – im Gegenteil – Aktivitätshemmung, Apathie und tiefste Verzweiflung erkennbar. Gerade in diesem Stadium der Orientierungslosigkeit sind Menschen daher auch sehr empfänglich für Einflüsse von außen. Im günstigen Falle sind diese in Form psychologischer Intervention verfügbar (Kap. 10), doch Menschen in Krisensituationen sind leider auch sehr empfänglich für Heilsversprechen und Versuche der Indoktrination. Indes muss sich eine Krise in diesen Aspekten (oder in Form einer bestimmten Symptomatik) keineswegs immer zu erkennen geben, und häufig ist Außenstehenden gar nicht bekannt, dass sich eine Person in einer Krise befindet.
Auch der Ausgang einer psychischen Krise ist (schon definitionsgemäß) offen: Ein positiver Ausgang meint, dass der Person in der Folge eines kritischen Lebensereignisses die Reorganisation des Passungsgefüges gelingt, dass sie die intensiven negativen Emotionen auf ein angemessenes und erträgliches Maß herunterregulieren kann, dass sie Phasen der Orientierungsunsicherheit oder des Orientierungsverlustes – und damit letztlich die Krise – konstruktiv überwinden kann. Dies mag zur Erweiterung ihres Handlungsspielraums führen, sie mag neue vertiefte Einsichten gewinnen, und vielleicht mag Krise in diesem Falle persönliches Wachstum vorantreiben und einen Zuwachs an Kompetenz und Weisheit mit sich bringen.
Eine Wende zum Schlechten heißt hier: Das Passungsgefüge zwischen Person und Umwelt, das der Person auf Dauer ihre körperliche und psychische Sicherheit garantieren könnte, kann nicht wiederhergestellt werden. Nicht selten kommt es zu einer Chronifizierung der Belastungsreaktionen, zur Ausbildung dysfunktionaler, verzerrter Einschätzungen der Welt und der eigenen Person sowie zu einer Flucht in maladaptive Formen der Lebensbewältigung (z. B. gesteigerten Alkohol- und Medikamentenkonsum) bis hin zu depressivem Rückzug gepaart mit Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und erhöhter Suizidneigung oder gar zu einer deutlich verkürzten Lebenserwartung. In der Tat scheinen manche kritischen Lebensereignisse (wenn es sich z. B. um tiefgreifende Verluste oder traumatische Erfahrungen handelt) die Widerstandskraft der Betroffenen zu übersteigen und den betroffenen Menschen die Grenzen ihrer Bewältigungsfähigkeit auf dramatische Weise vor Augen zu führen (hierzu auch Staudinger, 1997)
Die Erforschung kritischer Lebensereignisse hat im Wesentlichen zwei Wurzeln: Zum einen geht sie zurück auf die laborexperimentell orientierte Stressforschung, die uns mit der Untersuchung der Effekte von Lärm, Hitze, Selbstwertbedrohung und vielen anderen »Stressoren« seit Dekaden wichtige Einblicke verschafft. Die Lebensereignisforschung hat zum Ziel, diese Studien zu ergänzen um Analysen des stress of life