KRYO – Die Versuchung - Petra Ivanov - E-Book

KRYO – Die Versuchung E-Book

Petra Ivanov

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Beschreibung

In Selenograd, dem russischen Silicon Valley, wird am ewigen Leben geforscht: »Mind Uploading« verspricht die Digitalisierung des menschlichen Bewusstseins. Wochenlang wurde der junge Arzt Michael hier festgehalten – jetzt soll er das Forschungsteam plötzlich unterstützen. Michaels Mutter Julia riskiert auf der Suche nach ihm ihr Leben. Denn in Russland wird sie wegen eines Mordes gesucht, den sie nicht begangen hat. Um Michael zu finden, muss sie wissen, was damals wirklich geschehen ist. Doch je näher sie ihrem Ziel kommt, desto bedrohlicher klaffen die düsteren Abgründe ihrer Vergangenheit vor ihr auf und drohen alles zu verschlingen, was ihr wichtig ist. Die atemlose Fortsetzung der KRYO-Trilogie: Ein Thriller um die Macht, ein anderes Leben zu kontrollieren – auch über den Tod hinaus.

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Seitenzahl: 439

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Über dieses Buch

Ewiges Leben – das verspricht »Mind Uploading«, die Digitalisierung des menschlichen Bewusstseins. In Selenograd soll der junge Arzt Michael die undurchsichtige Forschung unterstützen, während Julia auf der Suche nach ihm ihr Leben riskiert – denn in Russland erwarten sie die düsteren Abgründe ihrer Vergangenheit.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen.

Zur Webseite von Petra Ivanov.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Englische Broschur, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Petra Ivanov

KRYO – Die Versuchung

Thriller

Die KRYO-Trilogie II

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Lektorat: Susanne Gretter

© by Petra Ivanov 2024

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Image navi, QxQ images (Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31119-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 08.01.2024, 08:12h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

KRYO – DIE VERSUCHUNG

Personenverzeichnis1 — November 20212 — Moskau, 19913 — 20214 – Michael lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe und …5 – Ist er es, oder ist er es nicht?« …6 — Moskau, 19917 — 20218 – Wenn man ein komplexes Computermodell erstellen will …9 – Xenia schrie. Michael sprang auf und sah sich …10 – Frustriert hängte Vita das Kleid von Alexander McQueen …11 – Birken- und Nadelwälder, so weit das Auge reichte …12 — Moskau, 199113 — 202114 – Tschurka kannte jeden Winkel der Siedlung. Eine Nische …15 – Bogdan Radu hatte alle Informationen über die Kryokonservierung …16 – Xenia schlüpfte in eine Jeans und holte ihre …17 — Moskau, 199118 — 202119 – Henry hatte genug von der Rehaklinik. Von der …20 – Julia rannte durch den Zellentrakt. Das Stöhnen der …21 – Vita mochte Gruppenunterricht nicht. Erst recht nicht …22 – Zu Michaels Erstaunen hatte Pawel sein Versprechen gehalten …23 – Xenia war blass, und unter ihren Augen lagen …24 – Der Gottesdienst dauerte bereits über zwei Stunden …25 — Moskau, 199126 — 202127 – Tschurka zündete eine Zigarette an und lehnte sich …28 – Michael saß in seinem Zimmer und wartete auf …29 – Xenia stopfte ihre Kleider in die Reisetasche …30 – Vielleicht ging es Xenia gar nicht um eine …31 – Julia saß seit zwei Stunden mit Kyrill im …32 – Vita stand vor der Marmorskulptur des Nautilus und …33 – Michael sah immer wieder zu Vita hin …34 – Es roch nach Verwesung. Xenia drückte die Augen …35 – Marmorsplitter knirschten unter Pawels Schuhen. Selten hatte Vita …36 – Julia wurde das Gefühl nicht los, dass sie …37 — Moskau, 199138 — 202139 – Michael konnte nicht schlafen. Immer wieder sah er …40 – Julia hämmerte mit den Fäusten gegen die Wand …41 – Julia fror. Sie kniete seit Stunden vor Andrejs …42 – Michael klopfte an Katarzynas Tür. Sie öffnete nicht …43 – Xenia hatte es erneut geschafft, den Knebel zu …44 – Tschurka stand vor Vitas Haus. Dass sie ihn …45 – Sie kam auch um achtzehn Uhr nicht …46 – Julias Kopf schmerzte, und sie hatte Durst …47 – Xenia kauerte auf der obersten Treppenstufe. Sie spürte …48 – Es dämmerte, als Tschurka hinter der Kirche parkte …49 – Julia hatte mit strengen Sicherheitskontrollen gerechnet, nicht aber …50 – Trotz der späten Stunde hatte eine Mitarbeiterin das …51 – Julia hatte darauf bestanden, mit dem Zug nach …52 – Pawels Jet landete am späten Nachmittag am Flughafen …53 – Die Gesänge der Totenliturgie hallten durch die Kirche …54 – Tschurka beobachtete den Gang zum Grab. Langsam wurde …Leseprobe — KRYODie Verfehlung

Mehr über dieses Buch

Über Petra Ivanov

Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich den Kontakt zu ihnen.«

Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«

Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov

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Für Volodja

»Zu glauben, dass Kryoniker jemanden wiederbeleben können, ist wie der Glaube daran, dass man aus einem Hamburger wieder eine Kuh machen kann.«

US-Biologe Arthur Rowe

Personenverzeichnis

Hauptfiguren

JULIA SANDERS

Dolmetscherin, Mutter von Michael

MICHAEL WILD

Arzt, Sohn von Julia

HENRY SANDERS

Professor für Astrophysik, Ehemann von Julia

ANDREJ STANISLAWOWITSCH DANILOW

Dolmetscher

PAWEL STANISLAWOWITSCH DANILOW

Geschäftsmann, Besitzer von ­KrioZhit, Bruder von Andrej, Ehemann von Vita

VIKTORIJA (VITA) SERGEJEWNA DANILOWA

Ex-Model, Ehefrau von Pawel

OLEG WOLKOW

Oligarch, Ehemann von Irina

IRINA WOLKOWA

Ex-Model, Ehefrau von Oleg Wolkow

Nebenfiguren

KATARZYNA SZEWIŃSKA

Neuroinformatikerin bei ­KrioZhit

TSCHURKA (DSCHACHONGIR)

Jugendfreund von Vita

XENIA

russische Prostituierte

BOGDAN RADU

Arzt bei KrioZhit

TANJA

russische Austauschstudentin

LARISSA JURJEWNA

Mutter von Tanja

KYRILL

russisch-orthodoxer Mönch

TRAPEZIUS

Wächter

MARGARET FREEMAN

Professorin für Cybersicherheit, Kollegin von Henry

STANISLAW IWANOWITSCH DANILOW

Militärchemiker, Vater von ­Andrej und Pawel

SWETA ILJINITSCHNA DANILOW

Mutter von Andrej und Pawel

GALINA PETROWNA

Mutter von Vita

THOMAS MÖHKER

Redakteur Wissenschaftsjournal

1

November 2021

Ein Mensch kann nicht zweimal sterben. Oder doch? Wenn Julia eines gelernt hatte in den vergangenen Wochen, dann, dass der Tod nicht endgültig war. Zumindest nicht für alle. Sie schaute zurück. Der Mann mit der schwarzen Wollmütze befand sich immer noch hinter ihr. Sie reihte sich in die Schlange vor dem Einlassautomaten ein und holte ihre Fahrkarte hervor. Auf der Rolltreppe führte sie sich den Metroplan wieder vor Augen. Ihre letzte Reise nach Moskau lag achtundzwanzig Jahre zurück, das Netz hatte sich nicht verändert, auch wenn ein paar neue Linien dazugekommen waren. Julia entschied sich für die Ringlinie. Sie würde im Kreis fahren, um festzustellen, ob der Mann ihr tatsächlich folgte oder ob er nur zufällig in die gleiche Richtung unterwegs war. Zielstrebig ging sie auf die Plattform zu. Hinter einer Marmorsäule blieb sie stehen und betrachtete die Menschen. Eine Touristin fotografierte ein Mosaik an der Wand, ein Mann in Anzug schaute auf die Uhr. Julia hörte ein leises Rattern, kurz darauf drang ein Schwall Luft aus einem Tunnel. Der Lärm schwoll an, und die Menschenmenge setzte sich in Bewegung. Beim Einsteigen behielt Julia die anderen Türen im Blick. Der Mann mit der Wollmütze war verschwunden. Trotzdem wechselte sie an der nächsten Station den Wagen.

Allmählich beruhigte sich ihr Puls. Gleichzeitig war ihr klar, dass die Gefahr noch nicht vorüber war. Gut möglich, dass sie sich den Verfolger diesmal nur eingebildet hatte, doch es war bloß eine Frage der Zeit, bis sie entdeckt wurde. Während sie im Kreis fuhr, prägte sie sich die Gesichter der Fahrgäste ein. Früher hatten die Moskauer im öffentlichen Raum jeglichen Blickkontakt vermieden. Sie hatten die Augen auf den Boden gerichtet und unsichtbare Mauern um sich herum aufgebaut. Jetzt starrten sie auf ihre Handys, und statt Angst sah Julia in ihren Gesichtern Gleichgültigkeit.

Sie wechselte ein weiteres Mal den Wagen, bevor sie schließlich am Weißrussischen Bahnhof auf die Linie zwei umstieg. Sie fühlte sich wieder wie zwanzig. Erfüllt von Liebe und der Zuversicht, dass Andrejs Familie sie mit offenen Armen empfangen würde. Wie naiv sie gewesen war! Sie hatte die Fahrgäste angestrahlt und nicht verstanden, dass Glück in der Sowjetunion Misstrauen weckte.

Eine Lautsprecherstimme kündigte die Haltestelle Paweletskaja an. Awtozavodskaja. Technopark. In Gedanken wiederholte Julia die Namen, die Melodie war ihr so vertraut wie die Stimme ihres Vaters, der sie damals vor der Reise nach Moskau gewarnt hatte. Vor Andrej gewarnt hatte.

»Der wird dich nicht glücklich machen«, hatte er gesagt. »Der kann doch gar nicht anders. Der muss erst einmal lernen, ohne Krücken zu gehen.«

Sie hatte ihm Engstirnigkeit vorgeworfen, hatte mit der Arroganz der Jugend auf das kleine Leben ihrer Eltern herabgeschaut und nicht begriffen, wie groß es in Wirklichkeit war. Sie hatte geglaubt, die Welt stehe ihr offen, und war gegen verschlossene Türen gerannt.

Der Zug verließ den Tunnel, das Rattern wurde leiser. Julia betrachtete die weißen Plattenbauten, die bis ans Ufer der Moskwa reichten, über die sie nun fuhren. Sie suchte nach einem Orientierungspunkt, doch bevor sie sich zurechtfinden konnte, tauchte der Zug in den nächsten Tunnel ab.

Dann war sie da. Kolomenskaja. Nur wenige Fahrgäste stiegen aus, der Mann mit der Wollmütze war nicht dabei. Julia war sich sicher, dass sie automatisch auf den richtigen Ausgang zusteuern, dass sie den Weg auch blind finden würde, nun kam ihr alles anders vor. Wie unzuverlässig das Gedächtnis ist. Falsche Erinnerungen vermischen sich mit echten, manche Erlebnisse versickern, während einem andere wichtiger vorkommen, als sie es in Wirklichkeit sind. Genau deshalb wollte sie den Wohnblock noch einmal sehen, in dem Andrej mit seiner Familie gelebt hatte. Seine Eltern waren inzwischen gestorben, sein Bruder Pawel wohnte in einem Nobelvorort, aber vielleicht konnte ein Blick auf die Umgebung Erinnerungen wecken, die in ihr schlummerten und zu denen sie keinen Zugang hatte.

Sie steuerte auf die Treppe zu, die am nächsten lag. Wo einst Babuschkas ihre Waren auf Klapptischen feilboten, standen jetzt Getränkeautomaten. Neben der Metrostation gab es ein Einkaufszentrum, dahinter lag eine mehrspurige Straße. Julia holte den Stadtplan hervor, den sie sich am Flughafen besorgt hatte. Je weniger digitale Spuren sie hinterließ, desto besser.

Eine Passantin fragte, ob sie Hilfe brauche. Julia verneinte auf Russisch und erntete einen unsicheren Blick. Man sah in ihr immer noch die Ausländerin, auch wenn sie statt der wetterfesten Jacke, ohne die sie ihr Haus in Upstate New York nie verließ, einen teuren Wollmantel trug. Sie hatte gehofft, dass man sie für eine Russin halten würde, die inzwischen im Ausland lebte. Sie hätte sich schminken sollen. Die Frauen in Moskau legten großen Wert auf ihr Äußeres. Sie strich sich über das flachsblonde Haar, das sie nachlässig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Dann schaute sie auf ihre Fingernägel. Kurz, unlackiert, die Nagelhaut stellenweise abgebissen. Die Anspannung, unter der sie seit Wochen stand, hatte Spuren hinterlassen. Seit Monaten, korrigierte sie sich in Gedanken. Michael war vor genau zwei Monaten verschwunden.

Es begann zu regnen. Julia faltete den Stadtplan zusammen und schob ihn in ihre Tasche. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg zur Bushaltestelle. Den verstauchten Knöchel spürte sie kaum noch, doch das angebrochene Schlüsselbein schmerzte bei jeder falschen Bewegung. Die Verletzungen hatte sie sich in Seattle zugezogen. Sie erinnerten sie daran, die Gefahr, die von anderen Menschen ausging, nie zu unterschätzen. Sie wünschte, sie hätte die kleine Kompakt-Pistole mitnehmen können, die sie sich in den USA beschafft hatte.

Die Haltestelle war überdacht, im Gegensatz zu früher gab es sogar Sitzbänke. Julia wartete etwas abseits und stieg dann in den ersten Bus ein, der Richtung Flussbiegung fuhr. Frauen mit Einkaufstaschen musterten sie verstohlen. Vier Haltestellen später betrat Julia eine Welt, die sie unwiderruflich mit Andrej verband. Ein Labyrinth aus Plattenbauten und Trampelpfaden, dazwischen matschige Grünflächen und Spielplätze. Die rostigen Schaukeln waren farbigen Klettergerüsten, die Ladas und Wolgas modernen Fahrzeugen gewichen, noch immer aber schienen die Menschen eine unsichtbare Last mit sich zu tragen.

Julia machte einen Bogen um eine Wasserpfütze, die sich auf dem brüchigen Asphalt gebildet hatte. Sie fragte sich, wie Michaels Leben ausgesehen hätte, wenn er hier zur Welt gekommen wäre. Wenn er gewusst hätte, dass Andrej Danilow sein leiblicher Vater war. Hätte er sich trotzdem für Naturwissenschaften interessiert? Urzeitkrebse gezüchtet, Teleskope gebaut und schließlich Medizin studiert?

Ein Schatten huschte an Julia vorbei, und ihr Puls schoss in die Höhe. Nur ein Hund, stellte sie fest und blieb stehen, bis auch der Besitzer sie überholt hatte. Neben dem Weg lag ein umgekipptes Dreirad. Sie dachte an Michaels erste Fahrt mit dem Fahrrad. Er hatte sich geweigert, Stützräder zu benutzen, und war in eine Brombeerhecke gestürzt. Die Kratzer an seinen Armen und Beinen hielten ihn nicht davon ab, gleich wieder in den Sattel zu steigen. Wie hartnäckig er sein konnte! Als er vor zwei Monaten nicht zu einem Termin erschienen war, hatte sie vermutet, dass er sich trotz ihrer Warnung auf die Suche nach seinem Vater gemacht hatte. Sie war aufgebrochen, um ihn davon abzuhalten, da erst war ihr klar geworden, dass viel mehr hinter seinem Verschwinden steckte. Aus gesundheitlichen Gründen hatte er die Ausbildung zum Chirurgen abgebrochen und arbeitete inzwischen als freier Mitarbeiter für ein Wissenschaftsmagazin. Bei Recherchen für eine Reportage über den Transhumanismus war er auf die illegalen Machenschaften einer kalifornischen Firma gestoßen. In den Skandal waren hochrangige Persönlichkeiten aus Politik, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur involviert. Noch immer sorgten die Namen für Schlagzeilen. Ein enger Vertrauter des US-Präsidenten hatte seinen Rücktritt erklärt, eine UNO-Botschafterin musste ihren Posten räumen. Nur einem Mann war es gelungen, unentdeckt zu bleiben.

Oleg Wolkow.

Wut stieg in Julia auf, als sie an den russischen Oligarchen dachte. Er war für sie ein Symbol all dessen, was sie verabscheute: Ungerechtigkeit, Egoismus, Gier, Rücksichtslosigkeit. Schlimmer noch – er war ein Mörder. Um länger zu leben, hatte er sich Kinderblutplasma spritzen lassen, was einen vierjährigen Jungen das Leben gekostet hatte. Dass Wolkow ungeschoren davonkommen sollte, wollte Julia nicht in den Kopf. Vermutlich ging es Michael ähnlich. War er deshalb in Russland? Und gar nicht, um Andrej zu suchen? Julia hatte ihm den Namen seines Vaters nie verraten, doch im Laufe seiner Recherche hatte er mit Andrejs Bruder Pawel Kontakt aufgenommen, der eine Kryonikanlage in Russland betrieb.

Der Regen wurde stärker, Menschen eilten mit gesenktem Kopf an Julia vorbei. Sie betrachtete die trostlosen Wohnblocks mit ihren winzigen, eingeglasten Balkons, ohne dass sich ein Gefühl von Vertrautheit einstellte. Zu viel hatte sich verändert. Oder war sie es, die sich verändert hatte? Sie war als naives Mädchen nach Moskau gekommen und hatte die Stadt als traumatisierte Frau verlassen. Im Glauben, dass Andrej tot war.

Sie blieb vor einer Stahltür stehen. Aus einem anderen Eingang drang das Geräusch eines Bohrers. Es gab weder Namensschilder noch Klingeln, nur ein Tastenfeld, um die Wohnungsnummer einzutippen.

»Suchen Sie jemanden?«, fragte eine dick eingemummte Frau.

Julia zögerte. Russische Namen bestanden aus drei Teilen, dem Vornamen, dem Nachnamen und dem Namen des Vaters, der wiederum vom Vornamen des Vaters abgeleitet wurde. Sie wusste nicht, ob die Kombination aus Vornamen und dem Namen des Vaters immer noch üblich war. Früher hatte es als höflich gegolten, vielleicht hatten sich nach der Wende aber westliche Gepflogenheiten durchgesetzt. Sie beschloss, die alte Form anzuwenden. Das passte zu der Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, um ihren leichten Akzent zu erklären.

»Ich suche Andrej Stanislawowitsch«, antwortete sie.

Die Frau legte die Hand auf die Brust und stieß ein schweres »Oi« aus.

Wie gut Julia diesen Seufzer kannte! Kummer, aber auch Duldsamkeit lagen darin, und die Erkenntnis, dass es zwecklos war, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. Sie erklärte, dass sie mit Andrej an der Staatlichen Linguistischen Universität Moskaus studiert habe, dann aber nach London ausgewandert sei. Die Lüge ging ihr glatt über die Lippen.

»Sie haben mit Andrjuscha studiert?« Die Frau beugte sich vor, um sie besser sehen zu können.

»Es ist schon lange her. Ich bin gleich nach dem Studium ausgewandert, und wir haben uns aus den Augen verloren.«

»Dann wissen Sie nichts von der Tragödie?«

»Tragödie?«

Die Frau schüttelte stumm den Kopf.

»Ist ihm etwas zugestoßen? Wir waren damals … eine Zeit lang …« Julia verstummte.

Die Frau hatte die Hand noch immer auf der Brust liegen. Sie wiegte sich hin und her, als wollte sie sich selbst trösten.

»Andrjuscha ist … Sie sehen aus, als könnten Sie eine Tasse Tee vertragen.«

Kurz darauf saß Julia auf einem Bettsofa und knabberte höflich an einem Keks, der nach nichts schmeckte. Sie hatte vor achtundzwanzig Jahren nicht nur Andrej verloren, sondern auch ihren Geruchs- und Geschmackssinn. An der Wand hingen düstere Gemälde mit Motiven von Schlachten aus dem Großen Vaterländischen Krieg. In einer Vitrine lagen diverse Relikte aus der Vergangenheit, darunter zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos von einem jungen Mann.

»Mein Tolja«, erklärte die Frau. »Er fehlt mir jeden Tag.«

Julia nickte mitfühlend.

»Er ist in Ungarn gefallen, nur wenige Monate, nachdem wir geheiratet haben. Meine Tochter hat ihren Vater nie kennengelernt. Als Kriegsheld hat er aber wenigstens in den Geschichtsbüchern weitergelebt. Eine Zeit lang zumindest. Heute interessiert sich keiner mehr für die Opfer, die wir erbracht haben.« Sie klagte über den Untergang der Sowjetunion, Boris Jelzin und das Rentengesetz 90, das sie in die Armut gestürzt habe.

Über die Not der Babuschkas hinter den Klapptischen hatte sich Julia damals keine Gedanken gemacht.

»Unsere große Nation ist vor die Hunde gegangen.« Die Frau schaute auf ein Gemälde, das eine besonders blutige Schlacht darstellte, dann wandte sie sich wieder Julia zu. »Meine Generation hatte nicht die Möglichkeit, der Heimat den Rücken zu kehren. Wir haben für unsere Zukunft gekämpft!«

Julia verstand den Hinweis. »Heute würde ich auch anders handeln«, sagte sie, und diesmal entsprach ihre Aussage sogar teilweise der Wahrheit. »Damals begriff ich nicht, dass Auswandern keine Lösung ist. Hat Andrej Russland auch verlassen?«, versuchte sie das Gespräch wieder auf ihn zu lenken.

»Nehmen Sie noch einen Keks!« Die Frau schob ihr den Teller zu.

Bei fremden Menschen etwas zu essen, fühlte sich für Julia an, als würde sie mit geschlossenen Augen die Straße überqueren. Sie fühlte sich ausgeliefert und schutzlos. Dennoch griff sie nach einem weiteren Keks. Wenn sie Informationen wollte, durfte sie ihre Gastgeberin nicht enttäuschen.

»Andrjuscha war ein anständiger Junge«, fuhr die Frau fort. »Er hat mir die Einkäufe die Treppe hochgetragen und mir regelmäßig schwer erhältliche Waren gebracht. Waschpulver, das nach Zitronen duftete, Orangen, Instantkaffee und einmal sogar eine Ananas.« Die Frau senkte die Stimme. »Sein Vater hatte natürlich Beziehungen, den Danilows mangelte es nie an etwas. Die meisten Jungen war viel zu beschäftigt, um sich mit einer alten Frau abzugeben, Andrjuscha aber hat nie eine Tasse Tee oder ein Stück Kuchen ausgeschlagen. Heute hat keiner mehr Zeit, meine Enkeltochter sehe ich nur an den Feiertagen. Als Andrjuscha ins Ausland ging – wenn Sie mit ihm studiert haben, wissen Sie bestimmt, dass er zu den ersten Austauschstudenten am Institut gehört hat, was für eine Ehre! –, habe ich befürchtet, dass es ihn verändern würde. Dass man ihn einer Gehirnwäsche unterziehen und er als ein anderer zurückkehren könnte.« Sie lächelte. »Aber er war immer noch derselbe. Nur trauriger. Manchmal hat er mich an meinen Tolja erinnert. Diese Augen, sie sahen keine Zukunft. Ob er geahnt hat, dass wir dem Untergang geweiht waren? Ich habe mich oft gefragt, was Andrjuscha im Westen erlebt hat. Er hat nie darüber gesprochen.«

Er hat mich kennengelernt, dachte Julia. Aber wann hatte sich das Glücksgefühl in Trauer verwandelt? Sie dachte daran, wie sie Pläne geschmiedet hatten. Sie saßen am Strand, vor ihnen der Pazifik, über ihnen der tiefblaue Himmel. Seehunde dösten auf den Felsen, Tanker zogen am Horizont vorbei. Sie redeten über ihre Träume, und Andrej vertraute ihr an, dass er Schriftsteller werden wollte. Julia hatte kein Verständnis dafür aufgebracht. In ihren Augen war er ein begnadeter Dolmetscher, viel besser, als sie es je werden könnte, obwohl sie sich bereits in einer Kabine bei den Vereinten Nationen sitzen sah. Sie sprach über die UN-Charta. Andrej über Literatur. Er rezitierte Gedichte, sie erklärte ihm Visabestimmungen. Jetzt erst wurde ihr klar, dass nur sie Pläne geschmiedet hatte. Hatte er gewusst, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie geben würde?

»Was hat er nach dem Studium gemacht?«, fragte Julia.

Die alte Frau blickte aus dem Fenster, draußen hatte die Dämmerung eingesetzt. »Als die Verbrecher in den Neunzigerjahren die Macht übernahmen, war plötzlich jeder ein Businessmann, auch Stanislaw Iwanowitsch. Andrjuscha und sein Bruder Pascha sind bei ihm eingestiegen.«

Darüber hatte Julia gelesen. Stanislaw Iwanowitsch Danilow war als Militärchemiker von der Regierung in die ehemalige DDR entsandt worden. Nach seiner Rückkehr hatte er eine Stelle als Chefingenieur in einem Kunststoffwerk angetreten, später im Ministerium für chemische Industrie gearbeitet. Während der Perestroika-Periode konnte er sich einen Staatsbetrieb unter den Nagel reißen. Die RusChem stellte Düngemittel her und verfügte über Abbaustätten für Phosphate und Nitrate. Pawel hatte später die Aktionärs-Finanz-Korporation Finema gegründet und das Unternehmen Chemprom dazugekauft, das zu Sowjetzeiten Nervengase produziert hatte. Er erwarb weitere Firmen, hauptsächlich im Tech- und Telecom-Sektor, dann baute er eine Kryonikanlage auf und befasste sich vor allem mit Projekten, die Fragen der Unsterblichkeit erforschten.

»Während des Studiums hat Andrej davon gesprochen, Schriftsteller zu werden«, sagte Julia. »Warum hat er diesen Traum aufgegeben?«

»Träume!«, schnaubte die Frau. »Die kann man in jedem Spirituosenladen kaufen. Davon ist noch niemand satt geworden.«

Julia dachte an die Telegramme, die er ihr aus Moskau geschickt hatte. Seinen Traum von einer gemeinsamen Zukunft hatte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgegeben, sonst hätte er den Kontakt zu ihr abgebrochen.

»Mögen Sie den Tee nicht?«, fragte die Frau und deutete auf Julias volle Tasse.

Widerwillig trank Julia einen Schluck.

»Die Danilows sind nur wenige Jahre nach Andrjuschas Rückkehr weggezogen«, fuhr die Frau fort. »Sie haben sich eine größere Wohnung im Zentrum gekauft. Sweta Iljinitschna hat sich dort nie wohlgefühlt, Gott hab sie selig, sie verbrachte immer mehr Zeit auf ihrer Datscha. Das weiß ich von meiner Nachbarin, ihr Häuschen liegt in der gleichen Siedlung.«

Julia horchte auf. Natürlich besaßen die Danilows eine Datscha, warum hatte sie nicht daran gedacht? Viele Systemtreue hatten in den 1980er-Jahren vom Staat ein Stück Land bekommen und darauf eine Hütte errichtet, die sie sukzessive ausbauten, je nachdem, wie gut ihre Beziehungen waren und welche Mittel ihnen zur Verfügung standen. Die Datschniki, wie die Bewohner genannt wurden, schätzten die frische Luft und das einfache Leben. Die Datscha war eine Zufluchtsstätte. Und der perfekte Ort, um jemanden zu verstecken.

Julia lehnte sich zurück. Bei ihrem Treffen in Seattle hatte Pawel ihr gegenüber behauptet, dass er Michael vor Oleg Wolkow habe in Sicherheit bringen müssen. Er hatte ihr Videoaufnahmen gezeigt, die Michael in einem sterilen Raum zeigten. Julia zweifelte nicht daran, dass Michael in Gefahr war. Wolkows Sicherheitsleute hatten mehrere Menschen kaltblütig ermordet, weil sie über Informationen verfügten, die ihm gefährlich werden konnten. Aber sie wusste auch, dass Pawel noch ganz andere Interessen verfolgte, als Michael zu schützen. Trotzdem hatte sie ihm versprochen, die Suche nach ihrem Sohn einzustellen, wenn er im Gegenzug dafür sorgte, dass Michael nichts zustieß. Dabei hatte sie nicht eine Sekunde daran gedacht, sich an dieses Versprechen zu halten. Nicht, bevor sie wusste, was Pawel mit Michael vorhatte.

Weder der weiß gekachelte Boden, der auf dem Video zu sehen war, noch der Stahltisch, an dem Michael saß, passten zur Einrichtung einer Datscha. Im Hintergrund war Julia aber ein Klappbett mit einem altmodischen Rahmen aufgefallen, auf dem eine dünne Matratze und eine geblümte Decke lagen. 1991 hatte sie in Moskau auf so einem Bett geschlafen.

»Andrej hat oft von der Datscha erzählt, sie lag in Pikalovo, nicht wahr?«, nahm sie das Gespräch wieder auf. Von dieser Siedlung war in einer Radioreportage die Rede gewesen, eine andere fiel ihr spontan nicht ein.

»Nein, in der Nähe von Kirtasch, nördlich der Stadt. Die Fahrt dorthin dauert über eine Stunde, aber Stanislaw Iwanowitsch besaß ja schon damals einen eigenen Wagen.«

Julia führte die Tasse mit dem abgeblätterten Goldrand zum Mund, ohne einen Schluck zu trinken. Was, wenn sie Pawel unterschätzt hatte und er von ihrer Ankunft in Moskau längst wusste? Ahnte er, dass sie die alte Wohnung der Danilows aufsuchen würde? Hatte er die Nachbarin gebeten, Julia abzupassen? Als Betreiber eines Chemiewerks hatte er zu Substanzen Zugang, die sich problemlos einer Tasse Tee beimischen ließen. Katamin. Rohypnol. Valium. GHB oder GBL. Den salzigen Geschmack würde sie nicht einmal bemerken. Bildete sie es sich nur ein, oder war ihr leicht schwindlig?

Sie stellte die Tasse ab. »Sie haben vorhin von einer Tragödie gesprochen. Was ist passiert?«

»Ich habe es aus dem Fernsehen erfahren, alle Sender berichteten im letzten Sommer darüber. Der arme Andrjuscha! Ich wusste nicht einmal, dass er ins Kloster gegangen ist. Die Mafia …« Die Stimme der Frau zitterte. »Es hieß, dass er entführt werden sollte. Als er zu fliehen versuchte, habe man auf ihn geschossen. Er soll sich ins Meer gestürzt haben und …« Sie bekreuzigte sich. »Der Ärmste!«

In den Artikeln, die Julia zu diesem Vorfall gelesen hatte, waren nur Vermutungen geäußert worden. Eine Leiche hatte man nie gefunden. Eine missglückte Entführung schien am naheliegendsten zu sein, immerhin war Andrej Mitinhaber von einem der größten privaten Industrie- und Finanzkonzerne Russlands, auch wenn er sich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen und die letzten sieben Jahre im Solowezki-Kloster gelebt hatte, einem Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche im hohen Norden.

»Sind Sie sicher, dass es Andrej war, auf den man geschossen hat?«, fragte Julia.

Die alte Frau blinzelte verwirrt.

»Könnte es sein, dass jemand anders unter seinem Namen im Kloster gelebt hat?«

»Wie kommen Sie darauf?«

Weil ein Mensch nicht zweimal sterben kann, dachte Julia.

2

Moskau, 1991

Es gab Orte auf der Welt, deren Namen schon ausreichten, um Sehnsucht zu wecken. Sansibar, Timbuktu oder Samarkand. Für Julia war es Scheremetjewo. Ein Wort, das wie ein lang gezogenes Flüstern klang, ein weicher Schal, locker um den Hals geschlungen. Julia schaute auf die Schlange, die sich vor der Passkontrolle gebildet hatte. Niemand sprach, keiner tanzte aus der Reihe. Ausdruckslose Gesichter, leere Blicke. Die Menschen trugen vollgestopfte Taschen und Kartons, die mit Schnüren zusammengebunden waren. Jemand schob sogar einen Mikrowellenherd vor sich her. Eine Mutter versuchte verzweifelt, ihren weinenden Säugling zu beruhigen. Als ein Milizionär auf sie zusteuerte, wurden ihre Schaukelbewegungen hektisch. Schsch. Schsch. Scheremetjewo. Der Milizionär gab der Frau mit dem Kinn ein Zeichen, ihm zu folgen. Blass huschte sie ihm hinterher. Er führte sie an die Spitze der Schlange und bedeutete dem Geschäftsmann, der an der Reihe war, ihr den Vortritt zu lassen. Die Mutter murmelte ein paar Dankesworte und kramte ihren Pass hervor.

Julia nahm alles in sich auf. Das Wappen der Sowjetunion, das an der Wand prangte, das Schlurfen von Schuhsohlen auf grauen Fliesen, das regelmäßige Aufklatschen der Stempel in den Kabäuschen. Wie lange sie von diesem Moment geträumt hatte! Bereits auf dem Gymnasium hatte sie begonnen, Russisch zu lernen. Auf ihrem Bücherregal standen reihenweise russische Klassiker; die Lieder von Bulat Okudschawa, Alla Pugatschowa und Wladimir Wyssozki waren ihr vertrauter als die Songs, die ihre Mitstudenten hörten. Ihre Eltern begriffen nicht, warum es sie nach Osten zog. Ihr Vater hatte nie den Wunsch gehabt, auch nur einen Fuß außerhalb seines geliebten Ruhrgebiets zu setzen, ihre Mutter war zwar ab und zu an die Nordsee gefahren, doch das war ihr Abwechslung genug. Manchmal ertappte sich Julia dabei, wie sie ihre Eltern dafür verachtete. Ein Leben aus Mettwurst, Lesezirkel, Bier und Lottoscheinen. Unmöglich, mit ihnen über Karl Marx oder den Bolschewismus zu diskutieren. Das Schicksal von russischen Dissidenten ließ sie kalt, die politischen Veränderungen in der Sowjetunion interessierten sie ebenso wenig wie die russische Sprache.

Julia schob die Gedanken an ihre Eltern von sich. Sie war hier, auf dem Flughafen Scheremetjewo. In wenigen Stunden würde sie nicht nur Moskauer Luft atmen, sondern auch Andrej wiedersehen. Die Vorstellung brachte ihre Wangen zum Glühen. Sie lächelte einer Frau zu, die sie verstohlen gemustert hatte und nun rasch den Kopf abwandte. Langsam rückte die Schlange vor. Das Warten störte Julia nicht, im Gegenteil. Sie wollte beweisen, dass sie dazugehörte und genauso geduldig ausharren konnte wie die Einheimischen. Auch äußerlich hatte sie versucht, sich anzupassen. Sie trug einen Rock statt Jeans und eine Jacke, die ihrer Mutter gehörte. Ob Andrej sie wiedererkennen würde? Sie hatte ihm nichts von ihrer Reise erzählt. Tanja hatte ihr die offizielle Einladung geschickt, die Julia benötigte, um ein Visum zu erhalten. Julia hatte es erstaunt, dass die schüchterne Studentin sich dazu bereit erklärt hatte. Während des Austauschsemesters in Kalifornien standen sie sich nicht besonders nahe, es gab sogar eine Zeit, da hatte Julia geglaubt, Tanja sei in Andrej verliebt. Trotzdem schrieben sie sich nach Tanjas Rückkehr in die Sowjetunion. Als Julia darüber klagte, wie sehr sie Andrej vermisse, bot Tanja an, ihr bei der Einreise zu helfen. Die Vorbereitungen hatten Tanjas romantische Ader zum Vorschein gebracht. Sie hatten vereinbart, die bevorstehende Reise geheim zu halten und Andrej zu überraschen.

Die Schlange war vorgerückt. Rasch schloss Julia auf. Sie versuchte, einen Blick hinter die Passkontrolle zu werfen, sah aber bloß eine Wand und weitere Milizionäre. Endlich war sie an der Reihe. Sie legte ihren Pass auf die Durchreiche und begrüßte den Mann hinter der Scheibe. Er erwiderte ihr Lächeln nicht, sondern starrte abwechselnd auf ihr Foto und ihr Gesicht. In gelangweiltem Tonfall fragte er auf Russisch nach dem Grund ihrer Reise. Er schien keine Antwort zu erwarten, als Julia aber in fließendem Russisch erklärte, dass sie eine Freundin besuchte, blinzelte er ein paar Mal. Er fasste sich sogleich wieder, drückte ihr einen Stempel in den Pass und winkte sie durch.

Sie war da.

3

2021

Julia stand vor Andrejs ehemaligem Wohnblock und atmete tief durch. Der Schwindel war weg, sie war nicht vergiftet worden. Sie betrachtete die zahlreichen Fahrzeuge auf dem Parkplatz. Anfang der 1990er-Jahre besaßen nur ein paar Privilegierte ein eigenes Auto, die meisten Stadtbewohner bestellten ein inoffizielles Taxi, wenn sie einen Wagen brauchten. Auch Tanja hatte einen Bekannten engagiert, um Julia am Flughafen abzuholen. Julia sah sie wieder vor sich, wie sie in der Ankunftshalle gestanden hatte, mit ihrem scheuen Lächeln, dem hellbraunen Haar und der leicht gekrümmten Haltung. Auf den ersten Blick hatte sie unscheinbar gewirkt, bei genauerem Hinsehen aber hatte Julia hinter der großen Brille das Funkeln in den braunen Augen wahrgenommen, und wenn Tanja sprach, unterstrich sie ihre Aussagen mit klaren Gesten. Nach ihrer Flucht hatte Julia alle Brücken hinter sich abgebrochen. Ob Tanja ihr weitere Briefe geschrieben hatte? Wohnte sie noch in der Innenstadt? Bereits zu Sowjetzeiten galt eine Wohnung in Moskau als Privileg, niemand zog freiwillig von dort weg. Nach der Perestroika waren die Wohnungen in Privateigentum übergegangen. Einige wurden von ihren Besitzern vermietet, die meisten aber bewohnten sie selbst.

Von dem Gespräch mit Andrejs Nachbarin war Julia enttäuscht, sie hatte sich mehr Informationen erhofft. Wenigstens hatte die Rentnerin bestätigt, was Julia aus den Medien schon wusste. Andrej war nach dem Studium tatsächlich in die Firma seines Vaters eingestiegen und nicht etwa gestorben, wie man ihr hatte weismachen wollen. Zumindest nicht 1991. Fake News war offenbar keine neuere Erfindung, die Russen hatten es schon früher verstanden, Falschnachrichten als Waffe einzusetzen. Ob auch die Meldungen vom vergangenen Juni erfunden waren? Hatte man gar nicht auf Andrej geschossen? Lebte er noch? Schon die Vorstellung raubte Julia den Atem.

Der Regen war in Schneeregen übergegangen. Wenn sie vor dem Feierabendverkehr in der Innenstadt sein wollte, musste sie sich beeilen. In dem schummrigen Licht der Laternen, die die Wege zwischen den Plattenbauten säumten, waren die Gesichter der Menschen kaum zu erkennen. Julia fragte sich, ob es Überwachungskameras gab. Hatte Pawel Zugang zu den Aufnahmen? Wie weit reichte sein Einfluss? Früher oder später würde er ihr auf die Spur kommen. Ihre einzige Sicherheit bestand darin, immer einen Schritt schneller zu sein als er.

Eine plötzliche Bewegung hinter ihr ließ sie zusammenfahren. Ein Jogger rannte an ihr vorbei und spritzte sie mit Schneematsch voll. Julias Herz raste. Sie hatte sich ablenken lassen, war unaufmerksam. Sie schaute sich prüfend um. Eine Frau mit einem Geigenkoffer. Ein Jugendlicher, der rauchte. Ein weinendes Kind. Scheinwerfer. Julia lief in die entgegengesetzte Richtung, weg von der Metrostation. Sie durfte nicht absehbar handeln.

Zehn Minuten später saß sie in einem Bus, der dem Flusslauf folgte. Hinter den beschlagenen Scheiben zog eine endlose Kolonne Fahrzeuge an ihr vorbei. Fast nostalgisch dachte Julia an die leeren Straßen zu Sowjetzeiten. An die schwere Stille, die in Moskau geherrscht hatte und die Bewohner bedrückte, Touristen aus dem Westen aber, des Konsums überdrüssig, begeisterte. Sie fuhr bis zur ehemaligen Zarenresidenz Kolomenskoje, wo sie in den Besucherstrom eintauchte, der aus dem Museum kam. Dann schnappte sie sich ein Taxi, das sie zur Endstation der grauen Linie brachte. Ihr Magen knurrte, und ihr war wieder leicht schwindlig, diesmal aber, weil sie bis auf die zwei Kekse den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Sie erinnerte sich an die erste McDonald’s Filiale in Moskau und fuhr mit der Metro zur Puschkinskaja. Fast-Food-Ketten boten standardisierte Speisen an.

Auch auf der mehrspurigen Straße, die zum Puschkin-Platz führte, reihten sich die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange. Dafür wartete vor dem Eingang des McDonald’s niemand auf Einlass. Andrej hatte sich über den Begriff »Fast Food« lustig gemacht. Bis zu fünf Stunden hatten die Menschen Schlange gestanden, um in den Genuss vom Geschmack des Westens zu kommen, überwacht von berittenen Polizisten. Für russische Verhältnisse kostete ein Hamburger ein Vermögen, und Julia hatte nicht verstanden, was die Menschen daran fanden. Bis Tanja ihr erklärte, dass die Burger und Pommes frites nach Veränderung schmeckten.

Von dieser Veränderung spürte Julia nichts mehr. Der Hamburger hatte aber die gleiche Konsistenz wie das Fleisch und die Brötchen in den USA, die Pommes frites waren knusprig. Als Nachspeise kaufte sie sich einen Apfel mit einer gewachsten Schale, den sie unwillkürlich mit den Äpfeln verglich, die in ihrem Keller in Upstate New York lagerten. Bis vor Kurzem war das Haus ihr sicherer Hafen gewesen, sie hatte es nur verlassen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Sie war nach ihrer Heirat dorthin gezogen, weil sie sich in Henrys Stadtwohnung nicht sicher fühlte. Bei dem Gedanken an ihn wurde ihr warm ums Herz. Sie sehnte sich danach, ihn anzurufen und ihm von ihrem Tag zu berichten, wie sie es zu Hause immer tat.

Tanjas Familie wohnte im historischen Zentrum Moskaus, bloß einen Kilometer vom Kreml entfernt. Womit hatte sich die Familie diese privilegierte Lage verdient? Schon die Tatsache, dass Tanja am Austauschprogramm teilgenommen hatte, hatte Julia erstaunt. Im Gegensatz zu Andrej war sie kein außergewöhnliches Sprachtalent, und ihr Vater nur ein einfacher Beamter. Tarnung? Hatte er in Wirklichkeit für den Geheimdienst gearbeitet? Das würde erklären, wie es ihr gelingen konnte, Julia über die Grenze zu schmuggeln. Falls es sich tatsächlich so zugetragen hatte. Julia wusste nur eines mit Sicherheit: Nichts war so, wie es schien. Um Michael zu finden, musste sie verstehen, was vor achtundzwanzig Jahren wirklich passiert war.

Der Schneeregen war in Schnee übergegangen. Nasse Flocken bedeckten den Weg, der zum Eingang des vierstöckigen Wohnhauses aus dem neunzehnten Jahrhundert führte. Julia hätte den Zahlencode nicht nennen können, ihre Finger aber führten automatisch die richtigen Bewegungen aus. Aber die Tür ging nicht auf. Julia trat einen Schritt zurück. Was hatte sie erwartet? Dass die Zeit stehen geblieben war? Eine Frau mittleren Alters kam mit einem Zwergpudel an der Leine heraus. Julia fragte nach Tanja.

»Sie wohnt nicht mehr hier.«

»Wissen Sie, wohin sie gezogen ist?«

»Nach Kargopol. Sie unterrichtet dort Englisch.«

»Haben Sie vielleicht eine Adresse oder eine Telefonnummer? Wir waren früher befreundet.«

»Leider nicht. Aber fragen Sie doch ihre Mutter.« Sie hielt Julia die Tür auf.

»Ihre Eltern leben noch?«

»Iwan Wladimirowitsch ist vor ein paar Jahren gestorben, aber Larissa Jurjewna wohnt noch hier.«

Julia bedankte sich und ging die Treppe zum zweiten Stock hoch. Sie erkannte das abgesteppte Leder wieder, mit dem die Tür gepolstert war, die Schlösser hingegen sahen neu aus. Julia klingelte. Langsame Schritte näherten sich, dann wurde es dunkel hinter dem Spion. Die Tür ging einen Spalt auf, und ein Schwall warmer Luft schlug Julia entgegen. Über der Sicherungskette tauchte ein vom Leben gezeichnetes Gesicht auf, umrahmt von braunem Haar, das eindeutig gefärbt war. Drei Wochen hatte Julia in der Wohnung dieser Frau verbracht, jetzt wirkte sie fremd auf sie. Wie seltsam einem das Gedächtnis mitspielt, dachte sie, nicht zum ersten Mal. Sie konnte sich an die Tischdecke mit Blumenmuster erinnern, an das dünne Porzellangeschirr, die schwachen Lampen und den Suppengeruch. Sie sah den Bettbezug vor sich, die für sie ungewöhnliche Öffnung an der Oberseite, durch die Tanja eine Wolldecke gestopft hatte. Die Hausschuhe, die für sie bereitstanden, und die Wörterbücher in der Vitrine.

»Ja?«, sagte die Frau.

»Larissa Jurjewna?«

»Das bin ich.« Sie machte keine Anstalten, die Kette abzunehmen.

»Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Mein Name ist Julia, ich …«

Larissa Jurjewna riss die Augen auf. »Julia Wild?«

Unwillkürlich sah Julia hinter sich. Ihr alter Name löste bei ihr sofort Ängste und Fluchtgedanken aus. Seit der Heirat mit Henry hieß sie Sanders. Julia Wild gab es nicht mehr.

Sie lächelte zaghaft. »Ja, ich war eine …«

Die Tür schlug vor ihrer Nase zu.

4

Michael lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe und schaute hinaus in das russische Silicon Valley, wie Selenograd genannt wurde. Eine dünne Schneeschicht bedeckte die Dächer. Vor der MIET, der Nationalen Forschungsuniversität für Elektronische Technologie, stand ein Mann mit Lederjacke, die Hände in die Taschen geschoben. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, holte eine Zigarette hervor und steckte sie sich zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden. Auf der Straße hinterließen die Fahrzeuge dunkle Spuren.

Michael konnte sich nicht sattsehen an der Aussicht. Mehrere Wochen hatte er in einem fensterlosen Raum verbracht. Die einzige Abwechslung waren die regelmäßigen Gespräche mit Pawel Danilow gewesen. Diskussionen über Ethik, Religion, Philosophie und Wissenschaft, angeblich, um abzuklären, ob Michael für eine Zusammenarbeit geeignet war. Michael hatte die Erklärung für einen schlechten Scherz gehalten, schließlich hatte er sich nicht für eine Stelle bei KrioZhit beworben. Das Letzte, woran er sich erinnerte, bevor er in dem fensterlosen Raum erwachte, war ein Stich in den Hals. Pawel entschuldigte sich dafür und behauptete, dass er keine Zeit für lange Diskussionen hätte. Michael sei in Lebensgefahr, und er hätte ihn so schnell wie möglich in Sicherheit bringen müssen. Es folgten endlose Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt. Ohne Internet. Ohne Telefon.

»Wie hätte ich wissen können, dass du nicht fliehen und direkt in die Arme deines Feindes laufen würdest?«, fragte Pawel, als Michael nach einer Erklärung verlangte.

Michael zweifelte nicht daran, dass Oleg Wolkow ihn am liebsten verschwinden lassen würde. Immerhin wusste er über seine kriminellen Machenschaften Bescheid. Doch Pawel handelte nicht aus Fürsorge. Er wollte etwas von ihm. Die Frage war nur, was. Er behauptete, Michael bringe Qualifikationen mit, die er suche. Als Chirurg, der seine Facharztausbildung nicht abgeschlossen hatte? In Russland gab es bestimmt genug Ärzte, die gern ihre schlecht bezahlte Stelle in einem staatlichen Krankenhaus aufgegeben hätten, um für Pawel Danilow zu arbeiten. Dennoch hatte Michael zugesagt. Pawel wusste genau, womit er ihn ködern konnte.

Michael war in dem Glauben aufgewachsen, Henry Sanders sei sein leiblicher Vater. Als er mit sechzehn nach seiner Geburtsurkunde fragte, weil er den Führerschein machen wollte, gestand ihm seine Mutter, dass Henry nicht sein biologischer Vater war. Noch immer fiel es Michael schwer, diese Tatsache zu akzeptieren, hauptsächlich deshalb, weil seine Mutter sich weigerte, ihm den Namen seines Erzeugers zu nennen. Michael hatte gebettelt und gedroht, sich schließlich ganz von ihr abgewandt, aber sie war stur geblieben. Pawel behauptete, er wisse, wer sein Vater sei. Er versprach, das Geheimnis zu lüften, wenn Michael als Gegenleistung für ihn arbeitete.

Weiter stellte er in Aussicht, ihn zu heilen. Michael hob die Hände und betrachtete sie von beiden Seiten. Seit über einem Jahr litt er an einer rätselhaften Krankheit. Das Zittern war zwar nicht verschwunden, aber erheblich schwächer geworden, seit er die Medikamente nahm, die Pawel ihm verordnet hatte, und Schluckstörungen hatte er überhaupt keine mehr. Wenn sich die Krankheit so einfach therapieren ließ, warum war sie so schwer zu diagnostizieren? Monatelang hatten Ärzte erfolglos versucht, der Ursache für die Symptome auf die Spur zu kommen.

Es war aber der dritte Köder, der Michael schließlich dazu bewogen hatte, die Stelle bei KrioZhit anzunehmen. Dr. Katarzyna Szewińska. Braune Augen mit goldenen Einsprengseln. Ihr Duft, der ihn an eine Sommerwiese erinnerte. Butterblumen. Gelbe Blüten, so zart, dass sie gleich welken, wenn man sie pflückt. Die Neuroinformatikerin war keine Schönheit im klassischen Sinn, aber sie löste in Michael ein Gefühl aus, das er nicht kontrollieren konnte. Alles, was er in seinem Leben für wichtig gehalten hatte, wurde in ihrer Gegenwart unwichtig. Ihr zarter Duft passte nicht zu ihrem bestimmten Auftreten, der sanfte Blick nicht zu ihrem distanzierten Verhalten. Diese Widersprüche faszinierten ihn, er wollte mehr erfahren über diese Frau, die nur wenige Jahre älter war als er, aber genau zu wissen schien, was sie vom Leben wollte.

Und mit der er nun zusammenarbeitete. Den Namen seines Vaters hatte Pawel ihm noch nicht verraten. Ob er geheilt war, wusste Michael auch nicht. Sein drittes Versprechen hingegen hatte Pawel gehalten.

Michael spähte auf den Parkplatz hinaus. Wo blieb sie? Normalerweise begann sie kurz nach sieben Uhr, jetzt war es fast neun. Er hatte sich schon halb vom Fenster abgewandt, als ihr Wagen um die Ecke bog. Er eilte zum Lift und fuhr ins Untergeschoss hinunter, wo er die Sicherheitstür passierte. Zügig ging er an einer Reihe von Stickstofftanks vorbei und betrat einen Raum, der mit modernen Geräten und leistungsfähigen Rechnern ausgestattet war. Das Reich von Katarzyna Szewińska. Alle anderen Laborräume befanden sich im zweiten und dritten Obergeschoss. Nur Katarzyna arbeitete hier unten. Als Michael den Grund wissen wollte, hatte Pawel mit den Schultern gezuckt.

Michael hörte das Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum. Katarzyna trug einen weiten Pullover und eine Hose, die eine Spur zu kurz war. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Sie begrüßte ihn ohne die Andeutung eines Lächelns.

»Haben Sie die neuen Hirnschnitte schon angeschaut?«, fragte sie, während sie in einen weißen Kittel schlüpfte.

Zu Michaels Aufgaben gehörte es, die Verbindung von Nervenzellen zu untersuchen. Dazu legte er Hirnschnitte von Mäusen, ein Zwanzigtausendstel Millimeter dünn, unter das Elektronenmikroskop und prüfte, welche Neuronen miteinander in Kontakt standen.

Er nickte. »Ich habe alle Resultate erfasst.«

Katarzyna setzte sich an einen Rechner. »Ich möchte heute eine weitere Versuchsrunde mit Strom beginnen.«

»Um die Verbindungen zu testen?«

»Ja.«

»Viele der Kontakte liegen nicht in unmittelbarer Nähe eines Neurons«, gab Michael zu bedenken. »Das könnte die Resultate verfälschen.«

»Deshalb werden wir mit Schätzungen arbeiten. Für unsere Zwecke genügt das.«

Katarzyna Szewińskas Englisch war fehlerfrei, sie sprach jedoch mit Akzent. Von Pawel wusste Michael, dass sie aus Polen stammte und in Deutschland promoviert hatte. Mehrere Jahre war sie im Rahmen des Human Brain Project der Europäischen Union an der Entwicklung künstlicher neuronaler Netzwerke beteiligt gewesen. Glaubte sie wirklich, dass es irgendwann möglich sein würde, das Gehirn auf ein externes Medium zu übertragen und ein virtuelles Bewusstsein zu schaffen? Denn das war Pawel Danilows Ziel. Auch die Patienten, die jetzt als kryokonservierte Leichen in Stickstofftanks lagen, waren davon ausgegangen, dass ihr Gehirn irgendwann ausgelesen werden konnte und sie in einem künstlichen Körper auferstehen würden. »Mind Uploading« nannte man den Vorgang in Fachkreisen. Das würde allerdings voraussetzen, dass Denken, Erinnern und sogar Fühlen rein elektronische Prozesse waren. Für Michael bestand die Persönlichkeit aber nicht nur aus verknüpften Nervenzellen, doch er hielt sich mit Kritik zurück. Seine Krankheit und seine Recherchen über den Transhumanismus hatten viele Ansichten, die er sein Leben lang vertreten hatte, ins Wanken gebracht. Er war hier, um zu lernen. Im Moment forschte KrioZhit, wie viele andere Unternehmen und Institutionen auch, an einer Schnittstelle zwischen Computer und Gehirn, einem »Brain Computer Interface« oder BCI. Pawel machte aber keinen Hehl daraus, dass dies bloß eine Zwischenstation war.

»Was hat Sie eigentlich dazu bewogen, in die Forschung zu gehen?«, fragte Michael.

»Neugier«, antwortete Katarzyna, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

»Wollten Sie nie als Ärztin praktizieren?«

»Nein.«

»Weshalb haben Sie dann ausgerechnet Medizin studiert?«

»Fließt der Strom?«, fragte sie.

Michael steckte die Elektroden in eine Zelle. »Ja.«

Er widmete sich wieder der Versuchsreihe. Bis auf das regelmäßige Brummen der Kühlanlage und das Summen der Lüftung war es still im Untergeschoss. Das künstliche Licht machte ihm zu schaffen, je länger er arbeitete, desto stärker wurde der Tremor in seinen Händen. Das Zittern entging auch Katarzyna nicht.

»Dr. Radu könnte Hilfe brauchen«, sagte sie, obwohl er seine Arbeit noch nicht abgeschlossen hatte.

Bogdan Radu war für die Kryokonservierung zuständig. Michael hatte ihn bereits einmal unterstützt, gemeinsam hatten sie das Blut einer jungen Mutter, die an Krebs gestorben war, durch eine Mischung aus Ethylenglykol und Dimethylsulfoxid ersetzt, um den Zerfall ihres Körpers zu stoppen. Der medizinische Prozess hatte Michael fasziniert, trotzdem schauderte es ihn bei dem Gedanken, dass die Frau nun in einem Dewar hing. Er war nicht religiös, er wurde aber die Vorstellung nicht los, dass die Seele dieser Frau in dem Stahlbehälter gefangen war.

Radu hielt sich im Lager auf, wo er den Füllstand des Stickstoffs überprüfte. Er schenkte Michael ein strahlend weißes Lächeln.

»Dr. Wilson! Was verschafft mir die Ehre?«

Zu der Vereinbarung, die Michael mit Pawel getroffen hatte, gehörte, dass er hier unter einem anderen Namen arbeitete. Zu seinem eigenen Schutz, wie Pawel betonte. Die Einzigen, die wussten, dass er gegen seinen Willen hierhergebracht worden war, waren die Sicherheitsleute, Katarzyna Szewińska sowie Bogdan Radu. Doch nicht einmal sie kannten seinen richtigen Namen oder seinen Hintergrund. Sie hielten ihn für einen Amerikaner, der seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen an den Nagel gehängt hatte.

»Dr. Szewińska meint, Sie könnten Hilfe gebrauchen.«

»In der Tat.« Radu rieb sich die Hände. »Wir bekommen heute Zuwachs. Möchten Sie mir bei einer Neurokryokonservierung assistieren?«

»Nur … der Kopf? Cephalon«, korrigierte er sich.

»Nicht jeder kann sich eine Ganzkörper-Kryokonservierung leisten. In diesem Fall würde sie ohnehin wenig Sinn machen. Der Patient ist bereits dreiundachtzig Jahre alt.«

Michaels Neugier war größer als sein Unbehagen. Er folgte Radu zu einem Operationssaal, in dem die auf Eis gelagerte Leiche lag. Eine Herzkompressionsmaschine presste die Brust des Toten rhythmisch zusammen, eine Beatmungsmaske führte ihm Sauerstoff zu.

Michael bereitete sich auf die Operation vor. Die gewohnten Abläufe stimmten ihn wehmütig. Würde er je wieder eine Operation an einem lebenden Patienten durchführen? Während Radu Löcher in den Schädel bohrte, um den Zustand des Gehirns überprüfen zu können, schloss Michael die großen Venen und Arterien an eine Perfusionsapparatur an; Blut und Körperflüssigkeiten mussten durch Frostschutzmittel ersetzt werden.

Er spürte Radus auf ihn gerichteten Blick.

»Sie halten das, was wir hier machen, immer noch für Unsinn«, sagte der Arzt.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Reanimation von gefrostetem Gewebe je möglich sein wird.«

»Schon bald erleben wir die erste Transplantation eines Kopfes«, sagte Radu. »Das hielt bisher auch niemand für möglich.«

»Was, wenn sie gelingt?«, fragte Michael. »Und Kopf und Körper unterschiedliche Ziele verfolgen?«

»Eine interessante Frage.« Radu strich fast liebevoll über den Schädel, der vor ihm lag. »Wie wird das Gedächtnis mit der neuen Mechanik zurechtkommen?«

»Ein Körper ist mehr als Mechanik«, wandte Michael ein. »Zwischen dem Vagus-Nerv und dem Nervensystem des Darms beispielsweise werden laufend Informationen ausgetauscht.«

»Es wurden bereits Kopf-Transplantationen an lebenden Ratten durchgeführt. Einige der Tiere konnten anschließend wieder laufen.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, lebte keines nach dem Eingriff länger als zwanzig Tage.«

Radu bedachte ihn mit einem gönnerhaften Lächeln und widmete sich dem neuen Patienten. »Wie Sie sehen, ist der Zerfall seines Körpers schon weit fortgeschritten. Idealerweise wären ihm schon vor dem Tod Membranstabilisatoren, Gerinnungshemmer und Radikalfänger injiziert worden, doch leider haben wir es selten mit Patienten zu tun, die eine fachgerechte Behandlung erfahren haben, bevor sie hier eintreffen.« Er sah fast betrübt aus. »Das erschwert unsere Arbeit natürlich. Könnten wir das Blut noch zu Lebzeiten durch eine Zellschutzlösung ersetzen, würden wir das Ansammeln von Toxinen vermeiden.«

»Ich glaube kaum, dass der Patient damit einverstanden wäre«, sagte Michael trocken.

»In der Notfallmedizin kann ein Arzt nicht immer Rücksprache mit dem Patienten halten«, gab Radu zu bedenken.

Sie arbeiteten schweigend weiter. Kurz vor Mittag klopfte Katarzyna an der Tür.

»Wollen wir etwas essen gehen?«, fragte sie.

Michael richtete sich auf. »Sie meinen … zusammen?«

»Es gibt ein paar gute Restaurants in der Nähe. Mögen Sie die georgische Küche?«

Pawel hatte ihm eingeschärft, KrioZhit nicht zu verlassen. Obwohl Michaels Tür nicht mehr abgeschlossen wurde, hielt er sich an die Anweisung.

»Gehen Sie nur«, sagte Radu.

Michael kämpfte mit sich. Wusste Katarzyna, dass er in Gefahr war? Wie viel hatte Pawel ihr erzählt?

»Ich muss vorher kurz mit Pawel reden«, sagte er.

»Es war sein Vorschlag«, antwortete Katarzyna.

Das gemeinsame Mittagessen war nicht ihre Idee. Enttäuscht entsorgte Michael seine Operationskleidung und fuhr mit dem Aufzug in den obersten Stock, wo sich zwei möblierte Studios befanden. Manche Angehörigen reisten mit ihren Verstorbenen von weit her nach Selenograd und wurden von Pawel dort untergebracht, bis die Abschiedszeremonie stattgefunden hatte. In einem der Studios wohnte jetzt Michael. Er nahm den Lammfellmantel, den Pawel ihm gegeben hatte, vom Bügel. Er fühlte sich darin nicht wohl, aber die dünne Jacke, die er in Kalifornien getragen hatte, eignete sich nicht für den russischen Winter.

Katarzyna wartete vor dem Eingang auf ihn. Michael atmete tief durch. Die kalte Luft prickelte in der Lunge und trieb ihm Tränen in die Augen. Auf einmal war der Tod weit weg.

Ein Sicherheitsangestellter nickte Katarzyna zu.

»Wir können gehen«, sagte sie zu Michael.

Der Parkplatz war glatt, wo geschmolzener Schnee zu Eis gefroren war. Katarzyna schritt unbeeindruckt voran. Michael musste sich anstrengen, um mitzuhalten. Er hatte sich in den vergangenen Wochen kaum bewegt, häufig war er müde und antriebslos. Sie passierten eine Schranke und bogen in eine Straße ein, die von Birken gesäumt war. Da und dort war zwischen den Bäumen ein Gebäude zu erkennen, in vielen waren Techfirmen untergebracht. Michael versuchte, die kyrillische Schrift zu entziffern. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der ein Wort erst verstand, wenn er den letzten Buchstaben laut ausgesprochen hatte. Viel zu schnell kamen sie zu einem Platz, auf dem einst ein Denkmal gestanden hatte, jetzt war nur noch der Sockel übrig. Trotzdem hatte jemand Blumen abgelegt.

Die Einrichtung des Restaurants war rustikal, es roch nach gegrilltem Fleisch und Gewürzen. Ein Kellner begrüßte Katarzyna auf Englisch, offensichtlich war sie nicht zum ersten Mal hier. Dann wandte er sich an Michael und sagte etwas auf Russisch.

Michael hob entschuldigend die Hände. »Sorry, ich verstehe nichts.«

Der Kellner wirkte überrascht, führte sie aber kommentarlos zu einem Fensterplatz und brachte ihnen zwei englische Speisekarten.

»Wie ähnlich sind sich Russisch und Polnisch?«, fragte Michael.